Roja roquita – Venezuela ist rot

Ingo Höhmann:
Roja roquita – Venezuela ist rot

Caracas, 26.11.06:

„Uh-ah-Chavez no se va“ (Chavez geht nicht) und „la marea roja“ (die rote Flut) – aus hunderttausenden Mündern erklang dieser Kampfruf immer wieder an diesem Sonntag in den Strassen der Hauptstadt. Fast zwei Millionen Anhänger der Regierung konnten zu dieser letzten großen Manifestation vor dem Wahlsonntag mobilisiert werden. Mittendrin 17 Deutsche, Teilnehmer der vierten jw-Leserreise nach Venezuela. Rote T-Shirts, rote Mützen, gekleidet wie alle Demonstranten. Trotzdem, bald als Ausländer erkannt ,müssen Fragen nach dem woher und warum beantwortet werden. Die Reaktionen der Venezolaner sind meistens gleich. Händeschütteln, Schulterklopfen, Getränkeangebote und Erklärungen über die Wichtigkeit der kommenden Wahl. Die Gruppe ist noch keine 24 Stunden im Land, hat aber schon bleibende Eindrücke erhalten, die sich im Verlaufe der Reise vertiefen und bestätigen werden.

Bei der anschließenden Rundreise durch das Land konnte sich die Gruppe umfangreiche Kenntnisse über den in Venezuela ablaufenden revolutionären Prozess verschaffen. Wie funktioniert die staatliche Verwaltung? Wie wird mit öffentliche Geldern umgegangen? Besuche in einer Volksbank, einer Frauenbank, in medizinischen Einrichtungen, einer Agrargenossenschaft, auf einer Baustelle, in einer Einrichtung des Umweltschutzes schließen sich an. Alle Gesprächsteilnehmer, ob Funktionäre, Arbeiter, Bauern, Militärs, die Bewohner der Barrios, beantworten geduldig die Fragen der Reiseteilnehmer. Beeindruckend immer wieder ihre persönliche Hingabe zur Revolution. Eine praxisnahe Bestätigung der Worte Lenins: “Ideen werden zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreifen!”

Jeder dieser einzelne Begegnungen wäre ein eigener Artikel wert.

Welche Möglichkeiten sozialistische Politik hat, wird der Gruppe beim Besuch der “Lateinamerikanischen Kardiologischen Kinderklinik” deutlich. Die Klinik ist drei Monate alt und auf das modernste Niveau eingerichtet. 1000 herzkranke Kinder sollen dort bis Ende 2007 operiert werden. Ein kleines Mädchen aus Bolivien gewinnt in sekundenschnelle die Herzen der Gruppe. Sie hat gerade Schulschluss, sie ist die einzige Schülerin in ihrer Klasse und schließt sich der Gruppe bei den weiteren Besichtigungen an. Es wird angestrebt, dass zumindest ein Elternteil während der gesamten Behandlungszeit des Kindes anwesend ist. Eine anwesende Mutter erklärt, dass Unterbringung und Versorgung für sie genauso kostenfrei ist wie die Behandlung des Kindes. Aber nach Kosten fragt die Gruppe schon lange nicht mehr. Auf einem Parkplatz Ambulanzwagen mit der Aufschrift: “Die Gesundheit ist keine Ware, sie ist Menschenrecht für alle!”

Bissige Bemerkungen zur “BRD-Gesundheitsreform” aber auch:” Wir hatten das auch schon mal.”

Caracas, 03.12.06, Wahlsonntag:

Seit 03.00 ist Bewegung in der Stadt. Die Wahllokale öffnen um 06.00. Lange vor dieser Zeit stehen die Menschen geduldig und diszipliniert in den Warteschlangen.

Alle sind sich der Bedeutung dieser Wahl bewusst. Die Reisegruppe fährt am Vormittag mehrere Wahllokale ab. Laut Anordnung des Wahlrates darf an diesen Tag kein Wahlkampf mehr geführt werden. Das schließt das Tragen vom Symbolik einer Partei mit ein. Die Gruppe hält sich auch dran. In jedem Wahllokal wird ein organisierter und ruhiger Ablauf der Wahl registriert. Trotz “neutraler Tarnkleidung” wird der Charakter der Gruppe von Freund und Feind erkannt. Lächeln, die geballte Faust und die beiden gespreizten Hände (10 Millionen für Chavez) verstohlen gezeigt von den Freunden, wird ebenso durch die Gruppe beantwortet. Den Hass der rechten Opposition bekommt die Reiseleiterin zu spüren: “Ihr seid Chavistas, ihr habt ja keine Ahnung was hier vorgeht!” Er irrt. Die Gruppe hat mehr als eine Ahnung.

Am Nachmittag ändert sich das Bild in der Stadt. Die Opposition hatte von vornherein angekündigt, gegen den zu erwartenden Wahlsieg von Chavez vorzugehen. Entsprechende Pläne wurden bekannt. Die Chavistas konzentrieren ihre Kräfte an wichtigen Punkten in der Stadt. Die Anzugsordnung ändert sich auch. Rot dominiert wieder. Eins ist klar, eine “bunte” Konterrevolution wird es hier nicht geben. Die Revolution beherrscht die Straße und diese Revolution ist rot. Die Anspannung löst sich gegen 21.00 als der Wahlrat das Ergebnis verkündet und die Opposition dieses anerkennt. (s.u.: Analyse Rainer Schulze)

Die Massenmobilisierungen werden ein einziges Volksfest, Feuerwerk über den Armenvierteln, Musik und Tanz auf den Straßen. Die Reisegruppe feiert mit. Die Deutschen fallen nur durch ihre ungelenken Bewegungen auf, ansonsten gehören sie dazu. Chavez spricht vom Präsidentenpalast Miraflores aus. Die Massen hören nicht gerade andächtig zu. Wenn Worte fallen wie Venezuela, Revolution, Sozialismus, verdoppelt sich der Lärmpegel. Auch einsetzender Regen vertreibt die Menschen nicht von den Sraßen. Sie feiern den Sieg. Es gibt noch viel zu tun.

Die Frage: Wer-Wen? ist noch nicht entschieden. Ein wichtiges Zwischenziel wurde erreicht.

Übrigens, der anfangs erwähnte Kampfruf hat eine Fortsetzung: „Uh-ah-ih-Chavez es aqui“ (Chavez ist hier), „Uh-ah-uh-Chavez eres tu“ (Chavez, das bist du). Über 60% der Venezolaner haben das begriffen. Soviel zum Thema “Populismus” und “Personenkult”.

Ingo Höhmann,
Berlin