Kommunistische Sorgen – Sorgen um den Kommunismus

Hanfried Müller:
Kommunistische Sorgen – Sorgen um den Kommunismus

Der nachstehende Aufsatz wurde aus „Weißenseer Blätter“, Heft 2/01, S. 9 – 18 übernommen; für den Nachdruck in „Offensiv“ wurden Druckfehler und ungenaue Formulierungen vom Verfasser korrigiert (Red. Offensiv).

Eine Vorbemerkung zur Begriffsklärung

Unter Kommunisten verstehe ich hier alle, die die Aufhebung des Eigentums von Einzelnen oder Kapitalgesellschaften an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln und die Herstellung gesellschaftlichen Gesamteigentums an ihnen für unerläßlich halten, wenn der Prozeß abgebrochen werden soll, in dem die Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht den Arbeitenden zur Hebung ihrer Lebensqualität zugute kommt, sondern dazu führt, daß nur die Kapitaleigentümer davon profitieren, während die ständig sinkende Zahl der in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß Integrierten über immer weniger Zeit und die ständig wachsende Zahl der vom gesellschaftlichen Arbeitsprozeß Ausgeschlossenen über immer weniger Mittel zu einem menschenwürdigen Leben verfügen, so daß alle wirklich menschliche Kultur im Interesse einer parasitären Minderheit zwischen der geistig-moralischen Verelendung der einen und der materiell-biologischen Verelendung der anderen zugrundezugehen droht.

Die deutschen Kommunisten sind voneinander enttäuscht und untereinander zerplittert – nicht nur ideologisch, sondern auch organisatorisch und nicht zuletzt – man sollte diesen nur scheinbar „unpolitischen“ Faktor nicht unterschätzen – mentalitätsmäßig, nämlich hinsicht­lich der psychologischen Grundhaltung, aus der sie Kommunisten geworden und Kommunisten geblieben sind.

Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß dieser Faktor eine besondere Schwierigkeit darstellt im Blick auf die Verständigungsschwierigkeiten zwischen den west- und ostdeutschen Kommunisten. Ein wenig karikiert gesagt:

Westdeutsche Kommunisten sind ganz wesentlich Kommunisten geworden, weil sie zu dem imperialistischen System, das in ihrem Lande herrschte, kategorisch „Nein“ gesagt haben, also aus einem Widerspruch. Sie waren, will man es ein wenig scherzhaft sagen, ursprünglich Protestkommunisten. (Schlossen sie sich allerdings der KPD in Westdeutschland oder später der DKP an, trat diese Einseitigkeit durch den in diesen Parteien vermittelten Einfluß ostdeutscher Kommunisten zurück.)

Ostdeutsche Kommunisten sind ganz wesentlich Kommunisten geworden, weil sie zu dem sozialistischen System, das in ihrem Lande herrschte, „Ja“ gesagt haben, also aus einer Zustimmung. Sie waren, will man auch das scherzhaft formulieren: Konsenskommunisten.

Beide Haltungen gehören durchaus zur Grundstruktur wissenschaftlich-kommunisti­schen Denkens. Das Nein zur gegebenen und das Ja zur zu erstrebenden gesellschaftlichen Ordnung bilden eine dialektische Einheit. Ohne das System bürgerlichen Privateigentums samt seiner Entwicklung zur imperialistischen (globalen) Weltherrschaft revolutionär zu bekämpfen und aufzuheben, kann man so wenig Kommunist sein, wie man es sein kann, ohne alles produktive Eigentum revolutionär zu ver­gesellschaften, um den Prozeß zur Ablösung zuerst der bürgerlichen durch eine proletarische Klassenherrschaft in Gang zu setzen und dann zu einer klassenlosen Organisation der Gesellschaft fortzuschreiten. Folgerichtig über­wiegt bei Kommunisten die Tendenz zur Verneinung, solange sie in einer Gesellschaft leben, in der noch das Kapital alle Lebensverhältnisse beherrscht und sie es zu entmachten haben. Und ebenso selbstverständlich überwiegt bei Kommunisten in einer Gesellschaft, in der sie das Kapital bereits entmachtet und schon mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen haben, das Element der Bejahung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie leben.

Solche unterschiedlichen Lebensverhältnisse haben natürlich auch das Lebensgefühl der deutschen Kommunisten, je nachdem, ob sie in der imperialistischen BRD oder in der sozialistischen DDR lebten, höchst gegensätzlich geprägt. Revolutionärer Elan trug unter kapitalistischen Lebensbedingungen mehr rebellische, unter sozialistischen Lebensbedingungen mehr konstruktive Züge. Unter der Klassenherrschaft der Bourgeoisie entwickelte sich unter den Revolutionären Stolz darauf, anders zu denken und zu handeln, ein anderes Lebensgefühl zu haben als die herrschende Mehrheit. Wo die Arbeiterklasse bereits die Macht gewonnen hatte und der Aufbau des Sozialismus auf der Tagessordnung stand, kam für sie alles darauf an, mit der Mehrheit verbunden zu bleiben, nicht den Widerspruch zu ihr zu suchen und gegen sie zu kämpfen, sondern in ihr Anhänger oder zumindest Mitläufer zu gewinnen und zu führen. Denn im Krieg kann man die feindlichen Herren nicht schlagen, ohne auch ihre Soldaten zu treffen, aber nach dem Sieg kommt es darauf an, mit ihren Soldaten zu kooperieren, um ihre Herren für immer zu entmachten.

Hier allerdings lauert auch eine Gefahr für eine siegreiche kommunistische Partei. Beschränkt sie sich nicht darauf, die in den Klassenschlachten zwischen die Fronten geratenen gesellschaftlichen Kräfte als Bundesgenossen zu aktivieren, sondern nimmt sie sie als Mitglieder in die Partei auf, dann droht ihr eine Verwässerung, der sie kaum anders entgehen kann als so, daß sie sich in eine führende Hierarchie und eine geführte Laienmitgliedschaft differenziert.

Nach 1945 mußte sie in Ostdeutschland dieses Risiko eingehen. Denn sie wäre ohne Bündnispartner im Kleinbürgertum zum Aufbau des Sozialismus zu schwach gewesen. Aber das Risiko erwies sich zunächst als nicht so groß, wie zu befürchten war. Denn in der Zeit des antifaschistischen Kampfes hatten beide Arbeiterparteien so sehr an politischer Reife gewonnen, daß die vereinigten revolutionären Kräfte aus KPD und SPD eindeutig zur führenden Kraft gegenüber dem politisch labilen Kleinbürgertum und der Landbevölkerung wur­den und sich auch als fähig erwiesen, sektiererische Tendenzen unter den Kommunisten und opportunistisch-revisionistische Tendenzen unter den Sozialdemokraten abzuwehren.

Allerdings geriet die sozialistische Offensive in der DDR mit der Verwirrung der kommunistischen Weltbewegung nach dem Todes Stalins in erhebliche Schwierigkeiten. Um die schon errungenen revolutionären Ausgangspo­sitionen zu behaupten, waren die Kommunisten zu einem Konzentrationsprozeß gezwungen, der es ihnen kaum noch erlaubte, die schweren, vollends mit dem 20. Parteitag der KPdSU in Erscheinung tretenden Widersprüche in den eigenen Reihen offen zu diskutieren und unter bewußter Beteiligung der Massen zu entscheiden. Die Devise „Offenheit der Propaganda“ wurde nicht mehr so oft zitiert, war aber noch etwa bis zu dem konterrevolutionären Angriff auf Ungarn 1956 bestimmend. Zumindest bis dahin gab es in der internationalen kommunistischen Bewegung noch einen die Massen orientierenden Meinungsstreit, so zum Beispiel die Auseinandersetzung Hermann Axens mit dem polnischen Revisionismus im ND. Seitdem aber wurde zunehmend mit verdeckten Karten gespielt, und die Gefahr der Herausbildung einer sozialistischen Hierarchie ge­genüber den mehr und mehr politisch entmündigten sozialistischen Mitgliedermassen wuchs und war bis ans bittere Ende zunehmend wirksam. Zum Beispiel wurde allmäh­lich das strikte Reglement, nach dem ein Parteieintritt eine Kandidatenzeit unter der Betreuung eines erfahrenen Marxisten als Bür­gen zur Voraussetzung hatte, immer mehr formalisiert und gelockert. Und ebenfalls zu­nehmend öffnete die SED ihre Reihen immer weiter für solche, die meinten, sie müßten zur SED gehören, wie man in früheren Gesellschaftsordnungen – natürlich nicht als „Prie­ster“, sondern als „Laie“ – zur Kirche gehören mußte, nämlich um voll – mit allen Vorteilen – in die gesellschaftlich tragenden Strukturen integriert zu sein. Und ebenso, wie es in jenen Zeiten unter den kirchlichen Laien eine große Spannweite zwischen engagierten Christen und konventionellen Kirchenmitgliedern gab (und übrigens noch bis heute gibt), gab es nun in der Partei überzeugte kommunistische Genossen und bloße Anhänger einer Staatspartei, die natürlich nach dem Kollaps des sozialistischen Staates so schnell wie möglich ihre Mitgliedschaft darin vergessen machen oder/und wieder zu einer den Staat mittragenden Partei werden wollen, wobei viele gar nicht merken oder merken wollen, daß dieser Staat nach wie vor der Gegenstaat zu ihrem Staat ist.

Die meisten heute lebenden ostdeutschen Kommunisten können kaum verleugnen, daß sie ihre politischen Lehrjahre ausschließlich unter den oben geschilderten Bedingungen nach dem Sieg der sozialistischen Revolution absolviert haben. Die Generation derjenigen, deren Lebenserfahrung schon im antifaschistischen Kampf und den Übergangskämpfen un­mittelbar nach dem Kriege geprägt worden war, stirbt ebenso aus wie die Generation der Asylanten und Immigranten aus der BRD in die DDR.

Während des Kalten Krieges vollzog sich der Klassenkampf in Europa weitgehend in der Form eines zähen Stellungskrieges – sowohl zwischen dem imperialistischen und sozialistischen Lager als auch in beiden Lagern selbst. So waren bereits zur Zeit der Konterrevolution von 1989 die meisten ostdeutschen Kommunisten nicht mehr an offene Feldschlachten mit dem Klassenfeind gewöhnt. Für sie hatte sich der Klassenkampf überwiegend außenpolitisch auf der Ebene des militärischen Schutzes des eigenen sozialistischen Territoriums gegen feindliche Subversion und Aggression vollzogen. Und sofern sie diesen Klassenkampf nicht in den Grenztruppen erlebt hatten (hier allerdings seiner Erscheinung nach nicht als Bürgerkrieg, sondern als Kampf zwischen Staaten gegensätzlichen Klassencharakters), waren sie an der Hauptfront fast nur Zuschauer gewesen. Am unmittelbarsten fanden sie sich noch existentiell einbezogen, wo sie ihr revolutionäres Bewußtsein durch Solidaritäts-Kundgebungen und -Aktionen im weltweiten Bewegungskrieg der Klassen, vor allem während des Vietnamkrieges, zu artikulieren vermocht hatten. Innenpolitisch aber hatte sich der Kampf überwiegend auf der Ebene möglichst lautloser Unterdrückung des Klassenfeindes vollzogen – und um der wünschenswerten Lautlosigkeit willen oft genug mit bedenklichen Methoden und unter Ausschluß sehr vieler Genossen von der Führung dieser Kämpfe und von der politisch voll bewußten Beteiligung daran.

Das heißt nicht, daß es nicht auch in der DDR harte Klassenkämpfe gegeben hat. Aber sie spielten sich weitgehend nicht in der Öffentlichkeit, sondern in einem verbissenen Ringen um die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit politischer Positionen zumeist in kleineren Kollektiven oder am Rande der Gesellschaft ab wie zum Beispiel in der Kirche. Daher mag es kommen, daß der verschwindend kleine fortschrittliche Flügel in der Kirche 1989 von der Konterrevolution nicht so überraschend überrumpelt wurde wie viele Kommunisten in der sozialistischen Gesellschaft.

Aber die Führung des Klassenkampfes war – man nehme mir die etwas karikierende Bemerkung nicht übel – überwiegend und überdies sehr arbeitsteilig zur Sache von Funktionären geworden. Und sogar immer mehr Funk­tionäre der mittleren Ebene überließen ihn – nicht nur aus Disziplin, sondern oft politisch völlig bewußtlos und aus Bequemlichkeit – der „Partei- und Staatsführung“. Tatsächlich waren natürlich die Massen objektiv durch ihre ökonomische, gesellschaftliche und politische Arbeit der eigentliche Träger des Klassenkampfes, und die führenden Funktionäre waren auch oft bestrebt, ihnen das bewußt zu machen. Sie konnten aber damit ein Schwinden des im engeren Sinne politischen Bewußtseins der Massen kaum zureichend aufhalten, und die entscheidend wichtige und richtige Parole vom „Mitarbeiten, Mitdenken und Mitregieren“ verlor zunehmend an praktischer Wirkung. Darunter litt nicht nur erheblich das Be­wußtsein der Massen für ihre demokratische Mitverantwortung im politischen Kampf, sondern es konnte sich auch ihre Erfahrung im politischen Kampf nicht optimal entwickeln. Durchaus treue und engagierte Genossen verzichteten schließlich allzu oft darauf, die politischen Entscheidungen jeweils selbständig zu begreifen und überließen das strategische Den­ken und Handeln im Sinne einer ganz und gar nicht kommunistischen Arbeitsteilung vertrauensvoll der „Parteiführung“, ohne es noch ernstlich mitgestalten und mitverantworten zu können oder auch nur zu wollen.

Anders entwickelten sich die Verhältnisse in der BRD. Hier wurde mit Beginn des Kalten Krieges der Antikommunismus wieder zur Staatsdoktrin wie in der Nazizeit. Aufgrund der internationalen Kräfteverhältnisse ließ sich die revolutionäre Vereinigung der wesentlichen Teile der Arbeiterklasse in einer konsequent marxistischen Partei in den imperialistisch beherrschten Besatzungszonen Deutsch­lands nicht realisieren. Vielmehr wurde hier schon sehr bald, wenn auch nicht ganz ohne innere Kämpfe, die SPD wiederum zum Vorposten der imperialistischen Restauration in der Arbeiterklasse. Die Kommunisten wurden zunächst aus ihrer Beteiligung an zum Teil noch antifaschistisch-demokratischen Kommu­nal- oder auch Länderregierungen in die Opposition verdrängt; dann wurden die mit ihnen verbundenen Masssenorganisationen und zuletzt ihre Partei selbst verboten. Dieses Verbot wurde nicht nur rechtlich und politisch, sondern auch gesellschaftlich wirksam. Denn um den revolutionären Weltprozesses zu stoppen, ermöglichte die amerikanisch-westeuropäische Monopolbourgeoisie in Westdeutschland ein „Wirtschaftswunder“ (Marshallplan), in dem große Teile imperialistischer Extraprofite zur Korruption der Arbeiterklasse eingesetzt werden konnten und – flankiert durch eine maßlose Sozialdemagogie und nackten Terror (Be­rufsverbote etc.) – ihre Wirkung taten. So wurden die Kommunisten in der BRD gesellschaftlich geächtet und marginalisiert. Ideologische Hauptwaffe des Antikommunismus blieb es, alle antifaschistischen und antiimperialistischen Kräfte als „Stalinisten“ und als „fünfte Kolonne Moskaus“ zu bezeichnen, um sie als eine gleichsam auswärtige Macht aus der deut­schen Nation auszugrenzen. Der Haß der in der BRD niemals aus der politischen Führung verdrängten Nazis auf ihre Bezwinger bestimm­te das gesellschaftliche Klima.

Kein Wunder, daß sich immer wieder Kommunisten in der BRD dieser Beschuldigung zu entziehen versuchten, indem sie sich gegen die Sowjetunion profilierten, sei es als „Trotzki­sten“, „Titoisten“, „Maoisten“ oder schließlich als „Eurokommunisten“. Oft genug verfielen sie auf diesem Wege der offenen oder verdeckten Lenkung durch imperialistische Geheimdienste.

Je mehr sich in Deutschland die Stärken und Schwächen der kommunistischen Bewegung in dessen sozialistischem Staat konzentrierten, desto mehr konnte es westdeutschen Kommu­nisten so scheinen, als hätten ihre ostdeutschen Genossen sie aus allen klassenkampf­entscheidenden Positionen in Deutschland ver­drängt. Dieser Anschein trog zwar weitgehend, war aber fast unvermeidlich. Denn die dauernde Gefahr, daß der „kalte“ in einen „heißen“ Krieg umschlagen konnte, zwang dazu, den Klassenkampf (nicht nur zwischen den beiden deutschen Staaten, sondern auch in ihnen) nicht im Stil offenen Kampfes, sondern im Stil verdeckten Unterminierens der Positionen des Gegners zu führen. Dieser Zustand bestimmte die Lebenserfahrung einer ganzen Generation deutscher Kommunisten und trug dazu bei, daß die eigene Subjektivität im Klassenkampf kaum noch empfunden wurde, während umgekehrt der Klassenkampf als solcher den Anschein einer ganz eigenartigen Objektivität erhielt, als müsse er nicht geführt werden, sondern vollziehe sich von selbst. Das verleitete zu dem Irrtum, daß – um es reichlich salopp auszudrücken – weniger die Gesellschaft Subjekt ihrer Geschichte, als vielmehr die Geschichte selbst Subjekt der gesellschaftlichen Bewegung sei. Das in unglücklicher Zeit in einem unglücklichen Mißverständnis zitierte, ohnehin nicht allerweiseste Bebelwort: „den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ zeigte ziemlich genau, wohin dieses mechanistische Mißverständnis historischer Entwicklung, das zu einer illusionsgeladenen Untätigkeit verleiten kann, geführt hatte. Zwar nicht „Ochs und Esel“, wohl aber feindliche Raffinesse – außerhalb und innerhalb der eigenen Grenzen – und eigene Naivität vermochten ihn in seinem Lauf durchaus erfolgreich aufzuhalten.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre konsolidierte sich nicht nur der sozialistische Auf­bau in der DDR, sondern es kam auch in der BRD zu einer schweren politischen Krise. Sie verschärfte sich nicht zuletzt dadurch, daß sich in der DDR – durch die endliche Schließung der Staatsgrenze am 13. 8. 1961 sowohl gegen ökonomische Ausblutung als auch gegen politische Diversion besser abgeschirmt – deren ökonomische Basis und Produktion rasant ent­wickelte. Während die Akkumulationsrate in den letzten Jahren ständig gesunken war, erhöhte sie sich im IV. Quartal 1961. Die Indu­strieproduktion stieg 1962 um 6,1 %, während die Kosten um 2,8 % sanken. Grundsätzlich veränderte sich das Verhältnis zwischen Steigerung der Arbeitsproduktivität und Erhöhung des Durchschnittslohnes. Während der Durchscnittslohn nach 1953 bis 1961 schneller stieg als die Arbeitsproduktivität und damit mehr verbraucht als produziert wurde, wuchs die Arbeitsproduktivität 1962 um 9,2 %, während der Durchschnittslohn nur um 1 % stieg. Dadurch wurden spürbar Mittel frei für die Akkumulation und Sozialpolitik.

Das wirkte sich innenpolitisch auf nahezu allen Gebieten in einer ganzen Serie von Reformen aus: Die Wirtschaft wurde umfassend neu organisiert, sozialistische Rechtsnormen in neu­en Gesetzbüchern zusammengefaßt, vom Arbeits- über das Zivil- bis zum Strafrecht, die nun endlich die noch aus der Kaiserzeit stammenden Kodifizierungen ersetzten. Eine weiterführende Hochschulreform folgte. Und schließ­lich wurde die bürgerlich-demokratische Verfassung, die noch ganz auf die Herstellung eines dem Potsdamer Abkommen entsprechenden antifaschistisch-demokratischen Gesamtdeutschlands gerichtet gewesen war, durch eine volksdemokratisch-sozialistische Verfassung ersetzt.

Nicht zuletzt all das trug dazu bei, daß das imperialistische Lager und insbesondere die BRD, ohnehin von der ersten ernsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit betroffen, in eine auch politisch tiefe Krise geriet. Das bisherige antikommunistische Feindbild von der angeblich ständig vor dem Zusammenbruch stehenden DDR geriet angesichts deren zuneh­mender inneren und äußeren Stärke ins Wanken. Weder im Kampf gegen die DDR noch in der innenpolitischen Auseinandersetzung ließ sich der sterile flagrante Antikommunismus, so wie er in der Zeit des Bruchs der Antihitlerkoalition im Stile McCarthys entwickelt worden war, durchhalten. Die antikommunistische Reaktion sah sich gezwungen unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ eine neue, flexiblere Form des antikom­munistischen Kampfes zu suchen.

Die Gärung erfaßte zuerst die studentische Jugend, und sogleich zeigten sich die westdeutschen Kommunisten durchaus in der Lage, diese Studentenbewegung in progressive Bahnen zu lenken. Viele Genossen an der Basis der KPD, die noch verboten war, erkannten die Chance, revolutionäre Erfahrungen vermittelnd und so führend an der Rebellion der jungen Intelligenz anzuknüpfen. So erlebte ich das zum Beispiel unmittelbar nach dem Ohnesorg-Mord bei einer studentischen Großveranstaltung 1967 in Göttingen.

Um diese Zeit wurde überdies das KPD-Ver­bot von 1956 der herrschenden Klasse in der BRD selbst lästig. Es behinderte sie bei ihrem Versuch, die Konterrevolution nunmehr „auf Filz­latschen“ – wie der DDR-Außenminister Winzer das treffend nannte – schleichen statt marschieren zu lassen. Sie fiel mit dem KPD-Verbot aus dem Rahmen der führenden westeuropäischen Länder heraus, mochte es aber aus der begründeten Furcht, damit einen Dammbruch zu riskieren, auch nicht aufheben und fand den Ausweg, nicht etwa die KPD „wieder“, sondern die DKP „neu“ zuzulassen – eine „andere“ kommunistische Partei?

Ohne Zweifel war die Situation zugleich chan­cenreich und schwierig. Der großangelegte Konterrevolutionsversuch in der CSSR, der ja zunächst bis in weite linke Kreise hinein dank seiner Tarnung als sozialistische Weiterentwicklung irritierend wirkte und von kommunistischer Seite, um den anlaufenden Friedensprozeß nicht zu gefährden, nicht rechtzeitig öffentlich entlarvt wurde, verwirrte die Gemüter. Und die Führung der „Studenten­bewegung“ geriet sehr schnell unter die Fittiche der modern werdenden „Frankfurter Schu­le“. Dennoch frage ich mich: Ist mein Eindruck falsch, daß es von verhängnisvoller Bedeutung für den revolutionären Weltprozeß war, daß das sozialistische Lager nicht erkannte, daß es das Risiko der Verhandlung mit den flexibleren, gewiß aber nicht weniger als die erstarrte Reaktion antikommunistischen Fraktionen der amerikanisch-westeuropäischen Bour­geoisie nur hätte verantworten können, wenn es zugleich in diesen Ländern – und insbesondere in dem einzigen Frontstaat unter ihnen, der BRD – den Einfluß internationalistisch-kon­sequenter Kommunisten nachhaltiger gestärkt hätte?

Dazu gehörte es übrigens auch (wenn ich nicht das Opfer von Fehlinformationen bin), daß die Gründung der DKP (im Einvernehmen von UdSSR/KPdSU und der Willi-Brandt-Regie­rung, um diese von dem Odium des KPD-Verbotes zu entlasten, ohne sie mit dessen Revokation zu belasten) mit der Auflage verbunden war, auf die Formel „Marxismus-Leni­nismus“ zu verzichten, also mit einer kaum zu verkraftenden und zu verantwortenden ideologischen Konzession an den westdeutschen Antikommunismus im allgemeinen und einem Kotau vor den Begründungen des KPD-Ver­bots im besonderen. Hinzu kam, daß die deutschen Kommunisten nun, nachdem, wie im bürgerlich-demokratischen Westeuropa üblich, auch in der BRD eine kommunistische Partei pro forma legalisiert, wenn auch durch die Berufsverbotspraxis in Wahrheit zugleich mit ihrer Zulassung illegalisiert war, kaum noch aus­sichtsreich den Kampf um die Aufhebung des antidemokratischen KPD-Verbotsurteils weiterführen konnten. So war damals zugleich die DKP eine Schöpfung und die KPD ein Opfer der verfehlten sowjetischen Entspannungspolitik – wenn meine Informationen, die keiner der Zeugen der Verhandlungen um die Gründung der DKP schriftlich formulieren möchte, zutreffen (und unwahrscheinlich ist ihr Inhalt leider nicht!). Wäre es – wozu einem Ondit nach Walter Ulbricht tendierte – nicht richtiger gewesen, wenn man damals auf einer Aufhebung des KPD-Verbotes insistiert hätte? Offenbar aber wirkten das Interesse der Sowjetunion daran, das Anlaufen des „Entspannungs­prozesses“ zu erleichtern, und das Interesse der BRD daran, die Sonderstellung, die sie un­ter den westeuropäischen Demokratien durch ihr KPD-Verbot einnahm, möglichst flexibel loszuwerden, bei der Neuzulassung der nunmehrigen „DKP“ zusammen. Aber wäre das sozialistische Lager nicht besser beraten gewesen, wenn es mit etwas mehr revolutionärem Internationalismus zumindest versucht hätte, den westdeutschen Kommunisten dabei zu helfen, zu einer solchen politischen Kraft zu werden, wie die französischen und italienischen Kommunisten sie damals noch darstellten, bevor sie dem Eurokommunismus erlagen?

Tatsächlich hat das sozialistische Lager sie eher daran gehindert als dabei gefördert, und es ist schwierig, zu beurteilen, inwieweit das nur fahrlässig oder konterrevolutionär vorsätzlich geschah, zumal nun im historischen Rückblick vollends deutlich wird, daß bereits damals die opportunistisch-revisionistische Zer­setzung vieler Führungskader im sozialistischen Lager zu eskalieren begann, die wesentlich zu dem Sieg der Konterrevolution 1989 beigetragen hat.

Insbesondere für die westdeutschen Kommunisten war diese Entwicklung verhängnisvoll. Selbstverständlich wurde die DKP von ihrer antikommunistischen Umwelt wie eh und je die KPD als bloßer Aussenposten der SED, der führenden revolutionären Kraft in einem abtrünnigen Staatsgebiet, verleumdet und behandelt. Aber bisher hatte dieser Angriff die kommunistische Partei als Teilkontingent der internationalen kommunistischen Weltbewegung und also als Teil einer internationalistischen Macht getroffen. Jetzt aber war sie in der BRD keine ernst zu nehmende Kraft mehr. Das änderte sich zwar für kurze Zeit in den achtziger Jahren, als sie in der Friedensbewegung eine führende Rolle gewann, die sie aber, ohnehin von geschickt operierenden scheinneutralistischen imperialistischen Agen­ten ständig bedrängt, nicht mehr durchzuhalten vermochte, als unter Gorbatschow die So­wjetunion selbst ihnen in den Rücken fiel (was manche bis heute nicht wahr haben wollen). Aber in den ganzen wichtigen siebziger Jahren, im „Helsinki-Prozeß“ spielte sie zum Beispiel – und zwar für beide Seiten! – überhaupt keine Rolle mehr in den Verhandlungen, in denen sich Warschauer Pakt und NATO einerseits bemühten, einen Umschlag des kalten in einen heißen Krieg zu verhindern (die einen aus Friedensliebe, die anderen, weil es ihnen – wie sich zeigte, zur Recht – profitabler erschien, den Gegner ökonomisch als militärisch zu liquidieren) und anderseits die schon erstarrende sozialistische Weltbewegung versuchte, ihren Bestand zu sichern, ohne zu berücksichtigen, daß es im revolutionären Prozeß zwar immer Phasen der Offensive und Defensive geben wird, daß man aber in beiden Fällen den revolutionären Kampf nicht willkürlich unterbrechen kann, ohne ihn abzubrechen.

Hinzu kam, daß die westdeutschen Kommunisten nicht nur durch die – übrigens sehr brutale – Durchsetzung des KPD-Verbots für längere Zeit weitgehend außer Aktion gesetzt und zugleich mit einer Demagogie, die jeden Vergleich mit den Leistungen Joseph Goebbels’ auf diesem Gebiet aushält, gesellschaftlich isoliert worden waren. Vielmehr war außerdem die westdeutsche Arbeiterklasse – geduldet und sogar gefördert von fast allen ökonomischen Konkurrenten der BRD innerhalb der NATO – unter Einsatz erheblicher Mittel aus imperialistischen Extraprofiten in ihren materiellen Lebensbedingungen sozialökonomisch so gut gestellt worden wie in kaum einem anderen imperialistischen Staat. Terror, Demagogie, und – für beides grundlegend – materielle Korruption waren also im Kalten Krieg von den vereinigten imperialistischen Mächten mindestens so wirksam im antikommunistischen Kampf eingesetzt worden wie in Deutschland während der Zeit des Faschismus.

Trotz dieser Schwierigkeit gelang es der DKP weitgehend das Erbe der KPD anzutreten. Insgesamt hat sie es vermocht, durch ein halbes Jahrhundert der Verfolgung, zuerst mit dem Parteiverbot, dann mit den Berufsverboten und kontinuierlich mit der demagogischen Behandlung als „fünfte Kolonne“ des außenpolitischen Erzfeindes, der DDR, ihre flächendeckende Organisation in der BRD ebenso durchzuhalten wie ihre politisch-ideologische Einbindung in die kommunistische Weltbewegung und so im pro und contra wirksamer Bezugspunkt nahezu aller westdeutschen Kommunisten zu bleiben.

Aber sie vermochte nicht die Selbstverständlichkeit des gesellschaftlichen Boykotts so zu durchbrechen, wie es bei günstigerer Ausgangslage vielen anderen westeuropäischen kommunistischen Parteien gelungen war. Dabei spielten zweifellos vorhandene eigene Schwächen eine Rolle, vor allem aber war dafür die Konzentration der imperialistischen Hauptmächte auf die Stabilisierung der BRD als Frontstaat gegen das sozialistische Lager ausschlaggebend. So konnte die DKP von Anfang an nicht verhindern, daß sich neben ihr immer kommunistische Splitterparteien bilde­ten, häufig, nicht zuletzt geheimdienstlich ge­lenkt, zumeist „links“ orientierte (insbeson­dere wenn man unter „links“ vor allem eine einseitig auf die Störung der alten und nicht dialektisch darin zugleich auf die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung orientierte, oft voluntaristische, subjektivistische, irrationalistische, modernistische und anarchische Hal­tung versteht). Diese konnten sich – anders als die immer wieder in der Geschichte der Arbeiterbewegung am Rande der Hauptpartei entstehenden Abspaltungen. – zum Teil längerfri­stig neben ihr behaupten. Denn eines war den meisten von ihnen (auch wenn sie sich – oft ohne deren eigentlichen Charakter zu verstehen – gerade an den Differenzen in der internationalen kommunistischen Bewegung orientierten) gemeinsam: sie wichen dem auf das sozialistische Lager gerichteten Hauptstoß des imperialistischen Antikommunismus opportunistisch aus.

Denn sie lösten jede Bindung an die kommunistische Weltbewegung mit allen Höhen und Tiefen und an diejenige bisherige Geschichte des revolutionären Prozesses, die zur Entstehung und Festigung des sozialistischen Lagers beigetragen hatte und die vom Imperialismus als Hauptfeind gefürchtet wurde. In den Kommandozentralen des Klassenfeindes hielt man zumeist die Störung des revolutionären Weltprozesses, die zuweilen von ihnen ausging, für gravierender als ihren – ernstlichen – revolutionären Elan, mit dem sie oft auftraten, als könnten sie die sozialistische Bewegung sozusagen vom Nullpunkt her noch einmal – und dann fehlerfrei – von vorn beginnen.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Massenparteien in Europa allerdings sollten deren konsequent marxistischen Reste ebenso wie diese „freischwebenden“ kommunistischen Randorganisationen und Intellektuellen ihre in der Vergangenheit begründeten Ressentiments gegeneinander zurückstellen und mit der Frage: „was haben wir, was habt Ihr heute zu tun?“ auf einander zugehen.

Unter diesen unzweifelhaft schweren Belastungen bildete sich in der DKP eine Grundhaltung heraus, die heute den Prozeß notwendiger Zusammenführung der in dieser Geschichte zersplitterten kommunistischen Bewegung und die Rückkehr aus der in dieser Geschichte ent­standenen kommunistischen Zerstreuung in eine kommunistische Sammlungsbewegung un­gemein erschwert, nämlich ein tief verinnerlichter Zentralismus, gespeist von der Angst vor weiteren Abspaltungen. So konzentriert sie sich auf die Konservierung der Partei in ihrem gegenwärtigen Zustand und scheut ängstlich zurück vor dem gebotenen marxistisch-dialek­tischem Meinungsstreit, ohne zu berücksichtigen, daß dies ein Zustand der Schwäche ist, den man gerade nicht konservieren sollte. Zu­gleich ist sie darum nur desto anfälliger für eine pessimistisch-abwertende Kritik der ganzen bisherigen sozialistischen Bewegung, statt sich und andere auf eine kritisch-optimistische gegenwartsbezogene Zukunftskonzeption unter Nutzung des ganzen Reichtums konsequent kommunistischer Ideen und der Erfahrungen aus der Geschichte des bisherigen revolutionären Prozesses zu orientieren.

Das aber ist keine Aufgabe, die heute oder morgen gelöst werden kann. Zu ihr gehört insbesondere viel ideologisch-theoretische Vorarbeit von allen Seiten, sowohl im Sinne einer sachlichen – nicht antikommunistisch-hämi­schen, sondern parteilich vorwärts orientierten – Kritik und Selbstkritik, orientiert an dem Beispiel, das Marx und Engels das erste Mal nach dem Scheitern der Revolution von 1848 und ein zweites Mal in der Einordnung der Pa­riser Commune als heldenhaften, aber noch mißlungenen Start im kommunistischen Weltprozeß gegeben haben.

Diese Kritik sollte so geübt werden, daß sie nur wirkliche Diversanten des sozialistischen revolutionären Prozesses ausschließt, aber für alle Kommunisten offen ist, denen eine Einigung zum erneuten sozialistischen revolutionären Anlauf und darum eine gemeinsam-offe­ne Analyse der bisherigen Geschichte der sozialistischen Weltbewegung wichtiger ist, als gegen andere Genossen „recht gehabt“ zu haben. „Wieder einmal recht gehabt“, heißt es in Oesers Ehezuchtbüchlein, „hat nur der Nichtliebende“, und so gewiß eine kommunistische Partei keine Liebesgemeinschaft ist, so gewiß ist sie doch auch nicht das Gegenteil!

Leider wird, je länger desto mehr, deutlich, welch verhängnisvolles Versäumnis es war, daß es die ernsthaften Sozialisten 1989 nicht vermocht hatten, sich bei dem letzten Parteitag der SED und zugleich dem ersten Parteitag der PDS von den Renegaten um Berghofer, Gysi, Brie, die unter Ausnutzung der Erschütterung durch die Konterrevolution die SED in eine kleinbürgerliche, vorerst DDR-nostalgische Par­tei verwandelten, organisatorisch zu trennen. Freilich mochte es damals noch möglich schei­nen, dieser Partei, gestützt auf eine gesunde Substanz sozialistischen Bewußtseins in ihrer Basis, wieder einen sozialistisch-revolutionä­ren Charakter zu geben, wenn man, allen reaktionären und revisionistischen Weichenstel­lungen zum Trotz, nicht aus ihr austrat. Das aber erwies sich insbesondere darum als unmöglich, weil die kommunistischen Kräfte in der PDS dazu durch die Tatsache viel zu verwirrt waren, daß die Konterrevolution ausgerechnet von der Sowjetunion ausging und gefördert wurde. So blieb der größte Teil der Kommunisten in der DDR zunächst in der ent­stehenden revisionistischen PDS hängen. Und nicht in einem politisch überzeugenden und organisierten Akt kam es zur Trennung der kommunistischen von den reformsozialistischen Kräften, sondern allzu vereinzelt und in­dividuell traten Kommunisten, die es in der PDS nicht mehr aushielten, aus ihr aus und nur zum Teil in kommunistische Parteien über und ließen dabei überdies ihre Genossen in der PDS in einer ohne sie noch schwierigeren Situation zurück.

Nicht viel geringer war die Verwirrung in der für den Kommunismus repräsentativsten po­litischen Partei in der BRD, in der DKP. Auch hier stiftete das Vorurteil, eine Konterrevolution vollziehe sich per definitionem verbunden mit Blutvergießen und massenhaften Schießereien, gekoppelt mit der illusorischen Meinung, die Verfallserscheinungen seien nur Ausdruck einer schwer verständlichen, aber wohl erwogenen Art von „Frontverkürzung“ der Sowjetunion und keineswegs der Beginn eines katastrophalen Sieges des Imperialismus über den europäischen Sozialismus, nachhaltig Verwirrung. So war auch diese Partei nicht zureichend darauf vorbereitet, sich selbst, insbesondere durch massenhafte Vereinigung mit den Kommunisten aus der SED, in eine wirklich gesamtdeutsche kommunistische Partei zu verwandeln. Vielmehr fällt es ihr bis heute schwer, den sich aus der PDS lösenden Kommunisten gleichberechtigte Chancen zu geben. Dazu müßten nicht nur Kommunisten aus der DDR endlich aufhören, ihre DDR-Bürger-No­stalgie mit kommunistischer Prinzipienfe­stigkeit zu verwechseln, sondern es müßten auch Kommunisten aus der BRD westdeut­sche Überheblichkeiten überwinden, mit de­nen sie ihr Klassengegner infiziert hat.

Dürfen und müssen europäische und deutsche Kommunisten nun politisch untätig warten, bis ihre Parteien auf einer konsequent wissenschaftlich-revolutionären Linie wieder konstituiert sind? Ich meine, das wäre verantwortungslos. Was aber haben sie heute zu tun?

Ich denke, wir haben derzeit eine Ruhepause bis ein erneuter Anlauf zu einer sozialistischen Revolution in Europa möglich ist. Zwar war die Zeit dafür schon 1917 überreif, wenn man an die Notwendigkeit, leider noch nicht reif genug, wenn man an den Erfolg der sozialistischen Revolution denkt. Dieser Anlauf aber war genau so nötig wie in der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die frühbürgerliche Revolution. Und es wird sich zeigen, daß ebenso wie jene sich trotz ihrer Niederlage in der Gegenreformation als eine äußerst fruchtbare Ge­neralprobe für den bürgerlich-revolutionären Prozeß erwies, wenn man ihre Größe nicht verleugnet, sondern historisch-kritisch bahnbrechend würdigt, auch die sozialistische Revolution im Europa des 20. Jahrhunderts das Tor für weitere revolutionäre Erhebungen geöffnet hat.

Je mehr die Kapitalkonzentration zur Kapital­allmacht führt, desto dringlicher wird die gesellschaftliche Umwälzung gerade auch in den Zentren des globalen Imperialismus. Zwar wird auch sie wahrscheinlich von den schwäch­sten Gliedern imperialistischer Macht ausgehen aber ihre Möglichkeit kann schneller heranreifen, als heute vorhersehbar. Nur bis dahin haben wir noch Zeit, viele offene Fragen hin­sichtlich der historischen Vergangenheit und politischen Zukunft des revolutionären Prozesses zu durchdenken. Wir sollten das in einem wissenschaftlichem Meinungsstreit, soweit möglich sine ira et studio, versuchen, hart in der Sache, aber freundschaftlich in der Form, und vorerst so, daß der Disput nicht zu weiteren Trennnungen führt, sondern vereinigt, damit wir, wenn in Europa wieder eine revolutionäre Situation eintritt, politisch-ideo­logisch so schlagkräftig sind wie irgend möglich.

Bis dahin halte ich eine Aktionseinheit aller Kommunisten – unter Zurückstellung alles Tren­nenden – mit allen ernsthaften antifaschistischen Demokraten unter der Parole: „Nein zu diesem System“ schon hier und heute für ebenso notwendig wie möglich.

Ich wiederhole hier, was ich einleitend als die Gemeinsamkeit aller Kommunisten und kampf­bereiten Demokraten beschrieben habe, und hoffe, daß sie sich darüber einigen können:

Nein zu diesem System, in dem die Ausgebeuteten so viel zu arbeiten haben, daß sie keine Zeit haben, an das Gemeinwohl zu denken, Nein zu diesem system, in dem die Un­terdrückten keine Arbeitsplätze finden, an denen sie für das Gemeinwohl arbeiten können, Nein zu diesem System, in dem die Ausbeuter und Unterdrücker mit ihrem Kapital spekulieren, ohne sich um das Gemeinwohl zu kümmern, Nein zu diesem System, in dem jede Produktivitätssteigerung nicht die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verkürzt, son­dern Arbeitsplätze beseitigt, weil gerade das den Profit mehrt.

Nein zu diesem asozialen System, das seine Nutznießer immer wieder zur Selbstbehauptung in Kriegen und Konterrevolutionen führt!

Mit einer solchen Parole könnten deutsche Kommunisten hier und heute zum Beispiel in den Berliner Wahlkampf gehen. Eine Senatsmehrheit, mit der sie ihr Wahlprogramm durch­setzen könnten, werden sie derzeit ohnehin nicht erreichen. Also brauchen heute auch weder sie noch ihre Wählerinnen und Wähler ein solches positives Programm. Aber sie böten mit einem programmatischen Nein ihren Wäh­lerinnen und Wählern die Möglichkeit, zu sig­nalisieren, daß sie nicht „politikverdrossen“ die Politiker von der PDS über die SPD, die Grünen, die CDU, die FDP bis zur extremen Rechten eine Politik machen lassen wollen, die mehr denn je die Monopole ihnen verordnen, sondern daß sie zu solcher Politk solan­ge Nein sagen, bis wieder eine Zeit kommt – und sie wird vielleicht schneller kommen, als heute zu erwarten ist – in der eine andere, nämlich eine sozialistische Politik möglich wird, zu der sie dann Ja sagen und die sie, sobald möglich, erkämpfen werden. Bis es soweit ist, werden sie sich – gerade im Zusam­menwirken in der wirklichen Opposition gegen das imperialistische System immer weiterer Kapitalkonzentration – gegenseitig besser verstehen lernen und damit beginnen können, eine Konzeption und Strategie für ei­nen erneuten Anlauf zur Aufhebung der Kapi­talmacht und zur Herstellung menschlicher Macht zu entwickeln.

                                                                                                                                Hanfried Müller, Berlin