Über das Ende der DDR

Hans Modrow:
Über das Ende der DDR – Vortrag vor dem ZK der KP Cubas im Rahmen eines Kuba-Besuches auf Einladung des ZK der KPC

Zeitschrift „Sozialismus, Ausgabe 5-08, Auszüge

Zitat aus dem Vortext: „Hans Modrows Skizze des Scheiterns des Realsozialismus in der DDR versteht sich in diesem Sinne (Das Verhältnis zur Geschichte widerspiegelt immer auch die Einstellung zur Zukunft) als Beitrag zu einer modernen Sozialismuskonzeption.“

Um das Ende der DDR verstehen zu können, ist im Folgenden ein kurzer Rückblick in die Geschichte der Partei und des sozialistischen Staates erforderlich.

Zwischen sowjetischem Sozialismus-Modell und „Neuem Ökonomischen System“

Die SED wurde 1946 als Partei gegründet und ging aus der KPD und der SPD hervor. Sie vereinte bei ihrer Gründung etwa 1,4 Millionen Mitglieder und wuchs bis 1989 auf 2,3 Millionen. Als Vorbilder nannte sie Marx und Engels und bekannte sich zum Marxismus. Ein Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus erfolgte erst auf dem III. Parteitag 1950 bzw. in mancher Hinsicht auf der 1. Parteikonferenz der SED 1949. Das geschah mit der Formel, dass sich die SED zu einer Partei neuen Typus entwickeln muss. …

Die DDR wurde als zweiter deutscher Staat im Oktober 1949 gegründet. Sie entstand in der sowjetischen Besatzungszone mit Zustimmung der Sowjetunion und wurde nach deren Sozialismus-Modell gestaltet.

Als Walter Ulbricht in den 1960er Jahren eigenständige Elemente in Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln wollte, fiel er in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bei der sowjetischen Führung um Breshnew in Ungnade. Zu den damals angestrebten Erneuerungen gehörten ein Neues Ökonomisches System (NÖS) für Wirtschaft und Planung mit entwicklungsfähigen Elementen:

  1. hohe Eigenverantwortung der Betriebe
  2. Auf- und Ausbau des genossenschaftlichen Eigentums in Landwirtschaft, Handwerk und Wohnungswirtschaft sowie die Entfaltung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
  3. Wachsende Mitbestimmung in den Betrieben
  4. Gründung halbstaatlicher Betriebe, d.h. von Betrieben mit privatem und staatlichem Anteil

Damit sollte die Überzentralisierung von Planung und Leitung eingeschränkt und nach Formen moderner Wirtschaftsführung gesucht werden. … Ob und inwieweit das NÖS reale Schritte für eine höhere Effizienz der sozialistischen Volkswirtschaft gebracht hätte, muss offen bleiben. Das Experiment wurde zu frühzeitig abgebrochen. … Als Erich Honecker die Verantwortung übernahm, wurde wieder konsequent dem sowjetischen Staats- und Wirtschaftsmodell gefolgt. Halbstaatliche Betriebe wurden voll verstaatlicht, die Zentralisierung wurde gestärkt und es wurden größere soziale Leistungen gewährt. … Das zentralisierte System der volkswirtschaftlichen Planung in der DDR verhinderte Flexibilität und Eigeninitiative der Wirtschaftseinheiten. …

Die 1970er Jahre: Zwischen Entspannung und Block-Konfrontation

Mit den 1970er Jahren ist eine Zäsur in Europa verbunden. Die DDR wurde nach dem Abkommen über Westberlin bis 1973 weltweit diplomatisch anerkannt. Die Hallstein-Doktrin (Alleinvertretungsanspruch der BRD) war damit gescheitert. Im Juni 1973 beginnen in Helsinki die Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE-Prozess). Im August 1975 unterzeichnen dort die Staats- und Regierungschefs aller europäischen Staaten (außer Albanien) sowie die USA und Kanada die „Schlussakte von Helsinki“. Die beiden deutschen Staaten sind gleichberechtigte Teilnehmer. Die Staaten des Warschauer Vertrages und des RGW sehen in der Schlussakte vor allem ihren Erfolg, obwohl sich mit der Anerkennung der individuellen Menschenrechte die inneren Konflikte in den staatssozialistischen Gesellschaften selbst verschärfen mussten.

Die europäische Sozialdemokratie hat am Ende dieses „goldenen Nachkriegszeitalters“ (Eric Hobsbawn) mit Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme Politiker mit großer Ausstrahlung. Aber schon Ende der 1970er Jahre führen die Gegensätze zwischen den Blöcken wieder zu stärkerer Konfrontation. Trotz der Gespräche Brandts mit Breshnew bleibt in Moskau und Berlin die Distanz zur Sozialdemokratie. Erst in den 1980er Jahren führen SED und SPD Gespräche. Manche Chancen bleiben ungenutzt. Insgesamt geht die politische Offensive bald nach Helsinki auf die westliche Seite über. Auch in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten kommt es nicht zu Gesprächen und Verhandlungen, die zu einer Entspannung auch an der Grenze zwischen beiden Staaten hätten führen können. Beide Seiten haben die Chancen nicht hinreichend ausgelotet und genutzt.

Die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ und ihre Widersprüche

Die auf dem 8. Parteitag der SED formulierte Orientierung auf „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ löste zunächst vor allem große Erwartungen in der Partei und der Bevölkerung aus. … Die Sozialleistungen stellten sich als ein Geschenk des Staates dar. Sie wirkten nicht als Leistungsansporn in den Betrieben. Als Leistungsansporn wären Faktoren direkt am Arbeitsplatz, u.a. effektivere Arbeitsorganisation und größere Autonomie ausschlaggebend gewesen. … Der Schritt in eine moderne Wirtschaft mit wachsendem Anteil des Dienstleistungsbereiches für eine vielseitige Versorgung der Bevölkerung einschließlich Tourismus wurde vernachlässigt. Wie Erfahrungen zeigen, hätten gerade in diesem Bereich Formen der genossenschaftlichen und privaten Wirtschaft auch unter sozialistischen Verhältnissen einen wichtigen Platz einnehmen müssen. …

„Öffentlichkeit und Erfahrung“ im Sozialismus – vertane Chancen

Der 8. Parteitag gab die Orientierung aus, dass es in Kunst und Literatur keine Tabus mehr geben solle und im fernsehen ein vielfältiges Angebot mit politischem Dialog, klassischer und sozialistischer Dramatik sowie anspruchsvoller Unterhaltung gemacht werden sollte. Es begann eine TV-Programmgestaltung, die Zuspruch bei der Bevölkerung fand. So sollte auch der Versuch unternommen werden, die Auswirkungen der 11. Tagung des ZK der SED im Jahr 1965, des so genannten Kahlschlagplenums, auf dem das kurzzeitige (kultur)politische Tauwetter während des NÖS wieder beendet wurde, in der Kultur- und Jugendpolitik der Partei zu überwinden und wieder Vertrauen bei Künstlern, Schriftstellern und Kulturschaffenden zu gewinnen. … Die Ausweisung Wolf Biermanns aus der DDR im Jahr 1978 und ihre Nachwirkungen machten bald sichtbar, dass die Korrektur des 8. Parteitages nur zum Teil gelang und Fehler in der Kulturpolitik ihre Fortsetzung fanden. Gegen Ende der 1970er Jahre setzten insgesamt wieder Einschränkungen ein. … Ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre haben namhafte Künstler und Schriftsteller die DDR verlassen. …

Fehlende „Perestroika“ und die soziale und politische Krise 1989/1990

… Die „Perestroika“ erschien als eine notwendige Herausforderung und fand in der Partei und außerhalb der Partei in der Intelligenz bis hinein in Kirchenkreise Zustimmung. Die Parteiführung der SED, besonders Erich Honecker, ging auf Distanz zur Sowjetunion. … Es wurde jeder Gedanke an notwendige, den Bedingungen der DDR entsprechende Veränderungen zurückgewiesen. …

Im Sommer 1989 fällt Honecker durch eine ernste Krankheit aus. … Als Honecker dann Ende September ins politische Geschehen zurückkommt, glaubt er, die internationale Feier zum 40. Jahrestag der DDR werde alle Probleme klären und es könne wie bisher weitergehen. … Man hofft, dass die Teilnehme Gorbatschows einen freundschaftlichen Ausgleich bringen würde. Das funktioniert nicht. Gorbatschow zeigt sich nicht als Freund Erich Honeckers und will das Politbüro auf seine Seite bringen. Das gelingt zwar nicht, aber er stärkt die Überzeugung, dass Veränderungen in der DDR nötig sind. Diese Veränderungen werden aber nur als Personalfragen verstanden und darunter in Angriff genommen. … Egon Krenz wird als Generalsekretär gewählt mit Empfehlung an die Volkskammer zur Wahl für die beiden weiteren Funktionen. Der Versuch einer Debatte, den Moritz Mebel, Manfred Ewald und Hans Modrow unternehmen, wird abgewiesen. …

In der Zeit bis zum 8. November 1989, der 1. ZK-Tagung unter Egon Krenz, wird nichts unternommen, um erste Schritte für Veränderungen und Rückgewinnung von Vertrauen einzuleiten. … Da die gesamte Regierung am 7. November unter dem Druck vieler Gliederungen der Partei und der Straße zurücktreten muss, kann Willi Stoph nicht länger Ministerpräsident sein. Egon Krenz möchte Siegfried Lorenz, Mitglied des Politbüros, als Nachfolger Stophs. Lorenz lehnt ab. Wolfgang Junker und Alexander Schalck-Golodkowski lehnen ebenfalls ab. Hans Modrow wird die vierte Wahl, ist aber bereit, die Verantwortung zu übernehmen. … Am 9. November steht die DDR am Rand einer Katastrophe. Günter Schabowski soll auf einer Pressekonferenz über künftige Regelungen für den Grenzübertritt nach Westberlin und zur BRD informieren. Er erklärt aber, die Grenze sei ab sofort geöffnet. … Ein Ereignis von geschichtlicher Bedeutung läuft spontan ab, die Führung wird von den Ereignissen überrannt. Auch wenn die Sowjetunion mit ihren Rechten als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges nicht informiert wurde, stimmt Gorbatschow den Ereignissen am nächsten Tag zu. …

In der SED verstärkt sich der Zerfall und aus den Bezirken kommt die Forderung nach Rücktritt des ZK. Am 3. Dezember 1989 tritt das ZK zurück und es erfolgen Ausschlüsse führender Genossen, auch der Generalsekretär wird ausgeschlossen. Ein außerordentlicher Parteitag soll die Reste der Partei retten, was nach heftiger, widersprüchlicher Debatte auch noch gelingt. …

Ein „Knackpunkt“ dieser Phase war das Ministerium für Staatssicherheit, bzw. dann das Amt für Nationale Sicherheit. Eine kritische Betrachtung meines Verhaltens begleitet mich noch immer. Natürlich könnte ich darauf verweisen, dass es in der Geschichte wohl keinen Regierungschef gegeben hat, der seinen eigenen Sicherheitsdienst aufgelöst hat. Als ich mich für die Auflösung entschied, schien es mir notwendig, den Prozess so zu gestalten, dass es keine pauschale Verurteilung und spontane Verfolgung geben darf. Die hätte auch unberechenbare Gegenwehr auslösen können. …

Hans Modrow,
Havanna,
vor dem ZK der KP Cubas