Quo vadis Deutschland?

Rolf Vellay:
Quo vadis Deutschland?

Diskussionsbeitrag gehalten auf der Konferenz „Wider den Zeitgeist“, 30./31.1.1999

Wertes Auditorium, die Frage „Quo vadis Deutschland?“ stellte sich mir schon am Nachmittag des 4. November 1989, nachdem ich Zeuge geworden war der Zusammenrottung von hunderttausenden DDR-Bürgern auf dem Alexanderplatz in Berlin, Hauptstadt der DDR. Einige der Drahtzieher dieser dubiosen Veranstaltung waren vermutlich aktiv in engem Kontakt zu interessierten Kreisen in der BRD. Außer ihnen dürften sich nur ganz wenige der Teilnehmenden darüber klar gewesen sein, dass das Ende der DDR schon zu diesem Zeitpunkt und mit dieser Kundgebung unabwendbar war, wenngleich die Masse der Demonstrierenden sicher den trügerischen Parolen zum Opfer gefallen war, es gehe um „eine andere, bessere DDR“.

An der Nahtstelle der beiden Weltsysteme, die sich trotz aller sogenannter „Entspannungsbemühungen“ immer noch hoch gerüstet gegenüber standen, brachten es die Redner fertig, nicht ein Wort zu verlieren über die im Falle einer Destabilisierung der DDR durch den Imperialismus drohenden Gefahren für den Frieden. Garant zu sein für die Sicherung des Friedens in Europa aber war von ihrem Bestehen an die Hauptfunktion der Existenz der DDR als Konsequenz der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Stalin hat ihr diese Aufgabe in die Wiege gelegt, wenn es in seinem Grußtelegramm zur Gründung der DDR vor nunmehr fast 50 Jahren heißt, mit der Entstehung der DDR könne der Frieden in Europa als gesichert betrachtet werden. Wenn es 1945 eine Lehre aus der Geschichte gab, dann die, dass der deutsche Imperialismus stets die Hauptgefahr für den Frieden darstellte – und nachdem als Folge der Sabotage der Westalliierten die durch die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens beabsichtigt gewesene Neutralisierung dieser Gefahr vereitelt worden war, stellte allein die Existenz einer am gesellschaftlichen Fortschritt orientierten DDR eine „Fußfessel des deutschen Imperialismus“ dar, wie ich das später in meinen Publikationen genannt habe.

Die Ereignisse seit 1989 bestätigen die weise Voraussicht Stalins. So lange es die DDR gab, gab es keine kriegerische Auseinandersetzung in Europa! Wohl wuchs die BRD zum „ökonomischen Riesen“ heran, blieb aber letztlich, wie vielfach von den Repräsentanten des BRD-Imperialismus beklagt, politisch, überspitzt ausgedrückt, ein „Zwerg“. Das änderte sich schlagartig mit der Annexion der DDR, die Francois Mitterand und Frau Thatcher aus guten historischen Gründen – leider vergeblich – zu verhindern gesucht hatten. Vor der Weltöffentlichkeit getarnt mit der wohlklingend-harmlosen Formulierung von der „gewachsenen deutschen Verantwortung“ begann der deutsche Imperialismus unverzüglich mit der Durchsetzung seiner machtpolitischen Ziele. Mit einem groß angelegten Betrugsmanöver gelang es dem Duo Kohl-Genscher gegen lediglich zum Schein gemachte Zugeständnisse bei den Maastricht-Verhandlungen, die anderen EU-Staaten auf die von Deutschland bereits vollzogene Anerkennung Sloweniens und Kroatiens festzulegen. Damit aber war der Ausbruch der bewaffneten Auseinandersetzungen im zerfallenden Jugoslawien vorprogrammiert. Zwar musst Herr Genscher, als „der Westen“ schon kurze Zeit später durchschaute, zurücktreten – aber das hinderte den Oberscharfmacher und Kriegstreiber in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Herrn Reißmüller, nicht an der Feststellung in einem seiner Leitartikel, in der Anerkennungsfrage habe sich der Westen „zum ersten Mal nach Deutschland richten müssen“. Das Ergebnis ist bekannt – Krieg in Europa in einem Land, in dem der deutsche Imperialismus nach vierjähriger Besatzung im Zweiten Weltkrieg 1,7 Millionen Tote und riesige materielle Zerstörungen hinterlassen hatte. Der jetzige Jugoslawienkrieg, in dem zur Zeit nur Waffenstillstand herrscht, und noch nicht einmal der im Kosovo, ist aus meiner Sicht eine direkte Folge des Endes der DDR.

Und deshalb musste, um der Sicherung des Friedens willen, die DDR unter allen Umständen in ihrer staatlichen Existenz verteidigt werden, unbeschadet aller inneren Mängel – aber in welchem Staatswesen gibt es die nicht? “Der hat gut reden“, denkt die eine oder der andere vielleicht jetzt, „der hat ja hier nicht gelebt!“ Aber um die Dinge so zu sehen, bedarf es nicht des Lebens in der BRD oder in der DDR, andern bedarf es des Verständnisses, was Imperialismus ist.

Dieses Verständnis ist seit dem XX. Parteitag, beginnend mit Chruschtschows Interpretation von „friedlicher Koexistenz“ und seiner These, dass Kriege nicht mehr unvermeidlich seien, in unseren Reihen mehr und mehr einer schleichenden Auszehrung erlegen bis hin zu der aberwitzig-abstrusen Konstruktion, geboren im Schoße der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, von der „Friedensfähigkeit des Imperialismus“. Dieses offensichtliche Nicht-mehr-Verstehen des wahren Charakters des letzten Stadiums des Kapitalismus hat dazu geführt, dass ein Mann wie Hans Modrow, der vierzig Jahre lang Gelegenheit hatte, im Parteilehrjahr Marxismus-Leninismus zu studieren, nach seinem Besuch in Moskau 1990 die angesichts der realen Kräfteverhältnisse makabre Sentenz von sich gab: „Deutschland – einig Vaterland“ und damit als Ministerpräsident diesen Staat endgültig preisgab.

So wichtig die nationale Frage ist und zeitweilig sogar Vorrang haben kann, bleibt sie letztlich der Klassenfrage doch nachgeordnet. In den 50er und 60er Jahren hätte die Lösung der nationalen Frage durch Herstellung der deutschen Einheit oder später wenigstens einer Konföderation beider deutscher Staaten der Sicherung des Friedens gedient – unter den Bedingungen von 1989/1990befreitc sie den deutschen Imperialismus von seiner „Fußfessel”, womit der Weg frei wurde für neue kriegerische Auseinandersetzungen in Europa.

RolfVellay, 31. Januar 1999