Der Herbst `89 und die Realität heute

Hans Fischer:
Der Herbst `89 und die Realität heute;
oder: Am Ende verstehen Sie es (doch nicht)

Es ist ein Verdienst der Regionalgruppe Berlin des RotFuchs-Fördervereins, eine Veranstaltung mit dem letzten Generalsekretär der SED, dem Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates der DDR, Genossen Egon Krenz, organisiert zu haben. Das Interesse am Thema und an der Person war groß, der Hörsaal 208 in der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft in Karlshorst war am 18. 11. 2005 überfüllt.

Egon Krenz gehört zu jenen ranghohen Parteifunktionären und Militärs, die die Rache Bonns in vollem Umfang zu spüren bekamen. Die aktive und bedeutsame Mitwirkung am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in einem Teil Deutschlands wurde und wird bis zum heutigen Tag nicht verziehen. Zwar kann man ein 16-Millionen-Volk nicht vor Gericht stellen, aber doch seine Repräsentanten. Einige der Anwesenden hatten schon im Gerichtssaal Moabit Egon Krenz und den anderen angeklagten Genossen ihre Solidarität bekundet. Von diesem Geist war auch die ganze Veranstaltung getragen. Genosse Dr. Steiniger, der als Chefredakteur des RotFuchs die Veranstaltung leitete, würdigte das Auftraten des Genossen Krenz vor Gericht, was mit anhaltendem Beifall der Teilnehmer unterstrichen wurde.

Ich denke, dass viele Teilnehmer auch eine Antwort erwarteten auf die Frage: Wie konnte es geschehen, dass sang- und klanglos, ohne erkennbaren Widerstand, die „größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ aufgegeben wurde?

In Vorbereitung auf diese Veranstaltung hatte ich mir noch einmal das Buch von Egon Krenz „Herbst `89“ vorgenommen. Wem das zu zeitaufwändig ist, dem empfehle ich de messerscharfe Analyse von Peter Hacks, erschienen im Eulenspiegel-Verlag als „Politische Schriften 1988 bis 2003“, Seite 80 – 93, unter der bemerkenswerten Überschrift „Egon Krenz – Herbst `89“.  An Stelle einer Rezension, behutsam gekürzt, mit Zwischenüberschriften versehen und tiefer gehängt. Außerdem nahm ich mir noch einmal das weniger bekannte Buch von A. Tschernjaew[15] „Mein deutsches Tagebuch (1972 bis 1991)“ vor und las seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1989 und 1990.

Genosse Krenz begann bei seinen einführenden Gedanken mit der Gegenwart und jüngeren Geschichte. Bezugnehmend auf das Wahlverhalten des Bundestages solidarisierte er sich mit dem Vorsitzenden der Linkspartei.PDS, Lothar Bisky, und distanzierte sich zugleich von Linke, die dort ankommen wollen, wo man sie offensichtlich nicht sehen will. Egon Krenz unterstützte die Auffassung Putins, dass die Niederlage des Sozialismus in Europa eine globale Katastrophe und ein bedeutender Sieg der USA sei und ergänzte mit der Bemerkung, dass nicht nur die Gründung der DDR ein Wendepunkt in der Geschichte Europas gewesen sei (Stalin-Telegramm), sondern auch ihr Untergang.

Dann wandte er sich dem Thema zu: Warum sind wir schließlich zu Verlierern der Klassenauseinandersetzung geworden?

Genosse Krenz nannte eine Reihe von Gründen, so den unerbittlichen internationalen Klassenkampf, die Folgen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Die Startbedingungen für Ostdeutschland waren extrem schlecht, wir zahlten bis 1953 Reparationen an die Sowjetunion für ganz Deutschland in einer Höhe, die über der Hilfeleistung des Marshall-Planes für Westdeutschland lag. Hinzu kam ein permanenter Mangel an Rohstoffen (Eisen, Stahl, Buntmetalle) und hochwertiger Energieträger (Öl, Gas, Steinkohle)! Nach der Explosion des Erdölpreises reduzierte die Sowjetunion die Erdöllieferungen an die DDR von 21 Mio. Tonnen auf 17 Mio Tonnen. Der Abfluss von ausgebildeten Akademikern, Ingenieuren und Facharbeitern durch Republikflucht hinterließ einen ständigen Mangel an Arbeitskräften und reduzierte die Produktivität der Wirtschaft. Und dennoch, am Ende der DDR hatten wir Außenverpflichtungen von 9,8 Mrd. $ (Abschlussbilanz der Bundesbank). Im Vergleich zum heutigen Berlin – 55 Mrd. € Schulden – eine lächerliche Summe!

Schließlich kam es zum Kernpunkt des Abends. Ich stellte die Frage, was ihn als für die Sicherheit der DDR zuständigen Parteifunktionär daran gehindert hätte, wirksamen Widerstand zu organisieren. Wir hatten doch 2,4 Millionen SED-Mitglieder, wir hatten die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, einen funktionstüchtigen Staatsapparat und die Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte im eigenen Lande usw.

Der Kern der Antwort war, dass er, Egon Krenz, als Kommunist dem Humanismus verpflichtet sei und niemals die Erlaubnis zum Waffeneinsatz erteilt hätte. Die Staatsführung habe sogar dafür gesorgt, dass die Rote Armee die planmäßigen, jährlichen Herbstmanöver verschob. Er ergänzte, dass es keinen befehl Gorbatschows gegeben habe, der den sowjetischen Truppen etwa verboten hätte, die Kasernen zu verlassen. Der oberkommandierende Armeegeneral Luschew habe ihm, Egon Krenz, vielmehr mehrfach die Bündnistreue der Roten Armee versichert und hinzugefügt, dass die Rote Armee jederzeit zur Hilfeleistung bereit sei. Auf nachfrage erklärte Genosse Krenz, dass eine solche Bitte um Hilfeleistung der Roten Armee von niemandem ausgesprochen wurde.

Als weitere Ursachen für Handlungsunfähigkeit wurden genannt bzw. diskutiert:

  • die „Sprachlosigkeit“ des Politbüros,
  • der Erosionsprozess in der SED (Steiniger),
  • die historische Überheblichkeit des Politbüros (Krenz),
  • die Nichtexistenz von Notstandsgesetzen,
  • eine allgemeine Sorglosigkeit,
  • Karrierismus bis in die höchsten Gremien,
  • Eine unterentwickelte innerparteiliche Demokratie,
  • Die Reduzierung der führenden Rolle der Partei auf die führende Rolle des Generalsekretärs (Krenz).

Weitere Themen waren noch die Leipziger Montagsdemonstrationen und die Maueröffnung in Berlin. Ein besonderer Befehl verbot den Sicherheitskräften den Einsatz von Schusswaffen. Genosse Krenz persönlich flog mit führenden Vertretern des ZK der SED, des Ministeriums für Staatssicherheit, des Ministeriums des Innern und dem Sekretär des Verteidigungsrats nach Leipzig, um vor Ort die notwendigen Entscheidungen zu treffen.

Zur Maueröffnung sagte Genosse Krenz, dass er vom sowjetischen Botschafter Kotschemassow zunächst gerügt wurde, weil Berlin Angelegenheit des Kontrollrats sei, kurze Zeit danach aber von Gorbatschow für diese mutige Entscheidung gelobt wurde.

Noch unter dem Träume der bedingungslosen Kapitulation stehend, wurden noch weitere Ursachen unserer schweren Niederlage diskutiert.

Resümee der Veranstaltung:

  • Es hält sich die alles entschuldigende Erklärung, dass organisierter Widerstand identisch sei mit dem Schießen in eine unbewaffnete Menge.
  • Das Politbüro beschäftigte sich wochenlang mit der Ablösung Erich Honeckers, statt mit der Stabilisierung der politischen Lage und der Organisierung des Widerstandes gegen die Konterrevolution.
  • Die chaotische (zufällige!!!) Grenzöffnung in Berlin widerspiegelt die Unfähigkeit unserer damaligen Partei- und Staatsführung, in kritischen Situationen notwendige und richtige Entscheidungen zu treffen.

Zum Abschluss ein Zitat aus dem Buch „Herbst `89“ von Egon Krenz, S. 89:

„Es ist die schicksalsschwere Entscheidung zu treffen: Handelt es sich um eine Konter-revolution oder um eine Volksbewegung? Von der Antwort auf diese Frage hängt viel ab.“

Da verschlägt es Unsereinem doch die Sprache!!!

Die Suche nach den entscheidenden Ursachen unserer strategischen Niederlage muss weiter gehen.

[15]A. Tschernjaew war seit 1986 Berater Gorbatschows für internationale Fragen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Vorbereitung Gorbatschows auf internationale Treffen, die Ausarbeitung seiner Referate und Interviews und die Mitwirkung an politischen Konzeptionen.