Präsozialismus? Zum Briefwechsel Rosznyai – Gossweiler, Offensiv Mai-Juni 06

Fritz Dittmar

Präsozialismus?
Zum Briefwechsel Rosznyai – Gossweiler,
Offensiv Mai-Juni 06

Nach all den unpräzisen, zum Teil inhaltsleeren pauschalen Vorwürfen an den Realsozialismus, wie sie sich leider auch im neuen DKP-Programm finden, nach der Litanei von „führender Rolle der Partei statt der Arbeiterklasse, bloßer Verstaatlichung statt echter Vergesellschaftung, Entfremdung vom sozialistischen Eigentum, administrativ-zentralistischem Sozialismusmodell, staatlicher Durchdringung aller Bereiche, gehemmter Eigeninitiative, Fehlen einer streitbaren gesellschaftlichen Debatte, Verlust an Glaubwürdigkeit und Verlust der Hegemonie“, nach den bekannten Tiraden sozialdemokratischer, trotzkistischer und anderer, bürgerlicher Feinde des Sozialismus auch im Munde von Kommunisten, hier nun der ehrliche und verdienstvolle Versuch des Genossen Ervin R., die Ursachen für die Stagnation und den Sieg der Konter-revolution aus der Ökonomie des Realsozialismus zu erklären. In der Antwort des Genossen Kurt G. liegt das Schwergewicht darauf, dass es neben den objektiven Schwierigkeiten des Aufbaus eben auch die subjektive, politische Seite der Niederlage gab, die Rolle des aktiven Verrats. Dieser Aspekt ist aber zwischen den Genossen Ervin und Kurt gar nicht strittig, und zurecht weist Ervin darauf hin, dass Verrat nur erfolgreich sein kann, wenn er sich auf soziale Schichten und Strukturen stützen kann, die an dem Erfolg des Verrats ein objektives Interesse haben. Deshalb möchte ich zu Ervins Theorie ein paar Anmerkungen machen und einige Fragen aufwerfen, speziell zu den Thesen 2 und 3 (Trennung der Produktionseinheiten), 3 und 4 (Rolle des Lohns) und 5 (staatliches und genossenschaftliches Eigentum).

Für Ervin existierte in der Zeit von 1917 bis zur Wende noch kein Sozialismus, sondern eine Vorstufe, die man vielleicht als Präsozialismus bezeichnen könnte. Von Sozialismus will er erst sprechen bei einer „klassenlosen Formation“ mit  „von Waren- und Geldverhältnissen freier, einheitlicher, gesamtgesellschaftlicher Eigentumsform“. Ich stimme mit Ervin überein, dass im Sozialismus die Anarchie der Produktion enden muss, deren Ausdruck das Wertgesetz und die Warenproduktion ist. Dass diese nicht mit einem Schlag enden, sondern in einem bewusst gesteuerten Prozess zum Verschwinden gebracht werden müssen, darin stimme ich mit Ervin ebenfalls überein. Dabei sieht er den Kern des Problems in der vorher nicht erreichten „Abschaffung der wirtschaftlichen Trennung der Produktionseinheiten voneinander.“ Er führt aus, dass im staatlichen Sektor die „wirtschaftlichen Einheiten…weit davon entfernt sind, solche innerlich zusammengehörige Einheit darzustellen, wie es die Untereinheiten einer Fabrik sind.“ Eine solche Einheit behauptet Ervin aber für die kapitalistische Leitung von Produktions-prozessen, weil „die Höhe ihres Einkommens (der Chefmanager) von ihrem Erfolg bei der Maximierung des Profits bestimmt“ wird.

Das leuchtet mir für beide Seiten des Vergleichs nicht ein. In beiden Fällen gibt es neben dem Allgemeininteresse (hier der Konzernprofit, dort das gesellschaftliche Gemeinwohl) sehr wohl auch das Interesse an besonderem Erfolg innerhalb des großen Ganzen. Jeder Abteilungsleiter im Konzern steht besser da und wird belohnt, wenn er deutlich macht, wie er durch Fehler anderer Leiter in Schwierigkeiten gebracht wurde und dennoch seine Aufgabe glänzend gelöst hat. Dabei können auch im Konzern versteckte Reserven und geschönte Abrechnungen helfen. Dem Interesse an solchen Manövern wird in beiden Systemen auf die gleiche Art entgegen gewirkt: Durch strikte Kontrolle und Rechnungslegung, und durch sorgfältige Auswahl des Führungspersonals. Dazu zwei Anmerkungen bekannter Theoretiker: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ und „Ist die richtige Linie gegeben, entscheiden die Kader alles.“ (Nebenbei: So richtig Ervins Forderung ist, die Kontrolle allmählich an die Massen zu übertragen, so wäre es in diesem Fall nicht sinnvoll, den VEB durch die Belegschaftsvertreter zu kontrollieren, weil sie die Partialinteressen der zu kontrollierenden Funktionäre teilen würde. So lange Kontrolle nötig ist, muss es auch Kontrolle von außen sein.)

Die Kontrolle wird nicht jeden Fall von Betrug verhindern können. Das erreicht sie auch im Kapitalismus nicht. Was sie aber im Kapitalismus erreicht und im Sozialismus auch sollte erreichen können, ist, dass das System keinen entscheidenden Schaden nimmt. Hier handelt es sich aber, im Gegensatz zum Kapitalismus, um ein politisches Kampffeld. Kein Aufsichtsrat hat ein Interesse, die Kontrolle  unwirksam zu machen und den Konzern zu ruinieren, weil das den Profit schmälern würde. Wenn aber die politische Führung im Sozialismus aus Feinden besteht, wird sie die Kontrolle ausbremsen und so eine Schicht von Leitern schaffen, die Partialinteressen entwickelt. Anders gesagt: Der Verrat an der Spitze schafft sich die soziale Basis, die er für seinen endgültigen Sieg braucht.

Ein weiteres Problem sieht Ervin in der Form der Entlohnung. „Die Arbeitskraft kommt also …als Gegenstand von Verkauf, Kauf und ausgehandeltem Preis mit den Produktionsmitteln zusammen.“

Einspruch, Euer Ehren:

Erstens handelt im Sozialismus kein Arbeiter seinen Lohn individuell aus, wie auch schon im entwickelten Kapitalismus nicht,

zweitens steht ihm der Abschluss des „Verkaufs“ auch nicht frei (Arbeitspflicht),

drittens wird der Lohn auch nicht vom Kollektiv der Arbeitskraftverkäufer mit den (damit identischen) Produktionsmittelbesitzern je nach Kräfteverhältnis ermittelt (daher die Forderung aller Konterrevolutionäre im Sozialismus nach „unabhängigen“ Gewerkschaften!).

Viertens ist der Lohn kein wirkliches Geld, weil die Preise der Konsumgüter nicht auf dem Markt, durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Die Preise sind vielmehr ein Mittel, das die Verteilung der Konsumgüter auf das Kollektiv der Arbeiter steuert. Da die Bedürfnisse der Individuen verschieden sind, wäre es nicht sinnvoll, jedem Arbeiter alle fünf Jahre einen Gutschein auf einen Wintermantel und jeden Monat einen auf  2kg Brot zu geben. So ist der Lohn ein sehr flexibles Mittel, die individuellen Bedürfnisse im Rahmen der gegebenen Produktivkräfte optimal zu befriedigen.

Fünftens sind die Preise nicht mehr notwendig Ausdruck der in den Gütern enthaltenen gesellschaftlichen Arbeit. So war es gängige und sinnvolle Praxis, die Preise für Nahrungsmittel, Wohnungen und Bücher unterhalb des „Werts“ festzusetzen und die Preise für Autos über dem „Wert“. Damit erreichte man, dass die grundlegenden Bedürfnisse mit dem Lohn für durchschnittliche Arbeit befriedigt werden konnten, und das Bedürfnis nach raren Gütern wie Autos zunächst nur durch mehr und bessere Arbeit. Mit einem Wort: Der Arbeitskraft fehlen im Sozialismus so ziemlich alle Eigenschaften, die eine Ware kennzeichnen. Wenn sich die Arbeiter dennoch als Privatmenschen  zur Gemeinschaft verhalten, so ist das nicht Ergebnis der Zuteilung von Konsumptionsmitteln in der Form von „Lohn“, sondern der übernommenen Muttermale der alten Gesellschaft, zumal in den Ländern, die von der siegreichen Sowjetarmee die Möglichkeit erhielten, zum Sozialismus zu gelangen ohne ihre Bourgeoisie selbst gewaltsam stürzen zu müssen und sich in diesen Prozess „den ganzen Dreck vom Hals zu schaffen“.

Die übernommenen Muttermale der kapitalistischen Gesellschaft sind aber Merkmale des Sozialismus. Gerade sie, die unzureichend entwickelten Produktivkräfte und das bürgerliche Spießerbewusstsein sind es aber, die den Sozialismus oder frühen Kommunismus vom vollständig entwickelten Kommunismus trennen. Deshalb kann man die Überwindung der Merkmale des Sozialismus nicht als Voraussetzungen für den Sozialismus fordern.

Der „Lohn“ ist für den Sozialismus noch das angemessene Mittel für die Verteilung entsprechend der Leistung. Dennoch bleibt seine Ausgestaltung ein politisches Kampffeld: Tendenzen zur Gleichmacherei können den Anreiz zu fleißiger Arbeit zerstören. Hierin liegt auf Seiten der Arbeiter die Gefahr, die Ervin beschrieben hat: dass jeder möglichst wenig in den gemeinsamen Topf  gibt und möglichst viel aus ihm herausholt. Bis das Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ im Bewusstsein der Arbeiter verankert ist, kommt es auch hier auf die beiden oben angeführten Anmerkungen der Theoretiker an.

Weiter fordert Ervin das Verschwinden der Klassen und einheitliches Eigentum, ehe er von Sozialismus reden will. Er beruft sich dabei auf Lenin: „Eine Gesellschaft, in der der Unterschied zwischen Arbeitern und Bauern weiter besteht, kann weder als kommunistische noch als sozialistische Gesellschaft bezeichnet werden“. Ich vermute allerdings, dass Lenin hier bei „Bauer“ den russischen Mushik im Auge hatte und nicht den Genossenschaftsbauern. Der springende Punkt bei der Frage: Sozialismus oder Präsozialismus? ist doch, ob die unterschiedlichen Eigentumsformen (staatliches und genossenschaftliches) eine gesamt-gesellschaftliche Planung der Produktion ausschließen und die Anarchie des Marktes durchsetzen. Für eine dauerhafte Fortexistenz des Privateigentums in der Landwirtschaft würde das zutreffen, so wie die Entwicklung in Polen gezeigt hat.

Betrachten wir dagegen die LPG in der DDR, so war ihre Produktion sehr wohl in die staatliche Planung integriert, Produktionsmengen und Preise stellten sich nicht spontan über Marktmechanismen her. Ich sehe nicht, warum die Existenz der LPG es verbieten sollte, von Sozialismus zu sprechen. Allerdings kommt es schon darauf an, dass der Unterschied der Eigentumsformen in der Entwicklung verringert und tendenziell aufgehoben wird. Eine Maßnahme, die das Gegenteil bewirkt, war die Auflösung der Maschinen- und Traktorenstationen und die Übertragung der Technik auf die Kolchosen unter Chruschtschow. Auch in dieser Frage kommt es darauf an, die Hinweise der Theoretiker zu befolgen.

Insgesamt möchte ich vorschlagen, dass wir uns mehr Gedanken darum machen, wie Kontrolle und Kaderauswahl besser funktionieren können, oder im Rückblick, wie es dazu kommen konnte, dass nach Stalins Tod der Machtkampf zwischen Figuren wie Berija und Chruschtschow stattfand, statt dass die Führung in die Hände von treuen Marxisten-Leninisten überging.

Fritz Dittmar,
Hamburg