Klassenkämpfe in Europa

Herwig Lerouge: Klassenkämpfe in Europa

(Es handelt sich um einen Vortrag, den der Genosse Lerouge in Prag anlässlich der Konferenz „Sozialismus – wissenschaftlicher oder surrealistischer?“ hielt. Die Konferenz wurde veranstaltet vom Kommunistischen Jugendverband der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens sowie ihren Prager Distrikten 1 und 7.)

Redaktion Offensiv

Liebe Genossen, erlaubt mir, das heutige Thema mit den Klassenkämpfen einzuleiten, die derzeit in meinem Land und in vielen europäischen Ländern stattfinden.

Am 27. Oktober [2005] wurde Belgien Schauplatz eines zweiten Generalstreiktags innerhalb von zwei Wochen. An diesem Tag marschierten mehr als 100.000 Arbeiter mit unterschiedlichem politischen Hintergrund durch Brüssels Straßen. Seit zwei Monaten organisieren hier Arbeiter Streiks, Demonstrationen und Versammlungen. Objekt ihres einmütigen Ärgers ist der Plan der sozialdemokratischen Koalition zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. In Belgien liegt das offizielle Rentenalter bei 65 Jahren, wobei Arbeiter bereits mit 58 in Rente gehen können, sofern sie mindestens 25 Jahre lang gearbeitet haben. Diese Bestimmung wurde im Kampf durchgesetzt, außerdem zur Vermeidung von Klassenkämpfen im Zuge von Betriebsschließungen und Massenentlassungen. Die Regierung möchte diese Rechte jetzt abschaffen und Frühverrentung erst ab 60 Jahren zulassen – nach 38 oder gar 40 Jahren Lebensarbeitszeit. Argumentiert wird mit der angeblichen Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme gegenüber einer alternden Bevölkerung zu verteidigen.

Die Arbeiter wehren sich kategorisch gegen diese Pläne aus drei maßgeblichen Gründen.

Erstens sind ältere Arbeiter schlicht nicht in der Lage, länger zu arbeiten. Seit Jahren verlangen die Kapitalisten größere Flexibilität in Bezug auf Arbeitszeiten und Fertigkeiten. Das erfordert permanente Neuanpassung. Jahr um Jahr müssen die Arbeiter schneller arbeiten, unter erhöhtem Stress. Natürlich können Kapitalisten damit angeben, dass die belgische Produktivität 20% über dem europäischen Durchschnitt liegt. Doch die andere Seite der Medaille ist, dass viele Arbeiter nicht mehr funktionstüchtig sind, weder physisch noch psychisch. Die Mehrheit sagt, sie sei erschöpft, ausgebrannt mit 55 Jahren, in manchen Branchen sogar mit 50.

Die Arbeiter wehren sich gegen das Regierungsvorhaben auch, weil sie die Logik darin nicht einsehen. Ältere, erschöpfte Arbeiter sollen länger arbeiten, während 600.000 arbeitslos sind, darunter 145.000 unter 25 Jahren. Warum enthält die Regierung Arbeitslosen, vor allem jungen, die Möglichkeit vor, eine Arbeit mit vernünftigem Einkommen zu finden, indem sie sie durch ihre Väter und Mütter ersetzt, die sich nach wohlverdientem Ruhestand sehnen?

Und der dritte Grund für die Ablehnung des Vorhabens: Die Arbeiter können nicht verstehen, warum die Regierung einerseits die Sozialbeiträge der Kapitalisten um über eine Milliarde Euro kürzt und auf der anderen Seite die Arbeiter länger arbeiten lässt, um die Kluft, die durch diese Steuergeschenke an die Kapitalisten entsteht, zu schließen.

Die ganze Situation führt dazu, dass viele Arbeiter das kapitalistische System in Frage stellen. Sie mögen noch nicht vom Sozialismus als realistischer Alternative überzeugt sein, aber sie beginnen zu verstehen, dass das kapitalistische System ein surrealistisches, absurdes und inhumanes System ist.

Unsere Partei verfügt über viele Gesundheitszentren in verschiedenen Industriestädten. Zusammen bilden sie die Vereinigung “Ärzte für die Menschen”. Diese Ärzte haben die Gesundheitsakten von 1.250 ihrer Patienten untersucht, von Arbeitern zwischen 50 und 55 Jahren. Zwei von drei leiden an einer oder mehreren chronischen Krankheiten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden von unzähligen akademischen Studien bestätigt. Eine amerikanische Studie hat untersucht, ob private Pensionsfonds in der Lage sind, ihre Rentner in den kommenden Jahren abzusichern. Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass dies kein Problem sein dürfte. Bei Boeing aber haben Arbeiter, die bis 65 Jahren gearbeitet hatten, lediglich 18 Monate lang etwas von ihrer Rente. Bei Lockheed waren es nur 17 Monate. Die Studie zieht die Schlussfolgerung, dass “Arbeiter, die mit 65 Jahren oder später in Rente gehen, tendenziell innerhalb von zwei Jahren sterben. Jene, die mit 50 Jahren aufhören, werden im allgemeinen 80 Jahre alt.” Sie haben Recht, vor 50 Jahren starben mehr als die Hälfte der Arbeiter, bevor sie das gesetzliche Pensionsalter erreichten. Sie bezahlten ihr ganzes Leben lang, ohne etwas dafür zu bekommen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwang der medizinische Fortschritt, aber besonders der soziale Kampf und die Drohung der Arbeiter mit der Sympathie für die sozialen Errungenschaften des realen Sozialismus die Kapitalisten, einige soziale Zugeständnisse zu machen. Heutzutage erfreuen sich Arbeiter einer Lebenszeit von 10-20 Jahren nach der Pensionierung. Aber für den Kapitalismus in der Krise ist ein solcher Fortschritt unannehmbar geworden. Auf dem Lisabonner Gipfel 2000 begannen europäische Führer, gestützt auf Weltbankstudien, von einer alternden Gesellschaft zu reden, als handele es sich um eine Naturkatastrophe, ein Tsunami älterer Menschen, der uns überspülen würde, unseren Wohlstand wegnehmen und Renten wie Gesundheitsfürsorge unbezahlbar machen. Der Lisabonner Gipfel setzte das Ziel, 70% der Bevölkerung über 55 Jahre in Arbeit zu halten. In Belgien sind das kaum 25% [der Bevölkerung]. In allen europäischen Ländern werden dieselben Maßnahmen ergriffen.

Natürlich wissen wir, dass das wahre Ziel von Lissabon nicht die Bezahlbarkeit der sozialen Systeme ist. Lisabon hat sich zum Ziel gesetzt, die europäische Ökonomie zur konkurrenzfähigsten in der Welt zu machen, den amerikanischen Konkurrenten von Platz 1 zu verdrängen. Aber um erfolgreich zu sein, müssen europäische Imperialisten ihr wichtigstes Handicap überwinden: Sie müssen die sozialen Zugeständnisse der vergangenen Jahrzehnte beseitigen. Sie müssen das amerikanische Modell einführen, wonach Kapitalisten lediglich die Hälfte der sozialen Sicherung im Vergleich zu den europäischen Rivalen bezahlen. Aus diesem Grund wollen sie die Menschen länger arbeiten lassen, damit die Kapitalisten weniger für die soziale Absicherung zahlen müssen.

Was wir hier sehen ist nicht ein Zusammenprall der Zivilisationen, sondern der gesellschaftlichen Visionen. Kann oder muss eine Gesellschaft ein erträgliches Leben bis ins hohe Alter garantieren? Kann oder muss eine Gesellschaft eine sinnvolle Arbeit für alle jungen Menschen sicherstellen?

Die europäische Bevölkerung wird älter. Das ist eine Tatsache. Warum aber sollte dies ein Problem sein? Es wäre ein Problem für eine Gesellschaft, in der nicht genügend Geld vorhanden ist. Dies ist aber nicht der Fall. Es ist durchaus möglich in Europa, dass weniger Menschen arbeiten, ohne ihren Lebensstandard zu senken. Heutzutage produzieren Arbeiter 17mal so viele Waren wie vor hundert Jahren. Jahr um Jahr produzieren sie mehr. Die Frage ist: Wer hat Zugriff auf die Reichtümer, die sie produzieren?

Das Problem ist, dass in dieser Gesellschaft die belgischen Arbeiter beispielsweise keinen Zugriff auf die 30 Milliarden Euro jener Erträge haben, die sie für die Anteilseigner der belgischen Unternehmen und Banken erwirtschaftet haben. Das Problem ist, dass diese Gesellschaft die kollektive Versicherung der Arbeiter für den Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter zerstören muss, um Milliarden für ihre Anteilseigner zu sichern.

Die Bevölkerung wird älter. Als Folge davon wird es in Belgien 200.000 bis 300.000 weniger potentiell Arbeitsfähige im Jahre 2030 geben, sofern es keine Änderung in den Rentenbestimmungen gibt. Wiederum, das sollte kein Problem sein. Es könnte sogar helfen, die Arbeitslosigkeit zu senken, und sei es nur um die Hälfte. Aber in diesem System ist das offensichtlich ein Problem. Belgische Kapitalisten schreiben, dass “früher Ruhestand zu Spannungen auf dem Arbeitsmarkt führen wird, da weniger junge Menschen auf diesen Markt kommen, mit inflationären Lohntendenzen als Folge.” Mit anderen Worten, dieses System betrachtet Vollbeschäftigung als Gefahr. Es benötigt eine Arbeitslosenarmee, in der Konkurrenz herrscht, da diese Konkurrenz die Löhne und Arbeitsbedingungen drückt und die Profite erhält. Das Problem ist, dass “Prekarität” (Unsicherheit) dem System immanent ist und nur mit ihm verschwinden wird.

Belgien ist eines der reichsten Länder der Welt. Wie ich schon sagte, könnte es mit Leichtigkeit seine derzeitige soziale Absicherung beibehalten. Zur Finanzierung der alternden Bevölkerung müsste der Sozialhaushalt im Jahre 2030 um 3,8% des Bruttoinlandsprodukts erhöht werden. Dies könnte leicht von den wachsenden Einkommen der Kapitaleigner finanziert werden. In den letzten 25 Jahren wuchs der Anteil der Einkommen von Kapitaleignern am Bruttoinlandsprodukt um 10%. Der Anteil der Einkommen aus Lohnarbeit sank hingegen um diese 10%. Während das Realeinkommen der Arbeiter in dieser Zeit lediglich um 6% stieg, erhöhte sich das Einkommen in Form von Kapitalerträgen um 125%. Dies wurde erreicht durch Regierungsmaßnahmen, die auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene beschlossen wurden: auf der einen Seite Steuersenkungen für Unternehmensprofite und Sozialversicherungsbeiträge von Unternehmen – heute bezahlen belgische Kapitalisten 4,5 Milliarden Euro weniger im Vergleich zu 1993, auf der anderen Seite Steuererhöhungen für Arbeiter, weniger öffentliche und soziale Leistungen, die darüber hinaus zunehmend teuer werden. Warum nicht diese Tendenz umdrehen und von den Reichen nehmen, um den Armen zu geben? Das Problem ist, dass in Belgien wie in allen kapitalistischen Ländern der Staat die Anteilseigner schützt und seine Politik in ihrem Interesse entwickelt. Heute können die Arbeiter die wissenschaftliche Wahrheit in dem erkennen, was Marx in seinen “Klassenkämpfen in Frankreich” schrieb: “Der Staat ist nichts anderes als eine Maschinerie zur Unterdrückung der einen Klasse durch die andere.”

Die Wahrheit kam ebenso ans Licht, als beim ersten Generalstreik am 7. Oktober 2005 die Streikenden Picket Lines bildeten und den Zugang zu Industriegebieten versperrten. Diese Picket Lines helfen den Arbeitern der vielen kleinen Betriebe, in denen keine Gewerkschaften erlaubt sind, am Streik teilzunehmen. Der Innenminister befahl der Polizei sofort, diese Picket Lines zu beseitigen. Überall setzten die Kapitalisten die Gerichte unter Druck zu intervenieren, damit die Picket Lines Streikbrecher durchzulassen. Und die Gerichte gehorchten und verhängten horrende Strafen bei Zuwiderhandlungen. Auf diese Weise wurde das Streikrecht praktisch außer Kraft gesetzt. Und all dies geschah im Namen der Prinzipien von “Freiheit und Gleichheit”. “Freiheit zu streiken, ja, aber auch Freiheit zu arbeiten”, so schrieen unisono Kapitalisten, Regierung und Gerichte sowie die gleichgeschalteten Medien. Aber wie kann es die Freiheit zu streiken geben in Betrieben, in denen keine Gewerkschaften erlaubt sind und in denen Streiken die Kündigung bedeutet? Was bedeutet die Freiheit zu streiken für jene mit befristeten Verträgen, die Kredite zurückzahlen müssen?

Es kann keine Gleichheit geben zwischen den Kapitaleignern, den Eigentümern der Betriebe, und den Arbeitern, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Arbeiterorganisationen können ihre Stärke nicht nur auf Überzeugung aufbauen in einer Gesellschaft, in der Kapitaleigner Streikende aushungern können, in der die Kapitaleigner auch die Zeitungen und die TV-Sender besitzen. Sobald sich der Klassenkampf etwas entwickelt, zerplatzt der Mythos vom neutralen Staat. Die Streikenden können seine wahre Rolle erkennen, wie die wissenschaftliche Analyse von Marx beschreibt: Seine wesentliche Funktion besteht darin, unter dem Deckmantel einer abstrakten Freiheitsformel die Freiheit des Kapitaleigners gegen alles und jeden, der sich ihm widersetzt, abzusichern. Er hat die Freiheit, seinen Betrieb zu schließen und Zehntausende Arbeiter durch Aussperrung zur Armut zu verdammen. Er hat die Freiheit, Tausende Tonnen von Milch und Butter zu vernichten, um die Preise hoch zu halten. Er hat die Freiheit, in einem Schloss mit 20 Zimmern zu leben, während Familien in heruntergekommenen Blocks überleben müssen, in denen Ratten zwischen spielenden Kindern umherhuschen, wie wir es jetzt in Frankreich gesehen haben. Wir haben noch nie erlebt, dass sich ein Polizist oder ein Gericht im Kapitalismus auf die Seite des Arbeiters gegen den Kapitalisten gestellt hätte.

Wie kann jemand die wissenschaftliche Schlussfolgerung von Marx in der gleichen Arbeit  anzweifeln: “Die Arbeiterklasse muss die alte staatliche Unterdrückungsmaschinerie gegen sie beseitigen.”

Wie kann jemand die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution anzweifeln angesichts des völligen Bankrotts des sogenannten demokratischen Sozialismus? In Belgien ist die Sozialdemokratie der Vater dieser Angriffe auf die älteren Arbeiter. Heute spielt sie ihre Rolle der Spaltung der Arbeiterklasse, indem sie die jüngeren gegen die älteren Arbeiter hetzt. Sie klagt jene Gewerkschaften der “Verantwortungslosigkeit” und des “Egoismus” an, die auf ihre Basis hören. Ganz auf der Linie Bernsteins, ihres ideologischen Vaters, predigt sie den bedingungslosen Gehorsam gegenüber den unveränderlichen Gesetzen der Konkurrenz. Bernstein befahl, “nicht die Gans zu töten, die goldene Eier legt”, nicht den Kapitalismus zu zerstören, aber so viele Krümel wie möglich einzuheimsen, wie vom Tisch des Kapitalisten fallen. Der Kolonialismus beging Massaker und Plünderungen, aber, so sagte er, er habe auch seine gute Seite: Die riesigen Profite der Plünderer kam in einem gewissen Umfang auch einem Teil der Arbeiterklasse zugute. Aber heutzutage vertieft sich die kapitalistische Krise, die Schlacht zwischen den Monopolen verschärft sich und trifft zunehmend nicht nur die Menschen in den unterdrückten Ländern, sondern auch in den imperialistischen Zentren. Daher verlieren die dominierenden Teile der Sozialdemokratie die Kontrolle über ihre traditionellen Wähler. In Frankreich und Holland besiegte eine linke Opposition die Sozialdemokratie in den europäischen Referenden. In Deutschland wendeten sich Millionen von der sozialdemokratischen Politik ab und wählten die neue Linkspartei. In Belgien drehten viele Gewerkschafter offen der Sozialdemokratie den Rücken und kamen unserer Partei näher. Es gibt einen wachsenden Wunsch nach einer antikapitalistischen Opposition, nach einer Alternative, in der kollektive Werte im Zentrum der Gesellschaft stehen.

Der entfesselte Kapitalismus bringt Chaos, Krieg, Sozialabbau, Hunger, Rassismus, Verbrechen, Armut und die epidemische Verbreitung von an sich leicht heilbaren Krankheiten in die Welt. Die Menschen sehnen sich mehr und mehr nach einer Welt, in der die ökonomische Planung in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der Mehrheit erfolgt, in der die Reichtümer von wenigen dazu verwendet werden, die Probleme der überragenden Mehrheit zu lösen, in der junge Menschen ihr Leben planen können, einen Job haben, und in der ältere Menschen ein Recht auf Ruhestand haben. Eine Welt, in der der Mensch an erster Stelle steht, nicht der Profit.

Mit diesen Sehnsüchten konfrontiert, intensivieren die reaktionärsten Kreise der Bourgeoisie ihre Gehirnwäsche. Die Menschen müssen glauben, dass dieses System “Demokratie, Freiheit und Menschenrechte” vertritt und darüber hinaus dass der Kommunismus keine Alternative ist. Der Kommunismus widerspricht der Idee, dass die Herrschaft des Kapitals ewig währt. Daher versuchen sie, den Kommunismus zu kriminalisieren. Bereits die Idee eines revolutionären Kampfes gegen den Imperialismus soll als Verbrechen gelten. Sie versuchten, entsprechende Abstimmungen im Europäischen Parlament und im Europarat zu erzwingen, in Eurem Land [Tschechische Republik] verbieten sie kommunistische Symbole.

Ich denke nicht, dass wir am Beginn einer neuen sozialistischen Revolution stehen, aber in den Augen der reaktionären Bourgeoisie in Europa ist es offensichtlich höchste Zeit, das Undenkbare mit allen Mitteln zu verhindern. Niemals wieder dürfen die Arbeiter die Kontrolle über die Reichtümer gewinnen, die sie selbst produzieren. Was sie Nostalgie für den Sozialismus nennen, wächst in den ehemals sozialistischen Ländern. In der Agenda des parlamentarischen Ausschusses des Europäischen Rates zu den sogenannten Verbrechen des Kommunismus im Dezember 2004 lesen wir, dass der Kommunismus gleichermaßen geächtet werden soll wie der Nazismus, “um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern sowie die Verbreitung einer illusionären Nostalgie in der Vorstellung junger Leute, die ein kommunistisches Regime als Alternative zur liberalen Demokratie betrachten könnten.”

Unglücklicherweise haben diese Angriffe auch Einfluss auf die Basis der antikapitalistischen Kräfte und sogar in der kommunistischen Bewegung. In dem Moment, in dem die Klassenkämpfe und die reaktionären Kräfte die Propagierung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung setzen, präsentieren sich einige in der internationalen kommunistischen Bewegung, um die Rolle der diskreditierten Sozialdemokratie zu übernehmen. Sich hinter Worten über die Transformation des Kapitalismus und einer Gesellschaft, “die über die kapitalistische und patriarchalische Logik hinausweist“, versteckend, bieten sie ein reformistisches Projekt an. Der sozialistischen Revolution stellen sie “die Transformation des Kapitalismus” gegenüber. Anstelle des Gemeineigentums der Produktionsmittel reden sie davon, “über die kapitalistische Logik hinaus zu gehen”. Kein Wort über den Ursprung der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter: das Privateigentum an Produktionsmitteln und seine Anarchie, die zu ökonomischen Krisen führt, die dem System immanent sind. Sie reden von der Bekämpfung der Monopole ohne zu sagen, dass sie die unvermeidliche Konsequenz der heftigen Konkurrenz zwischen den Kapitalisten sind, dass sie zum Imperialismus führen, in dem die imperialistischen Mächte, wie die EU, die Welt mittels Krieg aufteilen.

Sie nennen sich Kommunisten, wobei sie ihr Projekt einer alternativen Gesellschaft auf der Ebene der Transformierung der EU ansiedeln. Kein Wort wird verloren über die Europäische Union als einer imperialistischen Konstruktion, entwickelt von den mächtigsten und aggressivsten Monopolen des Kontinents, vereinigt unter anderem am Europäischen Runden Tisch der Industriellen. Sie versprechen kein sozialistisches Europa, aber “ein anderes Europa”, eine “radikale Transformation” der EU, beginnend mit ihren Institutionen. “Wir wollen, dass die gewählten Institutionen, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente mehr Macht und Kontrolle erhalten.” Das ist die Wiederbelebung der alten sozialdemokratischen Illusion, dass man durch die Entwicklung der Demokratie eine Allianz schmieden könne, die in der Lage wäre, eine andere Politik durchzusetzen, einen “neuen Gesellschaftsvertrag”.

Sicherlich kämpfen wir Kommunisten für die Verteidigung und Erweiterung der demokratischen Rechte für das Volk, aber wir tun das mit dem Ziel, den revolutionären Klassenkampf zu entwickeln. Wir wissen aber, dass solange die Monopole die Staatsgewalt innehaben – sowohl auf nationaler Ebene wie auf der Ebene der EU –sie sich niemals einer anderen Politik als der Suche nach Maximalprofit beugen werden. Sozialismus, die einzige Alternative der arbeitenden Massen, ist nicht möglich, ohne mit der politischen und ökonomischen Macht der Monopole zu brechen.

Einige innerhalb der internationalen kommunistischen Bewegung erklären, dass “sie nicht dieselben Wege gehen werden wie die im 20. Jahrhundert“. Kurz, die sozialistische Revolution wird nicht mehr nötig sein, um die Macht der Monopole zu brechen. Es wird genügen, die “Politik der Transformation” zu verfolgen, um die europäische Supermacht in einen Motor für sozialen Fortschritt, Demokratie und Frieden zu verwandeln.

Wenn sie sagen, “eine andere Welt ist möglich“, propagieren sie nichts anderes als den Traum eines “humanisierten” Kapitalismus ohne die “Exzesse” der “Globalisierung”. Sie sagen, “sie können nicht dieselben Wege gehen wie die im 20. Jahrhundert”. Das heißt, sie folgen nicht den Wegen von Lenin und Stalin, den kommunistischen Wegen des 20. Jahrhunderts. Aber sie folgen definitiv den Wegen von Kautsky und Bernstein, die unseres Wissens auch Wege des 20. Jahrhunderts waren.

Die Arbeiterklasse und die Völker der Welt erholen sich von den Schlägen, die sie nach der Konterrevolution 1989-91 hinnehmen mussten. Sie wehren sich gegen imperialistische Kriege, sie lehnen imperialistische europäische Politik ab, sie führen Kämpfe gegen antisoziale Maßnahmen. Um in der Lage zu sein, ihnen eine Orientierung zu geben, müssen wir ausdrücklich unser Ziel bestätigen, das Sozialismus heißt, die Macht der Arbeiterklasse über das Kapital. Wir müssen unsere Parteien als Avantgarde der Arbeiterklasse stärken, tief verwurzeln in den Massen und vor allem unter den in den Gewerkschaften organisierten Arbeitern. Wir müssen sie in ihrem Kampf führen. Wir müssen innerhalb der kapitalistischen Institutionen wie dem Parlament kämpfen, wir müssen die sozialen und demokratischen Rechte der Arbeiter bewahren, aber wir müssen es tun mit dem Ziel, die Arbeiter über den repressiven Charakter dieser Institutionen aufzuklären sowie die Notwendigkeit, mit ihnen zu brechen und die Arbeitermacht zu errichten: die Diktatur des Proletariats.

Das steht auf der Tagesordnung. Die reaktionären antikommunistischen Kräfte wissen das. Sogar die intelligenten Sozialdemokraten wie Oscar Lafontaine, der kein Surrealist ist, sondern ein ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Sozialdemokratischen Partei und Führer der neuen deutschen Linkspartei, scheinen es besser zu wissen als viele Genossen in der kommunistischen Bewegung. Im Vorwort seines jüngsten Buches zitiert er die deutschen Bischöfe, die warnen, dass die wachsende soziale Ungleichheit “nicht erträglich ist und zu einem vorrevolutionären Klima führen könnte, falls dies über kurz oder lange so weitergeht.” Und wie wir wissen, geht es so weiter.

Vielen Dank!
Herwig Lerouge/PTB                                                                                 (Übersetzung aus dem Englischen: Andrea Schön)