Niederlagenanalyse in der Diskussion

Hans Kölsch
Niederlagenanalyse in der Diskussion

Das wichtigste Ergebnis auf den 375 Seiten des Sammelbandes ist die vorherrschende und überzeugende Beweisführung, dass eine Antwort auf die Frage nach den Ursachen für unsere Niederlage in der Systemauseinandersetzung mit dem Imperialismus nur auf marxistisch-leninistischen Grundlagen gefunden werden kann. Dem dienen zum Teil auch die Ausein-andersetzungen mit dem Revisionismus.

Im Weiteren aber stehen im Sammelband Beiträge nebeneinander und aneinander vorbei, die der Analyse förderlich sind und solche, die dem entgegenstehen. Nach meiner Meinung könnte in den strittigen Fragen über den Sozialismus in Theorie und Praxis ein Fortschritt dadurch erreicht werden, dass sich die Diskutierenden darüber einig werden, zu welchem Zweck, mit welchem Ziel, die Kapitalisten in der sozialistischen Revolution überhaupt entmachtet werden. Marx, Engels und Lenin haben darauf wissenschaftlich begründete Antwort gegeben, dass und wie nach der sozialistischen Machtveränderung den Interessen der Arbeiterklasse und ihrer Ver-bündeten gesellschaftliche Geltung verschafft werden kann. Lenins Beiträge sind bereits Bestandteil des praktizierten sozialistischen Aufbaus. Mit Hilfe der Sowjetmacht konnte nach der Eroberung der Macht mit dem Aufbau einer sozialistischen Wirtschaft begonnen werden, der Grundlage der neuen Gesellschaftsordnung.

In Auseinandersetzungen stellte Lenin in den Vordergrund, dass dieser wirtschaftliche Aufbau „nach den Prinzipien fester Arbeitsdisziplin, im Rahmen einer strengen Organisation, unter der Bedingung richtiger Kontrolle und Rechnungsführung“ erfolgen muss. (Lenin-Werke-Bd.27, S.284) Er stützte sich auf die von Marx erarbeitete wissenschaftliche Voraussicht: „nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion (bleibt) die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinn, dass die Regelung der Arbeitszeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiedenen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hierüber, wesentlicher den je wird.“ (MEW. Bd.25. S.859)

Eine solche Organisation der Produktion sichert, dass an Stelle der früheren Produktion von Mehrwert für die Kapitalisten und deren Profit und Reichtum jetzt im Interesse der Volksmassen produziert wird und dass das Mehrprodukt weiteren revolutionären Veränderungen dient. Von der gesteigerten Arbeitsproduktivität und dem  Zeitgewinn in der Produktion, vom Wertgewinn, sind  hierbei folgende revolutionären Fortschritte abhängig:

Erstens. In welchem Umfang und in welcher Qualität die militärische Verteidigung des sozia-listischen Landes in der kapitalistischen Umwelt gesichert werden kann.

Zweitens. In welcher Zeit und in welchem Umfang die drückenden Relikte der Vergangenheit überwunden werden können.

Drittens. In welcher Zeit und in welchem Umfang die Arbeits- und Lebensbedingungen der Erbauer des Sozialismus verbessert werden können.

Viertens. In welcher Zeit und in welchem Umfang die internationalistische Solidarität der Arbeiterklasse von elementaren Praktiken, wo das vorhandene Wenige solidarisch geteilt wird, zu einer bedeutenden ökonomisch begründeten Kraft im internationalen Klassenkampf voran geführt werden kann.

Fünftens. In welcher Zeit und in welchem Umfang die gesteigerte Arbeitsproduktivität der Politik der friedlichen Koexistenz neue Wirksamkeit verleihen kann.

Sechstens. In welcher Zeit und in welchem Umfang eine neue Bedürfnisstruktur geschaffen und die wichtigste Produktivkraft, die der Arbeiterklasse, dahin geführt wird, dass die Arbeit für alle zum erstens Lebensbedürfnis werden kann.

Siebentens schließlich, in welcher Zeit und in welchem Umfang die zeitweise notwendigen Subventionen abgebaut werden können.

Ob und wie diese Möglichkeiten verwirklicht werden, das entscheidet über Sieg oder Niederlage des Sozialismus. Deshalb konzentrierte der Klassenfeind seine Angriffe auf ökonomischem Gebiet darauf, zu erschweren und nach Möglichkeit zu verhindern, dass die Arbeitsproduktivität gesteigert werden und ein Zeitgewinn, ein Wertgewinn, im Kampf für die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung erreicht werden könnte. Auch Opportunisten verschiedener Art nahmen und nehmen Anstoß an sozialistischen Anforderungen in der Produktion und verbreiten die Illusion, Fortschritte seien allein von der Verteilung abhängig.

Damit der Erfolg des revolutionären Aufbaus gesichert wird, ist es notwendig, dass für die Lösung dieser Aufgaben genau wie im Kampf um die Macht, die Vorhut der Arbeiterklasse, die marxistisch-leninistische Partei, die ganze Klasse und ihre Bündnispartner voran führt. Das ist Klassenkampf in neuen Formen, der unter anderem auch kleinbürgerliche  Einflüsse überwinden muss, mit denen sich Lenin auseinandersetzen musste. Er stellte fest, dass kleinbürgerliche Kräfte und Ideologen mit den Revolutionären bei der Niederwerfung der Bourgeoisie und bei der Kritik am Imperialismus zwar vielfach übereinstimmen, dass sie jedoch in ihrer Mehrheit  nicht „für die Rechnungsführung, die Vergesellschaftung und Kontrolle zu haben sind.“ (LW. Bd.27, S.285) Auch die Erbauer des Sozialismus müssen Bescheid wissen, dass über diese neuen revolutionären Aufgaben „in den bolschewistischen Büchern noch nichts darüber geschrieben steht,“ weil damit jetzt erst praktisch begonnen und in Neuland vorgestoßen werden konnte. (S.288) Nach dem Sturz der Ausbeuter stehen wir vor der schwierigeren, der sozia-listischen Aufgabe:  “eine vom gesamten Volk ausgeübte Rechnungsführung und Kontrolle zu organisieren, jener Aufgabe, mit der der wirkliche Sozialismus anfängt.“(S. 289)

„Es ist zum Heulen, wenn Menschen sich so weit verstiegen haben, dass sie die Einführung der Arbeitsdisziplin als einen Rückschritt bezeichnen..“(S.289). “Es ist die .. kleinbürgerliche Intelligenz, die nicht begreift, dass für den Sozialismus die Hauptschwierigkeit in der Sicherung der Arbeitsdisziplin besteht“.  „Wenn man uns sagt, dass man die Diktatur des Proletariats in Worten anerkennt, praktisch aber Phrasen zusammenschreibt, so zeigt das eigentlich, dass man von der Diktatur des Proletariats keine Ahnung hat; denn das bedeutet keineswegs bloß den Sturz der Bourgeoisie oder den Sturz der Gutsbesitzer – das hat es in allen Revolutionen gegeben -, unsere Diktatur des Proletariats bedeutet die Sicherung der Ordnung, der Disziplin, der Arbeitsproduktivität, der Rechnungsführung und Kontrolle, der proletarischen  Sowjetmacht.“ „Wir vollziehen den „praktischen Übergang von der ökonomischen Befreiung zur selbst-auferlegten Arbeitsdisziplin“ (S.290)

Wie können diese Leute „über einzelne Stellen aus Büchern die Wirklichkeit vergessen?“ (S.284) Diese Kritiker „haben gerade den sozialistischen Charakter unserer Revolution nicht begriffen,“ sie fürchten wie die Kleinbourgeoisie „die Disziplin, Organisation, Rechnungs-führung und Kontrolle“ (S.291) Der Kommunismus setzt eine andere Arbeitsproduktivität voraus als die jetzige. (S.294) Jetzt kommt es darauf an, „das Maß der Produktion und der Arbeit und das Maß des Verbrauchs zu überwachen…darin aber besteht der Angelpunkt und die Grundlage des Sozialismus.“ (S.295.) Davon ist seine revolutionäre Wirksamkeit und Stabilität abhängig.

Statt zu analysieren, ob und wie in den sozialistischen Ländern und mit welchem Erfolg an der Lösung dieser Aufgaben gearbeitet worden ist, propagieren manche Autoren in der „Niederlagenanalyse“, dass in Theorie und Praxis noch offen sei, worin die revolutionäre und die revisionistische Konzeption vom Sozialismus, von seinem ökonomischen System bestünde. Weshalb auch noch nicht klar sei, worin Revisionismus wirklich bestünde. Der ökonomischen Theorie von Hermann Jacobs entsprechend, verlange der Kampf gegen den Revisionismus auch eine „Revision des Marxismus“, damit „Revision Revolution wiederherstellt.“ (Nieder-lagenanalyse, S.6o)

An anderer Stelle der Niederlagenanalyse wird im Gegensatz zu Marx behauptet, dass jede Bezugnahme der geplanten sozialistischen Produktion zur Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung zum zeitlichen Aufwand der erzeugten Produkte (zu deren Wert), dem Wesen einer sozialistischen Gesellschaft widersprechen würde. (Ebenda S.143) Daraus wird dann abgeleitet, dass die Ursache unserer Niederlage im „Wesen des Sozialismus“ gelegen habe. (S.6) Dieses, von marxistisch-leninistischer Forschung  aufgedeckte  Wesen des Sozialismus, habe  demnach dem Sinn des „wirklichen oder revolutionären“ Sozialismus (nach Jacobs) wider-sprochen und zur Niederlage, manche behaupten auch „zum politischen Selbstmord“ des Sozialismus geführt. Trotzdem wollten noch heute „Reste der kommunistischen Bewegung.. weiterhin am Marxismus-Leninismus festhalten.“ (S.5)

Weiter nachzudenken ist auch darüber, ob die folgende Aussage im Sammelband richtig ist: „Wenn wir uns einig sind darüber, warum der Sozialismus in Europa von der Konterrevolution besiegt werden konnte, haben wir das Rüstzeug für einen neuen Anlauf“ (S.5) Zu bedenken sind hier doch außerdem folgende  T a t s a c h e n.  Die revolutionäre Arbeiterbewegung hatte dem Klassenfeind in den vergangenen Jahrzehnten, auch in Deutschland, empfindliche Niederlagen beigebracht. Die Ursachen solcher Erfolge gehören zum Rüstzeug für einen neuen Anlauf und auch das Wissen, welche Schlussfolgerungen der Klassenfeind aus seinen Niederlagen gezogen hat, um erneute Niederlagen zu verhindern.

Ein wesentlicher Unterschied besteht auch zwischen jenen Verhältnissen, unter denen sich unsere Niederlage abzuzeichnen begann und denen der Gegenwart. Damals hatte, gestützt auf den noch vorhandenen Sozialismus, der jahrzehntelange Frieden in Europa noch Bestand. Seit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien befindet sich jedoch Deutschland in einem dauerhaften Kriegszustand.

Damals waren die Verhältnisse außerhalb der sozialistische Staaten vielfach noch in einem nachfaschistischen Zustand, der weitere Fortschritte offen hielt, heute haben sie sich in vorfaschistische gewandelt.

Damals hatte der Klassenfeind seine Vorteile auf dem Gebiet der Arbeitsproduktivität genutzt, um kapitalistische Konsumismus-Propaganda zu betreiben und dafür hatte er Westberlin zu einem Schaufenster ausgebaut. Heute führt der Klassenfeind mit der Agenda 2010 einen sozialen Krieg gegen die Mehrheit der Bevölkerung.

Damit ist nur ein Teil der Unterschiede in der strategischen Lage skizziert. Doch bereits diese führen zu der Frage, ob die in der Niederlagenanalyse publizierten Vorschläge für eine sozialistische Politik (siehe Seiten 361-373), für einen strategisch fundierten neuen Anlauf wirklich geeignet sind.  Dazu gehören auch die propagierten seltsamen Auffassungen, was unter einer wissenschaftlichen politischen Ökonomie zu verstehen sei.

Alles was uns der Aktionseinheit von Kommunisten einen Schritt näher bringt, ist ein Fortschritt im Kampf gegen den Klassenfeind. Alles, was uns davon entfernt, hilft dem Klassenfeind, die Spaltung der Widerstandskräfte aufrecht zu erhalten und zu vertiefen. Dazu gehört auch die Behauptung, dass der Zusammenschluß von Kommunisten von der Verständigung darüber abhängig sei, was Autoren von Offensiv als „Wissenschaft“ manifestieren. Entscheidend ist doch, was wir arbeitsteilig zur Beendigung des sozialen Krieges der Großkapitalisten gemein-sam beitragen können.                               Hans Kölsch, Berlin