Der wiedererstandene deutsche Imperialismus gefährdet Stabilität und Frieden in Europa

Rolf Vellay:
Der wiedererstandene deutsche Imperialismus gefährdet Stabilität und Frieden in Europa

Broschüre, herausgegeben als „Nicht Konform – Dokument” 1997

Der Sieg der Konterrevolution in den einst sozialistischen Ländern Osteuropas und schließlich auch in der Sowjetunion selbst hat zu einer grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse in Europa geführt. Der auf diesem Kontinent seit der Niederlage des durch den Hitlerfaschismus repräsentierten deutschen Imperialismus 1945 gesicherte Friedenszustand beruhte auf einem klassischen ,,Gleichgewicht” der Kräfte, einer ,,balance of power” zwischen den kapitalistischen Mächten des Westens mit der Supermacht USA im Rücken und den zum Sozialismus hin sich entwickelnden Ländern Osteuropas mit der sozialistischen Sowjetunion als Schutzmacht. Die Möglichkeit der gegenseitigen atomaren Vernichtung machte eine bewaffnete Auseinandersetzung höchst unwahrscheinlich. Gleichzeitig bedeutete das Bestehen zweier deutscher Staaten politisch eine Stabilisierung des Friedenszustandes. Denn zweimal in diesem Jahrhundert hatte der Vorherrschaftsanspruch des deutschen Imperialismus, gestützt auf die große Volkszahl und die geballte ökonomische Kraft des seit der Reichsgründung 1871 im wesentlichen staatlich geeinten deutschen Volkes, zu großen Kriegskatastrophen geführt. Allein schon das Bestehen der DDR als selbständiger Staat mit militärisch gesicherten Grenzen bedeutete eine Fußfessel für den in der Bundesrepublik schon bald nach 1945 revitalisierten deutschen Imperialismus. Genau diese friedenssichernde Funktion der Deutschen Demokratischen Republik hob Genosse Stalin hervor, als er 1949 in seinem Glückwunsch-telegramm zur Gründung der DDR betonte, durch die Existenz der DDR könne der Frieden in Europa als gesichert angesehen werden.

Wie wichtig, über die gesellschaftlichen Veränderungen im Osten Deutschlands hinaus, gerade die Frage der Friedenssicherung für die Sowjetunion war, machte die sogenannte ,Stalin-Note‘ 1952 deutlich mit dem Vorschlag, eine Vereinigung Deutschlands vorzunehmen — was natürlich auch die Aufgabe der DDR bedeutet hätte — unter der Bedingung einer Neutralitätsgarantie für dieses Gesamtdeutschland. Jedenfalls war — egal auf welchem Wege auch immer — die dauerhafte Ausschaltung des deutschen Imperialismus als Machtfaktor existentiell wichtig für die Erhaltung des Friedens in Europa. Die weitgehende Unterschätzung der Regenerationsfähigkeit des deutschen Imperialismus im Westen kritisierte schon 1960 die US-amerikanische Zeitschrift ,,Prevent World War III”(1), in der man lesen konnte:

„Als die deutsche Militärmaschine im Frühjahr 1945 auseinander fiel, hegten die meisten westlichen Führer die Illusion, die deutsche Macht sei ein für allemal gebrochen und das Reich für die nächsten hundert Jahre erledigt. Heute aber wissen wir aus den beschlagnahmten deutschen Dokumenten, daß Hitlers Oberkommando langfristige Vorbereitung für die Überwindung der Katastrophe getroffen hatte.”

Obwohl derlei Geheimdokumente sicher auch Stalin zur Verfügung gestanden haben, befähigte ihn seine marxistisch-leninistische Analyse des Imperialismus schon 1952 in seiner Arbeit ,,Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR”(2) zu der Voraussage, daß Deutschland und Japan aus der der Niederlage im Krieg folgenden ,,amerikanischen Knechtschaft” ausbrechen und ,,wieder auf die Beine kommen” würden.

Genau das ist geschehen — mit der Annexion der DDR stand der deutsche Imperialismus, der ,,Fußfessel” des anderen, sozialistischen deutschen Staates ledig, wieder ,,auf eigenen Beinen”, und zwar in einer geostrategisch so günstigen Lage wie nie zuvor! Die Folgen waren absolut verderblich: Der nahezu vierjährige Krieg in Jugoslawien kann nur verstanden werden als Folge der den anderen europäischen Mächten durch das wiedererstarkte Deutschland aufgezwungenen Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Der bekannte deutsche Publizist Dr. Rupert Neudeck drückte das am 16. Mai 1995 in einem Kommentar im ,,Deutschlandfunk” so aus: (3)

„…denn wir Deutschen haben in der Geschichte der Bundesrepublik vielleicht viele Torheiten, aber nur einen Fehler gemacht: Wir haben die europäischen Partner in der EU gezwungen, Slowenien und Kroatien anzuerkennen — und als die Anerkennung durch war und Allgemeingut, haben wir es uns nicht nehmen lassen, die Anerkennung vorzuziehen wie um einen billigen publizistischen Werbetrumpf zu ergattern. Diese Aktion hat die europäische Politik um eine Generation zurückgeworfen. Frankreich und Britannien fingen an, wieder Balkan-Koalitionen gegen die zu mächtig werdende Bundesrepublik zu schmieden. Die geträumte Vorstellung einer gemeinsamen Diplomatie und Außenpolitik war erst einmal zu Ende.”

In einem Korrespondentenbericht der ,,Süddeutschen Zeitung” vom 1. 12. 1994 wurde klargestellt, wen man in der französischen Hauptstadt wirklich für verantwortlich hält für das Blutvergießen in Jugoslawien:

„Ungeachtet der Chronologie des Konflikts gilt es inzwischen bei französischen Meinungsführern als ausgemacht, daß die blutigen Konflikte in Jugoslawien die Folge der übereilten Anerkennung Sloweniens und Kroatiens sind, zu der Bonn die europäischen Partner im Bewusstsein seiner neugewonnenen Macht gedrängt hatte.(4)

Johann Georg Reißmüller, einer der Herausgeber der ,,Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, des wichtigsten Organs der deutschen Monopolbourgeoisie, merkte in einem Leitartikel zu Jugoslawien einmal an, in der Anerkennungsfrage sei es das erste Mal gewesen, daß sich die anderen Mächte ,,nach Deutschland hätten richten müssen”! Angesichts der Folgen kann man dazu nur sagen: ,,Wehe Europa, wenn es eines Tages ganz unter deutschem Kommando stehen sollte”!

Noch ist es nicht so weit, aber wie konnte es überhaupt dazu kommen, daß auch nur in einem Teilproblem europäischer Politik der deutsche Imperialismus mehr als vierzig Jahre nach seiner scheinbar vernichtenden Niederlage dem übrigen Europa seinen Willen aufzwingen konnte?

Das Jahr 1989 mit der faktischen Kapitulation der DDR brachte diesem deutschen Imperialismus unverhofften doppelten Gewinn: Durch den nachfolgenden Zerfall der Sowjetunion befand sich der deutsche Imperialismus zum ersten Mal seit 1871 für den Fall einer machtpolitischen Auseinandersetzung nicht mehr in der Gefahr eines ,Zweifrontenkrieges‘ — der war Bismarcks Alptraum gewesen! Die Hegemonialpolitiker in Bonn konnten von nun an davon ausgehen, daß sie für eine absehbare Zukunft im Osten den Rücken frei haben! Einen weiteren Gewinn stellte der Bevölkerungszuwachs auf über 80 Millionen dar. Dadurch wurde das vereinte Deutschland in Verbindung mit seinem ökonomischen Potential, repräsentiert durch die überragende Stellung der Bundesbank im europäischen Währungssystem, wie von selbst zum dominierenden Faktor gegenüber dem übrigen Europa. Vom 3. Oktober 1990 an, also dem offiziellen Datum der ,,Wiedervereinigung”, konnte man sagen: ,,Es geht in Europa noch nicht alles nach dem Willen der deutschen Großmacht — aber es geht ganz sicher nichts mehr gegen dieses übermächtige Deutschland!”

Das aber ist eine unheilvolle Konstellation, vor der von einsichtigen Kennern deutscher Geschichte und Politik auch aus dem bürgerlichen Lager durch die Jahrzehnte seit 1945 immer wieder gewarnt worden ist. Selbst in den Kreisen der sogenannten „Bürgerrechtler” in der DDR, die auf ihre Art alles taten, um den Sozialismus in der DDR zu sabotieren, ging die Furcht um, ein Gesamtdeutschland als Folge einer Paralyse der DDR werde zu einer Destabilisierung in Europa führen. Pfarrer Schorlemmer aus Wittenberg, einer der theologischen Agenten des BRDImperialismus im schwarzen Gewand des ,,Gottesdieners”, forderte angesichts hochkommender nationaler Emotionen am 14. 11. 1989 in einem in der Berliner Zeitung ,,taz” veröffentlichten Interview zur ,,Vernunft” auf und erklärte:

Vernunft heißt, daß es für die europäische Stabilität nicht wünschenswert ist, jetzt von Vereinigungsgedanken das weitere politische Handeln bestimmen zu lassen. ,,(5)

Ein anderer „Oppositioneller”, der Dokumentarfilmer Konrad Weiß, sprach sich am 6. Oktober 1989, ebenfalls in der ,,taz”, für ,,ein Deutschland” aus, ,,in dem es keine Soldaten gibt, weder fremde noch eigene”.(6) Heute ist die Bundesrepublik nicht nur die konventionell am stärksten gerüstete Militärmacht West- und Mitteleuropas, heute stehen deutsche Soldaten sogar über NATO-Gebiet hinaus mit einem Kampfauftrag in einem anderen Land!

Aufs höchste von der Entwicklung zur deutschen Einheit hin alarmiert, reiste der französische Staatspräsident Mitterand im Dezember 1989 zum DDR-Ministerpräsidenten Modrow und im Januar 1990 zu SU-Präsident Gorbatschow, um einen letzten Versuch zu machen, die deutsche Zweistaatlichkeit als entscheidende Komponente französischer Sicherheitspolitik zu erhalten. Hatte er vielleicht im Kopf, was die Londoner ,,Sunday Times‘ in düsterer Vorahnung bereits am 12. Februar 1989 über eine zukünftige beherrschende Rolle der Bundesrepublik in Europa geschrieben hatte:

,,Es könnte ein sehr mächtiges wirtschaftliches Gebilde entstehen, das vom Rhein bis zum Ural reicht und dessen Gewicht in Europa so überwältigend wäre, daß Frankreich und England zu zweitklassigen Mächten würden.(7)

Aber es war schon zu spät. Die Westmächte saßen in der Falle ihrer eigenen Versprechungen: In stillschweigendem Vertrauen auf die Stabilität des sozialistischen Systems, das die Existenz der DDR und damit geopolitisch die Fesselung des deutschen Imperialismus garantierte, hatten England und Frankreich immer wieder lauthals für die Öffentlichkeit ihr Versprechen erneuert, die ,,Wiederherstellung der deutschen Einheit” zu unterstützen —jetzt konnten sie nicht mehr zurück, als ,,die Mauer” gefallen war! Und doch wussten alle, daß die Grenzsicherungsanlagen der DDR eine der Bedingungen der Friedensicherung im Nachkriegseuropa war.

Als Modrow in Januar 1990 von seinem Besuch bei Gorbatschow in Moskau zurückkehrte mit dem makaberen Ruf ,,Deutschland, einig Vaterland”, war jedermann klar, daß das Wiedererstehen eines vereinten, mächtigen deutschen Staates in der Mitte Europas nicht mehr zu verhindern war. Mitterand konnte nun nur noch auf die ,,Force de frappe” als letzten Garanten französischer Sicherheit gegenüber einem übermächtig zu werden drohenden Deutschland setzen. So stand Maggie Thatcher, entschiedene Gegnerin der deutschen Einheit, allein, denn die USA fühlten sich angesichts des Niedergangs der SU so mächtig, daß sie nicht zu befürchten brauchten, mit einem geeinten Deutschland Probleme zu bekommen, Und Gorbatschow, diese verworfenste Kreatur der Menschheit seit Judas Ischariot und Hitler, verkaufte schlicht und einfach die DDR gegen einen leeren Scheck! Auf geradezu unglaubliche Weise wiederholten 45 Jahre nach Ende des Krieges die Siegermächte über Hitlerdeutschland den Fehler der Westmächte nach dem Versailler Vertrag. Damals halfen sie aus Furcht vor der erstarkenden Sowjetunion dem deutschen Imperialismus wieder auf die Beine.

Denn selbstverständlich hatte deutsche Politik nach 1919 kein anderes Ziel, als die Wiedergewinnung der Machtstellung des Deutschen Reiches, um einen neuen Anlauf zu nehmen für die Erreichung der Hegemonie in Europa als notwendige Ausgangsbasis für den Anspruch auf den Rang einer Weltmacht. Prägnanter Ausdruck dieser Politik war der berüchtigte Brief des damaligen Außenministers Stresemann an den abgedankten deutschen Kronprinzen vom 7. September 1925. Zur letzten von drei Hauptaufgaben deutscher Politik heißt es im Brief Stresemanns, eines auch im Ausland als ,,bürgerlich-demokratisch” anerkannten Politikers:

,,Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen. Die Wiedergewinnung Danzigs, des polnischen Korridors und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien. Im Hintergrund steht der Anschluss von Deutsch-Österreich, obwohl ich mir sehr klar darüber hin, daß dieser Anschluss nicht nur Vorteile für Deutschland bringt, sondern das Problem des Deutschen Reiches sehr kompliziert. Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns aber auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt, der uns einmal den Frieden garantieren und England sowie — wenn Mussolini mitmacht — Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Frankreich wegen der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, einen deutschen Verzicht, der aber nur insoweit theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht.”(8)

Der weitere Verlauf der Geschichte hat gezeigt, daß Hitler kein ,,Phänomen von einem anderen Stern” war, der mit seinen Eroberungsplänen das deutsche Volk unversehens ins Unglück stürzte, sondern Hitler führte nur konsequent das aus, was in der Außenpolitik der Weimarer Republik im Interesse der Expansionsbestrebungen des deutschen Monopolkapitals bereits angelegt war. Revision der Ostgrenze, Anschluss Österreichs bei — zunächst noch „theoretischem” Verzicht auf Elsaß-Lothringen. Wie sehr die Außenpolitik Hitlers den bereits in der Weimarer Republik vorgegebenen Weichenstellungen entsprach, beweist die einmütige Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zum außenpolitischen Programm Hitlers 1933. Gemeinsam mit den Nazis sangen die Sozialdemokraten zum Schluß der Sitzung ,,Deutschland, Deutschland, über alles…”! Es entsprach das genau sozialdemokratischer Tradition, die Aggressionspolitik des deutschen Imperialismus rückhaltlos zu unterstützen seit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914. Bei Hitler schlüpfte nur der Kriegsgeier aus dem Ei, das schon in der angeblich friedfertigen demokratischen Weimarer Republik gelegt worden war. Am Ende dieser großdeutschen Katastrophenpolitik stand 1945 die totale Kapitulation, und es ist heute belegt, daß schon zu einer Zeit, als die Niederlage zwar absehbar, aber noch nicht Tatsache war, erneut Führungskräfte des deutschen Monopolkapitals den Wiederaufstieg zur Hegemonialmacht in Europa vorbereiteten. Erneut, wie nach 1918, machte man sich dabei das Dilemma des Westens und insbesondere Frankreichs zunutze, denen das westliche Deutschland als unverzichtbar erschien in der Abwehr des ,,Bolschewismus‘, andererseits aber eine Übermacht Deutschlands nach den bitteren Erfahrungen von 1914 und 1940 unter allen Umständen verhindert werden sollte. Frankreich vor allem suchte das zu erreichen durch die sogenannte Einbindung der Bundesrepublik in die EG und die NATO.

Politisch dadurch, wie allenthalben nahezu spöttisch gesagt wurde, ein ,,Zwerg”, wuchs die BRD im Schutz der Westbindung zu einen ökonomischen Riesen heran, wofür sich der Terminus vom ,,Wirtschaftswunder” in Westdeutschland einbürgerte. Den wahren Charakter des ,,Wirtschaftswunders” machte der führende französische Historiker Raymond Poidevin in seinem 1985 in deutscher Übersetzung erschienen Buch ,,Die unruhige Großmacht” Untertitel „Deutschland und die Welt im 20. Jahrhundert” deutlich. Laut Rezension in der ,,Frankfurter Allgemeinen” vom 28.11.97 sieht Poidevin seit 1896 den Expansionsdrang als durchgehend bestimmendes Moment deutscher Politik. Aus dieser durch die Fakten eindrucksvoll bestätigten Sicht wertet er den wirtschaftlichen Aufschwung der BRD nach 1949 schlicht und einfach als die den neuen Gegebenheiten angepaßte Variante konsequenter Fortsetzung der Politik der Wirtschaftsgroßmacht. Mit unbestechlichem Scharfblick erkennt der französische Historiker auch den wahren Gehalt der 1969 insbesondere von dem Sozialdemokraten Willy Brandt im Namen von „Völkerverständigung” und ,,Aussöhnung der Kriegsgegner” kreierten sogenannten ,,Neuen Ostpolitik”. Konzeption und Realisierung dieser Politik seien ein deutlicher Indikator für ,,die weltweiten Ambitionen einer Mittelmacht”(9), die letztlich einen Großmachtanspruch stelle. Ganz im Sinne dieser Einschätzung habe ich bei früherer Gelegenheit den zum Medienereignis hochstilisierten ,,Kniefall” Willy Brandts am Warschauer Denkmal für den Ghetto-Aufstand ,,den ersten Schritt des deutschen Imperialismus nach Osten” genannt.

Der Rezensent in der „Frankfurter Allgemeinen” freilich hält die Meinung von Poidevin real für substanziell unbegründet und führt sie auf die traditionelle Furcht weiter Kreise in Frankreich vor einem wiedererstarkenden und vor allem wiedervereinigten Deutschland zurück. Inzwischen hat der Gang der Geschichte gezeigt, wie treffend die Analyse Poidevins gerade auch hinsichtlich der wahren Zielsetzung der ,,Neuen Ostpolitik” war. Denn ihre Durchsetzung trug entscheidend zum Zerfall des sozialistischen Lagers und damit zur Liquidierung der DDR als Fußfessel des BRD-Imperialismus bei.

Und daß dies das tatsächliche und wirkliche Ziel im Dienste der von Poidevin konstatierten ,,traditionellen Expansionsbestrebungen” deutscher Großmachtpolitik war, das wurde in der westdeutschen Öffentlichkeit ja damals auch ganz offen diskutiert. Als ein Beispiel dafür steht ein langer Artikel in der ,,Frankfurter Allgemeinen” vom 5. Juni 1984, überschrieben ,,Der ,deutsche Faktor‘ kehrt mehr und mehr in die Politik zurück”. (10) Der Autor, Prof. Wolfgang Seiffert, muß als wirklich sachkundig angesehen werden. Als junger Kommunist in den 50er Jahren vom Adenauer-Regime in der BRD verfolgt ging er in die DDR, studierte Jura und stieg zum absolut anerkannten Experten für Internationales Wirtschaftsrecht und Völkerrecht auf. So vertrat er die DDR beim COMECON und war persönlicher Berater von Erich Honecker. In der DDR hochdekoriert, wechselte er zur größten Überraschung der Öffentlichkeit 1978 die Fronten und wurde Professor an der Universität Kiel in der Bundesrepublik. Als intimer Kenner der ökonomischen und politischen Verhältnisse im sozialistischen Lager erkannte er die dort auf der wirtschaftlichen Ineffizienz beruhende Schwäche, und so entwickelte der zum Klassenfeind übergelaufene einstige Kommunist nunmehr Strategiekonzepte für den deutschen Imperialismus mit der Zielsetzung der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Ausgehend von der sicherlich auch 1984 schon richtigen Feststellung ,,wie ein Magnet Eisenspäne, so zieht die bundesdeutsche Wirtschaftskraft die europäischen Mitgliedstaaten des COMECON in ihren Bann”(11), entwirft er darin angesichts überfüllter Märkte im Westen diese Perspektive einer Ost-Expansion.

,,So, wie etwa die Bedingungen der industriellen Produktion der Nachkriegszeit die Bundesrepublik auf die Bildung des Gemeinsamen Marktes in der EWG orientierten und sie heute und in Zukunft an den Europäischen Gemeinschaften trotz aller Rückschläge und Schwierigkeiten der Integration festhalten lassen, so sind in der Zeit der Roboter, Computer und Mikroprozessoren Bedingungen entstanden, die dazu zwingen, der westdeutschen Wirtschafts- und Finanzwelt neue, zusätzliche und über den Gemeinsamen Markt hinausgehende Absatzmärkte und Tätigkeitsfelder zu erschließen, wenn sie ihren Platz unter den führenden Industrienationen behaupten will. Wo aber sollten diese Märkte und Tätigkeitsfelder angesichts der beherrschenden Positionen Japans in Asien und der verstärkten Dominanz Amerikas im Pazifik liegen, wenn nicht in der Region des COMECON und in einem Engagement in der Wirtschaft der DDR. Und wo bietet sich hier eine zukunftsträchtigere Perspektive als in einem Ausgleich der Interessen der Sowjetunion und denen der Deutschen.”(12)

Alles das ist wenige Jahre später eingetreten (nur die Paralyse der Sowjetunion hat, so wenig wie wir alle, auch dieser Experte nicht vorhergesehen!). Unbeschadet aller zur Zeit noch großen Probleme bei der ökonomischen Integration der DDR — Deutschland ist heute größter Westhandelspartner aller osteuropäischen Länder. Ganze Industriezweige in diesen Staaten unterliegen heute schon der Kontrolle deutschen Kapitals. In der Tschechischen Republik z. B. entfällt ein Fünftel des gesamten Exports auf das Autowerk Skoda, das bekanntlich zum deutschen Volkswagen-Konzern gehört. Etwa 50 Prozent der Auflage der tschechischen Provinzpresse kommt aus Zeitungsverlagen, die sich in deutscher Hand befinden. Ein ähnlicher Prozeß ist in Hinblick auf die Printmedien in Polen im Gange. Während nach einer Meldung der „Frankfurter Allgemeinen” vom 11. April 1996 der deutsche Außenhandel 1995 um vier Prozent wuchs, stieg im gleichen Jahr der Handel mit Osteuropa um 15 Prozent! Mit einem Volumen von 120 Mrd. DM übertrifft er damit bereits den deutschen Handel mit den USA! Angesichts der ökonomischen Niveauunterschiede ist es völlig klar, daß die ,,terms of trade” des Handels mit Osteuropa von den Profiteuren aus der BRD dominiert werden. Wie Mittel- und Lateinamerika weitgehend der ökonomischen Vorherrschaft und damit natürlich der Ausbeutung durch die USA unterworfen sind, so droht Osteuropa zum ,,Hinterhof” der BRD zu werden mit der D-Mark als herrschender Währung. Woran Hitler als Exponent des deutschen Imperialismus scheiterte, nämlich Europa durch die Gewalt der Panzer zu unterwerfen, das verwirklicht heute das ,,demokratische” Deutschland auf dem „friedlichen Wege” ökonomischer Durchdringung. Wie sehr sich die Konzepte — das Endziel — gleichen, macht das folgende Zitat deutlich. Es ist entnommen einer Denkschrift von Werner Daitz, Chemie-Industrieller und Leiter der Außenhandelsabteilung der NSDAP und stammt aus dem Kriegsjahr 1940:

,,Eine kontinentaleuropäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung muß in ihrem letzten Friedensziel sämtliche Völker des Festlandes von Gibraltar bis zum Ural und vom Nordkap bis zur Insel Zypern umfassen, mit ihren natürlichen Ausstrahlungen in den sibirischen Raum und über das Mittelmeer nach Afrika hinein.

…Wenn wir den europäischen Kontinent wirtschaftlich führen wollen, wie dies aus Gründen der wirtschaftlichen Stärkung des europäischen Kontinents als Kernraum der weißen Rasse unbedingt erforderlich ist, so dürfen wir diese aus verständlichen Gründen nicht als eine deutsche Großraumwirtschaft öffentlich deklarieren. Wir müssen grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geographischen Lage. Ebenso wird mit Hilfe unseres deutschen Wirtschaftssystems, wie es durch die nationalsozialistische Revolution geschaffen wurde, sich die Mark bei einer geschickten handelspolitischen Führung ganz von selbst als Standard-Währung durch-setzen.‘‘(13)

Ergänzend dazu ,,Punkt 1″ einer streng vertraulichen, ,,Probleme der äußeren Währungspolitik nach Beendigung des Krieges” überschriebenen Denkschrift der Reichsbank, der Vorläuferin der Deutschen Bundesbank:

„1. Die Reichsmark wird die führende Währung in einem deutschen Großwirtschaftsraum, der mit fremden Großwirtschaftsräumen in Handelsbeziehungen steht.”(14)

Gibt es heute noch irgend einen Zweifel daran, daß die angestrebte Euro-Währung etwas anderes sein kann als die D-Mark in europäischer Verkleidung? Kann es irgend einen Zweifel daran gehen, daß die Bundesbank als ,,Schatzhüterin” der D-Mark in erster Linie die Interessen des deutschen Monopolkapitals im Großwirtschaftsraum Europa von Gibraltar und Zypern bis zum Nordkap und zum Ural durchsetzen wird? Finanzminister Waigel war sehr stolz darauf, daß er als Sitz der „EuroBank” bei seinen europäischen Partnern Frankfurt/Main durchgesetzt hat. Gibt es irgend einen Zweifel daran, daß die europäische Zentralbank keine wichtige Entscheidung wird treffen können, ohne vorher das Placet der benachbarten Deutschen Bundesbank eingeholt zu haben?

Der politischen Absicherung dieses ökonomischen Vorherrschaftsstrebens dienen die Pläne zur Osterweiterung der Europäischen Union in Verbindung mit dem Bemühen, das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Beschlüssen der Europäischen Union abzuschaffen. Es ist völlig klar, daß die ökonomische Abhängigkeit vor allem der osteuropäischen Länder, wenn sie einmal Stimmrecht in der EU haben, der Bundesregierung immer die Möglichkeit gibt, diese Länder durch gewisse wirtschaftliche Zugeständnisse oder versteckte Sanktionen in ihrem Sinne zu erpressen. Damit wäre dann die deutsche Dominanz in Europa auf ganz „legalem” Wege gesichert

Ein Beispiel für das, was den Völkern Europas droht, wenn diese deutsche Dominanz erst einmal fest installiert ist, stellt die in jüngster Zeit eskalierende Auseinandersetzung zwischen der Prager Regierung einerseits und Bonn und der sogenannten „Sudetendeutschen Landsmann-schaft” andererseits dar. Im Triumphgefühl des ,,Sieges über den Kommunismus” fordern die revanchistischen Führer der ,,Sudetendeutschen Landsmannschaft” mit offener Rückendeckung der reaktionären Münchener Landesregierung und versteckter Hilfe aus Bonn von der tschechischen Regierung, die Aussiedlung der Sudetendeutschen 1945/46 als „Unrecht” zu verurteilen, ein ,,Heimatrecht” für die Sudetendeutschen auf tschechischem Staatsgebiet anzuerkennen und diesen Besitzansprüche zuzuerkennen. Der Weg zur Aufnahme in die EU führe für Prag nur über die Erfüllung dieser Ansprüche, lassen die Vertreter chauvinistischer deutscher Großmachtpolitik verlauten. Und wenn sich die tschechische Regierung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Aussiedlung auf das Potsdamer Abkommen beruft, dann fühlt sich Außenminister Kinkel heute bereits stark genug, in arroganter Art und Weise die Verbindlichkeit des Potsdamer Abkommens als Grundlage der Nachkriegsordnung für Deutschland und seine östlichen Nachbarn überhaupt in Frage zu stellen. Eine solche Äußerung Kinkels muß nicht nur vom tschechischen Volk, sondern von allen Völkern Europas als Alarmsignal verstanden werden. Insbesondere aber in Polen, das ja gleichfalls in der Hoffnung auf wirtschaftliche Vorteile die Mitgliedschaft in der EU anstrebt und damit durch die BRD erpreßbar wird. Denn das ist doch nach aller geschichtlichen Erfahrung völlig klar: Wenn Prag dem Druck aus München und Bonn nachgibt und den Sudetendeutschen Konzessionen macht, werden die aus den einstigen Ostprovinzen des Deutschen Reiches ausgesiedelten Schlesier, Pommern, Ost- und Westpreußen gegenüber Polen die gleichen Forderungen erheben, wie die Sudetendeutschen gegenüber der Tschechischen Republik, und damit steht in letzter Konsequenz die Oder-Neiße-Grenze zur Disposition! Zwar mußte nach jahrzehntelanger Verweigerung durch Bonn die Oder-Neiße-Grenze im ,,2+4-Vertrag” von Kohl formell und endgültig völkerrechtlich anerkannt werden, weil sonst die Zustimmung der Alliierten zur Angliederung der DDR nicht zu erlangen gewesen wäre. Aber wir wissen doch aus der Geschichte, daß die deutschen Imperialisten Verträge nur schließen, um sie entweder zu umgehen oder, wenn sie sich stark genug fühlen, zu brechen! Daß auch die offiziell endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ,,interpretationsfähig” ist, belegt ein Interview von Bundeskanzler Kohl in diesem Zusammenhang. Wie beiläufig wies er darauf hin, daß selbstverständlich das Helsinki-Abkommen von 1975 zwar die bestehenden Grenzen in Europa festschreibe, Grenzveränderungen ,,im gegenseitigen Einvernehmen” jedoch zulasse! Zumindest langfristig wird damit eine Option für die Zukunft offen gelassen. Eine solche Haltung entspricht dem, was Stresemann in seinem bereits zitierten Brief an den Kronprinzen hinsichtlich Elsaß— Lothringen in der Formulierung zum Ausdruck brachte: ,,Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Frankreich wegen der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, einen deutschen Verzicht, der insoweit aber nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht.”

1940 war es mit der ,,Theorie” vorbei und Hitler und die Nazi-Wehrmacht holten Elsaß-Lothringen ganz „praktisch” und gewaltsam ,,heim ins Reich”. Auch die Oder-Neiße-Grenze beruht auf dem Potsdamer Abkommen, dessen Verbindlichkeit für Deutschlands Außenminister Kinkel jetzt in Frage stellt. Wird sich nicht vielleicht eines Tages zeigen, daß der Verzicht Kohls auf die ,,deutschen Ostgebiete” nur „theoretisch” stattgefunden hat, so wie Stresemann dem Verzicht auf Elsaß-Lothringen nur ,,theoretischen Charakter” beimaß, weil ,,keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich” bestand?

Bundeskanzler Kohl fasst offenbar durchaus die Möglichkeit eines neuen europäischen Krieges ins Auge. Er wird wissen warum, schließlich ist er gelernter Historiker! Im letzten halben Jahr hat er u. a. im belgischen Löwen dreimal davon gesprochen, die Frage der europäischen Einigung könne im nächsten Jahrtausend zu „einer Frage von Krieg und Frieden werden”. Eine solche schwerwiegende Äußerung wiederholt man als verantwortlicher Staatsmann nicht mehrfach, wenn es nicht wirklich ernst gemeint ist. Was steckt dahinten? Nichts anderes, als daß die ,,Einigung Europas” im Wege der Institutionalisierung deutscher Dominanz als unabdingbare Voraussetzung weiterer Expansion des deutschen Monopolkapitals auf der weltweiten Jagd nach Maximalprofiten notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden wird!

Doch Bundeskanzler Kohl ist nicht der Einzige, der kriegerisches Unheil im Zusammenhang mit der sogenannten europäischen Einigung heraufziehen sieht. Im vergangenen Jahr veröffentlichte der Brite Bernhard Conolly das Buch ,,The Rotten Heart of Europe”, Untertitel ,,Der dreckige Krieg um Europas Währung”. Sachkompetenz kann dem Autor sicher nicht abgesprochen werden, da er in verantwortungsvoller Position in der Brüsseler Kommission für die Währungsunion gearbeitet habe, wie in der Rezension der ,,Frankfurter Allgemeinen” vom 2. Oktober 1995 vermerkt wird. Immerhin hat die Londoner „Times” das Buch von Conolly in Auszügen abgedruckt. Conolly ist der Meinung, ,,der stille Machtkampf zwischen Deutschland und Frankreich werde langfristig den Frieden in Europa gefährden” so die ,,Frankfurter Allgemeine”. (15)

Doch auch Conolly steht mit seiner düsteren Perspektive nicht allein. In der Sendung ,,Hintergrund Wirtschaft” des Kölner ,,Deutschlandfunks” am 10. Dezember 1995 kam der belgische Staatssekretär Olivier Lefebre, der ein Befürworter der Währungsunion ist, mit der wahrhaft alarmierenden Äußerung zu Wort: ,,Sowohl eine Verschiebung als — schlimmer noch — auch ein Scheitern der Währungsunion würde in einem Blutbad enden. So ist das von einigen internationalen Finanzfirmen in einer Vorausschau auf die Märkte in Europa kürzlich ausgedrückt worden,”(16)

Schließlich sei ein weiterer Mahner im Hinblick auf die Kriegsgefahr im Falle des Scheiterns des „Projektes Europa” zitiert. In einem ,,Vertrauensverlust und Angst” überschriebenen Beitrag berichtet die ,,Frankfurter Allgemeine” am 3. Januar 1996 von einem Besuch im deutsch-französischen Grenzland aus der elsässischen Gemeinde Hanskirchen. Dort residiert seit 42 Jahren als ,,maire”, also Bürgermeister, Louis Jung, der neben der Wahrnehmung einer Vielzahl anderer Funktionen bis Ende der 80er Jahre auch Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates war. Durch sein persönliches und familiäres Schicksal aufs engste berührt durch die blutigen Perioden deutsch-französischer Geschichte in diesem Jahrhundert, vielleicht gerade deshalb überzeugter Europäer, wird er in der ,,Frankfurter Allgemeinen” mit dem Satz zitiert: „Wenn wir das politische Europa nicht schaffen, werden wir wieder Krieg haben,”(17)

Für diesen Fall der nicht friedlichen Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses ist die Bundesrepublik aber durchaus vorbereitet. Im November erließ Kriegsminister Volker Rühe für die Bundeswehr ,,Verteidigungspolitische Richtlinien”. Sie sind ,,verbindliche Grundlage für die Arbeit in den Organisationsbereichen des Ministeriums sowie für die deutsche militärische Interessenvertretung nach außen”. In den ,,Richtlinien” wird ein umfassendes Szenario der veränderten politischen Weltlage nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Europas entworfen und werden die ,,Interessen der Bundesrepublik”, so wie sie die Herrschenden in Bonn verstehen, definiert. Danach gehört zum Beispiel zu den ,,vitalen Sicherheitsinteressen”, auf deren Durchsetzung die Bundeswehr ausgerichtet wird, die ,,Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der ungehinderte Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt.” Klar, für den ,,Export-Weltmeister Deutschland.” ist es lebenswichtig daß die Bundeswehr Profit-interessen der deutschen Monopole gegebenenfalls auch weltweit zu schützen in der Lage ist!

Ganz spezielle Interessen aber haben die Monopolherren des größer gewordenen Deutschlands natürlich in Europa, wozu in den ,,Richtlinien” richtig festgestellt wird: ,,Unser Land besitzt aufgrund seiner politischen und wirtschaftlichen Potenz eine Schlüsselrolle für die Fortentwicklung der europäischen Strukturen”. Weitere, unbestreitbar richtige Feststellung in den Richtlinien: „Jeder Krieg oder Bürgerkrieg in Europa hat unakzeptable Folgen für die betroffenen Menschen und gefährdet das stabile und friedliche Zusammenwachsen Europas. Dies zu verhindern, erfordert neben politischen Maßnahmen zur Förderung der Nachbarschaftsstabilität und zur Verhinderung neuer regionaler Rüstungswettläufe vor allem eine ausgeprägte Fähigkeit zum europäischen Krisen- und Konfliktmanagement. Dazu gehört auch das Bereitstellen entsprechender militärischer Potentiale.”(18)

Das hört sich alles ganz folgerichtig an — und was kann das in Zukunft unter Umständen bedeuten, zum Beispiel angesichts einer Krisensituation wie während der Streiks im Öffentlichen Dienst im November/Dezember letzten Jahres in Frankreich oder im Hinblick auf den Streik der belgischen Eisenbahner? Was ist, wenn bei einer durchaus möglichen Verschärfung der sozialen Auseinandersetzung zum Beispiel in Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände entstehen? Wird dann die Bundesregierung entsprechend den ,,Verteidigungs-politischen Richtlinien” für den Einsatz im Nachbarland „militärische Potentiale” bereitstellen? Schließlich ist Frankreich der weitaus größte Handelspartner der Bundesrepublik und zum Beispiel steht die „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und der ungehinderte Zugang zu Rohstoffen in aller Welt” durchaus in Frage, wenn wie jüngst die Eisenbahnen in Frankreich mehrere Wochen blockiert sind! ,,Auch Deutschland leidet unter den Streiks”, so eine Überschrift in der ,,Frankfurter Allgemeinen” vom 2. Dezember 1955 und das Blatt berichtet über Produktionsausfälle bei Autoherstellern. Gesetzt den Fall, die Regierung in Paris wird eines Tages einer Krise wie im letzten November/Dezember aus eigener Kraft nicht mehr Herr, muss dann die Bundesregierung entsprechend den ,,Verteidigungspolitischen Richtlinien” und analog zum jetzigen Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien nicht ,,Krisenreaktionskräfte” nach Frankreich entsenden, um ,,unakzeptable Folgen für die betroffenen Menschen” im Falle eines Bürgerkrieges und eine ,,Gefährdung für das stabile und friedliche Zusammenwachsen Europas” zu vermeiden? Nach der in den ,,Verteidigungspolitischen Richtlinien” formulierten Bundeswehrdoktrin ist das jedenfalls möglich — die Völker Europas sind gewarnt!°

Und als ganz, ganz ernste Warnung sollte verstanden werden, wenn in der ,,Frankfurter Allgemeinen” vom 11. April 1996 ein ganzseitiger Artikel veröffentlicht wurde unter der Überschrift: ,,Kein Kult der Zurückhaltung mehr”. Publiziert wurden da die Ergebnisse einer im Auftrag der ,,Friedrich-Naumann-Stiftung” (Freie Demokratische Partei) durchgeführten Befragung führender Angehöriger verschiedener gesellschaftlicher Bereiche, einer Elite aus Politik, Justiz und Wirtschaft, den Kirchen, der Bundeswehr, der Medien und der Wissenschaft. Es ging darum, wie diese Elite die ,,vitalen Interessen” Deutschlands versteht und unter welchen Bedingungen und wo es für richtig gehalten wird, die Bundeswehr einzusetzen. Das Ergebnis ist wahrhaft alarmierend. In seiner Kampagne für den Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien hatte Kriegsminister Volker Rühe die Deutschen aufgefordert, endlich sich der ihnen zukommenden ,,internationalen Verantwortung” zu stellen und nach erfolgter Wiedervereinigung die so lange Jahrzehnte gepflegt Kultur der Zurückhaltung aufzugeben. Offenbar sind die deutschen ,,Eliten” voll auf diesen Kurs eingeschwenkt, wie man der Bewertung der Umfrageergebnisse in der ,,Frankfurter Allgemeinen” entnehmen kann. Es heißt da:

,,Aber wer hätte es vor nur sieben Jahren vorauszusagen gewagt, daß die politische Elite und die Repräsentanten anderer für die Formulierung der Außen- und Sicherheitspolitik zentraler Gruppen derart umstrittene Schritte wie eine NATO-Erweiterung oder Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr mit überwältigender Mehrheit unterstützen würden? Die deutsche Führungselite hat anscheinend gleich mehrere wichtige Schritte unternommen, um die, wie es Volker Rühe einmal ausdrückte, Kultur der Zurückhaltung abzulegen und die überholte Beschränkung Deutschlands als reine Zivilmacht aufzugeben. Deutschland ist offenkundig dabei, nach Beendigung des Kalten Krieges zu einem ,,normalen” Akteur in Europa zu werden… Die deutsche Elite hat zumindest gedanklich den Sprung in eine NATO geschafft. Sie wird geopolitisch reifer Sie ist auf dem Weg, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik zu normalisieren”(19)

Im Hinblick auf diesen Sinneswandel der deutschen Eliten kann einen nur das blanke Entsetzen packen angesichts deutscher Geschichte seit 1870! Deutsche ,,Normalität” hat seither zu zwei Weltkriegen geführt und wenn jetzt die „Rückkehr zu Normalität” im Denken der Eliten gefeiert wird — heißt das, daß fünfzig Jahre Frieden seit 1945 für Deutschland nicht ,,normal” waren? Beruhigen kann auch nicht, wenn in der gleichen Umfrage ermittelt wurde, daß nur 22 Prozent der allgemeinen Bevölkerung Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Rahmen der UNO zustimmen. Da die traurige historische Erfahrung zeigt: Wenn es ernst wurde, ist das deutsche Volk in seiner übergroßen Mehrheit seinen jeweiligen ,,Eliten” immer noch auf dem Weg der Gewaltpolitik gefolgt. Trotz aller vorher bekundeten Friedensbereitschaft. Leider muß ich daher an dieser Stelle sagen, daß ich fürchte, das deutsche Volk wird auch diesmal nicht in der Lage sein, der von seinem Staat mehr und mehr ausgehenden Bedrohung aus eigener Kraft Herr zu werden. Dieser Pessimismus gründet sich unter anderem darauf, daß die kommunistischen Parteien in der Bundesrepublik als die naturgemäß konsequentesten Kräfte in Kampf gegen die friedensgefährdende und volksfeindliche Politik des neuen deutschen Imperialismus gespalten sind. Die Spaltung in dieser Frage kam zustande durch den abrupten Kurswechsel der ,,Marxistisch—Leninistischen Partei Deutschlands” auf ihrem IV.Parteitag 1994. Noch im Oktober l990 hatte die MLPD in ihrer Broschüre ,,DDR aktuell 3″ eine „Wiedervereinigung” unter dem Vorzeichen des deutschen Imperialismus strikt abgelehnt und auf die durch die Annexion der DDR bedrohlich wachsende Macht dieses deutschen Imperialismus warnend hingewiesen.

„Die Verteidigung der staatlichen Souveränität der DDR liegt im gemeinsamen Interesse aller antiimperialistischen und demokratischen Kräfte in Ost und West”,(20) hatte es noch in einer Erklärung des ZK der MLPD vom Januar 1990 geheißen. Auf ihrem IV. Parteitag 1994 brach nun die MLPD — die, wenn auch zahlenmäßig klein, so doch die geschlossenste und am stärksten organisierte Kraft unter den deutschen Kommunisten darstellt — mit dieser Haltung.. Es wurde beschlossen, in der ,,Wiedervereinigung” die ,,Lösung der Nationalen Frage” zu sehen, wodurch der nunmehr in ganz Deutschland vereint für ihre Forderungen auftretenden Arbeiterklasse bessere Kampfbedingungen entstanden seien. Diese Einschätzung habe ich von Anfang an für falsch und schädlich gehalten. Nun bin ich durchaus bereit, eigene Auffassungen zu korrigieren, wenn mich die Tatsachen eines Besseren belehren — aus meiner Sicht aber hat die seitherige Entwicklung nicht die geringste Bestätigung für die Auffassung der MLPD erbracht. Ganz im Gegenteil sehe ich die Arbeiterklasse heute in einer so schwachen Position wie seit 1945 nicht mehr. Tatsache bleibt aber eben leider, daß die revolutionären Kräfte in der BRD zum gemeinsamen Auftreten gegen den neuen deutschen Imperialismus zur Zeit nicht in der Lage sind. So bleibt mir nur die Hoffnung, daß die Völker Europas rechtzeitig die Gefahr erkennen und sich zu gemeinsamer Kampffront gegen den Hauptfeind in unserer Mitte, den wiedererstanden deutschen Imperialismus, zusammenschließen.

So, wie nach dem Machtantritt der Faschisten 1933 in Deutschland von Jahr zu Jahr die Zahl der Warner vor den von dem braunen Deutschland ausgehenden Gefahren wuchs, so muß heute die Aufklärung und der Widerstand gegen den Bonner D-Mark-lmperialismus europaweit organisiert werden. Einen ersten Höhepunkt in diesem gemeinsam in ganz Europa zu organisierenden Kampf könnte der Jahrestag der Bombardierung von Guernica durch die faschistische ,,Legion Condor” im April 1937 darstellen. Die Zerstörung von Guernica, der heiligen Stadt der Basken, war der Auftakt für die barbarischen Kriegsverbrechen der Nazi-Wehrmacht und der Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg. Mit dem Massaker aus der Luft an der friedlichen Bevölkerung von Guernica erprobten Hitler und Göring, was sie wenige Jahre später an Rotterdam, Coventry und Belgrad exekutierten. Darüber hinaus steht ,,Guernica” als erstes Massenverbrechen der Nazi-Kriegführung symbolisch für das, was in der Folge durch die Schrecken von Lidice und Oradour, von Baby Jar in der Ukraine und Kalavrita in Griechenland und den Adreatinischen Höhlen bei Rom und schließlich ,,Auschwitz‘ in ewiger Schande mit dem deutschen Namen verbunden bleibt. Ein Sternmarsch von allen diesen und noch vielen anderen Stätten faschistischen Grauens in den einst okkupierten Ländern Europas mit einer abschließenden Gedenkkundgebung in Guernica am April 1997 könnte über parteipolitische, nationale, religiöse und ideologische Grenzen hinweg alle antiimperialistischen Kräfte zusammenführen und ein Aufbruchsignal sein für die Völker Europas, den Widerstand gegen eine neuerliche, drohende Vergewaltigung durch den deutschen Imperialismus zu organisieren.

Rolf Vellay, Broschüre gleichen Titels, 1997

Anmerkungen:

  1. Periodikum für wissenschaftlichen Sozialismus”, Nr. 20. März 1961, S. 114, Universum-Verlag, München.

  2. J, W. Stalin, ,,Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR”, S. 41, Verlag für fremd-sprachige Literatur, Peking 1972.

  3. ,,Deutschlandfunk”, Köln, Kommentar Dr. Rupert Neudeck, 16. Mai 1993.

  4. „Süddeutsche Zeitung”, ,,Frankreichs deutsche Gespenster”, 1. Dezember 1994.

  5. ,,taz”, Berlin, zitiert nach ,,DDR-journal zur Novemberrevolution”, S. 133. Verlag ,,Tageszeitungs-gesellschaft”.

  6. a. a.0. S.33.

  7. ,,Recklinghäuser Zeitung‘, 13. Februar 1989.

  8. Rheinhard Opitz, „Europastrategien des deutschen Kapitals, 1900—1945″, S. 307, Verlag Pahl-Rugenstein.

  9. ,,FrankfurterAllgemeine”, 23. November 1985.

  10. „Frankfurter Allgemeine‘, 5. Juni 1984.

  11. ebenda.

  12. ebenda.

  13. Stefan Engel, ,,Europa auf dem Weg zur Supermacht”, ,,Im großdeutschen Fadenkreuz”‘ S. 180/81. Verlag ,,Neuer Weg”, Essen.

  14. a.a.O.,S. 101.

  15. ,,Frankfurter Allgemeine”, 2. Oktober 1995.

  16. ,,Deutschlandfunk” Köln, 10. Dezember 1995, „Hintergrund Wirtschaft”.

  17. ,,Frankfurter Allgemeine”, 3. Januar 1995.

  18. ,,Frankfurter Rundschau”, 22. März 1993.

  19. „Frankfurter Allgemeine”, 11. April 1996.

  20. „Wiedervereinigung oder friedliche Annexion?”, ,,DDR aktuell 3″ S .12 ZK der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands, Verlag ,,Neuer Weg”, Essen 1990.