Überlegungen zum Begriff des „Revisionismus“

Irene Eckert:
Sprache und Denken I – Überlegungen zum Begriff des „Revisionismus“

Begriffe sind Handwerkszeuge des Denkens. In ihnen kristallisieren sich in sprachlicher Form die Erfahrungen von Generationen. Der Be-griff, der Name sagt es, ermöglicht ein „Be-greifen“, ein sich Aneignen von Sinnzusammenhängen. Um einen komplexen Sinnzusammenhang auf den Begriff zu bringen, muss man sich lange und eingehend und sehr konkret mit ihm beschäftigt haben. Erst dann kann es gelingen, Metaphern zu finden, die als gut gewählte Sprachbilder einen Sinnzusammenhang  noch anschaulicher machen, als ein vom Konkreten schließlich „abgezogener“ Begriff. Die De-Kontextualisierung von Begriffen ist aber notwendig mit der Zerstörung von Sinn verbunden. Die Sinnverwirrung wiederum ist ein eigentümliches Begleitphänomen der Postmoderne, ich möchte sogar behaupten: ihr Wesen. Allerdings hat der Wahnsinn der Sinnentleerung Methode: Durch hochkomplexe Nonsense-Produktion wird der Einblick in wesentliche Einsichten blockiert, die zu befreiendem Denken führen könnten. Zugänge zu auf Erkenntnisgewinn fußendem Wissen werden so geschickt verborgen gehalten.

Eine neue Situation im Umgang mit Begriffen und Begreifen

Im 19. Jahrhundert hatten es Marx und Engels (ersterer ein Jurist, letzterer ein Fabrikant) in gewisser Weise noch leichter. Sie durchforsteten Berge von Literatur und tauschten ihre sinnlichen Erfahrungen mit dem sich herausbildenden Kapitalismus aus. Sie durchstöberten die Klassiker ihrer Zeit auf allen relevanten Gebieten, vor allem der Philosophie und der politischen Ökonomie, bevor sie das Wesen der von ihnen so destruktiv erlebten neuen Gesellschaftsformation in vielfältiger Weise auf den klärenden Begriff bringen konnten. Die Begrifflichkeit, in der sie den Dreh- und Angelpunkt der komplexen Probleme ihrer Zeit zum Ausdruck brachten, dreht sich um den Antagonismus Kapital und Arbeit. Bevor sie aber noch den zentralen Widerspruch begrifflich zu fassen vermochten, hatten sie schon an unterschiedlichen Standorten und in verschiedenen europäischen Ländern teil an den Kämpfen ihrer Zeit. Durch mannigfache Erfahrung und durch Studium und Analyse schärften sie die Waffe ihrer Begriffe.

Sprache ihres Sinns zu entkleiden oder sie metaphorisch gesprochen zu vergiften, ist zur Verhinderung von Aufklärung auf vielerlei Weise möglich. Die Folge der Vorenthaltung von Sinnzusammenhängen ist eine Bewusstseinstrübung. Mit getrübtem Bewusstsein aber sind Menschen nur eingeschränkt handlungs- oder gar lebensfähig. Die Sache ist also ernst, die Befassung mit in Sprache gefasster Begrifflichkeit eine durchaus politische.

Was ein unheilsamer Begriff vermag

Mit der scheinbar simplen Vokabel des Revisionismus, anhand derer die Bedeutung von Begriffen exemplifiziert werden soll, ist nun hier ein Umstülpen der gesammelten begrifflich gefassten Erfahrungen der Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung seit dem Erscheinen des „Kommunistischen Manifests“ gemeint. Einer Theorie, die aus den Kämpfen der Revolutionen von 1848 hervorgegangen ist, die aber die Kämpfe und Erfahrungen vorausgegangener Generationen einschließt.

Die revolutionäre Theorie von Marx und Engels trug dazu bei, dass die deutsche Sozialdemokratie erstarkte und vorbildlich wurde für die Welt. Mit ihrem Erstarken traten aber auch „revisionistische“ Strömungen auf und zwar in einer Phase der relativen Friedlichkeit und Prosperität (1871-1914). Ermöglicht wurden sie schließlich auch durch die Re-Legalisierung der Partei. Die Namen Eduard Bernstein und Karl Kautsky stehen stellvertretend für den ursprünglichen Revisionismus, mit dem sich Lenin ab 1893 auseinandersetzt. Die begrifflich falschen Einflüsse hatten fatale Folgen. Die Sozialdemokratie verzichtete auf die notwendige Aufklärung über den Charakter des drohenden (1.Welt-) Krieges und stimmte schließlich den Kriegskrediten zu. Das verführerische Überzeugungsschema, mit Hilfe dessen die Massen kriegsbereit gemacht wurden, ging in etwa so: Der Kampf ist notwendig um das russische Proletariat vom zaristischen Terrorregime zu befreien. Theoretisch geschult an der marxistischen Lehre dachten die klassenbewussten Arbeiter internationalistisch und viele zogen daher freudig in den „Befreiungskrieg“, der in Wirklichkeit natürlich gegen ihre Interessen und gegen die aller arbeitenden Menschen geführt wurde. Dem so missbrauchten Appell an die grenzüberschreitende Solidarität konnten sich selbst die wachsamsten Kritiker der Ausbeuterordnung anfänglich nicht entziehen. Auch Karl Liebknecht stimmte zunächst für die Kriegskredite. Seine baldige Opposition dagegen führte dazu, dass er trotz seiner Immunität als Reichstagsabgeordneter als einziger unter seinen Kollegen eingezogen wurde. Rosa Luxemburg saß wegen ihrer Antikriegshaltung im Gefängnis.

Begrifflicher Revisionismus: ein gefährliches Gift

Auf Grund seiner letalen Wirkung für Millionen muss man vom „Gift des Revisionismus“ als einer nachgerade mörderischen Geistes-Waffe sprechen. Sie entfaltet ihre zerstörerische Wirkung langsam, aber desto so nachhaltiger. Solange kein Gegenmittel entwickelt wird, kann sich die toxische Substanz weiter ungehindert ausbreiten. Anders als zu Zeiten Lenins ist aber heute selbst die Nennung der gefährlichen Erscheinung bei ihrem Namen „verboten“. Im Zeitalter postmoderner Entrümpelung des klassischen Begriffsvokabulars verkam der Begriff „Revisionismus“ zum Unwort. Wer von der Mehrheit der Gesellschaft ernst genommen werden will, meidet den Begriff, er ist unschick.

Aber wer eine Ahnung davon spürt, woher die tödliche Gefahr für unseren Abwehrmechanismus kommen könnte, der muss sich auf die Spurensuche machen.

Der begrifflich zu fassende Sachverhalt, den wir für den Gefahrenherd halten, entstand, wie gesagt, als „Abfallprodukt“ mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Das Giftpflänzchen, vielleicht zunächst zufällig entstanden im Sumpfe einer durch koloniale Extraprofite gewachsenen „Arbeiteraristokratie“, wurde aber nach und nach sorgfältig kultiviert. Trotz oder vielleicht wegen der heftigen Interventionen eines Lenin gegen das Unkraut und nicht zuletzt wegen der erfolgreichen Oktoberrevolution. Seine unheilvolle Wirkung sollte es ähnlich der einer „Kobrahure“ (I. Trojanow) erst sehr viel später entfalten. Es zerfrisst das Beste, das die Menschheit hervorgebracht hat, es vernichtet die revolutionäre Theorie und die Solidaritätsbewegung aller Unterdrückten der Erde.

Ein Gegenmittel zu entwickeln ist also im Überlebensinteresse geboten, denn ein solch raffiniertes Gift zerfrisst am Ende das Herz jeder progressiven sozialen Bewegung. Es unterminiert damit das kostbarste Unterpfand: den sozialen Zusammenhalt, der Widerstand erst möglich macht. Das organisierte, zielgerichtete Zusammenstehen unter den Opfern des heute neoliberal verbrämten, profitgesteuerten Ausbeutungssystems ist aber, seine Opfer spüren es täglich, unverzichtbarer denn je. Als „klassenmäßige Solidarität“ beinhaltet solches Zusammengehen schließlich das revolutionäre Potential all der Entrechteten und Ausgeplünderten, die nach Karl Marxens kapitaler Analyse zum Totengräber der sie fortwährend gebärenden Ausbeuterordnung werden können und müssen. Dazu bedarf es aber eben immer noch organisierter Solidarität und einer Vorstellung darüber, worauf sie zu richten ist.

Lenin, der Vollender des von Marx und Engels begonnenen Analyse-Werks, rief deshalb nach einer Partei besonderen Typs, einer Partei, die die Betroffenen zur Ausführung solcher immensen Aufgabe würde befähigen können. An der Schwelle zum 20.Jahrhundert trieb schließlich die von ihm als „Imperialismus“ erkannte Wirtschaftsordnung des nun „monopolistischen Kapitalismus“ zum Krieg und kaum war sein sozialistischer Widerpart erfolgreich, zum Faschismus. Als solcher wurde er zur  Bedrohung der Menschheit und rief noch drängender danach, abgelöst zu werden. Dieses Jahrhundertwerk gelang auch vorübergehend in einem beträchtlichen Teil der Erde und zwar mit Hilfe einer zielklaren, handlungsorientierenden Begrifflichkeit, die Marx, Engels und Lenin gestiftet hatten. Den so in die Enge Gedrängten brachte dies zur völligen Raserei. In der offen geführten Feldschlacht aber konnten die ihrer Interessen Bewussten in solidarischer Gemeinschaft ihre größte Errungenschaft, eben den Sozialismus verteidigen.

Inzwischen sind über 60 Jahre vergangen. Der Sozialismus hatte nach dem erfolgreichen Zurückschlagen des „faschistischen Aggressors“ (auch ein Begriff, der nicht mehr zeitgemäß sein soll) also zunächst seine größte Bewährungsprobe bestanden, dann aber unter dem Einfluss „revisionistisch“ geschulter Führer seine einstige Überzeugungskraft und Überlegenheit auf allen Gebieten zwangsläufig (!) eingebüßt und wurde folglich weitgehend zum Verschwinden verurteilt.

Das Wesen des Angreifers ist aber bis heute dasselbe geblieben, ungeachtet euphemistischer Umbenennung. Er setzt sein Zerstörungswerk auch unter Zuhilfenahme des begrifflichen Werkzeugs des Geschichtsrevisionismus fort, das ihm wunderbar zupass kommt. Mit einem abgewandelten Wort von John Forster Dulles, dem einstigen US-Außenminister, könnte man sagen: „Der Revisionismus war und ist die billigste Atombombe  –  seine Wirkung im Sinne des real existierenden Imperialismus war langfristig unvermeidlich.“

So viel vermag Begriffsverwirrung?

Nun ja, „mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten“…,  aber mit dem falschen Begriff ging fast zwangsläufig eine falsche Praxis einher. Der über 90igjährige Faschismus- und Revisionismusexperte Kurt Gossweiler hat darüber viel dokumentiert, analysiert, reflektiert. Wer verstehen möchte, kann nachlesen nicht nur in seiner zweibändigen „Taubenfußchronik“ aber auch dort, um die Haltbarkeit und Folgerichtigkeit seiner Revisionismusforschung zu überprüfen.

Aber lassen wir die Geschichte vorübergehend und betrachten wir unsere Gegenwart.

Hilflose Helfer: Revisionismus als allgegenwärtige Erscheinung

Wir befinden uns wieder in einem, wenn auch nicht offen erklärten Kriegszustand.

Die Militarisierung unserer Gesellschaften und die Ausweitung bewaffneter Einsätze werden fortgesetzt unter Ausnutzung falscher Begriffe. Wir werden auf Krieg getrimmt, das ist unverkennbar, selbst dem ansonsten Begriffsstutzigen irgendwie klar. Die EU-Verfassung, pardon der EU-Reform-Vertrag, ach nein der Lissabon-Vertrag spricht da eine ganz klare, durchaus verständliche  Sprache, weswegen er im einzig zugelassenen Referendum in Irland, auch eben mit guten Argumenten zurückgewiesen wurde. Unsere Truppenpräsenz in Afghanistan soll aufgestockt werden. Deutschland muss am Hindukusch verteidigt werden. Aber noch sind weit über 70% der Deutschen damit nicht einverstanden. Der Sache muss aus der Sicht des militärisch-industriellen Komplexes ebenso abgeholfen werden, wie aus der Perspektive jener, die für ihr Interesse an billigen Rohstoffen und am Erhalt geostrategischer Systemstützpfeiler in der Region bekannt sind. Deswegen produzieren sie Nebelschleier in Form von Rechtfertigungsmustern, die natürlich in progressiver Sprache gestrickt sein müssen.

Weil die Gegenkräfte theoretisch und organisatorisch schwach und schon lange von jenem revisionistischen Gift gelähmt sind, anders als die Kapitalseite über kaum noch Formen strukturierter Zusammenarbeit verfügen, wird auch die kurz bevorstehende Abwehrschlacht gegen noch mehr Militärverschickung nach Afghanistan verloren werden.

Wir müssen wie Michael Endes Cassiopeia rückwärtsgehen um vorwärts zu kommen

Die Revision der Theorie (und Praxis!) der marxistisch-leninistischen Klassiker vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, also dem Ort mit einst höchster moralischer Autorität, verführte die Massen im Verlauf der 50iger Jahre dahingehend, den aggressiven Charakter des nach wie vor aktiven Gegners, nicht mehr klar zu erfassen. Verdrängt wurde der letztlich ihnen geltende Abwurf zweier Atombomben, vergessen die Hinrichtung von Ethel und Julius Rosenberg. Die Vorstellungen von der Gefährlichkeit eines solchen Gegners verschwammen allmählich im Begriffswirrwarr des revisionistischen Gesäusels. Im Ergebnis kann die Ursache der Gefahr nicht mehr richtig geortet werden und es kann ihr bis heute nicht mit der gebotenen Schärfe begegnet werden. Der Gegner versteht es sich immer aufs Neue mit wohlklingenden Namen zu drapieren. Er kommt als Überbringer von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde daher, als Verteidiger der Frauenrechte oder als Heilsbringer in Sachen Katastrophenhilfe. Er segelt im Zeichen von „Freier Marktwirtschaft“ und „neoliberaler Ordnung“. Seine Götter sind WTO, IWF und Weltbank, seine terrestrischen Verbündeten heißen EU-Reformvertrag, Strategiepapiere mit Afrika, Indien und Lateinamerika und „PPP“ (Private-Public-Partnership) und so fort.

Sein Auftritt aber hinterlässt überall den Gestank der Verwesung. Und doch wird sein Inhalt, der weder neu noch freiheitlich ist, immer wieder von seinen natürlichen Antipoden verkannt. Jene, die der Verheerung beizukommen versuchen, tappen recht hilflos im Nebel herum und suchen mehrheitlich an der falschen Stelle. Viele glauben sogar daran, die für unsterblich gehaltene Bestie einfangen zu können, um mit ihr einen friedlichen Umgang zu pflegen. Der Raubtiercharakter des Imperialismus offenbart sich halt erst beim Erfassen seiner gesamten Erscheinung. Im Süden ist sein gefährlicher Appetit allerdings ständig präsent. Die amtliche Charakterisierung der gefährlichen Kreatur als einer zu schützenden Spezies wurde natürlich vom Norden her verordnet. Ermöglicht aber wurde solche Neubestimmung vor allem mittels eines begrifflichen Instrumentariums, dem des revidierten ABC des wissenschaftlichen (!) Sozialismus. Die Sprache, mit der man eine Sache bezeichnet, ändert zwar nicht deren Inhalt, wohl aber verändert sie unsere Klarheit über und unseren Umgang mit dieser Sache. Mit einer solchen – meist das Problem bagatellisierenden – Revision lösen wir es zwar nicht, aber wir bilden uns ein, aus dem Wolf einen Schoßhund gemacht zu haben und halten uns das Problem, nämlich die Einsicht in die Barbarei und Perspektivlosigkeit des Imperialismus, zumindest für eine kleine Weile vom Leib, – scheinbar.

Als Begleiterscheinung des Kalten Krieges traf die Revision sukzessive fast das gesamte ursprünglich kommunistische Vokabular. Am Ende eines langen Prozesses der Umdefinition erlagen ihm selbst so schöne sozialdemokratische Konzepte, wie das der „Reform“. Wer „Reform“ sagt, zielt schon lange nicht mehr auf Revolution, sondern auf den „Rückbau des Sozialstaates auf ein (dem Kapital) verträgliches Maß“. Jene aber, die sich aufgemacht haben, der Kobrahure ihren giftigen Kern wieder zu entziehen und ihren reaktionären, mörderischen Sinn bloßzulegen, werden immer heftiger stigmatisiert, als rückständige, ewiggestrige Dogmatiker und als Stasiliebhaber oder „Altstalinisten“ aus der menschlichen Gemeinschaft ausgegrenzt. Ganz böse Zungen raunen den letzteren sogar nach, an ihren Federn klebe Blut.

Derweilen kann das revisionistische Gift, wie so vieles andere, das wir falsch verorten, in den Labors der zum Faschismus treibenden Kräfte verfeinert, seinen Schaden vergrößern.

Begriffsbestimmung: Revisionismus

Nun mag der unvoreingenommene Zeuge einwenden, der Begriff des Revisionismus sei hier überstrapaziert, er stamme darüber hinaus aus längst veralteten Waffenarsenalen des Klassenkampfes. Manch Sprachliebhaber mag vom Begriff ausgehend sogar darauf bestehen: Revision (von re–videre = neu sehen) bedeute zunächst einmal nur: Überprüfung, neue Durchsicht, Neubetrachtung des Gewohnten, Bewährtes einem ungetrübten Blick von außen zu unterwerfen, das sei die sinnvolle Aufgabe des Revisors. Alles aus einer neuartigen, die Erkenntnismöglichkeiten erweiternden Betrachterperspektive zu unterziehen könne doch wahrlich nicht schaden, mag ein Dritter einwenden. Vom individualpsychologischen Standpunkt aus hat er vielleicht Recht.

Nur existiert aber eben Sprache nicht im luftleeren Raum, sie ist eine soziale Erscheinung. Re-Vision kann durchaus mit notwendig gewordener Aufräumarbeit verbunden sein aus der Perspektive eines Einzelhaushaltes. So weit so gut. Alles mag „Sinn machen“, wenn wir von einem in sich stimmigen Gebilde, von einer mit sich im Einklang lebenden Gemeinschaft ausgehen. Aber auf gesamtgesellschaftlicher Basis und im internationalen Zusammenleben ist dem leider nicht so. Zu der in unserem Zusammenhang benannten „Re-Vision“ gehört nämlich eines vor allen Dingen: Sie will uns vergessen machen, dass unsere Welt, unsere Nationen, unsere Kommunen von einem antagonistischen, unversöhnlich-krassen Gegensatz geprägt, ja gespalten sind.

Diesen Antagonismus zu negieren nützt zwar wenig, denn er ist allgegenwärtig, macht sich Luft in gewaltsamen Ausbrüchen, in terroristischen Aktivitäten an rohstoffhaltigen und/oder geostrategischen Brennpunkten dieser Erde, in neokolonialen Kriegen und anderen, die natürlichen Existenzgrundlagen von Millionen zerstörenden, Havarien. Er zeigt seine entsetzliche Fratze in Gestalt der Millionen Hungernden und Flüchtenden weltweit, er äußert sich in vielen repressiven Maßnahmen und in der Zurücknahme für ewig gehaltener sozialer Errungenschaften in den entwickelten Ländern des Nordens und er gipfelt im totalen Überwachungsstaat. Er peitscht uns alle an zu Leistung und nichts als fremdbestimmter Leistung, möglichst zum Nulltarif. Gleichzeitig füllt er die Taschen einiger Weniger so sehr, dass sie das geraubte Gut nicht zu fassen vermögen.

Aber das Verständnis für die Ursachen dieser katastrophenartigen Antagonismen, die sich vor unser aller Augen vollziehen, wird durch eine re-vidierte, sprich um die Klassenanalyse bereinigte Betrachtungsweise neutralisiert, blockiert. Falsche Begriffe verunklaren für uns Sinn anstatt uns aufzuklären darüber, was Not täte und getan werden könnte und müsste. Auf solche Begriffsverwirrung zielt die ideologische Denkfigur des Revisionismus und meint das Über-Bord-Werfen des Bewährten. Wertvolle Analysewerkzeuge, Texte, die Erfahrungen mit konkreten und erfolgreich durchgeführten Umwälzungen verarbeiten, werden uns und vor allem nachfolgenden Generationen vorenthalten, indem sie für bedeutungslos oder für veraltet erklärt werden. Manche schiebt man gar, wenn sie wider Erwarten hervorgezogen und zitiert werden, beiseite als „Machwerke“ einschlägiger Diktatoren. Kostbarste Folianten werden so entsorgt. Tabuisiert und verleumdet wird gerade jene historische Epoche, innerhalb derer die soziale Bewegung der entrechteten Massen einst die größten Erfolge erzielen konnte. Solche Erfolge waren möglich, obwohl viele ihrer besonders mutigen und klar sehenden Anführer ermordet wurden, und zwar nachweislich von den revisionistischen Lakaien jenes keine Gnade kennenden Ungeheuers namens Imperialismus. Obwohl auf solche Weise viele mutige Lehrer und Kampfgefährten lange vor der Zeit zum Sterben verurteilt wurden, waren solche Erfolge aber trotz alledem so lange noch möglich, solange die Bewegung der Entrechteten sich an den kostbaren, überlieferten Begriffswerkzeugen orientierte.

Ihre Sprache zeitigt ungenießbare Früchte

Jene, die um ihre wahnwitzigen Profite und um ihre Macht fürchten, versuchen also nicht ohne Grund und mit nicht wenig Erfolg sich unserer Sprache, unserer Widerstandsformen, die ja in erster Linie durch begriffliche Aufklärung der Massen entwickelt werden müssen, zu bemächtigen. Auf vielfältigste Weise berauben sie so ihre Opfer der wichtigsten Ausdrucksmittel. Sie verfügen zu diesem Zweck weltweit über ein williges Heer hoch qualifizierter Lohnschreiber, das dazu auserkoren ist, uns den Sinn zu verdrehen. Diese Schreiberlinge und Agitatoren scheuen vor keinem Mittel zurück, um uns unser Bewusstheit als Menschen zu rauben. Sie pervertieren alle Künste in die Belanglosigkeit hinein oder transmutieren sie zu Mitteln der Gewaltpropaganda. Sie pervertieren die Sprache der Menschlichkeit, um das schier Unmögliche zu erreichen: Die Zustimmung zu ihren Kriegen. Die Kernsubstanz ihrer Revision zielt darauf, uns vergessen zu machen, dass Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, dass es ein Oben und ein Unten gibt, dass die überwältigende Mehrheit unter ihren Kriegen leidet und zwar schon bevor sie begonnen haben. Sie haben den klar definierten Auftrag, die Menge vergessen zu machen, dass sie noch immer um die Früchte ihrer Arbeit gebracht wird, ja, dass ihre Herren und Damen im Begriff sind, uns sogar die Gehirnsubstanz zu rauben.

Sie versuchen den differenziertesten und präzisesten Ausdruck menschlicher Kommunikation, die Sprache, zurückzuentwickeln. Sie versuchen uns immer wieder aufs Neue einzureden, dass der Mensch des Menschen Wolf sei.

Dem kann und muss um den Preis des Überlebens entgegengewirkt werden und das ist möglich, solange wir unsere Sprache noch nicht ganz verloren haben, unser wichtigstes Denkwerkzeug.

Mit anderen Worten: Der Revisionismus kann und muss als eine massenfeindliche Theorie und Praxis, als das Gegenteil der revolutionären Bewegung, die ihn gleichwohl hervorgebracht hat, erkannt und zurückgewiesen werden.

Wir müssen demgemäß zurückgehen um Voranzukommen. Wir müssen uns unsere Geschichte wieder aneignen, besonders jene Geschichte, in der die Mehrheit der vormals Geknechteten schon einmal das Ruder in der Hand hielt. Wir müssen uns damit befassen, wann, vorsichtig gesprochen, die Nachlässigkeit begann und wann sie das Steuer aus welchem Grunde abgaben.

Wir dürfen die Definitionsgewalt nicht jenen überlassen, deren Freude über unsere Niederlagen sich in barer Münze für sie auszahlt. Gleiches gilt nicht nur für die Geschichte der Arbeiterbewegung, sondern für alle durch sie mit inspirierten sozialen Bewegungen des vorigen Jahrhunderts bis heute. Die 20iger, 30iger und 40iger Jahre bergen reiche Schätze an sprachlich-gedanklicher Erfassung von Zeitgeschehen.

Das Zeitgeschehen angemessen zu erfassen und widerzuspiegeln, darzulegen, begreiflich zu machen, um ein eingreifendes, sinnvolles zielgerichtetes Handeln der Menschen im Interesse der erdrückenden Mehrheit der Erdbewohner wieder zu ermöglichen, gebietet das Massenelend unserer Tage, es gebietet uns auch die drohende definitive Verheerung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Die Neubefassung mit der revolutionärer Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung ist erforderlich, um die Not von uns abzuwenden, in der wir im Grunde alle befangen sind, auch wenn die Sorge noch nicht an die letzte Tür des Nordens geklopft haben mag, auch wenn vereinzelt noch Schlupflöcher vorhanden sind. Es ist dieser Umkehrschritt nötig, um das Leben auf dem Planeten Erde zu schützen vor jenen, die nicht genug kriegen können, obwohl sie schon jetzt nicht mehr wissen, wohin mit allem, vor jenen, die keine profitablen Anlagemöglichkeiten mehr für ihre Wahnsinnsrendite finden. Ihnen bei ihrem sinnlosen durchaus auch selbstzerstörerischen Vernichtungswerk nicht tatenlos zuzuschauen, ist Aufgabe aller Sehenden. Damit ihrer mehr werden und sie vor allem auch wieder zueinander finden können, muss den herrschenden Meinungsorganen die Interpretationsfreiheit über unsere Geschichte und unsere Widerstandsformen entzogen werden. Beginnen wir mit der Wiederaneignung unserer begrifflichen Sprache.

Lesen und studieren wir unsere Klassiker, alle ohne Auslassung, auch die tabuisierten, die besonders genau. Ihre Lektüre hat befreiende Wirkung.

Vom Wert bürgerlich humanistischer Literatur

Thomas Mann, ein großer Meister der Sprache, hat in der  Novelle „Mario und der Zauberer“ (1930) auf seine besondere Weise demonstriert, wie dem faschistischen Magnetiseur zu begegnen ist. Er verdeutlicht auch, dass „Stärkungsgläschen und Reitpeitsche“, also Rausch und Gewalt, Drogen und Brutalität die Ingredienzien sind, mit denen sie sich und uns in Bann halten. Sie stellen uns entweder als dumme Trottel im Fernsehen zur Schau oder beobachten uns argwöhnisch als gefährliche Irrlichter.

Mit jenen, die noch immer am Ziel Sozialismus – und zwar nicht nur als Utopie – festhalten, verfährt man ähnlich wie Cipolla mit seinen Opfern nach dem Motto: „Wer den Schaden hat muss für den Spot nicht sorgen“. Aber der Fisch stinkt vom Kopf her. Blinde Gegner des Menschheitsfortschritts schicken weiterhin ihre trojanischen Pferde in die Bewegung, wo sie Führungspositionen erobert haben und weiter erobern. Sie führen von dorten ihren fanatischen Kampf, sie unterminieren das Wertvollste, das die Menschheit besitzt: Ihre Gabe zur rationalen Analyse sie betreffender Vorgänge und die daraus zwangsläufig folgende Gemeinschaft der Widerständigen.

Th. Mann nimmt die Verarschorgien im Fernsehen vorweg. Seine Erzählung zielt auf den Faschismus, den alltäglichen Faschismus. Die Erfahrung von damals von Goebbels und Hitler als Volksdemagogen erster Güte gehen in seine Erzählfigur Cipolla ein. Die Methoden der Verwirrung, der Zerstörung von Sinn(zusammenhängen) sind im 21. Jahrhundert allerdings noch raffinierter geworden, als sie selbst ein Thomas Mann vorausahnen konnte. Der Gegner des Menschheitsfortschritts bedient sich aller Register.

Begriffe, Sprache also, sind das A und O. Wir dürfen uns die Sprache nicht rauben lassen, dürfen uns nicht knebeln und damit endgültig mundtot machen lassen. Machen wir also der Gehirnwäsche ein Ende. Lernen wir einfach wieder selber denken ohne Geländer. Dazu müssen wir lesen und studieren, vor allem die Klassiker. Dann wird auch wieder die Parole aus dem spanischen Bürgerkrieg ihre Wirksamkeit entfalten: „No parasan!“„Sie werden nicht durchkomme!“, – aber nur dann!

Irene Eckert, Berlin


Sprache und Denken II – Ketzerische Gedanken wider den Zeitgeist

Mögen uns alle Widerstände Antrieb sein, das für recht Befundene dennoch zu wagen

„Lenin kam nur bis Lüdenscheid“[52] wollen wir aber menschheitlich weiterkommen, so müs-sen wir tiefer schürfen, als es die vielleicht unterhaltsam-pfiffige 68iger Doku vermag. Für jene, die Antworten auf die wirklichen Zeitfragen suchen, ist es nachgerade konterproduktiv, die vermeintlich angestaubten Säulenheiligen  einer verflossenen Ära vom Sockel zu schubsen und ihnen „Good-Bye[53] hinterherzurufen. Zu fragen wäre vielmehr, warum diese einmal Genera-tionen zu begeistern vermochten und unter welchen Umständen sie ihren Glanz verloren.  Herauszufinden wäre also, wie denn so einer wie  Lenin immerhin  1917 „In zehn Tagen die Welt erschüttern[54] half und dafür geliebt und geachtet wurde. Kreative Geburtshelfer unserer nachrevolutionären, neonleuchtenden  Geschichtsperiode vom „Congress for Cultural Freedom“ etwa, wissen viel genauer als mancher scheinprogressive Kritiker, warum den Nachgeborenen  ein tieferer Blick in  die Welt Leninscher Begriffe ein für alle Mal madig gemacht werden muss.

Es geht um die Waffe der Kritik, die unsere Oberen mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser. Sie nämlich wurde mit dem Absetzen der alten Lehrer stumpf gemacht. Die theorie- und führungslos zurückgebliebenen Massen fügen sich seit dem Sturz der Giganten besser ins scheinbar Unvermeidliche. Wessen Mumie trotz alledem noch Lebendige anzieht, der wird eben medial geschickt verhöhnt, verharmlost oder verteufelt. So  manchem Revolutionär  wurde posthum das frische Gewand eines Massenmörders verpasst. Die Folgen für die Nachgeborenen waren in jedem Fall verheerend. „Den Sack schlägt man und den Esel meint man“, so weiß es der Volksmund, aber er glaubt auch zu wissen, „dass da schon was dran sein wird“,  an dem  Dreck, der aus allen Kanälen dringt. Gilt doch  die „Bildzeitung“  landesweit als „das Lügenblatt“, tut aber dessen ungeachtet ihre Wirkung.  Boulevardpresse und  Sprichwort ersparen uns eben nicht die eigene gedankliche Anstrengung. Vor allem nicht, wenn die übrigen Medien mit Hilfe von begrifflicher Verwirrung ein Zerrbild der Gegenwartsgeschichte liefern. Eine unbefangene Befassung mit dem bis zur Unkenntlichkeit verleumdeten Gegenstand wird so auch  dem  wissbegierigen  Leser schier  unmöglich.

Uns überlebenswilligen Erdbwohnern gehen durch den verächtlichen Umgang  mit den Klassikern wesentliche Einsichten verloren. Dabei waren   revolutionäre Geister von  Schiller[55]  bis Stalin[56] selten so aktuell wie heute. Ihre  aus den Kämpfen der Jahrhunderte geborenen, durch Selbststudium und harte Lebenserfahrung entstandenen Texte geben wertvolle   Antworten  auf so drängende gesellschaftliche  Fragen wie  „Was Tun?“[57]. Ein weiter Blick zurück in Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ etwa  vermag  uns daher zu er-mutigen,  alle Widerstände als Antrieb aufzufassen, das für recht Befundene dennoch zu wagen.

Abschied von den alten Meistern und ‚revolutionäre’ Moderne

Lenins produktiver Streit mit den Vertretern der sozialen Bewegung vor über hundert Jahren befähigt uns, die gravierendsten Fehler des heutigen „Führungspersonals“ zu erkennen und entscheidend zu korrigieren. Die Lehren der Weisen ignorierend, sind wir als Gesellschaft in der Zeit um Epochen zurückgefallen. Während die alten Meister Wege aus der Gefahr wussten und auf die Umwälzung aller Verhältnisse orientierten, in denen der Mensch ein geknechtetes und erniedrigtes Wesen ist, gilt im Zeitalter der Begriffsverwirrung nurmehr das Formal-Experimentelle als revolutionär. So fühlen sich kluge und dem Fortschritt frönende Menschen des 21. Jahrhunderts frei von ethischen Bindungen. Damit scheinen sie ermächtigt, mit radikaler Geste jedes Tabu niederzuwalzen. Kein „Feuchtgebiet“[58] ist ihnen zu glitschig, kein „Ele-mentarteilchen“[59] zu verstiegen, aber auch keine Schnulze zu honigsüß. Jeder weiß „sex sells“ and „everything goes“. Hauptsache, man oder frau gilt als sprachlich innovativ, wird als Artneu-landbeschreiter[60] oder Bildneuschöpferin gefeiert. Als solche kreieren die Vorwärtsstürmer nie dagewesene „Environments“, während die reale Umwelt unbewohnbar wird. Es regiert einge-standenermaßen der Profit oder doch der persönliche Vorteil. Die Kasse muss stimmen. Wer oder was sollte in mageren Jahren die in Brot und Lohn stehenden und somit Begünstigten, daran hindern, sexuelle Präferenzen und Intimgebiete auszustellen? Wer wollte Einhalt gebieten, wenn sie sich der allgemeinen Schaulust für Geld preisgeben wollen?

In Anbetracht derartiger Freizügigkeit bleibt vielen Menschen in der nördlichen Hemisphäre verborgen, dass für uns längst neue Götter ersonnen und neue Tabuzonen definiert wurden. Unmerklich lasten diese auf der tonangebenden Intelligenz der Industrienationen. Noch greifen deshalb die Zensurschnitte wirksam in unsere Hirne ein und verhindern Bewusstwerdungs-prozesse über unser Verhaftetsein im Alten.Der, menschheitlich gesehen, unermessliche Wert von darüber hinausweisendem Wissen ruht im Verborgenen. Solange es in allen G7/8-Staaten eine satte Schicht von Menschen gibt, die am Wohlstand partizipieren, wollen dort nur wenige wissen, dass dieses Reichenprivileg mit dem Blut erpresst wird, das noch immer aus den „offenen Adern“[61] des Südens fließt. Verborgen bleibt somit die hilfreiche Erkenntnis, dass „das Elend der Welt[62] von der neoliberalen Gesellschaftsordnung täglich und stündlich neu produziert wird. Die veröffentlichte Meinung schläfert das Gewissen ihrer Günstlinge ein. Die meisten stillen Teilhaber ignorieren bereitwillig, dass die kapitalismusbedingte Ausplünderung der Südhalbkugel bereits jetzt auch den Nordlichtern teuer zu stehen kommt: Die dafür erforderliche Repressionsmaschine gebietet nämlich zwingend die Plünderung öffentlicher Kassen. Ihr Rohstoffhunger bringt unsere gebeutelte Umwelt zum Fiebern.

Aufbruch zu neuen Horizonten?

Viele intelligente und gebildete junge Menschen suchen nach neuen Horizonten. Sie reisen gerne und wollen die Welt auf diese Weise erkunden. Nach erfolgreich absolvierter Schul- oder Berufsausbildung, nach Hochschul- und Graduiertenstudium und nach vielen, kaum oder gar nicht bezahlten Praktika strandet so mancher Weltenbummler an den Grenzen des Systems. Dort findet er prekäre Arbeitsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit vor. Der Eintritt in den Wehrdienst, fern der Heimat, für eine Extraprämie oder eine Aufstiegschance mag so manchen Abenteuer-lustigen als Ausweg locken.

Die Kreativsten „jungen Wilden“ dürfen ihre gut entlohnten Dienste dem Topmanagement großer Multis für ein paar Silberlinge zur Verfügung stellen. In den Chefetagen der Macht werden sie dann ihren Werbebeitrag leisten und die hässlichen Begleiterscheinungen der großen Unordnung eine Zeitlang noch kaschieren helfen. Bis auch sie an ihre Leistungsgrenzen gelangen und dann? Frisch, frei und flexibel braucht uns das Kapital, was aber wird aus den Ausgesonderten?[63]

Die meisten jungen Menschen haben konstruktivere, viel weitreichendere Träume. Sie verstehen sich keinesfalls als Handlanger der Mächtigen. Ihre Sehnsucht besteht nicht aus Geld. Sie spüren, dass unsere Existenzgrundlagen als Menschen weltweit in Gefahr sind. Umwelt- und andere Krisen sind schließlich fühlbar gegenwärtig.

Der Ausweg aber, der rettende, liegt ganz nah. Doch dazu muss der Bedrohungsfaktor in der herrschenden Gesellschaftsordnung  dingfest gemacht werden. Dazu bedarf es einer wissen-schaftlichen Theorie, die die Verhältnisse aus der Perspektive der überwältigenden Mehrheit der Menschen als veränderbar erscheinen lässt. Die alten Denkwerkzeuge, neu geschliffen, sind genau dazu in der Lage, Wunschträume von einer friedlichen und sozialen Weltordnung in die Wirklichkeit umsetzen zu helfen. Um diese Werkzeuge zu schleifen, müssen sie zunächst von der Patina gereinigt werden, die sie angesetzt haben.

Von der notwendigen Wiederentdeckung der Solidarität

Solidargemeinschaften der Entrechteten müssen ihre angemessenen Nachfolger finden. Die menschlichen Wracks, die unsere Wohlstandsgesellschaft täglich an Land spült, fordern uns Hilfe rufend auf, uns grenzüberschreitend zu verschwistern. Das Schicksal der Arbeitssklaven aus dem Süden ist mit dem unseren eng verknüpft. Der unersetzliche Wert von „Gewerk-vereinen“ ist wieder freizulegen. Nur durch sie setzen wir weltweit, aber zu Hause beginnend, Mindestlöhne, geregelte Arbeitszeiten und Arbeitschutzmaßnahmen durch. Aber das genügt nicht. Es gilt, vor allen Dingen durch politische Bildung die für uns zerissenen Zusammenhänge wieder kenntlich zu machen. Wir brauchen Organismen, die aufklären und die Straßen dagegen füllen helfen, dass sich unser Land an der stetigen  Ausweitung neokolonialer Kriege beteiligt. Wir brauchen Intellektuelle, die sich der Verballhornung von Bombeneinsätzen als „Schutz-maßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen“ mit der Kraft ihrer Geisteswaffen entgegen-stemmen. Wir brauchen Publikationen, die die unermesslichen Kosten etwa für den vertraglich vorgesehenen, konstanten Rüstungsausbau[64] in Europa anprangern. Vielleicht wird die um sich greifende Verschlechterung der Lebensqualität durch Preiswucher dazu beitragen, dass bisher noch Kleinmütige sich hervorwagen. Schließlich kann man der Zunahme der Massenar-beitslosigkeit und der nachfolgenden sozialen Verelendung durch Aufrüstung und Kriegsbeteili-gunglangfristignichtalleine durch Repression begegnen. Es werden zweifellos mehr faschistoide Banden auf den Plan gerufen werden. Schon deswegen ist es erforderlich zu erkunden, wer diese finanziert und vor allem, warum – in Missachtung des Grundgesetzes – ihrem Treiben nicht juristisch Einhalt geboten wird.

Es ist leichter, dem entgenzuwirken mit einer erprobten, neue Horizonte aufreißenden Theorie für soziales Handeln. Damit ausgestattet, werden junge Menschen nicht mehr so tatenlos ihrer Entrechtung zusehen. Zumindest die Gewieftesten unter ihnen, die wissenschaftlich Geschulten, jene, die den Begriff Ethos nicht mit Ethanol verwechseln, werden sich früher oder später auf die Suche nach konstruktiveren Auswegen begeben. Sie werden suchen nach Auswegen jenseits von Drogen und New Age und endlosen Selbstverwirklichungstrips. Der Sackgasse den Rücken kehrend brauchen sie Anleitung. Ohne Kenntnis der Theorie und Praxis der Arbeiterwegung steht ihnen aber die schier unlösliche Aufgabe bevor, mit fast bloßen Händen ein kontaminiertes Gelände freiräumen zu müssen.

Wir in die Jahre Gekommenen, die wir die Verheerungen haben geschehen lassen, sind daher in der Pflicht. Wir müssen diesen jungen Pionieren für ihre unermessliche Aufgabe die geeigneten Denkwerkzeuge verfügbar machen. Dazu müssen lähmende Tabus beiseite geräumt werden. Wie alle von Menschen errichteten Tabus, haben diese Hemmschranken eine natürliche Schutzfunktion. Einmal beim Namen genannt und erkannt, müssen sie daraufhin befragt werden, wen sie und wovor sie die Betreffenden schützen sollen.

Die menschheitsrelevanten Tabus auflösen

Beginnen wir mit besonders niederdrückenden Denkvorlagen: „Das gescheiterte sozialistische Experiment“, die „inhumane Seite des Sozialismus, „sozialistische Misswirtschaft“ und last not least „Stasi“ und„Stalinismus“. Massenmord, Terror, „Gulag“, alles dem Sozialismus zuge-schriebene Übel, sind unter anderem „dokumentiert“ im trotzkistisch-maoistischen „Schwarz-buch des Kommunismus“[65]. Sie werden uns täglich und stündlich medial eingehämmert. Noch finden sich Zeitzeugen und Historiker, die ihre Wirklichkeit beschwören. Drehen wir aber endlich, nach fast 20 Jahren, den Spieß selbstbewusst und fragen, was seit dem Fall der Mauer, denn besser geworden ist. Proben wir den aufrechten Gang und fragen mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Betto Frei, welche soziale Ordnung denn die gescheiterte ist. Angesichts der vier Milliarden Darbenden weltweit und in Anbetracht des jahrelang währenden Bombenterrors an den geostrategisch interessanten Brennpunkten dieser Erde, angesichts real existierender Folterlager mit Namen wie Guantanamo Bay oder Abu Ghraib, angesichts von Millionen heimatlos gemachter Flüchtlinge in immer neuen Kriegen dürfte eine Antwort kaum schwerfallen. Haken wir nach und fragen, warum derlei Verstöße gegen die universelle Charta der Menschenrechte (1948) nicht zur Verurteilung der beinahe allein und unumschränkt herrschenden und damit verantwortlichen Gesellschaftsordnung führen. Mit Stasigezeter und Stalinismuskeule lenken die Medien, Privateigentum der Damen und Herren, die die Welt regieren, von der entsprechenden Antwort ab. Wissen sie doch, solange wie über den bisherigen Versuchen der Menschheit, humanere Verhältnisse herbeizuführen, der in den obigen Negativ-zuschreibungen enthaltene böse Zauber ruht, kann es kaum gelingen, das notwendige Neue aufzubauen. Mögen sich auch manche von uns dieser Erkenntnis verschließen, unsere Oberen wissen um ihre Wirkung.

Damit ist die Herausforderung klar benannt.

Der böse Zauber muss – wie in Michael Endes „satanarchäolügenalkohöllischem Wunsch-punsch“[66] – durch die „Umkehrformel“ unwirksam gemacht werden. Das ist möglich, wenn wir die Angst überwinden und uns an das Tabu heranwagen. Das große Tabu nämlich, das die Mächtigen vor dem Zorn der Ohnmächtigen schützen soll, muss um den Preis der kollektiven Selbstzerstörung alles Lebendigen beseitigt werden.

Dazu ist es erforderlich, die nur scheinbar naive Wahrheit mit den Worten des Kindes auszu-drücken und zu sagen, dass der Kaiser nackt dasteht. Der Herrscher aller Zeiten steht nackt und wehrlos da, sobald wir ihm die geschickt verpackten Lügen nicht mehr abnehmen. Denn auf der Zustimmung des Fußvolks, auf dem resignierenden „Ja und Amen und ich will meine Ruhe haben“ der Satten basiert ihre Macht. So märchenhaft einfach ist die Wahrheit und so schwierig zugleich.

Revolutionäres Denken, das uns von den unsichtbaren und unfühlbaren Ketten zu befreien vermag, muss damit rechnen, mit allen denkbaren Mitteln verketzert zu werden. Weiß doch ein jeder unbewusst: Wer mit dem Strom schwimmt, kann es zu etwas bringen. Die dazugehörige Frage „zu was“ wird gerne ausgeblendet. Wer wider den Stachel löckt, kann allerdings aus-gegrenzt und abgestoßen werden, aber auch wer mitschwimmt in der kontaminierten Brühe, bleibt nicht unbedingt verschont.

Nach der beinahe weltweiten Niederlage der sozialistischen Umgestaltungsversuche ist es kaum leichter geworden, eine humanere Gesellschaftsordnung zum Erfolg zu führen. Ihre Gegner verfügen heute über noch machtvollere, noch raffiniertere und noch brutalere Mittel, die geeignet scheinen, jeden alternativen Entwurf zum Scheitern zu verurteilen. Die andauerende Handelsblockade gegenüber Cuba oder dessen Infiltration durch „NGOS“ sind nur zwei der offensichtlichsten Methoden. Von außen gesteuerte Separatisten- oder „Autonomiebewegungen“ wie im Bolivien der indigenen Reformversuche unter Evo Morales Ayma sind eine weitere Variante. Die bösartige Verleumdung Chinas als Menschrechtsverletzer und Unterdrücker ethnischer Minderheiten im Vorfeld der Olympiade setzt all der bisher stattgefunden medialen Gehirnwäsche die Krone auf. Allerdings bewies das bevölkerungsreichste Land der Erde gerade heute, am chinesischen Glückstag 08-08-08, mit der grandiosen Eröffnungsfeier vor aller Welt, wozu ein noch immer kommunistisch regiertes Land trotz aller Widrigkeiten in der Lage ist.[67] Die Alternative zum „neoliberalen“ Herrschaftsmodell liegt jetzt viel einprägsamer auf der Hand als zu Zeiten der Begründer des „Wissenschaftlichen Sozialismus“. Es ist dies ganz fraglos die Barbarei, das Ende der menschenmöglichen Zivilisation auf dem Planeten Erde. Deswegen ist keine Mutlosigkeit angebracht. Die Wege sind sehr viel kürzer geworden, auch für fantasievolle Gegenbewegungen, die Nutzung der modernen Telekommunikationsmittel ist nicht mehr exklusiv. Die Jugend weiß sich diese dienstbar zu machen. Solidarität mit Nationen wie China und Cuba, ja mit fast ganz Lateinamerika ist in unserem Eigeninteresse dringend geboten. Vieles ist heute einfacher und schneller zu bewältigen als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als der Sozialismus auf wissenschaftlicher Grundlage in der Sowjetunion zum ersten Mal aufgebaut wurde. Damals war er natürlich ein Erfolgsmodell, das die Jugend der Zeit auf allen Kontinenten mitriss.

Ohne fundiertes, historisches Wissen geht es allerdings nicht

Das Wissen darum, dokumentiert in zeitgenössischen Schriften, ist noch zugänglich. Durch-forsten wir die Bibliotheken und Antiquariate der Welt nach Texten aus der Zeit der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, sorgen wir für deren Verbreitung, bevor sie auf Grund des Digitalisierungszwangs womöglich für immer zerstört werden.

Sagen wir es unseren Kindern und Kindeskindern so deutlich wie möglich: Um eben dieses ursprüngliche Erfolgsmodell zu vernichten, „musste“ einst der „Nationalsozialismus“ erfunden werden. Er war selbstredend keiner. Er verdiente weder den Namen national noch das Attribut sozialistisch. Mit brutaler Gewalt, mit List und Tücke zermalmten dessen Profiteure den Widerstand der Arbeiterbewegung zunächst in Deutschland. Aber auch anderswo waren sie rührig, niemals legten sie die Hände in den Schoß. Auch heute ruhen sie nicht.

Sie kopieren und verfälschen unsere Lieder. Sie bedienen sich der Ausdrucksformen der sozialen Bewegungen. Damals arbeiteten sie mit Fünfjahresplänen, um ihre Rüstungsindustrie auf Vordermann zu bringen. Sie wussten die erfolgreiche Planwirtschaft für sich gewinnbringend zu nutzen. Natürlich genossen sie damals wie heute die ungeteilte Sympathie ihrer Standesgenossen überall auf der Welt. Die „Kapitaleigner“ sind sich begreiflicherweise immer einig, solange es gegen den gemeinsamen „Klassenfeind“ geht. Diesen sahen und sehen sie verkörpert in den Sowjets, in der Rätedemokratie, aber auch in jeder nachfolgenden Form einer sozial ausgerichteten Alternative zu ihrer Vorstellung von Demokratie als Kapitalfreiheit. Erinnert sei nur an den demokratisch gewählten Salvadore Allende in Chile (1973) oder ganz aktuell an Simbabwe und die mörderischen Vorgehensweisen der neokolonialen Kräfte auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Einst bedienten sich die Herren des proletarisierten Elements einer kaputten Kleinbürgerfigur und seiner Konsorten, die sie gesckickt zu steuern vermochten. 40 Jahre später vertrat ihre Interessen ein chilenischer General namens Augusto Pinochet. Im Deutschland der dreißiger Jahre war ein Generalfeldmarschal nicht gut genug. Ein Prolet musste an die Macht gehievt werden, um die Massen zu täuschen. Dem VolksVer-Führerfolgte der Volksempfänger. Die urspünglich positiv besetzten Begriffe Propaganda und Agitation wurden bis zur Unkenntlichkeit verfälscht und in ihr Gegenteil verkehrt. Der Krieg gegen die sozialistische Sowjetunion war in den dreißiger Jahren, aus der Perspektive der in die Defensive gedrängten Kräfte, das dringendste Gebot der Stunde, auch wenn der Angriff erst noch anderen galt. Die Nazis hatten überall auf der Welt Verbündete, denn das Klasseninteresse des Kapitals erforderte ein international koordiniertes Vorgehen. Wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar ist oder war, desto besser für die interessierte Seite.

Jenseits der Propagandküche: Fakten

Die Goebbelsche Propagandamaschinerie erfand alle denkbaren Greuelmärchen um „das Sowjetparadies“ zu verunglimpfen, nach dem Motto „die Menschen werden jede Lüge glauben, vorausgesetzt, sie ist groß genug[68]. Junge Widerstandskämpfer um Herbert Baum opferten 1942 ihr Leben, weil sie die Lügenmaschinerie durchschauten und dagegen wie einst David mit Goliath rangen. Andere – vor allem aber einige einflussreiche Intellektuelle – waren wie etwa Andre Gide oder wie selbst der Begründer der Roten Hilfe, Willi Münzenberg,[69] am Ende weniger klarsichtig. Der tragische Tod des Letzteren auf der Flucht vor den Nazi-Schergen in Südfrankreich 1940, das unrühmliche Ende des einst so bedeutenden kommunistischen Publi-zisten, wurde für eine neue Runde antikommunistischer Verleumdungen herangezogen.

Zunächst glaubte die kommunistische Weltbewegung derlei Bösartigkeiten kaum, zu offen-sichtlich war auch deren kriegstreibende Funktion. Das aus schierer Not und aus strategischer Klugheit geborene Militärabkommen zwischen der UdSSR und Hitlerdeutschland verwirrte wieder andere. Es waren Menschen, die nur in moralischen und nicht auch in geostrategischen Kategorien denken gelernt hatten. Es waren Menschen, denen die Erfahrung fehlte, dass das einfache Volk die Macht, wenn sie sie in den Händen hält, auch absichern muss. Diese Verwirrung machten sich jene, die sich damals als die Herren der Welt sahen, zunutze, wie es andere heute tun. Sie spielten schon immer auf ihrer Flöte die Menschenrechtsmelodie und kaschierten damit mühsam ihre flagranten Verletzungen des humanitären Völkerrechts.

Es kam dennoch wie es kommen musste, trotz unbeschreiblicher Opfer: Ein Drittel des sowjetischen Territoriums wurde mit seinen ökonomischen Ressourcen verwüstet, über 1.700 Städte und 70.000 Dörfer wurden völlig zerstört, 31.800 Industriebetriebe demontiert, 27 Millionen sowjetische  Menschen, davon nahezu 20 Millionen Zivilisten umgebracht. Es siegte dennoch das überlegene Gesellschaftssystem, das alles daran gesetzt hatte, diesen mörderischen Krieg zu vermeiden. Begreiflicher Weise galt sein oberster Repräsentant am Ende des gewonnen Kampfes gegen die Barbarei nicht nur den Sowjetbürgern als Held. Auf der Potsdamer Konferenz am Heiligen See im Cecilienhof erhoben sich die Führer der Westalliierten im Sommer 1945 spontan, als Stalin den Raum betrat.

Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sollte aber bald zeigen, dass der Imperialismus seine Sprache und seine Haltung wieder gefunden hatte. Churchill war es vorbehalten festzustellen, dass man „das falsche Schwein geschlachtet“ hatte. Die im Wieder-aufbau befindliche Nation der Sowjetmenschen hatte bald ihre Schuldigkeit getan, ihr Blutzoll war entrichtet. Man wollte und konnte sie jetzt in die Schranken weisen. Anhand von ein-schlägigen Dokumenten ist der Nachweis erbracht, dass jene, die sich noch immer als die Herren der Welt sahen, um keinen Preis gewillt waren, die anschwellende Sympathiebewegung mit dem Kommunismus weltweit hinzunehmen. So versuchten die US-Amerikaner im Bunde mit dem eben besiegten Japan – nicht nur in China – der sozialistischen Bewegung den Garaus zu machen. Der Koreakrieg[70] war ein weiterer grauenvoller Meilenstein, beim Versuch den „Kommunismus“ definitiv zu befrieden. Solange allerdings der Sozialismus als Wissenschaft aufgefasst wurde und Kommunisten sich als echte Internationalisten verstanden haben, solange war die Internationale der Arbeiter- und Befreiungsbewegungen nicht aufzuhalten. In China siegte daher 1949 mit sowjetischer Hilfe die Revolution. Chinesische Freiwillige unterstützten die Koreaner, die genauso tapfer wie später die Vietnamesen ihr Land gegen die Barbaren verteidigten. Die Bereitschaft der US-Amerikaner, nicht nur über Korea, sondern auch über der Sowjetunion, Atomwaffen einzusetzen, kann aus US-Dokumenten nachvollzogen werden. Bis 1953 schien angesichts solcher Ungeheuerlichkeiten und trotz der privat gesteuerten Massenmedien die Weltmeinung sich zur die Seite des Sozialismus zu neigen. Überall auf der Erde trauerten Millionen Menschen, als am 5. März des Jahres der Tod des sowjetischen Staatslenkers bekannt gegeben wurde. „Was soll nun werden?“ fragten viele, vor allem in der Sowjetunion. Frankreich verkündete eine dreitägige Staatstrauer.

Fakten sind kontextabhängig und bedürfen der Deutung

Bald darauf gelangte das Staatsruder der ersten Sowjetmacht in andere Hände. Im Jahre 1956 wurde das Vermächtnis des einst für groß erachteten Steuermanns, der in den USA freundlich familiär „Uncle Joe“ geheißen wurde, von höchster Stelle aus geschändet. Der Stalinpreisträger Bertolt Brecht spricht jetzt vom „verdienten Mörder des Volkes“ und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Umdeutung des historischen Erbes.

In der Ferne hatten die Herren der Erde, um ihre Vormachtstellung bangend, eine neue Strategie zur Niederringung ihrer Gegner ersonnen, von der sich selbst größte Geister der Zeit blenden ließen. In offener Schlacht war der großen Ordnung nicht beizukommen. Deswegen gingen sie diesmal langfristig und planvoll strategisch und heimtückisch vor. Nach einem fast 40 Jahre währenden, destruktiven Prozess waren sie in ihrem Sinne erfolgreich. Die Widersprüche und den Widerstand, der ihr Terrorregime immer wieder provoziert, können sie nicht loswerden. Solange es ihnen aber gelingt, die besten Kämpfer, seien es Kommunisten oder sozial denkende Demokraten der Weltbewegung, erfolgreich zu Verbrechern zu stempeln, solange wird eine Bewegung gegen den Terror des Krieges, gegen die Verelendung von Millionen und gegen die Verheerung der ökologischen Grundlagen des Lebens nicht wirklich wachsen.

Ich höre den Einwurf: „Du leugnest und verharmlost reale Verbrechen. Die Menschen in den Gulagswaren auch eine Realität, die Zeugnisse, die sie ablegten, sind mannigfach, lies Walter  Ruges „Treibeis am Jenissei“, lies Solschenizyn, lies Vassily Grossmann, lies Pasternak. Vergiss nicht, die Russen haben selbst ihre Schuld an den Massenerschießungen von Offizieren im polnischen Katyn[71] zugegeben. Denk an die „Schauprozesse“ der dreißiger Jahre und Brechts Abscheu und Carola Nehers Mann, der im Lager verschwand. Bedenke, dass auch der „Schlächter“ Milosevic und sein Adjudant, der „selbst ernannte“ Dichter und „Massenmörder“ Karadzic, beides „Schurken“ aus dem ex-sozialistischen Lager sind. Es fehlte noch der fällige Hinweis auf die „gegrillten Föten“, mit denen laut Ex-Verteidigungsminister Scharping (SPD) die Serben 1999 Fußball spielten.

Darauf bleibt nur mit Heinrich Heine zu antworten:„Ich kenne die Weise, ich kenne die Texte, ich kenn’ auch die Herren Verfasser“[72]. Hier ist nicht der Ort, auf all die Ein- oder Anwürfe einzugehen. Das haben andere sachkundig[73] schon getan. Nur eines soll bedacht werden und ist keineswegs zu verharmlosen: Auch das Ansehen unschuldiger, namenloser Opfer ist zu würdigen. Mit Kurt Gossweiler möchte ich aber darauf bestehen, dass auch sie am Ende auf das Konto des Aggressors gehen. Angesichts der Schwere der Kämpfe und der entzsetzlichen Opfer des unprovozierten Krieges, den unzählige Frauen wie Männer im Einsatz für eine humanere Welt mit dem Leben bezahlten, ist ihr Schicksal, wie das aller anderen zu beklagen, zu vermeiden war es vielleicht nicht.

Mit Bertolt Brecht wäre zu bitten: Ihr, die ihr nach uns kommt, gedenkt unserer mit Nachsicht.

Irene E. Eckert, Berlin, notiert am 08.08.08

  • [51] Der Revisionismus ist eine spezifische Erscheinung der bürgerlichen Ideologie in der revolutionären Arbeiterbewegung , die der theoretischen Rechtfertigung des Opportunismus dient. Der moderne R. sucht die politische Aufgabe nicht in der revolutionären Aufhebung des Kapitalismus, sondern in der Annäherung des Sozialismus an den Kapitalismus.

  • [52] Regie: Andre Schäfer, Dokumentarfilm, D 2008
  • [53] „Good-Bye Lenin“ Spielfilm, Regie :Wolfgang Becker, D 2003
  • [54] “Ten Days That Shook The World”, John Reed, New York 1922, Chronik der  Oktoberrevolution
  • [55] Die Biografie und das Werk  Friedrich Schillers, von der  bürgerlichen französischen Revolution geprägt,  sind dank ihres aufklärerisch-humanistischen Wertes für heutige Probleme neu zu entdecken.
  • [56] siehe Stalin Werke in 13 Bänden, Dietz Verlag 1953, besonders aber das kleine Heft “Dialectical and Historical Materialism” – Little Lenin Library, Volume 25, progress books Toronto “Dialectical and Historical Materialism” 1940, das ich in Genf fand, in der Bibliothek des ehemaligen Pressesprecher der ILO, Campell Ballantyne, einem kanadischer Staatsbürger..
  • [57] W.I. Lenin „Was Tun?“ – Brennende Fragen unserer Bewegung (1908), Ausgabe  Berlin 1945
  • [58] „Feuchtgebiete“,  Erstlingsroman (autobiografischer Porno) von Charlotte Roche, Februar 2008, Bestseller
  • [59] Sex sells: Michel Houllebecq, „Les particules elementaires“, Paris 1998, „Elementarteilchen“, Bestseller-Roman, dt.Köln 1999 (Der Held seines islamophoben Helden  des Romans „Plattform“  (2001)freut sich jedes Mal, wenn ein Palästinenser getötet wurde. H. bezeichnet in einem Radointerview den“Islam als die dümmste aller  Religionen“.)
  • [60] Artneuland, Fotogalerie in Berlin Mitte mit sehr befremdlichen Bilddarbietungen
  • [61] „Las venas abiertas de America Latina“ (1971) dt. „Die offenen Adern Lateinamerikas“ Eduardo Galeano, Peter Hammer Verlag München
  • [62] Piere Bourdieu, „Das Elend der Welt“ – Zeugnisse und  Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, UVK Konstanz 1997
  • [63] siehe dazu den brilliant geschriebenen Roman von Frederic Beigbeder, „39,39“, dt. Rowohlt 2001, („eine Abrechnung mit der Werbebranche“, Eigenwerbung)
  • [64] siehe den EU-Reformvertrag (Lissabon-Vertrag)
  • [65] Stephane Curtois, Schwarzbuch des Kommunismus, 1997
  • [66] M. Endes Wunschpunsch, erschienen 1989
  • [67] Nach Abschluss des Manuskripts kam die Nachricht vom neuen Krieg im Kaukasus. Die Verkehrung der wirklichen Aggression seitens Georgiens in einen kriegerischen Akt, der von Russland ausging,die Ausblendung der Verstrickung der Nato-Staaten in den Konflikt und das Timing pünktlich zur eindrucksvoll friedlichen und überaus kreativen Eröffnungsfeier der Olympiade in Peking scheint das bisher medail Erfahrene noch zu überbieten.
  • [68] Der Satz wird A. Hitler zugeschrieben
  • [69] siehe dazu den nicht unproblematischen Titel, der dennoch aufklärendesWissen enthäl:  Harald Wessel,  Münzenbergs Ende, Dietz Verlag Berlin 1991
  • [70] nachzulesen beim britischen Journalisten Alan Winnington „Von London nach Peking“, Erinnerungen 1914 -1960 ,Verlag Das neue Deutschland, Berlin 1989
  • [71] Arte räumte in einer Dokumentationsendung vom 30. 07. 08 ein, dass die Sowjets beantragt hatten, das Verbrechen von Katyn vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher Tribunal zur Anklage zu bringen. Die Amerikaner haben erfolgreich dagegen Einspruch erhoben. Die Anschuldigungen der Nazis gegenüber den Sowjets fußten  auf einem von ersteren zusammengestellten „internationalen Ärzteteam“ aus ihnen hörigen Staaten während des Krieges; siehe auch Gerd Kaiser „Katyn – das Staatsverbrechen, Aufbau Taschenverlag Berlin 2002, der „neue Details über den von Stalin befohlenen Massenmord an fast 25.000 polnischen Militärs“ zu erschließen beansprucht. (Covertext)
  • [72] Heinrich Heine,  Ein Wintermärchen
  • [73] So Kurt Gossweiler in vielen Schriften, siehe die zweibändige „Taubenfußchronik“, seinen Band  „Wider den Revisionismus“ und viele Artikel in „offen-siv“ oder in der Zeitschrift  „Streitbarer  Materialismus“, seine Kritiker, wie etwa Robert Steigerwald sind ihm eine Antwort auf gleicher Augenhöhe bisher schuldig geblieben. Zu nennen wäre auch der Belgier Ludo Martens, “Stalin anders betrachtet“ oder der britisch-indische Staatsbürger und Professor Harpal Brar in der Zeitschrift offen-siv 07/08. Nicht zu vergessen bleibt auch der so wesentliche Beitrag der amerikanischen Journalisten  M.Sayers und Albert E. Kahn, „The great conspiracy against Russia“ , 1946 oder  andere zeitgenössische Veröffentlichungen  wie Dr.Hewlett Johnson, Dekan von Canterbury „Die Wahrheit über die Sowjetunion“,  München 1945 oder „20 Jahre Sowjetmacht“ – Materialien über den sozialistischen Aufbau“, über das politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Sowjetunion  unter der Redaktion von G.Friedrich / F. Lang ,editons prometheus Strasbourg, 1937