Die Arbeiterklasse muss wieder eine revolutionäre politische Führung bekommen

Rolf Vellay:
Die Arbeiterklasse muss wieder eine revolutionäre politische Führung bekommen

Rede zum 1. Mai 1992

Der 1. Mai – Weltfeiertag der Arbeit, Kampftag der internationalen Arbeiterklasse und aller Entrechteten und Unterdrückten, hat in der Arbeiterbewegung eine doppelte Funktion: Auf Demonstrationen und in Kundgebungen fordern die arbeitenden Menschen weltweit von der Gesellschaft die Sicherung und die Ausgestaltung ihrer Lebensrechte, protestieren sie gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung, gegen imperialistische Kriegspolitik und für den Frieden.

In Veranstaltungen wie dieser hier versuchen wir, uns selbst Rechenschaft abzulegen über die Ergebnisse der Arbeit im seit dem vorigen 1. Mai abgelaufenen Jahr, versuchen wir, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit einzuschätzen und – davon ausgehend – die Kampfpositionen für die bevorstehenden Auseinandersetzungen zu bestimmen.

Das in dieser Beziehung herausragende Ereignis war im letzten Jahr der Untergang der Sowjetunion. Mehr als 70 Jahre lang wurde der erste sozialistische Staat – hervorgegangen aus dem Feuersturm der Oktoberrevolution, gegründet von Lenin, gefestigt und gegen den Faschismus verteidigt von Stalin – von fortschrittlichen Menschen in aller Welt als Hort des Friedens, Bastion gesellschaftlichen Fortschritts und feste Basis für den weltweiten Sieg des Sozialismus angesehen. Das war über Jahrzehnte hinweg selbst dann noch so, als mit der Aufgabe von Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 der Erosionsprozess eingeleitet wurde, der mit unerbittlicher Konsequenz jetzt zur Liquidierung des Sowjetstaates geführt hat.

Das Bekenntnis von Gorbatschow nach seinem Abgang als Generalsekretär der KPdSU und Präsident der Sowjetunion: „Ich habe mein Lebenswerk vollbracht”, ist entlarvendes Zeugnis der Verkommenheit der letzten Führungsspitze der KPdSU. Kennzeichnend für den Grad des politisch-moralischen Verfalls unter den leitenden Kadern der einstigen „Avantgarde des Weltproletariats” ist, dass im Aufruf der Putschisten vom August 1991 an die Völker der Sowjetunion, dem letzten, kläglich misslungen Versuch, das Ruder noch einmal herumzuwerfen, das Wort „Sozialismus” nicht vorkommt!

Untergang der Sowjetunion – Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung

Konkret bedeutet der Untergang der Sowjetunion, dass die internationale Arbeiterbewegung zurückgeworfen ist auf den Stand von 1917 vor der Oktoberrevolution. Zwar gibt es noch das sozialistische Cuba und noch die sich selbst offiziell „sozialistisch” verstehenden asiatischen Volksrepubliken China, Korea und Vietnam, doch zu welchem Ergebnis die dort sich vollziehenden inneren Entwicklungen am Ende führen, bleibt abzuwarten. Nach jüngster Erfahrung mit „Reformprozessen” in Ländern des „real existierenden Sozialismus” ist jedenfalls äußerste Zurückhaltung angebracht. Schlussfolgerung: Die revolutionären Kräfte in einer vom Imperialismus dominierten Welt stehen jeweils allein in ihrem Land den Ausbeutern und Unterdrückern gegenüber. Und sie sind weitgehend isoliert voneinander, denn auch nur in Ansätzen ist so etwas wie eine „Kommunistische Internationale” nicht erkennbar. Ähnlich ist die Situation der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die jede für sich allein stehen.

Dieser deprimierende Zustand der fortschrittlichen Kräfte in der Welt steht in krassem Gegensatz zu den Lebensnotwendigkeiten der Menschheit, für die es in absehbarer Zeit nicht nur ums Weiterleben, sondern ums schiere Überleben geht!

„Sinnlos treibt die Welt zum Abgrund”, schreibt die führende Wochenzeitschrift der Bundesrepublik, „Die Zeit”, in der Ausgabe vom 13. März 1992 einen langen Artikel auf der ersten Seite, in dem die Unfähigkeit der Herrschenden analysiert wird, die weltweiten ökologischen Probleme in den Griff zu bekommen. Der „Kölner Stadtanzeiger” stellt am 4. April 1992 die Frage: „Wird die Erde unbewohnbar wie der Mond? Die Frage beinhaltet eine Schreckensvision, sie ist aber mehr denn je berechtigt. Der so genannte zivilisierte Mensch zerstört in immer größerem Maße und immer rasanterem Tempo seine eigenen Lebensgrundlagen. In einem Bericht der UNEP, der Umweltinstitution der Vereinten Nationen, wird festgestellt, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges über ein Zehntel der Erdoberfläche – so viel wie China und Indien zusammen – zerstört worden sind und für die Nahrungsmittelproduktion ausfallen. In dem Report wird die Sorge dargelegt, dass mit einem Anwachsen der Weltbevölkerung von gegenwärtig 5,5 Milliarden Menschen auf bis zu zehn Milliarden bis zum Jahre 2050 der Mangel an landwirtschaftlich nutzbarer Fläche zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit führen wird.”

Zusätzlich zur ökologischen Umweltvernichtung wächst die Kluft zwischen Armut und Reichtum

Aber nicht nur die „Grundlagen” menschlichen Lebens wie Luft, Wasser und Boden sind gefährdet. Das Menschengeschlecht selbst ist bereits in der eigenen Zerstörung begriffen – von der Cholera in Latein- und Mittelamerika bis zu den Hunger- und Aids-Toten in Afrika, vom massenweisen Mord an so genannten Straßenkindern in Brasilien bis zur weltweiten Ausbreitung der Drogenpest, der in einem so hochzivilisierten Land wie der Bundesrepublik im letzten Jahr über 2000 Menschen zum Opfer fielen. Die Dimension des Drogenproblems machte erst kürzlich der bayerische Innenminister Stoiber mit seiner Aussage deutlich, der geschätzte Umfang des internationalen Drogenhandels mit achthundert Milliarden Dollar im Jahr übersteige bereits den Umfang des Ölgeschäfts! Im Hinblick auf den sich verschärfenden Verelendungsprozess immer größerer Teile der Menschheit kommt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” in ihrem Leitartikel am 17. 12. 1991 zu dem Schluss: „Die Zahl der Armen auf der Welt entfernt sich immer schneller und immer weiter von der Zahl der Wenigen, die alles Lebensnotwendige haben und noch viel mehr: Das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Immer mehr Arme werden versuchen, sich bei den Reichen notfalls mit Gewalt zu holen, was diese ihnen ihrer Meinung nach vorenthalten. Es wird ungemütlicher auf der Erde. Die Zeichen sind überdeutlich.”

Doch, mögen die Zeichen auch noch so deutlich sein und die Horrorvisionen noch so einprägsam über alle Bildschirme geistern, die Machthaber des Imperialismus erweisen sich aus der Profitlogik des kapitalistischen Systems heraus als unfähig, dem Prozess menschlicher Selbstzerstörung Einhalt zu gebieten. Der bekannte CDU-Politiker Heiner Geißler wies am Karfreitag dieses Jahres (gemeint ist 1992; d.Red) in seiner Gedenkrede für die Opfer des Nazi-Terrors im Dortmunder Rombergpark darauf hin, dass rund eine Milliarde Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen und forderte zur Solidarität mit den Armen der Welt auf – aber die Bosse und Banker der Finanzmetropolen in den imperialistischen Zentren kassieren mittlerweile an Zinsen und Rückzahlungen von Krediten den dreifachen Betrag, der an sogenannter „Entwicklungshilfe” von den reichen Ländern an die Dritte Welt gegeben wird, wohl wissend, wie sehr durch solch brutale Ausbeutung das Massenelend dieser Regionen verschärft wird. Das Profitsystem, dem sie dienen, macht die Bosse und Banker unfähig, die „überdeutlichen Zeichen”, von denen in der FAZ die Rede war, zu verstehen.

Ein weiteres Beispiel: Um dem „Ökozid” im Hinblick auf das Klima und die drohende Erwärmung der Erdatmosphäre zu entgehen, darf unter keinen Umständen der Co2-Ausstoß weiter steigen. Er muss sogar, trotz wachsender Weltbevölkerung, reduziert werden. Und doch verweigert sich z.B. die imperialistische Hauptmacht, die USA, jedem Schritt in dieser Richtung. „Die Zeit” schreibt dazu in dem eingangs erwähnten Beitrag: „Vor allem die Vereinigten Staaten blockieren im Vorfeld der Rio-Konferenz einen Kompromiss gegen den globalen Kollaps. Präsident Bush (Senior; d.Red.), der ansonsten gern von einer neuen Weltordnung redet, verweigert sich jeder neuen ökologischen Ordnung. Nicht einmal einer Begrenzung des Co2-Ausstoßes mag er zustimmen.”

Warum? Weiß man in den USA nicht um die Gefahren der Übersättigung der Erdatmosphäre mit Kohlendioxyd? Natürlich weiß man das auch dort sehr genau, aber, so urteilen die „Aachener Nachrichten” am 26. März 1992 nach Bekanntwerden der US-amerikanischen Verweigerung: „Dem Wahlkämpfer Bush steht das Wasser bis zum Hals, und das ist (noch) keine Folge schmelzender Polarkappen, sondern Ausfluss einer gründlich verkorksten Wirtschaftspolitik. Aus blankem Opportunismus gegenüber der Industrie blockiert Bush eine Konvention, deren Ansatz ja ohnehin schon bescheiden genug ist.”

Im Klartext heißt das: Im Interesse der Profitmacherei der großen Monopole werden systematisch Lebensgrundlagen des Menschen – Luft und Klima – zerstört. Zwingende Schlussfolgerung: wenn die Menschheit denn auch im nächsten Jahrtausend eine Zukunft haben will, muss der Imperialismus gestürzt, muss die Profitlogik als Organisationsprinzip der Wirtschaft durchbrochen werden!

Welche verheerenden Folgen die Einführung der Profitlogik für eine Volkswirtschaft und die in ihr und von ihr lebenden Menschen mit sich bringt, das können wir in geradezu klassischer Form am Beispiel DDR studieren. Bis zum konterrevolutionären Umsturz im Herbst 1989 nahm diese kleine DDR unbestritten den zehnten Platz in der Rangliste der Industrienationen der Welt ein.

Erich Honecker warnte vor der „Marktwirtschaft” und vor ihren Folgen

Dies wurde erreicht in jahrzehntelanger Arbeit unter in jeder Beziehung extrem schwierigen Bedingungen. In dem zum Teil kriegszerstörten, rohstoffarmen Land, das praktisch allein die Last der Reparationen als Folge des verbrecherischen Hitler-Krieges zu tragen hatte, vollzog sich bei zunächst offener Grenze gegenüber einem von Anfang an feindlichen Nachbarstaat ein grundlegender, wahrhaft revolutionärer Umbruch.

Er hatte zum Ziel – und hier wiederhole ich ein Zitat aus meiner Rede zum 1. Mai im vergangenen Jahr -, was der bürgerliche Philosoph und Soziologe Niklas Luhmann das „Jahrhundertexperiment einer ethischen Steuerung der Wirtschaft” nannte oder, wie es unser scharfer und kompromissloser ideologische Gegner, der erzreaktionäre Historiker Ernst Nolte, bezeichnete, „den großen und erst sehr allmählich in seinem Scheitern erkennbaren Versuch einer Verwirklichung des uralten Menschheitsgedankens des Sozialismus in Russland und den von Russland beherrschten und beeinflussten Gebieten der Welt”. Dieser grandiose Versuch ist gescheitert. Es geht heute und hier nicht um die Ursachenforschung. Was man der ehemaligen Führung der DDR zu Recht oder zu Unrecht auch vorwerfen mag: Sie hat bis zuletzt, trotz der erkennbar größer werdenden ökonomischen Zwänge nicht versucht, Schwierigkeiten durch Abstriche am sozialen und kulturellen Standard der Werktätigen zu überwinden. Es gab zahlreiche unbequeme Mängel und Probleme im Alltag der DDR – aber dieser erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden war und blieb bis zuletzt ein Sozialparadies mit hohem kulturellem Niveau für alle Bevölkerungsschichten. In der Stunde der Bewährung reichte das Bewusstsein der Massen nicht aus, ihre ureigensten Interessen zu erkennen und zu verteidigen. Das Bewusstsein reichte nicht aus, obwohl den Menschen in der DDR damals klar und deutlich gesagt wurde, wohin das Abweichen von den Prinzipien des Sozialismus führt.

So schrieb Professor Hans Luft in der DDR-Zeitschrift „Staat und Recht” in Nr. 5/87, also zu einer Zeit, da bereits Gorbatschows angeblich „Neues Denken” die Gemüter der SED-Genossen verwirrte: „Von westlichen Ideologen wird den Menschen vorgegaukelt, dass sich hinter der Forderung nach <weniger Staat> und <mehr Markt> für sie etwas Vorteilhaftes, mehr Freiheit, größere Chancen, mehr Wohlstand verbergen würde. Genau das ist aber nicht der Fall. … Würden volkseigene Betriebe durch den Wegfall der staatlichen Leitung der Wirtschaft gezwungen, miteinander um Absatzmärkte und Rohstoffe zu konkurrieren, hätte das Betriebsbankrotte, Arbeitslosigkeit und Strukturkrisen wie im Kapitalismus zur Folge.”

Erich Honecker führte in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD im Dezember 1988 aus: „Nein, eine Marktwirtschaft, womöglich mit Arbeitsmarkt, wird es bei uns nicht geben, weil sie zum Privateigentum an Produktionsmitteln und damit zum Kapitalismus, zu seinem Wolfsgesetz zurückführt.”

Nun haben die Menschen seit der Annexion durch die einstige Bundesrepublik vor eineinhalb Jahren „Marktwirtschaft” – sprich Kapitalismus – und es ist alles genau das gekommen, wovor Professor Luft und Erich Honecker gewarnt hatten. Die Realität heute ist sogar viel schlimmer als irgend jemand sich das hat vorstellen können, wobei es mir leid tut, Erich Honecker und diesen Herrn Luft in einem Atemzug nennen zu müssen. Denn während Erich Honecker zu der Sache steht, die er sein Leben lang vertreten hat, hat sich der Herr Luft als ein Wendelump sondergleichen erwiesen, als einer jener intellektuellen Parasiten an der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED”, die heute die so genannte „soziale Marktwirtschaft” propagiert. Damit hat aber nichts zu tun, dass er 1987 in seinem Aufsatz „Staat und Recht” korrekte Ansichten vertreten hat. Die bitteren Tatsachen unserer Tage sind Beleg dafür. Genau das ist eingetreten, was er für den Fall von „weniger Staat” und „mehr Markt” vorhergesagt hat. „Betriebsbankrotte”? Tausende Betriebe sind in kürzester Zeit in den Ruin getrieben worden, einschließlich solcher, die unter DDR-Bedingungen rentabel gewirtschaftet haben. Das Ausmaß der Katastrophe macht eine Meldung der FAZ vom 15. April 1992 deutlich, wonach die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland im Januar mit 1,1 Millionen Mitarbeitern 47 Prozent geringer gewesen ist als 1991. Damit ist der Industriestandort „DDR” auf dem Weg in die Liquidation. „Arbeitslosigkeit?” Vierzig Jahre lang sorgte „sozialistische Misswirtschaft” dafür, dass es dieses Erzübel des Kapitalismus in der DDR nicht gab. Heute sind sogar der offiziellen Statistik nach 1,3 Millionen Menschen arbeitslos. Einschließlich der in Kurzarbeit und so genannter „Umschulung” Befindlichen sowie der in den Vorruhestand Gekündigten liegt die Zahl der Beschäftigungslosen tatsächlich bei drei Millionen! Und sie wäre noch um ein paar Hunderttausend höher, würden nicht so viele „Pendler” aus der DDR unter meist diskriminierenden Bedingungen in Westdeutschland und West-Berlin arbeiten.

„Die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber”

Arbeitslosigkeit ist entwürdigend. Arbeitslosigkeit beraubt die Werktätigen des ersten Menschenrechtes, des Lebens Notdurft aus eigener Kraft zu erarbeiten – und das zu tun, ist die Voraussetzung aller anderen gesellschaftlichen Rechte! Millionenfache Arbeitslosigkeit – das war schon immer der Knüppel in der Faust des Kapitals, mit dem versucht wurde, die arbeitenden Menschen den Mechanismen der Ausbeutung gefügig zu machen. Mauer, Stacheldraht und Staatssicherheit dienten auch dazu, die Menschen der DDR vor dem bitteren Schicksal der Arbeitslosigkeit zu bewahren!

Stichwort „Strukturkrisen”. Nehmen wir das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern an Hand von in der FAZ vom 9. April 1992 gemachten Angaben. Danach beträgt die Arbeitslosenquote 17,7 Prozent. Werden aber die Arbeitslosen mit den durch die so genannten „arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen” Scheinbeschäftigten, Vorruheständler usw. zusammengerechnet, ergibt sich eine, wie es schönfärberisch heißt, „Unterbeschäftigungsquote” von sage und schreibe 42 Prozent! Das heißt, nahezu die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern lebt von öffentlichen Hilfen, ist des Selbstwertgefühls, das auf Einkommen aus eigener Arbeit beruht, beraubt. Allein in der Landwirtschaft, dem wichtigsten Wirtschaftszweig dieses Landes, haben 50.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Drastisch treten die sozialen Folgen dieser Entwicklung in Erscheinung.

Die Kriminalität steigt steil an und es ist kein Zufall, sondern von Marxisten-Leninisten schon immer erkannte und behauptete Gesetzmäßigkeit, wenn jetzt im ärmsten Land Mecklenburg-Vorpommern – bezogen auf die Einwohnerdichte – die höchste Zahl von Straftaten von allen Ländern im Annexionsgebiet gemeldet wird (FAZ, 15.4.92). All das zusammengenommen ist das keine „Strukturkrise” mehr – es ist eine strukturelle Katastrophe!

In dieser Situation setzen die „Volksvertreter” im Schweriner Landtag noch eins drauf und beschließen am 14. April die Entlassung von 4.000 Lehrern! Einen solchen Beschluss, der einem Verbrechen an der Jugend gleichkommt, fasst eine Mehrheit von Parlamentariern, die in „freien Wahlen” das „Vertrauen” ihrer Wähler erhalten hat. Wenn jemals, dann trifft hier das alte, böse Wort zu: „Die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber”. Mecklenburg-Vorpommern, das ist ein Musterbeispiel für den Kahlschlag-Kapitalismus der Kohl, Möllemann und der „Treuhand” im Interesse der Konzern- und Bankherren und der Junker aus der imperialistischen Bundesrepublik! Und zu dem von ihnen verursachten Elend der Menschen in der DDR fügen sie noch den Hohn, indem sie diesen Zusammenbruch der ökonomischen und sozialen Grundlagen im Annexionsgebiet in ihren Zeitungen einen „Akt der schöpferischen Zerstörung” nennen, nach einem Wort des Ökonomen Schumpeter, das von diesem in ganz anderem Zusammenhang gebraucht wurde.

Noch einmal Erich Honecker: „Nein, eine Marktwirtschaft, womöglich mit Arbeitsmarkt, wird es bei uns nicht geben, weil sie zu Privateigentum an Produktionsmitteln und damit zum Kapitalismus, zu seinem Wolfsgesetz zurückführt.” Jetzt haben die Menschen der DDR Arbeitsmarkt, Privateigentum an Produktionsmitteln und damit Kapitalismus und es regiert dessen „Wolfsgesetz” – wobei diese Wendung eigentlich eine Beleidigung der Wölfe darstellt, denn niemals verhalten sich Wölfe untereinander so, wie die Menschen in der Ausbeutergesellschaft miteinander umgehen!

Wie sie miteinander umgehen, den „Gesetzen des Marktes” folgend, dafür einige Selbstzeugnisse aus der bürgerlichen Presse. So berichtet die „Süddeutsche Zeitung”, München, am 9. Januar 1990 mit der Überschrift „Vor Agrar-Kannibalismus gewarnt” über eine Sondersitzung des Arbeitskreises Landwirtschaft der CSU-Fraktion. Thema war der so genannte „Strukturwandel” in der Landwirtschaft, das heißt, die Verdrängung kleinerer Betriebe, der seit 1949 in der BRD mehr als eine Million bäuerlicher Existenzen zum Opfer gefallen sind. Wie es in der „SZ” heißt, warnte der Abgeordnete Martin Haushofer „vor einer Art Agrar-Kannibalismus, bei der ein Bauer den anderen auffrisst”. Genau das ist seit Jahrzehnten die sozial-ökonomische Realität in der BRD – und jetzt importieren die alten Junker und die neuen Agrarkapitalisten den „Agrar-Kannibalismus” in die DDR! Wohin das am Ende führt, beschreibt der „Spiegel” in seiner Ausgabe15/92 unter der Überschrift „Ostbauern am Ende”. 340.000 Beschäftigte in landwirtschaftlichen Betrieben sind danach heute noch von einst 840.000 übriggeblieben – und mittelfristig werden, so der „Spiegel”, ganze 40.000 – noch einmal, man glaubt es nicht: 40.000 – übrig bleiben!

Weiteres Beispiel: Am 10. März 1990 brachte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung” eine Reportage über einen mittelständischen Fleischereibetrieb aus damals noch Karl-Marx-Stadt unter der Überschrift: „Die westdeutschen Konkurrenten werden wir die Rottweilerhunde sein.” Diese Überschrift deshalb, weil der Meister im Hinblick auf die bevorstehende Konkurrenz aus dem Westen geäußert hatte, die Fleischereibetriebe und –fabriken könne man nicht mit Lämmern vergleichen. Wörtlich sagte er: „Das sind Rottweiler”, und charakterisierte damit treffend die im Kapitalismus üblichen Geschäftspraktiken, vor denen der Mittelstand der DDR dank der auf das Wohl der ganzen Gesellschaft ausgerichteten sozialistischen Wirtschaftspolitik der SED vier Jahrzehnte bewahrt geblieben war!

Drittes Beispiel: Am 31. Januar 1992 äußerte sich in der in Berlin erscheinenden „Neuen Zeit” der Landrat des Kreises Finow zur Zukunft des Walzwerkes Niederfinow, das in seiner Existenz ebenfalls gefährdet ist. Er erklärte, die westdeutschen Unternehmer verhielten sich „wie die Haie”. Sie warteten ab, bis ein Betrieb in den Bankrott gewirtschaftet ist und „schneiden dann die Filetstücke heraus”.

Am Sonntag humanistische Phrasen – wochentags das „Wolfsgesetz”

So sieht das eben in Wirklichkeit aus – unterm Glockengeläut ihrer schwülstigen Phraseologie ist an Sonn- und Feiertagen von Humanismus, Menschenrechten und der „Wirtschaftsethik im christlichen Abendland” die Rede! Und in der Woche, wenn es im kapitalistischen Alltag um Profite geht, dann praktizieren die gleichen Leute den „Agrar-Kannibalismus”, führen sich als Konkurrenten auf wie „die Rottweiler” und „die Haie” – Ausdruck dafür, dass jetzt eben das „Wolfsgesetz des Kapitalismus” herrscht, vor dem Erich Honecker warnte!

In den angeführten Beispielen wird die nackte, menschenfeindliche Brutalität der Profitgesellschaft, die jetzt über die DDR hereingebrochen ist, beim Namen genannt. Der von vielen ihrer Bürger tatsächlich so erlebte „Rausch der Einheit” ist verflogen – und das sogar im ganz trivialen Sinne des Wortes. Denn in den so genannten „neuen Bundesländern” wurde 1991 nur noch halb so viel Bier getrunken wie 1990! (FAZ, 30.1.92). Selbst die Banane, Symbolfrucht des Kniefalls vor bundesdeutschem Konsumglanz, wird im Zeichen der EG erheblich teurer werden. Die Arbeitslosen haben jetzt zwar genügend Zeit, aber eben kein Geld, um auf Mallorca Urlaub zu machen – und sogar die 100 DM schmutziges „Begrüßungsgeld” sind längst aufgebraucht! Was nun?

Angriff der Kapitalistenklasse auf die Werktätigen in Ost und West

Die Arbeiterklasse in ganz Deutschland steht mit dem Rücken zur Wand, vor sich den Abgrund einer drohenden großen ökonomischen Krise des Kapitalismus. Durch den Zusammenbruch der DDR und des ganzen sozialistischen Lagers haben sich die Kampfbedingungen entschieden verschlechtert. Massenarbeitslosigkeit als Folge der Annexion der DDR ist ein Trumpf in der Hand der Monopolherren. Diese Trumpfkarte wird ganz gezielt ausgespielt. Im Hinblick auf die laufenden Tarifkämpfe ist es kein Zufall, wenn jüngsten Meldungen zufolge die BRD vor „der größten Rationalisierungswelle ihrer Geschichte steht”, durch die zwei bis drei Millionen Arbeitsplätze gefährdet werden. Die Automobilindustrie macht bereits ganz konkret den Anfang. Am 28. 4. 1992 berichtet die „Recklinghäuser Zeitung”, Mercedes plane für die nächsten zwei Jahre den Abbau von 20.000 Stellen. In der neuesten Ausgabe des „Manager-Magazin” heißt es, der neue VW-Chef Piéch wolle 25.000 Jobs streichen. Der durch eine solche Entwicklung auf die arbeitenden Menschen ausgeübte Druck wird benutzt zu dem Versuch, die gigantischen Kosten der Annexion der DDR allein auf die werktätigen Massen abzuwälzen. Die ÖTV-Vorsitzende Wulf-Mathies hat vorgerechnet, dass die Annahme des Schlichterspruches von 5,4 Prozent Lohn- und Gehaltserhöhung immer noch angesichts von Steuer- und Abgabenerhöhungen und einer Preissteigerungsrate von fast 5 Prozent einen Reallohnverlust bedeutet. Undenkbar – eine solche Kapitulation der Gewerkschaften zu Zeiten, als sich die BRD noch in der Systemkonkurrenz mit der DDR befand. Undenkbar – zu Zeiten des Bestehens der DDR, dass sich Bundeskanzler Kohl für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit auszusprechen gewagt hätte! Und ebenso undenkbar, dass Vertreter der Unternehmerverbände wie Weiss oder Murmann einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit über vierzig Stunden hinaus das Wort geredet hätten oder der Notwendigkeit der Reallohnsenkung – denn nichts anderes bedeutet es, wenn Lohnerhöhungen lediglich an der Produktivitätssteigerung orientiert werden sollen ohne Berücksichtigung der Inflationsrate. Und noch undenkbarer bei Weiterexistenz des Sozialstaates DDR die jüngste Provokation von Regierung und Kapital – die Forderung nach Einführung von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall!

Ermutigt durch den Sieg über die als Staat „Deutsche Demokratische Republik” organisierten Arbeiter und Bauern, gehen die Monopolherren und die in ihrem Auftrag handelnde Kohl-Regierung jetzt zum Großangriff auf den Lebensstandard der Werktätigen und ihre schwer erkämpften sozialen Rechte über. Von einer „Null-Runde” bei Lohn- und Gehaltserhöhungen reichen die unverschämten Vorschläge bis zu einer Beteiligung mit einem Prozent vom Bruttoverdienst an den Krankheitskosten und der Wiedereinführung von Karenztagen. Die uralte Klamotte vom „Investiv-Lohn” wird wieder ausgegraben, um den ohnehin Ausgebeuteten auch noch das Geld für „Investitionen in den neuen Bundesländern” aus der Tasche zu holen.

Die ganze Unverschämtheit solcher Ideen wird deutlich, wenn man weiß, dass laut Bundesbankbericht die westdeutschen Unternehmen nach fast zehn Jahren wirtschaftlichen Wachstums mehr als etwa 670 Milliarden DM liquide Mittel, d.h. frei verfügbare Kapitalien angesammelt haben. Beispiel dafür etwa der Siemens-Elektro-Konzern, der laut „Süddeutsche Zeitung” vom 17. 1. 1992 bei einem Umsatz von rund 74 Milliarden DM so genannte „liquide Mittel” von über 18 Milliarden DM in seiner Bilanz ausweist! Allein die Finanzanlagen des Konzerns erbrachten daraus einen Ertrag von zwei Milliarden DM = 60 Prozent des Gesamtgewinns und damit mehr, als im Elektrogeschäft verdient wurde!

Konzerne akkumulieren Kapital – Arbeiter sollen Investitionen durch Lohnverzicht bezahlen

Natürlich ist es nicht Siemens allein, wo das Geld auf solche für ein produzierendes Unternehmen parasitäre Weise verdient wird. Beim Stromlieferanten Bayernwerk AG München sind die liquiden Mittel im Verlauf eines Jahres sogar um eine Milliarde von 2,6 auf 3,6 Milliarden DM gestiegen – und das bei einem Umsatz von gut sechs Milliarden DM (FAZ, 23.4.1992). Geradezu „aus den Ohren” läuft das Geld bei den „großen Drei” der Bankenbranche – Deutsche Bank, Dresdner Bank, Commerzbank -, die für das vergangene Jahr Rekord-Abschlüssen meldeten. Während Wirtschaft und Privatverbraucher über hohe Zinsen stöhnen, steigerte die Commerzbank z.B. ihren Gewinn um dreißig Prozent, erhöhte die Deutsche Bank ihren Profit auf mehr als sechs Milliarden DM. Angesichts dieser Superprofite nehmen sich die Investitionen westdeutscher Unternehmen im Annexionsgebiet im letzten Jahr geradezu lächerlich gering aus. Sie werden auf nicht mehr als 13 Milliarden DM geschätzt (Presseclub, WDR 5, 26.4.1992). „Rekordinvestitionen von deutschen Unternehmen im Ausland” meldet dagegen die FAZ am 13.4.1991. Das Kapital geht wie immer dahin, wo es sich „lohnt” – die großzügig angekündigten Investitionen in der DDR sollen aus unserem Lohnverzicht finanziert werden.

Schon längst im Gange ist ja die Ausplünderung der Taschen der Werktätigen durch die gigantisch steigende öffentliche Verschuldung. Laut Bericht der Bundesbank halten sich mittlerweile Bund, Länder und Gemeinden mit von ihnen geliehenem Geld in Höhe von 1,3 Billionen Mark – das sind eintausenddreihundert Milliarden DM! – finanziell über Wasser. Das ist ein Betrag, der nahezu der Hälfte des Sozialprodukts, ausgedrückt in Geld, entspricht. Für diesen erdrückenden Schuldenberg müssen jährlich einhundert Milliarden DM an Zinsen aufgebracht werden – letzten Endes auf unsere Kosten! Deshalb predigen uns die Vertreter von Regierung und Kapital „Maßhalten” bei Tarifabschlüssen, und „Konsumverzicht” muten sie den Rentnern – mit einer lächerlichen Erhöhung ihrer Bezüge von 2,7 Prozent bei einer Inflationsrate von fast 5 Prozent eine definitive Einkommensminderung – zu.

Doch, wie schon Heinrich Heine das nannte, die Damen und Herren predigen öffentlich Wasser und heimlich saufen sie Wein! Denn, wie das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt” kürzlich berichtete, haben sich die Unternehmensvorstände der großen Konzerne im letzten Jahr Gehaltserhöhungen von rund zehn Prozent von ihren Aufsichtsräten genehmigen lassen! Während Finanzminister Waigel ständig von „strengster Sparsamkeit” bei den Staatsausgaben spricht, wird so ganz nebenbei laut Meldung vom 16. April („Bild”) für Bundeskanzler Kohl ein neuer Dienstwagen in Betrieb genommen. Kostenpunkt 420.000,- DM, fast eine halbe Million!

Und wenn im Bundeskabinett jetzt das Büßerhemd übergestreift wird mit einem fünfprozentigen Gehaltsverzicht, dann ist das billige Augenwischerei, denn jedermann weiß, dass bei einem Ministereinkommen fünf Prozent weniger nicht weh tut. Ein Alarmsignal aber ist es für uns, wenn diese Leute „freiwillig” auf das liebste, was sie haben, verzichten wollen, auf Geld. Denn das bedeutet unter Garantie am Ende für den „kleinen Mann” noch viel mehr Verzicht – wenn wir es uns gefallen lassen.

Wie knapp es jetzt schon bei der Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger zugeht, dafür ist ausnahmsweise mal die BILD-Zeitung unverdächtiger Zeuge. Am 16. April 1992 ist auf der Frontseite zu lesen: „Immer mehr Frauen bestürmen ihre Männer”, und darunter in bekannten Großbuchstaben als Blickfang: „Vati, bitte mehr Haushaltsgeld.” Im Text ist dann von „Horrorpreisen”, zunehmender Familienzerrüttung wegen des täglichen Streits um das Geld und daraus folgend „steigenden Scheidungsraten” die Rede.

Das ist der Hintergrund, vor dem Heiner Geißler, Präsidiumsmitglied der CDU, auch mit Blick auf die Wahlergebnisse in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, am 12. April in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” schrieb, in der Stimmung der Bevölkerung bilde sich ein „explosives Gemisch”. Massenarbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandard, rückläufiges Wirtschaftswachstum, katastrophale Wohnungsnot – aus all dem resultierende weitverbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die in schweren Stimmverlusten der großen Parteien, Rechtsradikalisierung und hoher Wahlenthaltung ihren Ausdruck findet – das sind in der Tat die Voraussetzungen für das Entstehen eines „explosiven Gemischs” in der Stimmung der Bevölkerung. Wir nähern uns einer Situation, in der das eintritt, was Marxisten-Leninisten immer vorhergesehen haben:

Popper: „Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen.”

Auf Dauer erweist sich der Imperialismus als unfähig, die Existenzprobleme der Gesellschaft zu lösen. „Sinnlos treibt die Welt dem Abgrund zu” – ich zitiere noch einmal die verzweifelte Überschrift aus „Die Zeit”, die sich auf die globale Umweltproblematik bezog. Und auch wir treiben mit der innenpolitischen Entwicklung auf einen Abgrund zu, weil sich der Staat Bundesrepublik wegen seines imperialistischen Charakters mehr und mehr als unfähig erweist, die sich häufenden Probleme im Interesse der Menschen zu lösen. Die großen, daraus entstehenden Gefahren sind ein Anwachsen rechtsradikaler, neofaschistischer Kräfte und der Versuch der Machthaber in Bonn, der gesellschaftlichen Probleme Herr zu werden durch eine aggressive Politik nach außen. Und das heißt: Verschärfung des Kriegsgefahr!

Die Ideologen des Imperialismus wie z.B. Karl R. Popper, Hausphilosoph des einstigen sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, sind schon eifrig dabei, auf eine neue Kriegspolitik einzustimmen. So wagte Popper in einem Interview im „Spiegel” zu äußern: „Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen. Das ist unter den gegenwärtigen Umständen unvermeidbar. Es ist traurig, aber wir müssen es tun, wenn wir unsere Welt retten wollen.” („Spiegel”, 13/1992) Der sächsische CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vertritt angesichts der hohen Kosten der „deutschen Einheit”, wie er die Annexion der DDR nennt, die nur noch verbrecherisch zu nennende Ansicht, der Frieden erweise sich als kostspieliger als der Krieg. (FAZ, 28.4.1992)

Jeder irrt, der solche Art ideologischer Kriegsvorbereitung als nicht ernst zu nehmendes Geschwätz von ewiggestrigen Philosophen und Politikern abtut – Generalstabsoffiziere der Führungsakademie der Bundeswehr im Hamburg haben im Auftrag von Bundeswehr-Generalinspekteur Klaus Naumann in Zusammenarbeit mit dem Bundesverteidigungs-ministerium eine Studie ausgearbeitet für die Vorbereitung eines weltweiten Einsatzes der Bundeswehr. Ein neuer Generalstab soll gebildet werden und es müssten „etwa 100.000 Soldaten” für Einsätze wie im Golfkrieg Gewehr bei Fuß stehen („Spiegel”, 6.4.1992). Schon zweimal in diesem Jahrhundert hat der deutsche Imperialismus, unfähig, die durch das Profitsystem selbst geschaffenen inneren Probleme zu lösen, den Weg der Aggression nach außen gesucht und damit unsägliches Leid über viele Völker der Welt und das eigene Volk gebracht. Ein neuerlicher Sturz in solches Verderben kann nur durch den Widerstand der Volksmassen, deren stärkste antiimperialistische Macht die Arbeiterbewegung ist, verhindert werden.

In den augenblicklichen Tarifauseinandersetzungen und Streikkämpfen wird sich die Arbeiterbewegung erneut der Kampflosung bewusst: „Wenn Dein starker Arm es will, stehen alle Räder still”. Aber dieser heute um ökonomische Forderungen im Rahmen der jetzigen Gesellschaftsordnung geführte Kampf wird letztlich doch erfolglos bleiben, wenn es nicht endlich gelingt, diesem Kampf eine revolutionäre politische Führung zu geben durch die Herausbildung einer starken, marxistisch-leninistischen, einer kommunistischen Partei.

Aktionseinheit der marxistisch-leninistischen Organisationen gegen Kapital und Staat ist das Gebot der Stunde

Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können sich unter Umständen sehr schnell dramatisch zuspitzen – denken wir an „Rheinhausen!” – und wir befinden uns in der widernatürlichen, beschämenden Situation, dass wir im Lande von Karl Marx und Friedrich Engels, August Bebel, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, von Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck keine starke, ideologisch wie politisch-organisatorisch zur Führung der Arbeiterklasse und des antiimperialistischen Kampfes fähige Partei haben. Alle Anstrengung muss jetzt darauf gerichtet sein, diesen Zustand zu überwinden. Jede weitere Zuspitzung der Klassenkonflikte wird mehr und mehr zeigen, dass entgegen dem jetzigen Anschein von Interesselosigkeit und Apathie nach der Niederlage des real existierenden Sozialismus ein starkes revolutionäres Potential in der Arbeiterklasse, in den fortschrittlichen Teilen der Intelligenz und vor allem in der Jugend, um deren Zukunft es geht, vorhanden ist. Dieses Potential gilt es zu mobilisieren.

Die zwischen den bestehenden Gruppierungen DKP, MLPD, KPD/Roter Morgen, FAUP, Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, Kommunistische Plattform der PDS, KPD der DDR existierenden mehr oder weniger großen ideologischen Meinungsverschiedenheiten machen zur Zeit jeden Gedanken an den eigentlich erforderlichen organisatorischen Zusammenschluss dieser Organisationen oder von Teilen von ihnen illusorisch. Dieser objektiv absolut notwendige Prozess des Zusammenwachsens kann nur zustande kommen in gemeinsamen Kampfaktionen gegen den gemeinsamen Feind.

Die Praxis des Klassenkampfes ist der wahre Prüfstand für die heute noch so unterschiedlichen Positionen. Kameradschaftlicher ideologischer Dialog, der scharfe Auseinandersetzungen einschließt, muss diesen Prozess begleiten. Erste Schritte auf diesem Weg sind sofort möglich. Uns alle eint z.B. das Gedenken an Philipp Müller, den jungen Friedenskämpfer und Kommunisten, der vor 40 Jahren, am 11. Mai 1952, als Teilnehmer der „Friedenskarawane gegen die Remilitarisierung” in Essen von der Adenauer-Polizei hinterrücks erschossen wurde. Aus Anlass dieses Jahrestages findet in Essen am 9. Mai (1992, d.Red.) eine Demonstration statt. DKP, MLPD und der „Arbeiterbund” werden dort vertreten sein. Diese Demonstration sollte auch von allen revolutionären und fortschrittlichen Kräften in Berlin unterstützt werden, allen voran natürlich die KPD/Roter Morgen. Dort könnte erstmals bundesweit gemeinsam gegen den gemeinsamen Feind demonstriert werden, und das sollte man auch versuchen, zum Ausdruck zu bringen.

In der Perspektive bietet es sich dann an, die alljährlich stattfindende Liebknecht-Luxemburg-Demonstration hier in Berlin zu einem Kristallisationspunkt aller revolutionären antifaschistischen antiimperialistischen Kräfte in Deutschland zu machen. Diese Demonstration ist die letzte uns verbliebene große Manifestation in der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gehören – über alle ideologischen Meinungsverschiedenheiten hinweg, die uns sonst trennen mögen – uns allen, die wir uns als Revolutionäre verstehen. Der Januar ist keine günstige Jahreszeit für ein solches bundesweites Massentreffen. Aber angesichts heutiger Möglichkeiten der Mobilität dürfte darin kein Hindernis liegen. Als ich Anfang der 50er Jahre ins Ruhrgebiet kam, erzählten mir Genossen der alten KPD, wie sie 1926 zum Reichstreffen des „Rotfrontkämpferbundes” mit dem Fahrrad nach Berlin gefahren sind!

In diesem Zusammenhang der Vorschlag an die Versammlung, sich mit einem Aufruf zu wenden an die genannten Organisationen und andere Gruppen und Einzelpersonen, sich zu kameradschaftlicher Diskussion der bestehenden Meinungsverschiedenheiten und gemeinsamem Handeln gegen den gemeinsamen Feind zusammenzufinden. Das ist das Gebot der Stunde revolutionären Handelns an diesem 1. Mai 1992.

Rolf Vellay, 1. Mai 1992