Und schon beginnen sie, ihren Verrat zu besingen – eine Bestandsaufnahme vom 15. Dezember 1991

Kurt Gossweiler:
Und schon beginnen sie, ihren Verrat zu besingen – eine Bestandsaufnahme vom 15. Dezember 1991

In den „Weißenseer Blättern“, Heft 4/1991 wagte ich folgende Prophetie: „Es kann mit Sicherheit vorausgesagt werden, dass der Rolle der imperialistischen Geheimdienste, … ihres nicht geringen Anteils an der Unterminierung und ‚Marodisierung’ des ‚Realsozialismus’ in den kommenden Jahren wachsende Aufmerksamkeit geschenkt werden wird und in einer an-schwellenden Literaturflut atemberaubende Enthüllungen zu lesen sein werden – und sei es auch nur aus dem einen Grunde, dass menschliche Eitelkeit viele der Beteiligten dazu drängen wird, nachdem das ‚Halali’ geblasen ist, aller Welt ihren Anteil an der Erlegung des sozialistischen Bären vor Augen zu führen.“

Während die Erfüllung der ersten Hälfte dieser Voraussage noch einige Zeit auf sich warten lassen wird, hat die Erfüllung der zweiten Hälfte bereits begonnen, wenngleich zunächst noch in dezent zurückhaltender Weise. Dafür drei Beispiele:

Beispiel 1: Der ehemalige Sekretär des ZK der KPdSU, Nikolai Portugalow[6], Deutschland-experte und als solcher Intim-Berater Gorbatschows in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“: „Wenn das Volk glaubt, ihm wird es besser gehen unter einem anderen Modell des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens – wir waren im Voraus bereit, das zu akzeptieren“ (zitiert nach: „Neues Deutschland“, 13. 11. 1991)

Mit der gewohnten Infamie der Volksbetrüger wird damit die Schuld am Untergang des Sozialismus dem Volk zugeschoben. Aber nur Leute mit kurzem Gedächtnis erinnern sich nicht mehr daran, dass die Gorbatschow-Gang mit dem Versprechen das Vertrauen der Menschen gewann, den Sozialismus zu erneuern, die friedliche Koexistenz des Sozialismus mit dem Imperialismus durchzusetzen, und nicht die Kapitulation vor dem Imperialismus zu betreiben. Sie aber haben das Volk belogen und betrogen – denn sie waren „im Voraus bereit“, die Restauration des Kapitalismus „zu akzeptieren“ – richtiger: die Perestroika hatte „im Voraus“ diese Restauration zum Ziel!

Wer daran noch zweifelt, dem mögen die Beispiele 2 und 3 zur Durchsicht verhelfen.

Beispiel 2: Als Schewardnadse, ebenfalls enger Vertrauter Gorbatschows und einer der Initiatoren der Perestroika, im November 1991 erneut zum Außenminister der (schon nur noch als Phantom existierenden) Union ernannt wurde, nahm er auch zu der Beschuldigung Stellung, die Honecker in seinem Moskauer Exil in dem berühmten Interview gegen Schewardnadse erhoben hatte (wobei jeder einigermaßen Informierte natürlich wusste, dass er auch den Namen Gorbatschow hätte nennen müssen, wenn er die Hauptfigur des Komplotts nicht aussparen wollte). Und was sagte Schewardnadse? Dies:

„Schewardnadse bezeichnete im sowjetischen Fernsehen neben der ‚Revolution’ in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen die politische Umgestaltung Osteuropas als eine der wichtigen Initiativen seiner ersten Amtszeit. In diesem Zusammenhang meinte er, Vorwürfe von Honecker, er sei der Hauptschuldige an der Annexion der DDR durch die BRD, gereichten ihm nur zur Ehre. Die Vereinigung sei ein gesetzmäßiger Prozess gewesen. („Neues Deutschland“, 21. 11. 1991)

Also:

1. Die „politische Umgestaltung Osteuropas“ – die Liquidierung der dort existierenden nichtkapitalistischen Ordnungen und die Übergabe der Macht an die Kapitalismus-Restauratoren – das war seine Initiative! War also gewollt!

2. Für ihn ist gesetzmäßig, dass das imperialistische Deutschland das sozialistische schluckt, und

3. ist für ihn die Totalkapitulation vor dem USA-Imperialismus eine „Revolution“, so, wie ja auch Gorbatschow seine „Perestroika“, um sie für die am Sozialismus hängenden und die Oktoberrevolution als nicht rückgängig zu machenden Menschheitsfortschritt betrachtenden Kommunisten und die 1985 noch in ihrer Mehrzahl nur die Verbesserung, nicht die Liqui-dierung des Sozialismus erstrebenden parteilosen Menschen der Sowjetunion akzeptabel zu machen, als „Revolution“, die der Oktoberrevolution gleichkomme, ausgegeben hat.

Die Gorbatschow-Gang erweist sich auch darin als Handlanger des Imperialismus, dass sie dessen Gepflogenheit, die Konterrevolution als „Revolution“ darzustellen, voll übernommen hat.

Beispiel 3: Nun kommt der Boss der Gang selbst zu Wort, jetzt, da er schon abgehalftert und überflüssig, ja lästig geworden ist, erinnert er die undankbare Welt daran, dass all dies ja schließlich keines anderen Werk als das seine ist. Der große Orator, der so oft seine Zuhörer noch einmal auf seine Seite brachte, verzichtet jetzt sogar, vor dem Parlament aufzutreten, wie er angekündigt hatte, und begnügte sich damit, eine Erklärung gegenüber Journalisten abzugeben. Ihnen gegenüber sagte er: „’Die Hauptsache meines Lebens ist in Erfüllung ge-gangen. Ich tat alles, was ich konnte.’ Andere – so fuhr er fort – wären an seiner Stelle schon längst gegangen. Doch ihm sei es gelungen, wenn auch nicht ohne Fehler, die Hauptidee der Perestroika durchzuschleusen.“ („Neues Deutschland“, 13. 12. 1991

Also: Die „Hauptideen der Perestroika“ sind Wirklichkeit geworden! Jetzt endlich wissen wir, die wir es schon vorher sagten, aus seinem Munde: die Hauptideen der Perestroika waren nicht das, was er früher dafür ausgab, – heuchlerisch, demagogisch, skrupellos lügend – sondern das, was die Ex-Sowjetunion heute darstellt: ein Land, das für lange Zeit unumkehrbar den Weg der Restauration des Kapitalismus unter unendlichen Leiden für die Mehrheit der Bevölkerung – Leiden, die alles das, was uns die Gorbatschow-Gang ununterbrochen als unüberbietbare Leiden vor Augen führte, um ein vielfaches übersteigen – geht: alle Geißeln des alten, zaristischen Russlands hat die Gang über das ehemalige Sowjetland gebracht: Schwarzhundertertum, bestialischen Nationalismus, Antisemitismus, wirtschaftlichen Zerfall und Kolonisierung des Landes durch die „Hilfe“ der imperialistischen Großmächte, allen voran – das imperialistische Deutschland, dem die Gang doch noch dazu verholfen hat, nachträglich den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.

Und sie schämen sich nicht, sich dessen zu rühmen! Warum? Weil für sie nicht interessant ist, was das Volk von ihnen hält, sondern die imperialistischen Sieger, denen sie zu diesem unverdienten Sieg verholfen haben! Von denen erwarten sie nun Dank und Anerkennung.

Die kann gar nicht dick und deutlich genug ausfallen, damit all jene, denen es schwer fällt, die bittere Wahrheit endlich anzuerkennen und einzugestehen, dass sie die falschen Leute zu ihren Hoffnungsträgern gemacht haben, endlich wieder den klaren Blick für die Realitäten und die Ursachen der Niederlage des Sozialismus gewinnen können.

Kurt Gossweiler, 15. 12. 1991, Berlin