Zeitschrift für Sozialismus und Frieden 6/2002

Herausgeber: Kommunistische Plattform der PDS Hannover

Spendenempfehlung: 1,60 EURO

 

Ausgabe Juli-August

Spendenempfehlung: 2,- EURO

 

Redaktionsnotiz

PCF, KPÖ, PDS: Linke Oppositionsströmungen *

Redaktion Offensiv: Vorbemerkung *

Appell der F.N.A.R.C. (PCF) *

Red. Offensiv: Mit Haken und Ösen *

Offener Brief an die Parteiführung (KPÖ) *

Helmut Fellner: Stellungnahme zur außerordentlichen Bundesvorstandssitzung der KPÖ am 25.5.02 (Auszüge) *

Linke Opposition in und bei der PDS: Veränderung beginnt mit Opposition – nun auch in der PDS *

Redaktion Offensiv: Kurznachrichten über die PRC aus Italien und die PCP aus Portugal *

Programmdebatte in der DKP *

Michael Opperskalski: Die DKP diskutiert den „Entwurf" für ein neues Parteiprogramm *

Imperialismusdiskussion *

Franz Siklosi: Einige Bemerkungen zum Thema „Neoliberaler Imperialismus" *

Recht und Gesellschaft *

Prof. Dr. Erich Buchholz: Beweisaufnahme und Beweisführung *

Cuba *

Fidel Castro: Politische Erklärung, 22. April 2002 *

Fidel Castro: Rede auf der internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey/Mexiko *

Netzwerk Cuba, Frank Schwitalla: Spendenaufruf für das Buchprojekt „Derechos Preservados" („Bewahrung der Rechte") über die Geschichte der cubanischen Revolution *

Freundschaftsgesellschaft Berlin – Cuba: "Fledermaus auf Beutejagd gegen Cuba" *

Die Stalin-Ära und der Anti-„Stalinismus" *

Andrea Schön: Geschichtslügen: Fundamente des Anti-"Stalinismus" *

Resonanz *

Vera Butler: Zur Geschichte des Sozialismus *

Monika Kauf: Die Bomben treffen uns alle gleichermaßen *

Bundestagswahl *

Redaktion Offensiv: Wählen gehen! *

Satiricus Realos der Ältere: Das Leben ist eine Party? *

Offensiv intern *

Anna C. Heinrich: Mein Austritt aus der PDS *

Fußball-WM-Nachlese *

Redaktion Offensiv: Ein kleiner Blick auf die verordnete Massen"kultur" *

Harpal Brar: „Imperialismus im 21. Jahrhundert"

 


Redaktionsnotiz

Am 24. August werden wir in Berlin sein (siehe Aufruf auf der vorigen Seite). Wir haben nämlich eine ganz wundervolle Veranstaltung vor: „Revisionismus - der Totengräber des Sozialismus". Es ist uns gelungen, Kurt Gossweiler und Harpal Brar an einem Tage zusammenzubringen und sie für eine Lesung zu diesem Thema zu gewinnen.

Kurt Gossweilers politisches Tagebuch, dessen erster Teil inzwischen erschienen ist (Die Taubenfuß-Chronik oder Die Chrustschowiade, 1. Band, 1953-1957), gibt einen intensiven Einblick in die Geschehnisse vor und um den XX. Parteitag der KPdSU, in die damaligen Kämpfe zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung.

Harpal Brars Analyse der Sowjetunion, der Perestrojka und vor allem der dort vorgenommenen politischen und ökonomischen Veränderungen stellt eine gründliche und kenntnisreiche Erforschung des Niedergangs und der bitteren Niederlage des Sozialismus in Europa dar.

Das alles will gut bedacht, intensiv diskutiert und vor allem in unseren theoretisch-analytischen Erfahrungsschatz aufgenommen sein.

Wir bitten Euch: kommt zahlreich! Und bringt befreundete Genossinnen und Genossen mit. Denn die Lage ist nicht einfach. Das Thema Revisionismus sehen viele (vor allem Führungen) nicht gern, das soll nicht diskutiert werden, - denn die Ursachen der Niederlage des Sozialismus haben gefälligst der „Stalinismus", das „Demokratiedefizit", die „Mängel", „Schwächen" und „Verwerfungen", ja „Verbrechen", die „Kommandowirtschaft" usw. zu sein – nicht gesprochen werden soll jedoch von der Aufweichung des Sozialismus durch den Revisionismus, durch die „Konterrevolution auf Filzlatschen". Aber gerade diese eine Frage ist die Frage um alles: liegt das wesentliche Moment für die Niederlage etwa darin, nicht früh genug zum „Demokratischen Sozialismus" übergegangen zu sein – oder liegt sie darin, vom Marxismus-Leninismus abgewichen, antisozialistische Wirtschafts- und Weltpolitik durchgesetzt, Illusionen über den Imperialismus verbreitet und so dem Klassenfeind in die Hände gearbeitet zu haben? Dass wir zur zweiten These neigen, liegt auf der Hand. Aber eins muss klar sein: Nach der Antwort auf diese Frage bestimmt sich die Ausrichtung heutiger kommunistischer Politik. Deshalb kann man der Antwort darauf auch nicht ausweichen, deshalb darf dies Thema niemandem egal sein oder zu schwierig, zu gefährlich oder was auch immer als Grund für das Ausweichen angegeben wird. Deshalb nochmals unsere Bitte: kommt zahlreich!

Unsere Veranstaltung will einen Beitrag leisten, die Lücke, die in der öffentlichen Diskussion in Sachen Revisionismus noch immer klafft, zu schließen.

 

Sonnabend, 24. August, 14.00 Uhr bis 19.00 Uhr in Berlin im alten ND-Haus, Franz-Mehring-Platz 1, blauer Salon!

Und nun weiter zu diesem Heft:

Das Heft beginnen wir mit einer Hoffnung: dass Euch die Nachrichten aus benachbarten Parteien interessieren und erfreuen: Revisionismus, Reformismus und Opportunismus bleiben nicht mehr unwidersprochen – und diejenigen, die widersprechen, gewinnen an Stärke!

Die Imperialismusdiskussion geht weiter, ebenfalls befassen wir uns mit der Programmdiskussion in der DKP – der DKP-Parteitag, der dazu Entscheidungen treffen soll, steht zwar noch nicht direkt vor der Tür, wirft aber seine Schatten voraus: er wird am 30. November und 1. Dezember in Düsseldorf stattfinden. Dort werden voraussichtlich Weichen gestellt werden, die die weitere Entwicklung der DKP entscheidend prägen werden.

Und wir haben in diesem Heft ein bei uns eher selten vertretenes Thema: einen ausgesprochen spannenden juristischen Artikel von Erich Buchholz und wir legen ihn auch und gerade all denjenigen ans Herz, die sonst kein besonders großes Interesse an rechtlichen Fragen haben, denn in solcher Weise hat nach unserer Meinung noch niemand den Zusammenhang von gesellschaftlicher Formation und Recht dargestellt.

Aus Cuba, d.h. von Fidel Castro, sind interessante und manchmal auch belustigende, vor allem aber Achtung einflößende Dinge zu dokumentieren. Und wir bitten Euch um freundliche Unterstützung für das dort vorgestellte Buchprojekt der Cubaner und um Aufmerksamkeit für die Anti-Bacardi-Kampagne.

Die Stalin-Ära beschäftigt uns auch in diesem Heft wieder: Wir haben einen Artikel, der die Quintessenz der Einsichten darstellt, die nach der Öffnung einiger Archive über die Stalin-Ära bisher zu gewinnen waren. Wir hoffen, dass damit ein Beitrag dazu geleistet werden kann, etwas mehr Objektivität in die überschäumende Giftküche der Stalin-Rezeption und die Einschätzung der mit dem Namen Stalin verbundenen Geschichtsepoche der Sowjetunion zu bringen.

Die Rubriken „Resonanz", „Bundestagswahl", „Fußball-WM" und „Spendeneingang" beschließen das Heft.

All denjenigen, die uns mit Spenden geholfen haben, sei herzlicher Dank ausgesprochen. Im September 2002 erscheint diese Zeitschrift seit neun Jahren – es ist immer wieder ermutigend, dass so etwas überhaupt möglich ist und dass eine Leserschaft ein solches Projekt so lange trägt. Andererseits sieht es zur Zeit nicht besonders gut aus mit unseren Finanzen: wir haben vor Drucklegung dieses Heftes noch 183,24 Euro in der Offensiv-Kasse (die genaue Abrechnung findet Ihr wie gesagt am Ende des Heftes). Damit dieses Heft, das Ihr jetzt in den Händen haltet, überhaupt gedruckt und verschickt werden konnte, mussten Anna und Frank die Kosten aus eigener Tasche vorschießen. Wir müssen also verstärkt um Spenden bitten:

 

Spendenkonto Offensiv: Konto Frank Flegel, Nr. 21827 249 bei Stadtsparkasse Hannover, BLZ 250 501 80, Kennwort Offensiv (Kennwort nicht vergessen!)

 

Und zum Schluss eine letzte Bemerkung: Ihr werdet wahrscheinlich schon bemerkt haben, dass dieses Heft Überlänge hat: wir wollten nichts unveröffentlicht lassen, deshalb haben wir uns trotz der schlechten Finanzlage zu dieser zusätzlichen Ausgabe entschlossen. Wir sind halt hoffnungslose Optimisten.... Für die Redaktion: Frank Flegel

PCF, KPÖ, PDS: Linke Oppositionsströmungen

Redaktion Offensiv: Vorbemerkung

Wir bringen hier drei Dokumente von linken Oppositionsströmungen in revisionistischen bzw. reformistischen Parteien. Natürlich gab und gibt es in diesen Parteien schon seit geraumer Zeit kommunistische Minderheiten, antirevisionistische Gruppen, Genossinnen und Genossen, die nicht mit Marx, Engels und Lenin brechen wollen.

Neu aber ist der Ton. In den drei Dokumenten findet sich – zwar in unterschiedlicher Deutlichkeit, aber klar ausgedrückt – die Einsicht: mit dieser Führung nicht! Das freut uns als Redaktion Offensiv sehr, war die Beförderung dieser Einsicht uns doch immer ein Anliegen. Denn klar muss sein: wer den Reformismus schlagen will, muss die Reformisten schlagen; wir haben an dieser Stelle schon mehrfach Brecht zitiert: „Der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein". Dass nun nicht mehr nur auf „Fehler" der führenden Genossen hingewiesen wird, dass nicht mehr nur „Unzulänglichkeiten" beklagt werden, dass nicht mehr nur „Verbesserungsvorschläge" gemacht werden, dass nicht mehr nur das Richtige gesagt, das Falsche – und vor allem die Falschen - aber nicht benannt werden, dass nicht mehr geschwiegen wird, um die Partei nicht zu gefährden, sondern dass die Wahrheit gesagt wird, das ist ein wirklicher Fortschritt. Endlich wird um der heiligen Einheit willen nicht mehr das marxistische Denken hintangestellt, sondern die Genossinnen und Genossen gehen mittels inhaltlicher Analyse an die innerparteilichen Auseinandersetzungen. Natürlich ist dann immer noch die Frage, ob die Kräfte reichen, um die entgleisten Parteien noch zu retten – aber dieser Weg ist die einzige Möglichkeit. Und dieser Weg zwingt auch zu anderem Auftreten der Opponenten.

Neu ist deshalb auch die Organisationshöhe. In Frankreich bildet sich eine Nationale Föderation aller Gruppen, die die Mutation ablehnen, in Österreich versammeln sich wesentliche Kräfte der Partei hinter dem Offenen Brief, in der PDS kann die „Linke Opposition" vielleicht das gemeinsame Dach der verschiedenen Opponenten gegen die desaströse Politik der Parteiführung werden. Wie gesagt: keiner weiß, ob es gelingt (und bei der PDS sind wir mehr als skeptisch), aber der Weg ist richtig, die Kampfansage überfällig und die Sammlung der dazu notwendige erste praktische Schritt. Schließlich ließe sich mit einer hohen Organisationsform auch bei einem innerparteilichen Scheitern noch immer jede anderer Option denken.

Red. Offensiv, Hannover

Appell der F.N.A.R.C. (PCF)

Am 2. Mai 2002 wurde das nachfolgende Papier veröffentlicht. Die Führung der „Nationalen Föderation der Vereinigungen für die Kommunistische Wiedergeburt (F.N.A.R.C.) hat entschieden, den wirklichen Kommunisten einen Appell an die Hand zu geben, nicht nur, um ihn zu unterzeichnen, sondern vor allem, um dem sich anbahnenden entschiedenen Niedergang die Stirn zu bieten. Während sich die Manöver der rechten Führung häufen, die Kommunisten zu entwaffnen und alles in reformistische Bahnen zu lenken, muss es das Hauptanliegen gerade derjenigen sein, die die Wiedergeburt einer wirklichen Kommunistischen Partei wollen, sich zu organisieren und sich immer und überall an alle weiteren Kommunisten und an die Bevölkerung zu wenden.

Für einen außerordentlichen Parteitag zum Ausstieg aus der „Mutation"!

Versammeln wir, vereinigen wir, organisieren wir die Kommunisten, ohne zu zögern!

Während unser Volk mehr denn je eine wirkliche Kommunistische Partei braucht, haben die Renegaten und mutierten Führer der Französischen Kommunistischen Partei (im folgenden: FKP) die Partei durch ihren Verrat an den Grundlagen des Kommunismus und ihre prinzipienlose Beteiligung an der an Maastricht ausgerichteten Regierung Jospin an die Schwelle der Liquidation geführt. Statt die gefährliche, reaktionäre Ausrichtung der französischen und der europäischen Politik zu durchkreuzen und zu bekämpfen, haben die Totengräber des französischen Kommunismus diese Entwicklung aktiv begleitet und unterstützt, - indem sie die FKP in Theorie und Praxis sozialdemokratisiert haben. Der Schiffbruch der Politik Hues ist der Schiffbruch einer Politik des Verzichts auf den Kommunismus, nicht etwa das Scheitern des Kommunismus selbst – ganz im Gegenteil! Alles zeigt, dass es in Frankreich eine politische Notwendigkeit für eine wirkliche Kommunistische Partei gibt, vereinigt mit den Kämpfen der antikapitalistischen Klassen, mit dem Antifaschismus, mit der Verteidigung der nationalen Souveränität und der internationalen Solidarität gegen den Imperialismus, mit den Kämpfen gegen die kapitalistische Globalisierung. Die Wiedererrichtung einer wirklichen Kommunistischen Partei wird deshalb das Dringlichste für die Welt der Arbeit und die Republik.

Aus diesem Grunde lädt die F.N.A.R.C., die nationale Dachorganisation aller Kommunisten, die in Opposition stehen zum sozialdemokratischen Kurs der „Mutation" der FKP-Führung, alle Kommunisten ein, selbständig und ohne zu zögern die Bedingungen zu schaffen für die Wiedergeburt der Kommunistischen Partei in Frankreich, die das Volk braucht, um den Rechtsradikalismus zu schlagen und die Auflösung Frankreichs in die vereinigten kapitalistischen Staaten von Europa zu verhindern. Nur eine solche Partei könnte auf’s Neue die Rote Fahne der Arbeiterklasse mit den französischen Nationalfarben vereinen, indem sie all denen, die weder Le Pen wollen noch die antisoziale Politik, die durch Chirac und Jospin im Namen der europäischen Integration durchgeführt wurde, eine Perspektive des Fortschritts gibt.

Im Sinne des Willens der Mehrheit der Kommunisten spricht sich die F.N.A.R.C. für die unmittelbare Einberufung eines außerordentlichen Parteitages zum Ausstieg aus der „Mutation" aus. Es handelt sich dabei darum, die negative Bilanz der Regierung Jospin und der Beteiligung kommunistischer Minister an ihr darzustellen, dabei die Kriminalisierung des Kommunismus und seiner Geschichte zu beenden, den Kampf für die Aufhebung der reaktionären Maastricht-Verträge auf linker Grundlage zu führen und außerdem sowohl eine aktuelle marxistische Analyse der Gesellschaft als auch eine kommunistisches Projekt, das auf dem Bruch mit dem Kapitalismus und dem Kampf für den Sozialismus basiert, auf den Weg zu bringen. Es handelt sich weiterhin und sehr dringlich darum, ein Programm für eine antifaschistische, antikapitalistische und gegen Maastricht gerichtete Volksbewegung in die Diskussion zu bringen, um all die wahrhaftig fortschrittlichen Kräfte zu vereinen gegen die extreme Rechte, für die Verteidigung bzw. Wiedererrichtung der sozialen Leistungen, der staatlichen Fürsorge, für Beschäftigung, für die sozialen, weltlichen und demokratischen Rechte des Volkes.

Das ist die wirkliche Modernisierung – und nicht die schleichende Versöhnung mit einer sich in beschleunigtem Tempo faschisierenden kapitalistischen Gesellschaft!

Ein solcher Parteitag ist die letzte Chance, die Organisation, die noch immer – trotz aller Versuche ihrer Führung, sie umzubenennen – den glorreichen Namen „PCF", Französische Kommunistische Partei trägt, zu retten.

Die F.N.A.R.C. spricht sich weiterhin für die kollektive Entlassung der mutierten und reformistischen Führung der Partei aus, die verantwortlich ist für den Verrat an der Theorie von Marx und Lenin, für die fortschreitende Annäherung der FKP an die Sozialistische Partei und an das kapitalistische Europa. Dieser Aufruf folgt nicht dem Bedürfnis nach Abrechnung, sondern den elementaren Erfordernissen des Anstandes und der minimalen Glaubwürdigkeit, ohne die es nutzlos wäre zu glauben, dass man sich nochmals öffentlichen Wahlen stellen könnte; diesen Anstand und diese Glaubwürdigkeit haben die mutierten Führer der „pluralistischen Linken" und der „neuen KP", die die Welt der Arbeit und die gesamte Republik in die aktuelle Sackgasse geführt haben, endgültig verspielt. Dass diese Führer zurücktreten, ist das einzige Mittel, um der FKP die Tausende von inzwischen zornigen Anhängern zu erhalten und die Dutzende von Tausenden Kommunisten erneut bei sich zu vereinen, die die FKP verlassen haben, weil sie mit der „Mutation" nicht einverstanden waren.

Angesichts dieser Stimmungslage entspricht die von M.-G. Buffet für den Juni angekündigte (und auch durchgeführte) Nationalkonferenz der FKP nicht den Erwartungen der Kommunisten. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nur um ein Manöver, dem Zorn der Kommunisten zu entgehen und damit die „Mutation" als weiterhin gültiges Fundament der Politik der FKP zu retten.

Jeder Aufschub, jede Verweigerung der Selbstkritik in Bezug auf die „Mutation" und die Teilnahme an der Regierung Jospin wird den Untergang der FKP in kurzer Zeit besiegeln. (...) Die F.N.A.R.C. lädt alle diejenigen, die Kommunisten werden, bleiben oder wieder werden wollen, dazu ein, sich ohne zu zögern zu versammeln, zu agieren, Versammlungen auf lokaler Ebene zu organisieren und dabei niemals auf das „grüne Licht" der mutierten Führer zu warten. Wir müssen überall betriebliche, lokale und auf Departementebene angesiedelte Vereinigungen für eine kommunistische Wiedergeburt schaffen!

Überall muss der außerordentliche Parteitag für die Wiedergeburt einer wirklichen Kommunistischen Partei in Frankreich vorbereitet werden. So wie der kommunistische Führer der Résistance, André Tollet, es an die Adresse der mutierten Führer gerichtet, formulierte: „Es hat eine Kommunistische Partei in Frankreich gegeben und es wird sie geben; mit Euch, ohne Euch oder gegen Euch!"

Die Stunde ist für alle wirklichen Kommunisten gekommen, die Ärmel hochzukrempeln und zu handeln. Es geht um die Zukunft des Kommunismus, der Arbeiterbewegung und der Republik.

 

F.N.A.R.C., 2. Mai 2002,

in: „Initiative Communiste", Übersetzung aus dem Französischen: Red. Offensiv

Red. Offensiv: Mit Haken und Ösen

Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Reformisten sind Klassenauseinander-setzungen. Das erschließt sich theoretisch-logisch aus der gegensätzlichen Stellung zur kapitalistischen Gesellschaft und das erschließt sich aus der Geschichte: wir wissen es eigentlich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, sicher aber seit 1914, allerspätestens dann seit 1918/19. Klassenauseinandersetzungen werden immer mit allen Mitteln geführt. Auch das kennen wir aus der Geschichte (von „Filzlatschen" über Verrat bis Mord). In der Französischen Kommunistischen Partei wird heute natürlich nicht gemordet, aber mit Haken und Ösen wird schon gekämpft.

Um den Sonderparteitag zum Ausstieg aus der „Mutation" - wie oben gefordert - durchführen zu können, braucht die Opposition die Mitgliederlisten der FKP, denn mindestens 10 Prozent der Mitglieder müssen sich für den Parteitag aussprechen, sonst kann er nicht einberufen werden. Dazu muss man die Mitglieder befragen – und man muss vor allem wissen, wie viele Mitglieder die Partei denn hat. Aber die Parteiführung weigerte sich, die Mitgliederlisten zugänglich zu machen, so dass die Opposition eine Klage anstrengen musste. Der Richter hatte daraufhin festgestellt, dass in jeder Vereinigung alle Mitglieder das Recht hätten, die Identität der anderen Mitglieder zu kennen. Daraufhin hat die Parteiführung, die vorher behauptet hatte, über gar keine Mitgliederlisten zu verfügen und die daher auch nicht feststellen könne, wann die Zehn-Prozent-Schwelle erreicht sei, der Opposition zugestanden, die „Mitgliederlisten bei den Verbänden auf Departement-Ebene und bei den `Sektionen´ auf Bezirksebene zu beantragen". Den Appell für den Sonderparteitag haben inzwischen mehr als 900 Mitglieder unterzeichnet.

Zusammenstellung: Red. Offensiv; Quelle: junge Welt, 12. Juli 02

Offener Brief an die Parteiführung (KPÖ)

Wir wollen eine revolutionäre Erneuerung der KPÖ

Seit Walter Baier KPÖ-Vorsitzender ist, spricht er von der „Erneuerung" unserer Partei. Diese sei unbedingt erforderlich und müsse konsequent durchgeführt und nachhaltig umgesetzt werden. Doch was hat er erricht? GenossInnen, die in Betrieben, Gewerkschaften, Gemeindestuben und an Universitäten erfolgreich sind, verweigern ihm die Unterstützung, viele haben resigniert und sich zurückgezogen. Unsere Partei ist nur mehr der Schatten ihrer selbst. Auch wir sehen unverändert die Notwendigkeit der Erneuerung unserer Partei. Was allerdings den Weg und das Ziel dieser Erneuerung betrifft, so unterscheiden wir uns grundlegend von den Intentionen Walter Baiers.

Was bedeutet für uns Erneuerung der kommunistischen Bewegung?

Die Auflösung politischer und gesellschaftlicher Alternativen zum herrschenden System und zur Hegemonie bürgerlicher Vorstellungen macht es für Menschen immer schwieriger, soziale Widersprüche zu erkennen und ihre Interessen zu artikulieren. Gerade deshalb ist eine Kommunistische Partei mit ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung so wichtig! Wir wollen, dass die KPÖ den von Marx, Engels und Lenin begründeten Weg des Marxismus weitergeht. Wir wollen, dass die KPÖ diesen Weg ständig überprüft und weiterentwickelt. Wir wollen, dass die KPÖ den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft wieder ins Zentrum ihrer Politik rückt, so utopisch das jetzt auch scheinen mag. „Eine andere Welt ist möglich", lautet das Motto des Weltsozialforums. Diese andere Welt kann doch für uns nichts anderes als die Überwindung der kapitalistischen Ordnung, als der Sozialismus als Übergangsstadium zum Kommunismus sein.

Diese andere Welt werden wir nicht ausschließlich durch Reformvorschläge und schon gar nicht durch eine neue „Spiritualität" erreichen, sondern durch den revolutionären Kampf des internationalen Proletariats, verbündet mit den fortschrittlichen Kräften der Welt. In unserer Zeit der totalen Dominanz der Medienmonopole, in der die „kritischen" Gesellschaftswissenschaften die Unmöglichkeit des Erkennens von Wahr und Unwahr, von Realität und Illusion behaupten, muss sich die Sprache einer Kommunistischen Partei durch Genauigkeit, Wissenschaftlichkeit und Verständlichkeit auszeichnen, muss unsere Theorie um die Exaktheit und Klarheit von Begriffen bemüht sein. Die weltweiten Massenbewegungen für soziale Forderungen und für den Frieden zeigen, dass die kapitalistische Globalisierung eine krisenhafte Phase erreicht hat. Wir brauchen marxistische Antworten auf diese Herausforderung.

Wir benötigen gerade heute in grundlegenden Fragen ideologische Klarheit und Festigkeit nicht zuletzt für unsere politische Praxis. Abseits der erfolglosen und abgehobenen Scheinpolitik der Parteiführung bewähren sich österreichische Kommunistinnen und Kommunisten tagtäglich in Gemeinden, Gewerkschaften und Arbeiterkammern, in der betrieblichen und studentischen Interessenvertretung. Wir wollen, dass sich die inhaltlichen und organisatorischen Anstrengungen unserer Partei auf die Basisarbeit konzentrieren, nur auf diesem Wege können wir die Anerkennung der arbeitenden Menschen und der Jugend gewinnen, nur über diesen Weg werden wir unsere Vorstellungen von einer „anderen Welt" Menschen begreifbar machen können. Sowohl für unsere Zukunft als Partei, als auch für die Entwicklung der verschiedensten Bündnisse ist es notwendig, dass die Partei auf klaren marxistischen Klassenpositionen steht. Die unreflektierte Übernahme von politischen Einschätzungen unserer Bündnispartner oder gar das „Aufgehen" der Partei in irgendwelchen Bündnisstrukturen sind für unsere eigene Entwicklung wie auch für jene der Bündnisse schädlich. Nur wer Positionen und Standpunkte einbringt, kann ernst genommen werden, ist bündnisfähig.

Um unsere kommunistische Positionen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, benötigen wir Betriebs- und Ortszeitungen, dort, wo wir Positionen haben, und ein zentrales und kostengünstiges Kommunikationsmittel, ein Sprachrohr der Partei also. Dies erfordert eine Erneuerung der Volksstimme! Wir lehnen ab, dass die Zeitung, die von der Partei bezahlt wird, als Diskussionsmedium für diffuse „linke" Inhalte, abgehoben von den Interessen der Partei agiert. Die erneuerte Volksstimme muss sich inhaltlich und stilistisch an die arbeitenden Menschen richten, sie muss wieder die Sympathie der Mitglieder erringen und in der Partei wieder gern gelesen werden, damit wir sie auch gern und mit Überzeugung in den Betrieben und Universitäten, im Freundeskreis und auf Demonstrationen verteilen und verkaufen können, weil der Inhalt unserer kommunistischen Überzeugung entspricht. Sie muss der Propagierung der Politik der Partei und unserer sozialistischen Perspektive dienen.

Es gibt noch zahlreiche andere Dinge, die in unserer Partei revolutionär zu erneuern sind, etwa die marxistische Bildungsarbeit, kommunistische Sozialpolitik und Betriebsarbeit, und nicht zuletzt Organisationspolitik. Statt mit Hilfe einer Organisationsanalyse den tatsächlichen Gesamtzustand der KPÖ zu untersuchen, zu diskutieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, wird von freigestellten Funktionären viel Arbeitszeit in ellenlange Argumentation gegen(!) eine Befragung der Mitglieder aufgewendet.

Auch die notwendige politische Arbeit unter Jugendlichen muss unter dem Gesichtspunkt revolutionärer kommunistischer Orientierung gesehen werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Jugendorganisationen KSV und KJÖ sowie der KPÖ soll solidarisch und frei von altväterlicher Besserwisserei, sondern vom Geist gegenseitigen Respekts und kommunistischer Solidarität getragen sein. Die Orientierung soll dabei auf gemeinsamen politischen Aktionen liegen. Die derzeitige Praxis ständiger politischer Einmischung und Bevormundung bzw. Versuche, die jungen Kommunisten zu gängeln und sie im Falle der Nichtbefolgung von Parteidirektiven an die Kandare zu nehmen, muss endgültig der Vergangenheit angehören.

Kritik gegenüber der Führung um Walter Baier wird selbstherrlich zurückgewiesen. Kritiker seien ewiggestrige Dogmatiker, die sich dem Weg der Erneuerung von oben in den Weg stellen wollen. Was aber haben Spitzelwesen und Bloßstellungen mit Erneuerung zu tun? Wer ständig von „Demokratie" spricht, muss sich fragen lassen, weshalb er sie in der Partei nicht zulässt. Wie kann eine Kommunistische Partei des 21. Jahrhunderts behaupten, sich in einem Prozess der Erneuerung zu befinden, wenn Kritiker der Parteiführung des Fraktionismus, Dogmatismus bezichtigt, ja sogar als „faschistoid" denunziert werden? Wir wollen eine Erneuerung der innerparteilichen Demokratie, wir wollen eine Mitgliederbefragung, wir wollen einen Mitgliederparteitag. Wir wollen, dass die Erneuerung der Partei von unten ausgeht und nicht von einer Handvoll GenossInnen, die seit über einem Vierteljahrhundert bezahlte „Spitzen"funktionäre in verschiedenen Funktionen der Partei sind, definiert wird. Erhalt von Macht und Pfründen einer Funktionärsgruppe darf nicht länger das bestimmende Credo unserer Partei sein. Wir wollen eine von der Basis ausgehende und von ihr getragene kommunistische Erneuerung unserer Partei.

Unterschrieben von mehr als 140 Genossinnen und Genossen, u.a. ein beträchtlicher Teil der öffentlichen Mandatsträger der KPÖ, zahlreiche Gemeinde- und Betriebsräte, die beiden Arbeiterkammerräte, Genossinnen und Genossen, die im antifaschistischen Widerstand aktiv waren und ein beträchtlicher Teil der aktiven jungen Generation; aus nVs 3/02

Helmut Fellner: Stellungnahme zur außerordentlichen Bundesvorstandssitzung der KPÖ am 25.5.02 (Auszüge)

Zunächst ist mit Freude festzuhalten, dass der kritische Offene Brief, den zahlreiche Genossinnen und Genossen unterschieben haben, um so ihre Sorge und Kritik an der derzeitigen Politik und Parteispitze Ausdruck zu verleihen, Wirkung gezeigt hat. Der Bundesausschuss der KPÖ hatte am 25.5.02 zu einer außerordentlichen Bundesvorstandssitzung gerufen, einziger Tagesordnungspunkt war die vorzeitige Einberufung des 32. Parteitages der KPÖ. Um es vorweg zu nehmen: Es wird einen vorverlegten Parteitag geben. Und um das wirklich Positive in den Mittelpunkt zu rücken: Es wird, wie im Offenen Brief, aber auch in zahlreichen Beschlüssen von Landes- und Grundorganisationen gefordert, ein Mitgliederparteitag sein, d.h. alle sich dafür anmeldenden Mitglieder der KPÖ werden an diesem Parteitag stimmberechtigt teilnehmen und die Politik mitbestimmen sowie den neuen Bundesvorstand wählen können.

Der von Gen. Baier (Gen. Höllisch) eingebrachte Antrag sieht allerdings – erstmals in der Geschichte der KPÖ – vor, dass dieser Parteitag zweigeteilt stattfinden wird. Aus unerfindlichen (oder hintergründig taktischen?) Gründen wird im Herbst der erste Teil stattfinden und sich mit programmatischen Fragen befassen. Im Frühjahr 2003 soll dann der zweite Teil eine Neuwahl des Bundesvorstandes bringen. (...)

In Anlehnung an den neuesten „kleinen Bruder", die Rifondazione Communista, sollen beim ersten Teil des Parteitages programmatische Thesen im Konsens-Dissens-Verfahren abgestimmt werden, also festgestellt werden, in welchen Fragen sich die gesamte Partei einig ist, in welchen es unterschiedliche Positionen gibt. (...) Festzuhalten ist die Tatsache, dass Walter Baier verlauten ließ, dass nicht jede programmatische Ausrichtung mit ihm als Parteivorsitzendem umsetzbar sei. Das gibt Anlass zur Hoffnung für den Rechenschafts- und Wahlteil des Parteitages. (...)

Helmut Fellner, Wien; aus: nVs 3/02

Linke Opposition in und bei der PDS: Veränderung beginnt mit Opposition – nun auch in der PDS

Berliner Erklärung der linken Opposition zur Bundestagswahl

Seit Jahren spitzt sich der Gegensatz zwischen der PDS-Führung und großen Teilen der Mitgliedschaft zu. Deshalb hat sich in den letzten Monaten die „Linke Opposition in und bei der PDS" formiert. Seit Mai 2002 gibt es auch in Berlin eine organisierte Opposition.

Wir stellen fest: Aus dem neuen Parteiprogramm soll der Sozialismus gestrichen werden, im Gegensatz zum gültigen Programm wird in der Praxis die konsequente Friedenspolitik verwässert (z.B. entschuldigt sich Roland Claus beim Kriegsverbrecher Bush), maßgebliche Funktionäre und Politiker beteiligen sich an Demokratie- und Sozialabbau (z.B. Arbeitszeitverlängerung bei gleichzeitigem Lohnabbau in Berlin), an der Privatisierung öffentlicher Aufgaben und an der pauschalen Delegitimierung des DDR-Sozialismus. Das fordert unsere Opposition heraus. Wir wollen eine andere, eine sozialistische Politik – mit dieser Parteiführung und der Mehrheit der Bundestagsfraktion ist das nicht möglich. Wir verteidigen das geltende Programm von 1993. Deshalb kämpfen wir um neue Mehrheiten in der PDS. Wir wollen unsere Partei zurück.

Viele der Mitglieder, Sympathisanten und Wähler zweifeln, ob die PDS im gegenwärtigen Zustand noch wählbar ist. Wenn wir den sozialistischen Charakter der Partei wieder herstellen wollen, müssen wir auch den Wahlkampf dazu nutzen. Wir fordern Euch auf: geht in die Wahlveranstaltungen, an Infostände etc., zwingt die Kandidaten, zu ihrer Politik öffentlich Position zu beziehen.

Fragt sie insbesondere: Wie steht ihr zur Verhinderung jeglicher deutscher Militär- und Kriegseinsätze im Ausland? Was tut ihr, um die Verschlechterung der sozialen Standards in Deutschland rückgängig zu machen? Was tut ihr, um der Verunglimpfung der DDR und der fortdauernden Diskriminierung der Ostdeutschen entgegenzuwirken?

Macht den Kandidaten deutlich, dass ihr beim Bruch von Wahlversprechen ihren Rücktritt fordern werdet!

Wir empfehlen trotz unserer Kritik, die PDS zu wählen – vor allem deshalb, weil eine Niederlage der PDS nicht als Niederlage ihrer rechten Führung bewertet, sondern als die der gesamten Linken verstanden würde. Allerdings sind einige der Berliner PDS-Kandidaten aufgrund ihrer Worte, Taten und Unterlassungen für uns nicht wählbar.

Deshalb schlagen wir vor

Mit dieser Führung wird die PDS nicht zu sozialistischen Grundsätzen zurückkehren. Dazu ist eigene Aktivität nötig. Wer unsere Kritik teilt, den fordern wir auf, sich in der linken Opposition zu organisieren und mit uns gemeinsam für eine andere, eine sozialistische PDS zu kämpfen.

Linke Opposition in und bei der PDS, Berlin, 11. 7. 2002

Kontakt: Linke Opposition...., c/o AG PDS-Internet, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

 

Redaktion Offensiv: Kurznachrichten über die PRC aus Italien und die PCP aus Portugal

Nicht überall gibt es solche ermutigenden Nachrichten. Von der Rifondazione (PRC) aus Italien hörte man in den letzten Wochen eher Bedrohliches: der Parteitag hat offensichtlich den „rechten", also revisionistischen Kräften mehr Einfluss gebracht. Man verabschiedet sich von Lenins Imperialismustheorie, die Lage ist aber offensichtlich noch nicht endgültig geklärt. Die weitere Entwicklung wird wahrscheinlich einiges an Auseinandersetzung geben – und man kann nur hoffen, dass die Kraft der Marxisten in der Partei ausreicht. Alles andere wäre tragisch, denn wozu hätten die Genossinnen und Genossen die Rifondazione denn gegründet, als ihre Vorgängerin, die KPI, sich endgültig in den sozialdemokratischen Sumpf verabschiedete? Damit sie jetzt den gleichen Weg geht? Unglaublich!

Aus Portugal hingegen ist besseres zu erfahren. Wie der RotFuchs berichtet, haben die Delegierten der Nationalkonferenz (vom 22. Juni 02) einen Antrag der pro-sozialdemokratischen Parteirechten, einen vorgezogenen Parteitag einzuberufen, „um dort das Statut, das Programm und die derzeitige Führung kippen zu können" (RotFuchs Juli 2002, S.19) mit 1018 Neinstimmen bei 53 Ja-Stimmen und 48 Enthaltungen ab. Und: „Der Versuch der „Erneuerer", die Beschlüsse des XVI. Parteitages, der die Teilnahme der PCP an einer sozialdemokratischen Regierung abgelehnt hatte, als `sektiererische Linie` durch einen vorgezogenen XVII. Kongress rückgängig machen zu wollen, ist gescheitert. Man muss nun abwarten, ob die Partei den dadurch entstandenen Kraftschub nutzen kann, um mit den nach wie vor großen Belastungen fertig zu werden." (ebenda)

Red. Offensiv, Hannover

Programmdebatte in der DKP

Michael Opperskalski: Die DKP diskutiert den „Entwurf" für ein neues Parteiprogramm

Einige Anmerkungen zu Inhalten, zum Ablauf und den möglichen Konsequenzen

Vor geraumer Zeit hat der Parteivorstand der DKP einen „Entwurf" („Erste Grundlagen zur Diskussion und Erarbeitung eines Programmentwurf") für ein noch zu erarbeitendes Parteiprogramm mit dem Ziel verabschiedet, diesen „Entwurf" auf dem Ende diesen Jahres stattfindenden Parteitag – nach entsprechender Diskussion – verabschieden zu lassen.

Nicht nur wiederholte Äußerungen von führenden Funktionären der Partei, das besagter Entwurf auf keinen Fall hinter die Bereits verabschiedeten „Sozialismusvorstellungen" zurückfallen dürften, vor allem jedoch die programmatische und ideologisch-politische Entwicklung der DKP sowie entsprechende eindeutige Positionierungen ihres Führungspersonals gebieten es daher, den „Entwurf" in einem größeren Zusammenhang zu betrachten.

Ich verweise daher gerade an dieser Stelle auf eine jüngst von mir veröffentlichte Analyse, die bereits von der Zeitschrift „offen-siv" veröffentlich wurde und z.B. näher auf die „Sozialismusvorstellungen" der DKP eingeht. Ich schließe diese Analyse wie folgt:

„Offensichtlich hat die Politik der ideologischen Anpassung an Positionen des ‚demokratischen Sozialismus’ für die DKP organisatorisch nichts gebracht. (...) Die Partei hat bereits für eine Partei, die den Anspruch erhebt, eine kommunistische zu sein, in entscheidenden Grundsatzfragen marxistisch-leninistisches Profil verloren, sondern auch Mitglieder.

Wie wird es also weitergehen? In Spekulationen über den genauen Entwicklungsweg der Partei – in organisatorischer sowie politisch-ideologischer Hinsicht – sollte man sich nicht verlieren. Eines erscheint aus heutiger Sicht und unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen der BRD als recht unrealistisch: eine Hinwendung der DKP als Partei zu klaren marxistisch-leninistischen Positionen, nachdem sie diese bereits in wichtigen Eckpunkten entsorgt hat und dieser ‚Ausmusterungsprozess’ weitergeht, wenn auch widersprüchlich und in Schritten. Was jedoch möglich sein könnte, ist die Verschärfung des Widerspruchs zwischen der DKP-Führung und jenen DKP-Mitgliedern, die an marxistisch-leninistischen Positionen und/oder einem revolutionäre, Profil der Partei festhalten möchten. Wir werden sehen..."

Welche „ideologische Anpassung an Positionen des ‚demokratischen Sozialismus’" hatte ich herausgearbeitet und wie ist der „Entwurf" für ein noch zu erarbeitendes Parteiprogramm in diesem Zusammenhang zu werten?

 

A) Zur Frage der Macht, des Staates und der „Diktatur des Proletariats"

 

Sowohl in den „Sozialismusvorstellungen" als auch in programmatischen Äußerungen leitender DKP-Funktionäre im Vorfeld der Programmdiskussion finden sich Formulierungen, die eindeutig auf eine Absage an die „Diktatur des Proletariats" hinauslaufen; sie reichen von Forderungen nach „Gewaltenteilung" bist hin zu Überlegungen, „wie beim nächsten Anlauf <zum Sozialismus, d. Verf.> mit einer bürgerlichen Opposition umgegangen werden soll, die zurück zum Kapitalismus will."

Ganz offensichtlich werden diese Positionen implizit vertreten, wenn es in den „Ersten Grundlagen" u. a. heißt: „Wir können heute nicht voraussagen, welche sozialen Bewegungen und Kräfte künftig unter welchen konkreten historischen Bedingungen agieren werden, wenn die Frage des Sozialismus steht. Dies betrifft Übergangsformen ebenso wie die Gestaltung der neuen Gesellschaft. (...) An die Stelle des kapitalistischen Staates bzw. entsprechender supranationaler Strukturen tritt eine neue Form staatlicher Organisation, wobei heute offen ist, wie diese aussehen wird."

 

B) Zur marxistisch-leninistischen zur Rolle der Partei der Arbeiterklasse, zu den politischen wie ökonomischen Grundbedingungen des Sozialismus

 

Auch hier knüpfen die „Ersten Grundlagen" wieder an bisher vertretene Auffassungen („Sozialismusvorstellung", grundlegende programmatische Äußerungen etc.) an. Zwar wird an einer Stelle betont, dass die Arbeiterklasse beim Kampf für und dem Aufbau des Sozialismus eine „entscheidende Kraft" sein werde, diese Aussage wird jedoch durch die sie einleitende Position bereits aufgehoben, die besagt, eben KEINE Aussage darüber treffen zu können, „welche sozialen Bewegungen und Kräfte unter welchen konkreten historischen Bedingungen agieren, wenn die Frage des Sozialismus steht."

Wenn Kommunisten also nun „ganz offiziell" nichts genaues mehr erkennen können sollen, welchen Platz und welche Rolle soll dann die Partei der Kommunisten noch einnehmen?

Auch die Antwort auf diese Frage ist praktisch aus den „Sozialismusvorstellungen" abgeschrieben: „Ihre Aufgabe wird es sein, im Wettstreit mit anderen politischen Kräften um die besten politischen Ideen und Initiativen immer wieder aufs Neue das Vertrauen des arbeitenden Volkes zu erringen. Die kommunistische Partei wird im Sozialismus vor allem strategische Orientierungen für die weitere Gestaltung des Sozialismus erarbeiten und versuchen, dafür Mehrheiten zu gewinnen (...)." Dies ist nichts anderes als in modischen Formulierungen des „demokratischen Sozialismus" verpackte Absage an die Rolle der kommunistischen Partei als revolutionärer Avantgarde der Arbeiterklasse, an die Leninsche Parteikonzeption. Nur sollten die Autoren der „Ersten Grundlagen" dem geneigten Leser dann wenigstens reinen Wein einschenken: Was bleibt von einen kommunistischen Partei noch übrig, wenn sie dem Leninschen Charakter entkleidet wird, einem der Grundcharakteristika, das die kommunistische von anderen Parteien unterscheidet?

So kann es dann nicht mehr verwundern, dass die „Ersten Grundlagen" – konsequenterweise – hinsichtlich der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie sowie der politischen wie ökonomischen Grundlagen des Sozialismus widersprüchlich, vage, nebulös und interpretierbar bleiben.

Mehr noch, es fehlen nicht nur Klassenkampfbezüge, sondern auch umfassende Einschätzung der Rolle der internationalen antiimperialistischen und kommunistischen Bewegung unter den heutigen Bedingungen der so genannten „Neuen Weltordnung". Letzteres reduziert sich dann auf die Forderung nach verstärkter internationaler Zusammenarbeit, zumal die Autoren auch nicht mehr davon auszugehen scheinen, dass es möglich sein wird, in einem (hoch entwickelten) imperialistischen Land den Sozialismus zu erkämpfen: „Ein neuerlicher sozialistischer Anlauf (interessant, dass die Autoren in diesem Zusammenhang wohl fürchten, das Wort „Revolution" auszudrücken <!>, d. Verf.) kann nach Ansicht der DKP nicht isoliert erfolgen (...)" Soll das vielleicht bedeuten, dass wir mit dem Kampf um eine revolutionäre Umgestaltung warten sollen, bis er im europäischen oder gar im Weltmaßstab erfolgreich sein könnte?

 

C) Die „Ersten Grundlagen" zur Leninschen Imperialismustheorie und ihre Positionierung zur so genannten „Neuen Weltordnung"

 

Hier schreiben die „Ersten Grundlagen" – wenn auch in etwas vorsichtiger gehaltenen Formulierungen – inhaltlich das fort, was in den letzten Jahren als Positionierung der DKP-Führung sichtbar wurde. Das unterscheidet die „Ersten Grundlagen" von den „Sozialismusvorstellungen", in denen eine Imperialismusanalyse noch nicht festgelegt wurde. In der Logik dieser Positionierung, die der so genannten „Neoliberalismus-Theorie" nahe steht, wird die Leninsche Imperialismustheorie in Frage gestellt.

 

D) Die „Ersten Grundlagen" zum real existierenden Sozialismus, insbesondere zur DDR

 

Auch hier wird sich nichts qualitativ Neues im Vergleich zu den „Sozialismusvorstellungen" sowie weiteren wichtigen Programmatischen Positionierungen aus der DKP-Führung finden lassen. Also auch in diesem Papier wiederum keine klare Positionierung zu den sozialistischen Ländern, und auch nicht zur DDR als größten Errungenschaft der revolutionären deutschen Arbeiterklasse.

Während es vermieden wird, die Große Sozialistische Oktoberrevolution als Epochewende im Kampf um den Sozialismus und Kommunismus (trotz erfolgreicher Konterrevolution!) einzuschätzen, bestimmen wesentliche Teile dieses Abschnittes der „Ersten Grundlagen" die Distanzierung von angeblichen „Einschränkungen von Demokratie" und vorgeblichen, nicht näher ausgeführten und bewiesenen „Verbrechen, die nicht zu rechtfertigen" seien sowie die Überbetonung von Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus, die wie folgt beschrieben werden: „Rückständigkeit, fehlende moderne Industrie sowie eine geringe landwirtschaftliche Produktivität".

Letzteres wird zudem völlig aus dem historischen Kontext gerissen und keinerlei Analyse oder zumindest Aussagen zu den rasanten Fortschritten der sozialistischen Länder gerade auch auf diesen Gebieten während langer Perioden ihrer Entwicklung angeboten.

Ganz logisch wird man dann in diesem Abschnitt der „Ersten Grundlagen" jeglichen Verweis auf den Revisionismus und seine Entwicklung als Voraussetzung für die schließlich siegreiche Konterrevolution vergeblich suchen.

 

Wie sind die „Ersten Grundlagen" einzuschätzen?

 

Qualitativ Neues im Vergleich zu den bisher verabschiedeten „Sozialismusvorstellungen" sowie wichtigen programmatischen Aussagen aus der DKP-Führung liefern sie nicht. Und dennoch haben sie eine besondere Bedeutung.

Man muss – angesichts der Entwicklung der DKP sowie in Anbetracht des bisherigen Verlaufs der Programmdiskussion - davon ausgehen, dass die „Ersten Grundlagen" auf dem kommenden Parteitag der DKP, mit vielleicht einigen kosmetischen Veränderungen, verabschiedet und damit zur offiziellen Programmatik der DKP werden.

Eine kommunistische Partei, die sich damit auch offiziell von entscheidenden Grundpfeilern des Marxismus-Leninismus, verabschiedet, verändert ihren Charakter, sie wird zu einer revisionistischen Partei. Beispiele solcher Entwicklungen gibt es in Vergangenheit und Gegenwart genügend.

Damit bekommen die Diskussionen und Auseinandersetzung um die „Ersten Grundlagen" einen besonderen Rang, da es um den Grundcharakter der Partei geht, nicht um Einzelfragen, um die man sich als Kommunisten ja streiten kann und auch sollte, es geht also tatsächlich nicht um die Bewertung von „Licht und Schatten" der DKP, nicht um einzelne „unsägliche Positionen", nicht um „unausgereifte Papiere" etc..

Es geht um nicht mehr und weniger als um die Identität der DKP als kommunistischer Partei in der BRD!

Angesichts dieser Herausforderung scheint mir auch die Schwäche der bisherigen Positionierungen einiger Kritiker deutlich zu werden. Das ist als vor allem das Alternativpapier zu nennen, das von den Genossen Holz und Köbele ausgearbeitet wurde. Auf die ideologisch-politischen Schwächen dieses Papiers möchte ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingehen. Die entscheidende und damit wichtigste Schwachstelle dieses Alternativvorschlages, dessen Annahme auf dem Parteitag chancenlos erscheint, ist jedoch, dass er es vermeidet, den Charakter der derzeitigen Auseinandersetzungen in der DKP um die „Ersten Grundlagen" herauszuarbeiten.

Die „Ersten Grundlagen" sind weder zu verbessern, noch ein Papier, das mit kommunistischen Grundpositionen kompatibel ist.

Es geht also bei den Auseinandersetzung um den Kampf gegen „klassisch" revisionistische Positionen, die bei ihrer Verabschiedung konsequenterweise den Charakter der DKP verändern (würden). Das Auftreten, die Taktik sowie der Stil vieler Kritiker der „Ersten Grundlagen" treten jedoch nicht dem Eindruck entgegen, dass es sich bei den derzeitigen Auseinandersetzungen um – mehr oder weniger normale, manchmal lediglich nicht mit Samthandschuhen geführte – Diskussion unter Kommunisten um kommunistische Positionen handele.

Mit diesem Herangehen machen sie es der DKP-Führung objektiv einfacher, nicht nur ihre Positionen durchzusetzen, die, wie nicht nur im Fall der „Ersten Grundlagen", ein klarer Bruch mit wesentlichen marxistisch-leninistischen Grundlagen einer kommunistischen Partei sind, sondern zudem ihre ideologische Hegemonie zu zementieren und mit der faktischen Anerkennung als kommunistischer Alternative – trotz aller Kritik, „Schwächen", „Unschärfen" etc. an ihr – unangreifbarer zu machen. Und es ist gerade die Unterordnung der Kritiker unter diese ideologische Hegemonie, die von der DKP-Führung zunehmend deutlicher verlangt wird.

Dabei sollten wir uns gerade an dieser Stelle aus dem Gedächtnis ausgraben, was für Kommunisten der Kampf gegen revisionistische Positionen und den Revisionismus bedeutet: „Ich glaube (...) - ob den Fragen Krieg und Frieden, der Rolle des Staates, der Imperialismusanalyse, der Revolutionstheorie und –praxis etc. – die Identität der Kommunisten (ist) unmittelbar mit dem Kampf gegen den Revisionismus und jegliche Formen des Opportunismus in der Arbeiterbewegung (auch in den eigenen Reihen) verbunden. Ja, die Gründung der kommunistischen Parteien als eigenständige revolutionäre Formationen der Arbeiterbewegung sind ohne diese permanente Auseinandersetzung überhaupt nicht erklärlich (und historisch notwenig gewesen). Anders formuliert: ohne diese Auseinandersetzung, verknüpft mit der Verteidigung der Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus, ist die Existenz von kommunistischen Parteien objektiv überflüssig, ihre Existenzberechtigung stirbt förmlich ab..."

 

Michael Opperskalski, Köln

Imperialismusdiskussion

Franz Siklosi: Einige Bemerkungen zum Thema „Neoliberaler Imperialismus"

Zur Programmdebatte der DKP

Allgemeines

Der Kapitalismus kann sich nicht selbst abschaffen. Die Beschaffenheit seines Wesens zwingt ihn zu einer immer weitergehenden Reproduktion seiner selbst auf einer höheren Stufe. Sein Ziel ist die Steigerung der Mehrwertproduktion auf Kosten der Mehrheit der Menschheit und ihrer Lebensgrundlagen. Deshalb ist das im „Kapital" von Karl Marx beschriebene Wesen des Kapitalismus auch in der heutigen Zeit gültig. Konstantes und variables Kapital, die Möglichkeiten, die Mehrwertsproduktion zu erhöhen und alles andere sind ökonomische Realitäten. Genau so bekannt ist auch die Tatsache, dass die bürgerliche Ideologen zu gewissen Zeiten alte Begriffe entschlacken und durch neumodischen Schnickschnack ersetzen will, wobei der Inhalt gleich bleibt. Zu diesen ,,neuen Wörtern" gehören die Begriffe: „Globalisierung", „Neoliberalismus" und ,,Transnationale Konzerne". Mit diesen Begriffen wird bürgerlicherseits eine neue Epoche des Kapitalismus propagiert und gleichzeitig unsichtbar gemacht.

Die Durchkapitalisierung der Erde, die mit dem Schlagwort „Globalisierung" als etwas noch nie da gewesenes den Menschen mittels der bürgerlichen Medien verkauft wird, ist ein alter Hut. Schon zu Zeiten der Entdeckungen im 15. bis 18. Jahrhundert begann die Ausweitung des Kapitalismus im internationalen Maßstab. Und Handelsorganisationen wie die Ostindische Handelskompanie können als Vorläufer der heutigen TNK angesehen werden. Börsencrashs und weltweite Fusionen stehen seit Beginn des Kapitalismus auf der Tagesordnung. Und auch Weltkriege wurden schon sehr früh geführt, dafür steht zum Beispiel der Siebenjährige Krieg.

Die „Globalisierung" ist ein Begriff, welcher die vollständige Durchkapitalisierung der Erde im bürgerlichen Jargon beschreibt, ein Fakt, der den Kommunisten unter dem Begriff „Imperialismus" bekannt ist und von Lenin in seiner Imperialismustheorie genau erfasst wird. Seit der erfolgreichen Konterrevolution in der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten Europas herrscht unter den Kommunisten große Unsicherheit, wie diese „Neue Weltordnung" definiert und charakterisiert werden soll. Dabei können leicht marxistisch-leninistische Grundpositionen zugunsten der Benutzung bürgerlicher Modebegriffe aufgegeben werden. Unter diesen Gesichtspunkt muss auch die Neoliberalismuskonzeption von Teilen der DKP gesehen werden. Einige Kernthesen dieser „neuen" Konzeption lassen sich wie folgt beschreiben:

1.Der heutige Kapitalismus ist nicht mehr der Imperialismus zur Zeit Lenins.

2.Der Imperialismus von heute ist der Kapitalismus im Prozess der Globalisierung.

3.Die Entwicklung der Transnationalen Konzerne hat die Einflussmöglichkeit der National-staaten immer mehr marginalisiert.

4.Der imperialistische Konkurrenzkampf gegeneinander wird durch die gemeinsame Aus-beutung der Welt ersetzt.

5.Der Neoliberalismus ersetzt als nächste Form der kapitalistischen Entwicklung den Staatsmonopolistischen Kapitalismus.

Diese Konzeption erfordert eine Distanzierung von der Leninistischen Imperialismustheorie und macht den Kapitalismus friedfertig und den Klassenkampf überflüssig.

Die bürgerliche Theorie des Neoliberalismus

Der bürgerliche Neoliberalismus sieht die Ursache einer kapitalistischen Krise nicht in der Überproduktion sondern darin, dass der Staat weit mehr ausgibt, als er einnimmt, und durch seine Regulierungen die private Initiative stört. Deshalb soll der Staat die Ausgaben kürzen und die Einnahmen senken. Alles, was den ,,freien Markt" stört, muss beseitigt werden. Dazu zählen zu „hohe" Steuern (besonders für die Unternehmen), zu „hohe" Sozialleistungen, zu, „hohe" Löhne, außerdem Umwelt- und Arbeitsschutzbedingungen. So wurde und wird unabhängig davon, welche Parteien in Deutschland gerade regieren, neoliberale Politik gemacht:

Verringerung des Geldmengenwachstums, um Inflation bekämpfen zu können.

Senkung des Staatsdefizits, indem die Staatsausgaben verringert werden.

Einschränkungen des öffentlichen Sektors, damit sich der Privatsektor besser ausbreiten kann.

Maßnahmen, damit der Markt „besser" funktionieren kann.

Verringerungen und Abbau der Subventionen durch den staatlichen Sektor, Reprivatisierung von Unternehmen im Staatsbesitz, Verringerung des Verwaltungsapparates im öffentlichen Sektor, Abbau der Preis- und Dividendenbeschränkungen, Abbau der Beschränkung des Devisenaustausches und der Kreditvergabe, Einschränkung der Arbeiterrechte und ihren Organisationen. All diese Maßnahmen zusammengenommen führen zu einer Umverteilung der Lohnquote zugunsten des Mehrwertes, Abbau der sozialen Systeme mit den damit notwendigen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten und Aufrüstung der „inneren" und „äußeren" Sicherheit.

Der heutige Kapitalismus ist Imperialismus aber niemals „Neoliberalismus". Das, was „Neoliberalismus" genannt wird, ist nur eine andere Erscheinungsform des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium als die Zeit der sog. „Systemkonkurrenz". Deshalb kann man vielleicht von einem neoliberalen Imperialismus sprechen, was aber immer bestehen bleiben muss, ist seine Charakterisierung als Imperialismus.

Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland seit 1970

Seit der Konterrevolution in den sozialistischen Ländern hat sich eine Entwicklungstendenz des Imperialismus rasant beschleunigt, deren Ausgangspunkt in den siebziger Jahren lag.

Ausgehend von der einsetzenden Rezession wurde die kurze Epoche der Nachfragepolitik von der neoliberalistischen Schule ersetzt. Dafür stehen die Begriffe: Reaganomics, Thatcherismus und die geistig, moralische Wende (allerdings begann das Umsteuern in der Wirtschaftspolitik schon unter Kanzler Schmidt). Es begann die bis auf heute anhaltende Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben. Gleichzeitig wurden und werden die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse schrittweise vernichtet. Der Kapitalismus veränderte aber auch seine Produktionsweise. Die Entwicklung der Mikroelektronik und deren Einsatz in allen kapitalistischen Sektoren führte zu einer gigantischen Rationalisierungswelle, welche die fordistische Produktionsweise (Fliesband mit viel mechanischer Handarbeit) zum größten Teil abschaffte. Während der achtziger Jahre konnten die Großkonzerne aufgrund der Extraprofite ihren Mehrwert soweit steigern, dass dieses überschüssige Geld nicht mehr in die ausgelastete Produktion investiert, sondern auf der Börse verspekuliert wird. Außerdem wird fusioniert, gekauft, verkauft. Es entstand der „Neue Markt", der vor allem von staatlichen Subventionen gefördert wurde. Viele Konzerne der Montanindustrie strukturierten sich zum Beispiel mit Hilfe des Kohlepfennig in Telekommunikationsgesellschaften um. Außerdem werden die staatlichen Konzerne privatisiert. Die nationalen Monopolisten werden abgelöst von den Monopolen der Transnationalen Konzerne. Sie verschmelzen mit dem internationalen Finanzkapital. Diese TNKs bestimmen durch ihre Jagd nach Maximalprofiten die Weltwirtschaft. Dadurch gewinnt die Börse an Bedeutung. Nach der Konterrevolution. konnte der deutsche Imperialismus als wirtschaftlich stärkste Macht Europas seine Expansion ausweiten. Deutsche Firmen übernahmen die Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa und bestehen auf dem einheitlichen Wirtschaftsraum EU-Europa. Mit der Übernahme der Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas hat sich Deutschland die Hegemonie bei der Neuaufteilung der ehemaligen sozialistischen Staaten gesichert. Die logische Folge dieser Entwicklung ist die Ausweitung der Heimatbasis der „deutschen" transnationalen Konzerne. Dem deutschen Imperialismus ist der eigene Nationalstaat zu klein geworden. Deshalb das große Interesse am Großraum EU und dem eigenen Hinterhof im Osten.

Die Entwicklung innerhalb der EU

1. Die mikroelektronische Revolution, die Konterrevolution in den sozialistischen Staaten und die damit verbundene Deregulierung der bestehenden Volkswirtschaften als auch die Neuaufteilung der bisher nichtkapitalistischen Länder bilden die Hauptgründe für die Neuorientierung des einheitlichen Wirtschaftsraumes EU. Dieses Gebilde ist aber nichts Harmonisches. Neben dem Wettlauf um die Erringung der Hegemonie innerhalb der EU steht die Neuaufteilung der bisherigen realsozialistischen Staaten auf der Tagesordnung. Die EU wird von Deutschland dominiert, das sich als eigentlicher Sieger des Kalten Krieges fühlen kann. Der Krieg gegen Jugoslawien zeigt die neue Ausrichtung des deutschen Imperialismus an. Mit Hilfe faschistischer Banditen werden Nationalstaaten destabilisiert, um dann unter dem Deckmantel der Nato eingreifen zu können. Die dazu gehörige Rechtfertigung ist wie im Zweiten Weltkrieg die Volkstumspolitik. Nationale Hoheitsrechte werden aberkannt. Deutschland entsorgt seinen Faschismus durch seine Einbindung in die EU und kann um so mehr faschistoide Politik betreiben. Dafür steht die UCK und die Festnahme und Verfolgung von S. Milosevic.

2. Das Europa der Nationalstaaten wird zum Europa der Regionen. Investiert wird nur noch in Regionen, welche ihre Sozialstandards am meisten unterboten haben. Dafür steht BMW in Leipzig.

3. Neoliberalismus bedeutet in letzter Konsequenz Faschismus. Neben dem Sozialfaschismus in den sozialdemokratisch regierten Ländern haben sich in Italien und Österreich auch Bündnisse zwischen Konservativen und Faschisten gebildet. Ziel aller Regierungen ist die Zerschlagung der sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse und die Entmachtung ihrer Organisationen. Dafür steht die Widereinführung der privaten Rentenversicherung.

4. Innerhalb der EU entstehen ganze Armutsregionen quer durch alle Nationalstaaten hindurch, deren Bevölkerung weder konsumieren kann noch in den Produktionsprozess eingebunden ist. Um diese Zonen ruhig zu halten, wird die staatliche Ordnungsmacht an Banditen und Faschisten übertragen. Dafür stehen die „national befreiten Zonen."

5. Die Etablierung der Leiharbeitsfirmen und die zunehmende Scheinselbständigkeit (Ausbreitung lumpenproletarischer Klassensegmente) und das fehlende Gegengewicht infolge der erfolgreichen Konterrevolution wie auch die von der mikroelektronischen Revolution strukturell bedingte Massenarbeitslosigkeit, die eine Vollbeschäftigung unter kapitalistischer Bedingung unmöglich macht, beschleunigen die Verbreitung faschistischer Ideologien. Dafür steht die Hetze gegen die Arbeitslosen: Arbeitslosigkeit als Problem der Arbeitslosen, da sie als Faulenzer und Sozialschmarotzer seien.

6. Die EU wird zur Festung Europa. Der Arbeitsmarkt bestimmt die Zuwanderung. Das Asylrecht wird faktisch abgeschafft. Es findet eine Abschottung gegen Menschen aus dem Trikont statt. Dafür stehen die erweiterten Befugnisse des Bundesgrenzschutzes und die fortschreitende Videoüberwachung öffentlicher Räume.

Resümee

Der Grundstock zur Entwicklung des gegenwärtigen Imperialismus wurden Ende der siebziger Jahre gelegt und gewann durch die Konterrevolution in den sozialistischen Staaten eine enorme Dynamik. Der Imperialismus reproduziert sich auf einer höheren Ebene unter alten Vorzeichen. Die Staatskapitalistischen Monopole transformieren zu Transnationalen Konzernen unter der Führung internationaler Familien. Die Heimatbasis verschiebt sich von den Nationalstaaten zu einheitlichen kontinentalen Wirtschaftsräumen. Es entstand die Triade EU (unter deutscher Hegemonie) Amerika (USA/NAFTA) und Ostasien (bisher Japan).

Diese Wirtschaftsräume stehen unter imperialistischer Konkurrenz und im innern unter dem Verteilungskampf der nationalen Bourgeoise. Jeder muss unter Weltmarktbedingungen produzieren. Die Gebiete der realsozialistischen Staaten werden neu aufgeteilt. Seit dem Ende der realsozialistischen Staaten konnte ein widerstandsfreier Sozialabbau beschleunigt werden. Die bürgerlichen Rechte werden, wo sie der Deregulierung im Wege stehen, abgeschafft. Das ideologische Konzept ist der Neoliberalismus, eine dem Liberalismus des freien Konkurrenzkapitalismus entnommene ökonomische Richtung. Dies geschieht aber unter monopolimperialistischem Vorzeichen.

Die historische Entwicklung besteht aus zwei Phasen. Von 1973 bis 1989: Abbau des von den Arbeitern erkämpften „Sozialstaates" und das Ende des fordistischen Modells. 1989 bis ....: Durchsetzung des neoliberalen Imperialismus unter Einbezug der ehemaligen sozialistischen Staaten im Weltmaßstab.

Die mikroelektronische Revolution hat eine Vollbeschäftigung unter kapitalistischen Vorzeichen unmöglich gemacht. Faschistische Elemente werden immer dominanter, entweder durch den von der Ordnungsmacht geduldeten Neofaschismus (national befreite Zonen, UCK), Koalitionen aus Konservativen und Faschisten (Italien, Österreich), oder Sozialfaschisten (Deutschland). Die bürgerlichen Ideologien haben zu ihrer Erklärung und Verschleierung einen „neuen" Begriff eingeführt: „Globalisierung."

Fazit

Der heutige Kapitalismus lässt sich mit der Leninschen Imperialismustheorie analysieren. Wir leben weiterhin im Zeitalter des Imperialismus. Neue Momente sind transnationale Monopole und das faktische Aufgehen der Nationalstaaten in einheitliche Wirtschaftsräume. Durch das Fehlen einer Gegenmacht steigt die Kriegsgefahr. „Globalisierung" und „Neoliberalismus" sind keine neue Erscheinungen des Kapitalismus. Ein friedlicher Ultraimperialismus existiert nicht.

Gegenwehr

Die Referenzmodelle des heutigen Imperialismus sind Jugoslawien und der Zustand der ehemaligen sozialistischen Staaten. Eine Dekade nach der Konterrevolution konnte der BRD-Imperialismus seine Macht ohne Gegenwehr in Europa festigen. Die Kommunisten sehen sich einem erstarkten Neofaschismus und Staatsterrorismus gegenüber. Dafür steht Genua.

Die Proteste gegen G8-Treffen, WTO-Konferenzen und IWF-Tagungen zeigen das ganze linke Dilemma auf. Vorherrschend ist in der „Anti-Globalisierungs-Bewegung" eine verkürzte Kapitalismuskritik, die kaum über das Anprangern der Machenschaften der transnationalen Konzerne hinauskommt und sich auf der Ebene der Kritik an der „Macht des Geldes" bewegt. Die kapitalistische Realität wird das moralisierende Ideal einer Welt, wie sie sein sollte, entgegengehalten.

Auf Grund dieser ideologischen Schwäche können sich auch nationalistische, naturalistisch-biologistische, romantisch-regressive und antisemitische Position als Globalisierungsgegner darstellen.

Es ist nicht der internationale Finanzmarkt, der Zins oder die Bankenmacht, die eine sinnvolle Kapitalismuskritik anzugreifen hat, sondern es muss der Kapitalismus in seiner Totalität sein, nicht das Geld, sondern die kapitalistische Warenproduktion!

Der oberflächlichen Analyse entspricht die begrenzte politische Perspektive beträchtlicher Teile der „Antiglobalisierungsgegner": Von der Errichtung eines europäischen Sozialstaats über die Ablehnung einer angeblichen „Amerikanisierung" des Sozialsystems und die Verteidigung des Nationalstaats gegen das internationale Kapital bis hin zu antimodernistischen Gemeinschaftsvorstellungen reicht die Palette der propagierten Alternativen.

Wir Kommunisten dürfen nicht den Fehler begehen, unsere marxistisch/leninistischen Grundpositionen aufgrund ihrer angebliche unmodernen Sichtweise oder weil sie angeblich „traditionalistisch" seien - oder auch wegen einer vermeintlich dann höheren „Bündnisfähigkeit" aufgeben.

Das tut schon die PDS.

Unsere Partei (der Kommunisten) muss ideologisch und kadermäßig gefestigt werden. Ein eindeutig marxistisch/leninistisches Parteiprogramm wäre eine große Hilfe. Wir sollten die Sozialfaschismustheorie stärker beachten und die Antimonopolistische Demokratie aus dem Programm streichen. International wäre eine Europäische Zentrale marxistisch-leninistischer Parteien notwendig.

In Deutschland: Bündnispartner anderer marxistisch-leninistischer Parteien suchen! Den Weg zu den Ausgebeuteten finden! Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Arbeiter der 1. und 2. Arbeitswelt sind unsere natürlichen Verbündeten!

 

Franz Siklosi, Heppenheim

Recht und Gesellschaft

Prof. Dr. Erich Buchholz: Beweisaufnahme und Beweisführung

Zu den Unterschieden des Beweisrechts in der DDR und in der BRD

1) Dass zahlreiche gestandene Juristen, die unter einer Rechtsordnung, nämlich der der DDR, ihre juristische Ausbildung genossen und ihre juristische Tätigkeit ausgeübt hatten, vor Gerichten einer anderen Rechtsordnung, der der Bundesrepublik Deutschland, zu stehen hatten, ist - abgesehen von den politischen Motiven, Gründen und Hintergründen solcher Strafverfolgung und abgesehen von den bedrückenden, diskriminierenden subjektiven Erlebnissen solcher Verfolgung – in der Justizgeschichte, und zwar nicht nur der deutschen, einmalig.

Angezeigt ist daher eine nähere Betrachtung der Unterschiede der beiden betreffenden Rechtsordnungen, so insbesondere hinsichtlich der unterschiedlichen Verfahrensweisen. Über die als "strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht" ausgegebene strafrechtliche Verfolgung von zahlreichen DDR-Juristen ist aus unterschiedlicher Sicht viel geschrieben worden. Noch völlig ausgeblendet blieben die bei diesem Vorgang auftretenden, für die rechtsvergleichende wissenschaftliche Untersuchung aufschlussreichen Unterschiede der strafverfahrensrechtlichen Prinzipien und Praxis.

Von besonderer und gewichtiger Bedeutung ist dabei das Beweisrecht.

In diesem Beitrag soll - unter dem Gesichtspunkt der Unterschiedlichkeit - der Gegenstand des Beweisrechts und seine praktischen Handhabung in den beiden Rechtsordnungen und Justizsystemen betrachtet werden.

Was DDR-Juristen von der Praxis des bundesdeutschen Beweisrechts vor bundesdeutschen Gerichten erlebten, weitgehend nachlesbar in den abgesetzten schriftlich vorliegenden Urteilsgründen, erschien ihnen nicht nur fremd und kaum nachvollziehbar, sondern vielfach – und zwar durchaus begründet - unvertretbar, ja unerträglich.

In der Tat ist das Beweisrecht in den beiden Rechtsordnungen, der der DDR und der der Bundesrepublik, grundverschieden, was indessen bisher, so weit ich es übersehe, noch niemals thematisiert wurde. Deshalb ist es hohe Zeit, zu diesem Gegenstand erste Überlegungen und Beobachtungen kundzutun.

2) In der Hauptüberschrift dieses Beitrages wurden absichtsvoll zwei Begriffe verwendet: Beweisaufnahme und Beweisführung. Beweisaufnahme ist ein Begriff, der in beiden Rechtsordnungen anzutreffen ist und sich auf die gerichtliche Hauptverhandlung bezieht. Der Begriff der Beweisführung spielte als solcher nur im Strafprozessrecht der DDR ernstlich eine Rolle, und zwar eine ganz wichtige Rolle. Der Begriff der Beweisführung und der der Beweisführungspflicht ist nämlich nach dem Strafprozessrecht der DDR ein ganz zentraler. Bereits im § 2 der StPO/DDR, im ersten die Grundsatzbestimmungen enthaltenden Kapitel ist die Beweisführungspflicht der zuständigen Justizbehörden geregelt.

Im § 8 dieses Gesetzes, der die Überschrift trägt " Feststellung der Wahrheit ", war diesen Behörden der gesetzliche Auftrag erteilt, die Wahrheit der strafrechtlich relevanten Tatsachen festzustellen. Der diesen Grundsatz präzisierende § 22 StPO (im Kapitel zwei, das die allgemeinen Bestimmungen für das Ermittlungsverfahren und das gerichtliche Verfahren enthält) trägt dem gemäß die Überschrift " Beweisführungspflicht ". Dem Beschuldigten bzw. Angeklagten durfte die Beweisführung nicht, in § 8 Abs. 2 StPO ausdrücklich bestimmt, nicht auferlegt werden. Die Vorschrift des § 22 StPO bestimmte die ausdrückliche Verpflichtung des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsorgane, alle erforderlichen Tatsachen wahrheitsgemäß festzustellen. Diese Verpflichtung der zuständigen Behörden wird dann für die einzelnen Stadien präzisiert, so in § 101 StPO für das Ermittlungsverfahren und im § 222 StPO, der die Überschrift trägt " Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme ", für das gerichtliche Verfahren.

In diesen Vorschriften findet sich nicht nur die verpflichtende Aufgabenstellung zur Beweisführung, sondern auch eine inhaltliche Kennzeichnung dieser: Dort wird den betreffenden zuständigen Behörden die Aufgabe gestellt, die (materielle und objektive) Wahrheit als unabdingbare Grundlage einer gerechten strafgerichtlichen Entscheidung festzustellen. Denn ohne Wahrspruch des Gerichts kann es keine gerechte Entscheidung geben.

In der später noch zu behandelnden Richtlinien des Plenums des Obersten Gerichts der DDR zu Fragen der gerichtlichen Beweisaufnahme und Wahrheitsfindung im sozialistischen Strafprozess - Beweisrichtlinie - vom 15. Juni 1988 heißt es in der Präambel: "Wahre Feststellungen sind die Voraussetzung dafür, dass jeder Schuldige, aber kein Unschuldiger strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird." Nach langjähriger Erfahrung eines DDR-Richters war in seiner Praxis die Feststellung der Wahrheit die zentrale Aufgabe im Strafverfahren. Denn nur auf der Grundlage der Feststellung der Wahrheit könne der strafrechtlich relevante Sachverhalt zutreffend unter den gesetzlichen Straftatbestand subsumiert, könne dem Angeklagten das Gefühl von Gerechtigkeit vermittelt und schließlich in der Gesellschaft die Bereitschaft zu aktiver Kriminalitätsvorbeugung geweckt werden.

Der Begriff der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ist nach dem Prozessrecht der DDR dem zentralen übergreifenden Begriff der Beweisführung untergeordnet.

3) Demgegenüber ist das bundesdeutsche Beweisrecht, das dem traditionelle deutschen Strafprozessrecht folgt, stärker formell ausgerichtet, wodurch der Eindruck entstehen kann, dass es besonders präzise, besonders rechtsstaatlich sei. Aber die Inhalte und Gegenstände des Beweises, des Beweisens und der Beweisführung bleiben dahinter zurück und gehen - schon in der Gesetzgebung, erst recht in der justiziellen Praxis - verloren.

Im Abs. 2 des § 244 StPO, also an untergeordneter Stelle, findet sich eine Formulierung dahingehend, dass die Beweisaufnahme (in der Hauptverhandlung) von Amts wegen " zur Erforschung der Wahrheit " auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel zu „erstrecken" ist.

Zwar soll dies " zur Erforschung der Wahrheit " dienen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass das Gesetz dem Gericht nicht die Aufgabe stellt, die Wahrheit festzustellen. Die Feststellung der Wahrheit ist nach dem bundesdeutschen Strafprozessrecht kein gesetzlich vorgegebener Auftrag. Auch wenn im Gesetz auf die Erforschung der Wahrheit hingewiesen wird, enthält die genannte Vorschrift - grammatikalisch eindeutig nachvollziehbar - die Aussage, die Beweisaufnahme auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken. Das Gesetz betrifft also - als Gegenstand seiner Aussage - die Reichweite und den Umfang der Beweisaufnahme.

Dem gemäß verlangt die Aufklärung von Amts wegen lediglich, die in Betracht kommenden Beweismittel in "rechtlich unanfechtbarer Weise" in die Hauptverhandlung einzuführen. Mehr nicht! Eine gesetzliche Vorschrift, ein gesetzlicher Auftrag, die Wahrheit zu erforschen, kennt das bundesdeutsche Strafprozessrecht nicht.

Übrigens lautete die Vorschrift des § 244 Abs. 2 StPO bis zum Jahre 1950 auch in der Bundesrepublik noch anders, nämlich: „Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist." In dieser - früheren - bundesdeutschen Vorschrift hatte die Erforschung der Wahrheit als Aufgabenstellung für das Gericht, jedenfalls in der Formulierung des Gesetzes, noch einen anderen Stellenwert.

Eine Aufklärungspflicht des bundesdeutschen Gerichts setzt erst ein, wenn die Umstände unter Berücksichtigung der Sachlage, einschließlich der Akten, „dazu drängen" oder „nahe legen", von einem bestimmten Beweismittel Gebrauch zu machen. Die gesetzliche Aufklärungspflicht des § 244 Abs.2 StPO ist somit auf die Nutzung bestimmter Beweismittel ausgerichtet, beschränkt, auf die die Aufklärung zu "erstrecken" ist.

Dem gemäß steht im weiteren im bundesdeutschen Strafprozessrecht, wie in der Praxis der Strafverfahren, das Beweisantragsrecht im Vordergrund, was insbesondere für die Tätigkeit der Verteidigung außerordentliche Bedeutung hat. Über Beweisanträge der Parteien ist zu entscheiden. Eine Ablehnung des Beweisantrages durch Gerichtsbeschluss ist nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen des § 244 StGB zulässig und bedarf einer entsprechenden Begründung.

Das Gericht erhebt nur die Beweise, die es nach seiner vorläufigen Beurteilung der Sache auf Grund der Anklage für erforderlich hält. Das sind grundsätzlich die belastenden Beweise. Weitere Beweise, namentlich die entlastenden Beweise, müssen i. d. R. durch einen förmlichen Beweisantrag eingeführt werden. Das so genannte Beweisantragsrecht ist im § 244 Abs. 3 folg. StPO geregelt. Es muss ein förmlicher Beweisantrag gestellt werden, der die zu beweisende Tatsache behauptet und das zum Beweise dieser Tatsache vorgesehene Beweismittel (z. B. eine Zeugenaussage) angibt. Abgesehen von den unzulässigen Beweisanträgen, die abgelehnt werden müssen, darf das Gericht Beweisanträgen unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen durch Gerichtsbeschluss ablehnen.

Die Richter haben genügend gelernt, wie, mit welchen Begründungen "lästige" Beweise und Beweisanträge revisionssicher abgewendet werden. Zu solchen Begründungen gehört die Behauptung der Offenkundigkeit und der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache, der Ungeeignetheit oder Unerreichbarkeit des Beweismittels sowie der Grund der Prozessverschleppung. In all diesen Fällen trifft das Gericht - nach entsprechender Auslegung des Beweisantrages - Ermessensentscheidungen, in denen die Auffassung, das Vorverständnis oder das Vorurteil des Gerichts zum Ausdruck kommt. In betreffenden Verfahren hatte das Gericht des öfteren eine andere Ansicht über die Bedeutungslosigkeit oder die angebliche Offenkundigkeit der betreffenden Beweistatsache als die Angeklagten und die Verteidigung. Aber kraft ihrer Richtermacht haben die Gerichte die an sich gebotene Beweiserhebung abgeblockt und sich dadurch beweisrechtlich die Grundlage für die angestrebte Verurteilung geschaffen.

Beweisanregungen und Beweisermittlungsanträge stehen " unterhalb " der Beweisanträge und können daher ohne entsprechenden Beschluss negiert bzw. missachtet werden, sogar wenn sie - nach Ansicht des Gerichts - lediglich in die Form eines Beweisantrages „gekleidet" seien, das Gericht aber meint, dass der betreffende Beweisantrag nur ein zum Schein gestellter Beweisantrag sei!

4) Das Kernstück des Beweisrechts nach dem bundesdeutschen Strafrecht ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 261 StPO. Diese Vorschrift war ursprünglich gegen aus dem Mittelalter überkommene formale Beweisregeln gerichtet und befreite die Richter von der Bindung an solche formellen Beweisregeln. Inzwischen aber ist diese Vorschrift zu einer kaum einer Überprüfung und Kontrolle zugänglichen richterlichen Freiheit der Beweiswürdigung mutiert, die auch im Revisionsverfahren nicht überprüft werden kann.

Der Zusammenhang - besser das Zusammenspiel - von Aufklärungspflicht gem. § 244 Abs.2 StPO und freier Beweiswürdigung gem. § 261 StPO stellt sich folgendermaßen dar: Wenn das Gericht (selbst) ohne Vorbehalt von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt ist, liegen ihm weitere Beweiserhebungen fern. Wenn dann - seitens der Verteidigung - Beweisanträge gestellt werden, muss das Gericht über diese entscheiden, wobei es davon ausgehen wird (da es von einem bestimmten Sachverhalt bereits überzeugt ist), dass diese nicht benötigt werden, sodass das Gericht nur noch einen gesetzlichen Grund gem. § 244 StPO finden muss, sie abzulehnen. Die Rüge (sog. Aufklärungsrüge), der Richter hätte - ohne weitere Beweiserhebung - (noch) nicht von dem betreffenden Sachverhalt überzeugt sein dürfen, geht (im Revisionsverfahren) angesichts der freien Beweiswürdigung gem. § 261 StPO fehl; sie bleibt regelmäßig erfolglos.

Diese richterliche Freiheit der Beweiswürdigung ist von der Wissenschaft augenscheinlich relativ wenig bearbeitet und untersucht worden, offensichtlich deshalb, weil die freie Beweiswürdigung die Domäne des Strafrichters ist - ganz so wie die Strafzumessung, die dem Richter zusteht, über Jahrzehnte von der wissenschaftlichen Untersuchung ausgespart blieb.

Die Konstruktion und Konzeption des bundesdeutschen Beweisrechts muss darüber hinaus im Zusammenhang mit dem bundesdeutschen Revisionsrecht und seiner Praxis sowie auch dem Umstand gesehen werden, dass in den Hauptverhandlungen, jedenfalls vor dem Landgericht und Oberlandesgerichten, gem. § 273 StPO kein Wortprotokoll geführt wird.

In der DDR gab es aus guten Gründen auf Grund der Erfahrungen mit dem früheren deutschen Prozess- und insbesondere Revisionsrecht seit 1952,dem Erlass der ersten Strafprozessordnung der DDR, das Rechtsmittel der Revision nicht mehr; gegen Urteile stand dem Angeklagten das Rechtsmittel der Berufung, dem Staatsanwalt das des Protestes zu. In einer erneuten Hauptverhandlung vor dem Rechtsmittelgericht konnten - anders als im Revisionsverfahren - ohne förmliche Beschränkung Rechts- und Tatfragen verhandelt und überprüft werden. Ein Wortprotokoll wurde in der DDR in allen gerichtlichen Hauptverhandlungen vor allen Gerichten geführt. Sein Inhalt war im Rechtsmittelverfahren - zusammen mit allen anderen Unterlagen - Gegenstand der Überprüfung.

Nur in diesem Gesamtkontext ist die Problematik des bundesdeutschen Beweisrechts erfassbar.

Die freie Beweiswürdigung durch den Tatrichter selbst ist - wie bereits betont - dem Revisionsgericht grundsätzlich nicht zugänglich. Sie interessiert nur unter dem Aspekt der Grenzen der freien Beweiswürdigung, der Begrenzung derselben, also z. B. unter dem Gesichtspunkt, ob das Gericht noch weitere Beweise hätte erheben müssen. Ob die tatrichterliche Beweiswürdigung zutreffend ist, ob sie also dem Gebot der Wahrheitserforschung entspricht, wird vom Revisionsgericht grundsätzlich nicht überprüft. Das ist alles nicht zufällig.

5) Dem bundesdeutschen bzw. traditionellen deutschen Beweisrecht liegt nämlich erkenntnistheoretisch ein agnostizistisches Prinzip zugrunde: die objektive Wahrheit zu erkennen, sei dem Menschen letztlich verschlossen. Daraus folgt und dem entspricht dann auch , dass für die Überzeugungsbildung des Richters eine ihm genügende hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht. Auch dem Revisionsgericht genügt das Feststellen eines subjektiven Für-wahr-Haltens des Tatrichters. Und ein solches subjektives Für-wahr-Halten kann grundsätzlich nicht überprüfbar sein.

Übrigens verhält es sich in der bundesdeutsche Strafjustiz (was die DDR-Juristen erst "lernen" mussten) ähnlich mit dem rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Prinzip des „in dubio pro reo", dass also im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu erkennen ist. Denn in der bundesdeutschen Strafjustiz kommt es nur darauf an, ob für den erkennenden Richter ein Zweifel besteht. Wenn er keine Zweifel hatte, gilt der Grundsatz "in dubio pro" nicht.

Besonders krass zeigt sich dieser die bundesdeutsche Rechtsprechung beherrschender Subjektivismus in politischen Strafverfahren und solchen mit politischem Hintergrund. Bei NS-Juristen hatten die bundesdeutschen Gerichte letztendlich durchweg keinen Zweifel, dass diesen NS-Juristen der direkte Rechtsbeugungsvorsatz gefehlt hatte.

Natürlich darf die Schwierigkeit des menschlichen Erkenntnisprozesses im allgemeinen und im besonderen, so auch im Strafverfahren, nicht unterschätzt werden. Aber es ist schon ein gravierender Unterschied, ob letztlich ein agnostizistisches Prinzip hinter der justiziellen Praxis steht und der Vorgang des Erkennens der Wahrheit auf das subjektive Erkennen durch den einzelnen Richter abgestellt wird, oder ob demgegenüber, wie in der DDR, von der prinzipiellen Erkennbarkeit der Welt , also von der Feststellbarkeit der Wahrheit ausgegangen wird - wovon die wissenschaftlichen Erkenntnisse, besonders die naturwissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, im allgemeinen und in der forensischen Praxis im besonderen, überzeugendes Zeugnis ablegen.

Entsprechend diesem letztgenannten erkenntnistheoretischen Zugang, dem der prinzipiellen Erkennbarkeit der Welt und damit der Feststellbarkeit der Wahrheit, wurde in der DDR den Strafverfolgungsbehörden, besonders den Gerichten - wie bereits oben ausgeführt -, der gesetzliche Auftrag erteilt, im Strafverfahren hinsichtlich des Tatgeschehens die objektive Wahrheit zu erforschen und festzustellen. Wahrheit ist danach eine objektive Eigenschaft der vorgenannten Erkenntnisse, die strafrechtlich relevanten Tatsachen bzw. Tatumständen adäquat widerzuspiegeln. Es wird also - im Gegensatz zu der bundesdeutschen beweisrechtlichen Konzeption und Praxis - eine materialistische Grundposition der Anerkennung der Objektivität der Wahrheit zu Grunde gelegt. Deshalb wies Marx darauf hin, dass "zur Wahrheit....nicht nur das Resultat (gehört), sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muss selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfassen."

6) In jedem Strafverfahren geht es (dann schließlich in der Hauptverhandlung) um die Rekonstruktion des in der Vergangenheit liegenden realen Tatgeschehens, an dem weder die Ermittlungsbehörden bzw. die Kriminalpolizei, noch die Staatsanwaltschaft noch das Gericht teilnahm oder auch dieses nur hatten wahrnehmen können, also des der strafrechtlichen Entscheidung zugrundezulegenden tatsächlichen Sachverhalts, und zwar mit Hilfe von - gesetzlich zulässigen - Beweismitteln.

Bei relativ überschaubaren Vorgängen und wenn genügend objektive Beweismittel, womöglich ergänzt durch ein Gutachten eines Sachverständigen, vorliegen, ist es auch dem bundesdeutschen Richter in der Regel möglich, die materielle objektive Wahrheit zu erkennen. Auf der Grundlage solcher Beweismittel wird der äußere Vorgang, z. B. eines Verkehrsunfallgeschehens (auf der Grundlage festgestellter Geschwindigkeiten, Fahrtrichtung und Aufprallstelle usw. ) unzweideutig festgestellt werden können. Wenn dann auch noch die verkehrsrechtlichen Tatsachen (z. B. Vorfahrt, Geschwindigkeitsüberschreitung usw.) ebenso eindeutig feststellbar sind, bleibt für eine " freie " Beweiswürdigung kein großer Spielraum, zumal bei festgestellter Verkehrsordnungswidrigkeit grundsätzlich zumindest von Fahrlässigkeit ausgegangen werden kann.

Übrigens: "Eigentlich" gilt solches auch in Fällen des gegen DDR-Staatsanwälte und -Richter seitens der bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden erhobenen Tatvorwurfs der Rechtsbeugung. Denn eine Rechtsbeugung im Sinne eines direkten Verstoßes gegen das geschriebene Recht gem. § 244 StGB/DDR lässt sich " eigentlich" ganz eindeutig feststellen. Und so hätten die bundesdeutschen Strafrichter, wenn schon die Staatsanwaltschaft verkannte, dass keine Rechtsbeugung vorlag, in diesen Strafverfahren gegen DDR-Staatsanwälte und DDR-Richter regelmäßig auf Freispruch erkennen müssen.

Tatsache ist auch, dass die bundesdeutschen Gerichte fast niemals eine Rechtsbeugung in Gestalt eines direkten Verstoßes gegen das materielle oder das Prozessrecht der DDR haben feststellen können. Zu der politisch gewünschten Verurteilung kamen sie ganz überwiegend nur dadurch, dass sie die von den DDR-Staatsanwälten beantragten und von den DDR-Richtern verhängten Strafen für "überhöht" hielten .

Erkennbar bewegten sich in diesen Verfahren die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter im Bereich der " freien " Beweiswürdigung, wobei sie von andersartigen entgegengesetzten subjektiven Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, von der Angemessenheit der betreffenden Strafen ausgingen, als von denen, die für die DDR-Richter und -Staatsanwälte gemäß der Rechtsordnung der DDR maßgeblich und zugrundezulegenden waren.

7) Hinsichtlich der freien Beweiswürdigung nach bundesdeutschem Recht ist weiterhin - worauf schon aufmerksam gemacht wurde - wesentlich, dass (jedenfalls in den Verfahren vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht) keine Wortprotokolle geführt werden und deshalb die Einlassungen von Zeugen, Angeklagten und anderen Personen vor dem erkennenden Gericht nicht objektiviert wurden, sondern, unüberprüfbar und unkontrollierbar, durch die Subjektivität des Richters gebrochen, lediglich in den Urteilsgründen, in den so genannten tatsächlichen Feststellungen, zu finden sind.

Aber, ist zu fragen: Wie haben die Richter die Worte des Sich-einlassenden akustisch (manch ein Zeuge oder Angeklagter spricht leise und undeutlich) und vor allem gedanklich verstanden? Wie haben die Richter diese Worte aufgefasst? Wie haben sie einzelne Wendungen im Kontext der Einlassung aufgefasst und gedeutet? Und nicht zuletzt: wie genau hatten sie diese Einlassungen bei der Absetzung des Urteils (nicht selten nach Monaten!) - eventuell auf Grund ihrer flüchtigen, zutreffenden oder nicht zutreffenden Notizen - noch in Erinnerung?

Jedenfalls kann infolge des Fehlens solcher Wortprotokolle - wie auch des Fehlens von elektronischen Aufzeichnungen (Tonbandaufnahmen) - später überhaupt nicht mehr überprüft werden, was der betreffende Angeklagte oder Zeuge in der Beweisaufnahme tatsächlich erklärt hatte. Aber das, was die Richter meinen, was gesagt worden sei, steht als „tatsächliche Feststellung" in den Urteilsgründen unverrückbar und unangreifbar fest.

Vielfältige Erfahrungen von Strafverteidigern besagen, dass sich die Einlassungen von Angeklagten und Zeugen in den gerichtlichen „tatsächlichen Feststellungen" des Öfteren unvollständig, entstellt oder schlicht falsch wiederfinden. Nicht nur Strafverteidiger wissen: Die nicht mehr angreifbaren tatsächlichen Feststellungen der Tatgerichte sind vielfach objektiv falsch, also unwahr. Im Übrigen gilt für die Beweiswürdigung durch den Tatrichter gem. § 261StGO, dass dieser „über das Ergebnis der Beweisaufnahme " „nach seiner freien, aus dem Inbegriff (?!) der Verhandlungen geschöpften Überzeugung " entscheidet.

Wo objektive Beweismittel fehlen, es also auf die subjektiven Beweismittel, die subjektive Deutung, auch die subjektive Deutung der Glaubwürdigkeit der Einlassung, für die freie Beweiswürdigung ankommt, darf von der bundesdeutsche Strafjustiz nicht erwartet werden, dass die objektive Wahrheit des Tatgeschehens festgestellt wurde, dass Wahrsprüche ergehen.

In die freie Beweiswürdigung fällt auch, ob und wie bestimmte Einlassungen des Angeklagten oder von Zeugen beurteilt werden. Bestimmten Zeugen wird von vornherein mit besonderem Misstrauen begegnet, ihre Glaubwürdigkeit bezweifelt und ihre Einlassungen werden als unzutreffend abgetan. Solches kann sowohl in allgemeiner forensischer und psychologischer Erfahrung begründet sein, es können aber auch politische Vorurteile durchschlagen.

Besonders auffällig war dies in einigen Verfahren, bei denen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) als Zeugen vernommen werden sollten oder wurden; vielfach gingen bundesdeutsche Gerichte einfach davon aus, dass diese ohnehin keine objektiven und sachdienlichen Aussagen machen würden oder gemacht haben, sodass deren Einlassungen aufgrund dieses richterlichen Vorurteils " unter den Tisch " fielen.

In diesen Zusammenhang gehört auch der unterschiedliche Umgang mit Indizien bzw. mit indirekten Beweisen, mit dem Indizienbeweis. Jedenfalls in der Bundesrepublik finden sehr oft Indizienprozesse statt und beruhen die Verurteilungen mangels hinreichender direkter Beweis auf Indizien. In der DDR wurde davon ausgegangen, dass indirekte Beweise (Beweismittel) im Unterschied zu den direkten Beweisen (Beweismitteln) solche sind, die keine direkte Information über betreffende strafrechtlich relevante Umstände geben. Aus einer hinreichenden Gesamtheit von indirekten Beweisen durfte indessen, wenn eine logische Kette derartiger indirekter Beweise vorliegt, wenn die Indizienkette lückenlos geschlossen ist, wenn jegliche andere Möglichkeit tatsächlich ausgeschlossen ist, auf das Vorliegen des strafrechtlich relevanten Vorgangs geschlossen - und ggfs. verurteilt - werden. Dem gegenüber genügt im bundesdeutschen Strafprozess aufgrund der dort herrschenden freien richterlichen Beweiswürdigung für eine Verurteilung, dass der Richter subjektiv davon überzeugt ist, dass es so war, wie er annimmt, wenn er das von ihm angenommene Tatgeschehen für wahr und zweifelsfrei hält.

Und was schließlich die Feststellung innerer Tatsachen, also hinsichtlich des Wissens und Wollens des Täters bzw. des Angeklagten, seiner Motive und Absichten, betrifft, so herrscht insoweit ohnehin krasser Subjektivismus. Der Tatrichter muss in den Urteilsgründen nicht einmal darstellen, aus welchen objektiven Tatsachen er den Schluss auf die maßgeblichen inneren Tatsachen zieht. Es genügt die schlichte Behauptung des Tatrichters, dass - nach seiner Meinung - Vorsatz oder Absicht vorgelegen haben.

Ganz in diesem Sinne wurde den wegen Rechtsbeugung verurteilten DDR-Staatsanwälten und –Richtern - auf Grund der Regelung über freie Beweiswürdigung - Rechtsbeugungsvorsatz unterstellt, anstatt ihnen einen solchen Rechtsbeugungsvorsatz, der regelmäßig gefehlt hat, zu beweisen, anstatt die für die Annahme eines Rechtsbeugungsvorsatzes maßgeblichen äußeren und inneren Tatsachen in justizförmiger Weise festzustellen.

Wir sehen also: Aus Sicht des bundesdeutschen Beweisrechts ist ein derartiges Unterstellen innerer Tatsachen, eines strafbaren Vorsatzes, auch eines Rechtsbeugungsvorsatzes, also nichts Besonderes. Die Freiheit der Beweiswürdigung des Tatrichters steht über der Wahrheit. Der Richter trifft die tatsächlichen Feststellungen, die seinen - des Öfteren bereits vorgefassten - Vorstellungen von der Sache entsprechen.

8) Die Überprüfungsmöglichkeiten im Revisionsverfahren beschränken sich demzufolge darauf, dass der Tatrichter gegenüber dem Revisionsgericht seinen Denkvorgang, seine Denkvollzüge in den schriftlichen Urteilsgründen so darstellt, dass diese nicht als offensichtlich den Denkgesetzen zuwider laufend erscheint. Es genügt dabei, dass die Schlussfolgerungen des Tatrichters als möglich, wenngleich nicht als zwingend angesehen werden können. Dies spiegelt sich augenscheinlich in der Ausdrucksweise, in den Formulierungen der Urteile der Tatrichter, namentlich der Landgerichte und der Oberlandesgerichte, wieder. Selbstverständlich haben die Richter gelernt, ihre (wirklichen oder vorgegebenen) Denkvollzüge so darzustellen, dass das Revisionsgericht daran keinen Anstoß nimmt. Sie haben es eben gelernt, Urteile revisionssicher abzusetzen.

Im Unterschied zum DDR-Strafprozess, in dem es nur ein Urteil gab, das im unmittelbaren Anschluss an die Schlussvorträge in der Beratung des Gerichts vollständig schriftlich abgesetzt und von allen Richtern unterschrieben und dann sogleich verkündet wurde, ist für das bundesdeutsche Strafverfahren charakteristisch, dass zunächst das verkündete Urteil nur mündlich begründet wird und später, oft Monate später, - sofern gegen das Urteil binnen einer Woche ein Rechtsmittel eingelegt wurde - ein für höhere Instanzen geschriebenes revisionssicheres schriftliches Urteil abgesetzt und zugestellt wird. (Übrigens: Wenn kein Rechtsmittel eingelegt wurde, ist das dann zu den Akten gebrachte und zugestellte schriftliche Urteil meist sehr dürftig und oberflächlich. Die Richter müssen sich keine Mühe machen, ein Urteil schriftlich zu begründen, gegen das kein Rechtsmittel eingelegt wurde.) Beide Urteilsgründe differieren nicht selten erheblich; die mündliche Urteilsbegründung - aus dem Stand - enthält, abgesehen von oft laxen Formulierungen, mitunter abwertende und diffamierende Äußerungen und vielfach schlichte Unterstellungen. In den schriftlichen Urteilsgründen für die höhere Instanz wird dann sorgfältiger, revisionssicher, formuliert.

Außerdem spricht man - nicht ohne Grund - auch von einer dritten (geheimbleibenden) Urteilsbegründung mit den wirklichen, den eigentlich maßgeblichen Urteilsgründen. Diese "dritte" Urteilsbegründung, die eigentliche, enthält die unausgesprochenen maßgeblichen Erwägungen und Gründe des Gerichtsurteils, die im Kopf der Richter bleiben und, jedenfalls offiziell, nicht geäußert werden. Mit Wahrheitserforschung oder Feststellung der objektive Wahrheit hat dies wenig zu tun.

Daran zeigt sich ein riesiger Unterschied gegenüber der Abfassung der Urteile in der DDR

In der Bundesrepublik werden die Urteile für höhere Instanzen, insbesondere für das Revisionsgericht, geschrieben; diese höheren Richter sind die Adressaten der Urteile. Daher sind solche Urteile für juristische Laien auch kaum verständlich. Und es ist ja auch für die bundesdeutsche Justiz völlig belanglos, ob der Angeklagte das Urteil versteht oder nicht. Demgegenüber wurden die Urteile in der DDR für den Angeklagten und die Öffentlichkeit geschrieben. Sie waren daher weniger juristisch klausuliert formuliert.

So wie die Urteile in der Bundesrepublik mit Blick auf die höhere Instanz, also mit "Blick nach oben", abgefasst, abgesetzt werden, orientiert sich - nachvollziehbar - die gesamte Rechtsprechung (und bereits die juristische Ausbildung) maßgeblich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung, an der "herrschenden Meinung" (h. M.). Das gilt sowohl im Straf- , wie auch im Zivilrecht. Es erscheint daher nicht abwegig, - mit Brehm in der Festschrift für Ekkehard Schumann - davon zu sprechen, dass "der Richter der unteren Instanzen nicht die Frage (stellt), was Recht ist, ...sondern fragt, ob sein Urteil in der oberen Instanz halten wird..... Das bedeutet, dass es die Rolle des" - NB unabhängigen !! - "Richters verlässt und wie ein untergeordneter Beamter handelt, den vorrangig interessiert, was wohl der Vorgesetzte denkt,...",so dass von "Beamtengerichten" zu sprechen sei...

9) Auf Grund des vorstehend Dargestellten geht es bei der gegen betreffende Urteile eingelegten Revision ganz wesentlich um Verfahrensrügen, insbesondere um Aufklärungsrügen oder Rügen fehlerhafter Behandlung von Beweisanträgen usw. , also überhaupt nicht direkt um die Frage, inwieweit das angegriffene Urteil auf wahren oder unwahren Tatsachenfeststellungen beruht, ob es sachlich richtig oder falsch ist. Das ist, wie bereits betont, mit der Revision nicht angreifbar und bleibt im Revisionsverfahren außen vor, was sowohl für DDR-Juristen wie auch für juristische Laien nicht nachvollziehbar ist.

Weiter: Als eine sichere Erfahrung darf angesehen werden, dass Beweisanträge der Verteidigung (Beweisanträge der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung sind ohnehin ganz selten) von den Gerichten nach allen Regeln der Kunst möglichst abgelehnt werden, damit das Gericht sich nicht mit den unter Beweis gestellten Tatsachen und den dazu angebotenen Beweismitteln im Urteil auseinandersetzen muss. Es genügt und ist dem Gericht genehmer, Beweisanträge in einer Art und Weise der Begründung abzulehnen, die vom Revisionsgericht voraussichtlich akzeptiert wird. Dazu gehört vor allem die Behauptung der Bedeutungslosigkeit des angebotenen Beweises, die behauptete Unerreichbarkeit von Zeugen oder Beweismitteln, sowie die - für das Gericht mitunter gefährliche - Wahrunterstellung, wodurch vermieden und ausgeschlossen wird, dass das betreffende Beweismittel vor Gericht gebracht werden bzw. der betreffende Zeuge gehört werden muss. Auch die Ablehnung von Beweisanträgen mit revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Begründungen haben die bundesdeutschen Richter gelernt, was überdeutlich an der floskelhaften Verwendung bestimmter Stereotype in den betreffenden Gerichtsbeschlüssen abzulesen ist. Besonders leicht fällt den Gerichten die Ablehnung von Beweisanträgen, wenn diesen ein formeller Mangel anhaftet. Der formelle Mangel eines Beweisantrages siegt im bundesdeutschen Strafprozess über die Wahrheit, über das Erfordernis der Feststellung der Wahrheit.

Jedenfalls zeigt sich sehr deutlich: Wenn das Gericht ein gewisses Beweisthema oder gewisse Beweismittel nicht haben, nicht in die Beweisaufnahme einführen möchte, überbürdet es der Verteidigung die Beweislast, indem es die Verteidigung nötigt, Beweisanträge zu stellen. Wir sehen hier eine gewisse Ähnlichkeit zum bundesdeutschen Zivilprozess, wo die beweispflichtige Partei die Beweislast trägt und im Falle der Unfähigkeit der Beweisführung allein aus diesem Grunde unterliegt, also nicht aus substanziellen Gründen des Rechtsstreites, - übrigens auch im krassen Gegensatz zum DDR-Zivilprozess, wo das Gericht verpflichtet war, die Wahrheit festzustellen.

Besonderer Raum für subjektive Deutungen findet sich dort, wo größere komplexere Tatsachen zu würdigen sind, und zwar ganz besonders bei politischem, sozialem und historischem Hintergrund des Tatgeschehens. Hier kommt dann des öfteren noch die entgegengesetzte Auffassung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft einerseits und die des Angeklagten hinzu.

10) Das Vorurteil der Gerichte gegenüber betreffenden Angeklagten (z. B. Kommunisten oder ihnen Nahestehende oder DDR-Bürger) ist unübersehbar. Die Vorurteile von Richtern, die Vorverurteilung des Angeklagten, ist des öfteren - keineswegs nur in politischen Strafsachen oder solchen mit politischem Einschlag - so offensichtlich, dass die ganze Hauptverhandlung, da das Urteil augenscheinlich bereits feststeht, nur noch als Theater, als Farce erscheint.

Mitunter sind Äußerungen von Richtern in diesem Sinne verräterisch, so wenn ein Vorsitzender einer großen Strafkammer des Landgerichts Berlin in einem Strafverfahren gegen DDR - Hoheitsträger erklärte: "Wir wollten verurteilen und wir haben verurteilt!"

Aber nach den bundesdeutschen Vorschriften und Praktiken ist eine derartige Voreingenommenheit von Richtern nicht ernstlich angreifbar - auch nicht mit Befangenheitsanträgen.

Diese Richter bleiben trotz entsprechender Befangenheitsanträge regelmäßig auf ihrem Richterstuhl und verurteilen den Angeklagten, in dem sie einen politischen Gegner sehen, erbarmungslos.

11) Nicht zuletzt darf im Hinblick auf die Frage der Beweisführung und die Erforschung der Wahrheit nicht übersehen werden, dass in deutlichem Unterschied zur DDR die kriminalistische, namentlich kriminaltechnische Arbeit, insbesondere auch die kriminalistische Arbeit am Tatort, die Spurensuche und -sicherung nach den Grundsätzen der Trassologie (Spurenkunde) und die kriminalistische Kleinarbeit, auch unter dem Aspekt des modus operandi, die gebotenen Maßnahmen zur Beweissicherung (zur Sicherung von Beweismitteln) in der Bundesrepublik sehr häufig unzureichend und mangelhaft ist. Anschaulich zeigte sich dieser Unterschied, als Ende 1990 und im Jahre 1991 von den Untersuchungsorganen der DDR noch nicht abgeschlossen Vorgänge von bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden weiterzuführen waren. Sie fanden gerade auch in kriminalistischer Hinsicht gründlich bearbeitete Vorgänge vor und waren erstaunt über die sorgfältigen Schlussberichte der Untersuchungsorgane der DDR. Eine Staatsanwältin erklärte gegenüber dem Autor dieses Beitrages anerkennend: "Ihre Kriminalisten müssen aber viel Zeit gehabt haben !"

Dem gegenüber ist heutzutage nur zu oft kriminalistisch unzureichende Arbeit, so gerade auch ungenügende Tatortarbeit, fehlende Beweissicherung und ähnliche "kriminalistische Schlamperei" zu beobachten. Die Folge sind mitunter unbegründete Freisprüche oder Verurteilungen ohne genügende objektive Beweise, mehr aufgrund der allgemeinen Intuition des Richters.

Das alles ist nicht zufällig.

In der DDR stand bereits in den 50er Jahren die kriminalistische Ausbildung, auch von Staatsanwälten und Richtern, hoch im Kurse. An der Offiziersschule in Aschersleben erhielten die künftigen Kriminalisten eine gediegene Ausbildung; Staatsanwälte der DDR waren des öfteren in dieser Bildungsstätte zum Zwecke der Fortbildung auf dem Gebiete der Kriminalistik. An der Humboldt-Universität zu Berlin bestand bereits in den 50er Jahren ein Kriminalistisches Institut, aus dem sich später eine Fachrichtung Kriminalistik und dann eine eigenständige Sektion bzw. Fakultät Kriminalistik mit Außenstellen an anderen juristischen Fakultäten herausbildete. Namentlich in Berlin und Jena, wo Justizjuristen ausgebildet wurden, gehörte das Fach "Kriminalistik" nach dem Studienplan zum obligatorischen Bestand der juristischen Ausbildung.

Das war - auch im Vergleich zur Bundesrepublik - einmalig. Deshalb wurde von bundesdeutschen Fachleuten die Ansicht vertreten, dieses Unikat auch nach dem Beitritt der DDR, nunmehr für die Bundesrepublik, zu erhalten. Dass dies jeglicher Vernunft zuwider nicht geschah, dass vielmehr diese Kriminalistik alsbald "abgewickelt" wurde, hatte ausschließlich politische Gründe. Es war natürlich und selbstverständlich, dass die Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität - wie alle Forschungs- und Lehrstätten in der DDR - enge Verbindung zur jeweiligen Praxis hielt, also zu den unter Aufsicht des Staatsanwalts handelnden Untersuchungsorganen der DDR gem. § 88 Abs.2 StPO/DDR, auch zu denen des Ministeriums für Staatssicherheit. Nur wegen dieser "Verquickung" - also nur aus politischen Gründen - musste die Sektion Kriminalistik, und damit eine für die Kriminalitätsbekämpfung wertvolle Lehr- und Forschungsstätte beseitigt werden - mit Folgen, die wir heutzutage in den Strafverfahren tagtäglich beobachten können.

12) Auf noch einen Gesichtspunkt, der für die Erforschung der Wahrheit vor Gericht bedeutsam ist, muss hingewiesen werden. Es bedarf keiner näheren Begründung, dass die zuverlässige Feststellung des Tatgeschehens um so schwieriger wird, je größer der zeitliche Abstand zwischen der Tat und der Beweisaufnahme in der maßgeblichen gerichtlichen Hauptverhandlung ist. In der DDR wurden nicht nur die Ermittlungen zügig durchgeführt und innerhalb entsprechender gesetzlicher Fristen (§ 103 StPO/DDR) zum Abschluss gebracht, auch die gerichtlichen Strafverfahren lagen innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 203 Abs.3 StPO/DDR).

Daher war es auch aus diesem Grunde eher möglich, die Wahrheit festzustellen als heutzutage, wo oft Jahre vergehen, bis über den Tatvorwurf vor Gericht verhandelt wird und deshalb gar nicht so selten auch eine Verletzung des Menschenrechts auf Einhaltung einer angemessenen Frist (Art. 6 Abs.1 EMRK) zu rügen ist. (Dass, wie bei den gegen Ausländer verübten Verbrechen in Rostock-Lichtenhagen acht Jahre ins Land gingen, bis die gerichtliche Verhandlung - mit entsprechenden uns durch die Medien zur Kenntnis gebrachten Schwierigkeiten - stattfand, wäre in der DDR absolut ausgeschlossen gewesen.)

Auch folgender offensichtlicher Unterschied in Gesetzgebung und Praxis des Strafverfahrens hat seine Bedeutung und Auswirkung auf die Erforschung der Wahrheit: In der DDR hatte das Untersuchungsorgan unter der Aufsicht des Staatsanwalts und unter seiner Kontrolle in hohem Masse eigenverantwortlich zu arbeiten, wobei die am Straftatbestand orientierte Ermittlungstätigkeit maßgebend war; umgekehrt verlangte und erwartete der Staatsanwalt vom Untersuchungsorgan eine vollständige Aufklärung des Falles. Dass schwere Verbrechen unaufgeklärt blieben, wurde in der DDR nicht die geduldet. Mit aller kriminalistisches Meisterschaft und unter Konzentration aller verfügbaren Kräfte wurde schließlich ganz überwiegend eine zuverlässige Aufdeckung und Aufklärung, besonders der schwerer Verbrechen gewährleistet. Die heute so oft zu erlebende Praxis, dass die Kriminalpolizei dem Staatsanwalt einen Schlussbericht vorlegt, in dem vieles offen bleibt, war in der DDR unvorstellbar.

Aufgrund der guten Arbeit der Untersuchungsorgane konnte der Staatsanwalt in der DDR in aller Regel auch hieb- und stichfeste Anklagen erheben. Freisprüche waren aus all diesen Gründen in der DDR ganz selten, ganz im Gegensatz zu der schon früher und auch heute in der Bundesrepublik zu machenden Erfahrung. Der geringe Anteil (Prozentsatz) an Freisprüchen in der DDR hatte - wie uns heutzutage deutlich wird - seinen Grund in der guten und sorgfältigen Arbeit der Untersuchungsorgane und der Staatsanwaltschaft der DDR. Umgekehrt erklärt sich der größere Anteil von Freisprüchen in der Bundesrepublik, wie wir so oft erlebten und erfahren, darin, dass die Ermittlungen mangelhaft waren und vieles offen ließen.

Nicht wenige Anklagen stehen heute - ganz im Unterschied zur DDR - auf tönernen Füßen. Nicht nur von der Staatsanwaltschaft vorbereitete vorformulierte Strafbefehle erscheinen heutzutage in aller Regel als "Angebote" einer einfachen Verfahrenserledigung ohne Hauptverhandlung an den Angeklagten; er kann ja Einspruch einlegen. Auch Anklagen sehen des öfteren so aus, als wolle die Staatsanwaltschaft, auch um ihre "Reste aufzuarbeiten", einen "Versuchsballon" starten; vielleicht nimmt das Gericht die Sache an und womöglich verläuft die Hauptverhandlung bei einem nicht verteidigten Angeklagten erwartungsgemäß.

13) Am krassesten zeigt sich der offene Verzicht auf die Erforschung bzw. Feststellung der Wahrheit im bundesdeutschen Strafverfahren in der zunehmend verbreiteten, auf keiner gesetzlichen Grundlage geübten Praxis des "deals", eines "Handels mit der Gerechtigkeit". Nach wie vor kennt die bundesdeutsche Strafprozessordnung keine gesetzliche Grundlage für diese inzwischen auch vom BGH anerkannte und sanktionierte verbreitete Praxis - auch wenn sie mitunter auf § 153 a StPO, also eine Verfahrenseinstellung mit "Gegenleistung" "gestützt", wird.

Der "deal" im Strafprozess kam vor Jahrzehnten aus den USA in die Bundesrepublik, anfangs unter vielfältiger Kritik; inzwischen ist der "deal" salonfähig. Der "deal" begann seinen Lauf in der bundesdeutschen Strafprozesspraxis bei umfänglichen Wirtschaftsstrafverfahren. Aufgrund mangelhafter Ermittlungstätigkeit und angesichts guter (auch gutbezahlter) Verteidiger hatte die Anklagebehörde in der Hauptverhandlung einen schlechten Stand und ihre Schwierigkeiten mit der Vertretung der Anklage. Die Verfahren zogen sich hin. Auch weil diese Angeklagten im Unterschied zu den gewöhnlichen kriminellen Angeklagten ihrem sozialen Status nach dem Gericht und dem Staatsanwalt nahe standen, bot die Staatsanwaltschaft eine Verständigung über die weitere Verfahrensweise, ein "agreement", einen "deal" an, der je nach dem Stand des Verfahrens und der Beweislage mehr oder weniger weites Entgegenkommen signalisierte.

Dem Typus nach wurde angeboten: Wenn der angeklagte Wirtschaftsmanager ein bestimmtes Teilgeständnis abgab, werde die Anklage demgemäss reduziert, sodass eine zumutbare Erledigung des Verfahrens, sei es eine Einstellung gem. § 153 a StPO (gegen Zahlung eines Geldbetrages),sei es eine Verurteilung zu einer zugesagten Geldstrafe oder zu einer zur Bewährung aussetzbaren Freiheitsstrafe zustande komme.

Die Wahrheit über das Tatgeschehen hatte schon längst dem "Handel mit der Gerechtigkeit" den Vorrang gelassen. Wahrheitsfeststellung, an sich ein Gebot der Gerechtigkeit, war - infolge des an sich unzulässigen und rechtlich unwirksamen - Verzichts, da auf Wahrheit nicht verzichtet werden kann, von beiden Seiten gegenstandslos – überflüssig geworden. Auf sie war - wenngleich rechtlich unzulässig, weil darauf nicht verzichtet werden kann - als Gegenstand eines Handels, eines Geschäfts, von beiden Seiten längst verzichtet worden. Denn „deal" und Wahrheitsfeststellung schließen sich einander aus.

Solches kannte das Strafprozessrecht der DDR nicht und solches wäre mit der Wirklichkeit des Strafverfahrens in der DDR absolut unvereinbar, unmöglich gewesen. In der DDR war die Wahrheit im Strafprozess kein Gegenstand für irgendwelcher Geschäfte, irgendwelchen Handels.

14) Im Gegensatz zur Theorie und Praxis des bundesdeutschen Strafprozesses war das Beweisrecht und die beweisrechtliche Praxis in der DDR völlig anders ausgestaltet. Zum einen wird, wie bereits erwähnt, von der prinzipiellen Erkennbarkeit auch des strafrechtlich relevanten Vorganges ausgegangen und zum andern dem gemäß die Erforschung der materiellen objektive Wahrheit zur zentralen Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden gemacht (siehe oben §§ 2,8,22,101 und 222 StPO/DDR). Wissenschaft und Praxis in der DDR schenkten diesen Fragen höchste Aufmerksamkeit.

In diesem Sinne hat das Oberste Gericht der DDR zum Zwecke der Erhöhung der Qualität der Beweisführung besondere Richtlinien erlassen. In diesem Rahmen kann selbstverständlich der Inhalt dieser Richtlinie nicht mitgeteilt werden. Es darf jedoch auf einige Gesichtspunkte hingewiesen werden.

Eindeutig und unmissverständlich ist - bereits in der Präambel - ausgesagt: Im Zweifel ist zu Gunsten des Beschuldigten oder des Angeklagten zu entscheiden. Richterliche Unabhängigkeit und Wissenschaftlichkeit der Beweisführung werden als einander bedingend angesehen. Sie gewährleisten die objektive und allseitige Feststellung der Wahrheit über die Straftat durch gesetzliche und unvoreingenommene Beweisführung. Ausgehend vom § 223 StPO/DDR , der vorschreibt, allen Beweisanträgen stattzugeben, wenn die beantragte Beweiserhebung für die Feststellung der Wahrheit erheblich sein kann, wird bei der inhaltlichen Bestimmung der Beweisführungspflicht des Gerichts dieses u. a. ausdrücklich verpflichtet, "Verteidigungsvorbringen zu prüfen und sich auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen damit auseinander zu setzen". Nur unter sehr engen substanziellen Voraussetzungen war die Ablehnung eines Beweisantrages zulässig (§ 223 Abs. 2 StPO/DDR). Hier finden wir keine formellen Voraussetzungen, Verteidigungsvorbringen " abzuwürgen ".

Hinsichtlich des Umgangs mit Beweisanträgen, darunter entsprechender Ablehnungsbeschlüsse, schreibt die Richtlinie vor, dass die Gründe so abzufassen sind, dass seine inhaltlichen Nachprüfung der für die Ablehnung maßgeblichen Gesichtspunkte erfolgen kann. Ganz deutlich wird also nicht auf formelle Mängel oder Gründe bzw. Begründungsmöglichkeiten abgestellt, sondern auf die inhaltliche Berechtigung der Ablehnung.

Nach der DDR-Beweisrichtlinie wäre zumindest ein großer Teil der Ablehnungen von Beweisanträgen, wie wir sie vor bundesdeutschen Gerichten erleben, unmöglich. In der Beweisrichtlinie werden Anforderungen an die Vorbereitung der gerichtlichen Beweisaufnahme gestellt, so hinsichtlich der Auswahl der Beweismittel. Hierzu gehört auch eine auf das Gesetz gestützte Verpflichtung des Gerichts, sich die für die Verhandlung und Entscheidung erforderliche Sachkunde, gegebenenfalls durch Konsultationen zu verschaffen. In der DDR sollte das Gericht also nicht unvorbereitet und nicht ohne die gebotene Sachkunde in die Verhandlungen gehen.

Im Unterschied dazu hatten wir in zahlreichen Verfahren vor bundesdeutschen Gerichten feststellen müssen, dass sich die betreffenden Gerichte mit ihnen völlig fremden Verhältnissen und Vorgängen, sowie mit einer ihnen fremden Rechtsmaterie, überhaupt nicht oder nicht hinreichend vertraut gemacht hatten. Dass infolgedessen die betreffenden Entscheidungen des Öfteren an der Wahrheit vorbeigingen, kann nicht verwundern.

15) Sehr ausführlich wird in dieser Richtlinie die Durchführung der gerichtlichen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung behandelt. Es wird festgelegt, die Beweisaufnahme auf die für die Prüfung und Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit der Handlungen erforderlichen Tatsachen zu erstrecken. Damit wird für Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme das materielle Strafgesetz mit den betreffenden Tatbestandsmerkmalen zum maßgeblichen Kriterium der Beweisaufnahme gemacht. Dem entsprach das Gebot der "tatbestandsmäßigen Ermittlung" im Ermittlungsverfahren, also einer auf den gesetzlichen Straftatbestand ausgerichtete Ermittlung.

Demgegenüber ist für das bundesdeutsche Strafverfahren, insbesondere für die Praxis der Polizei, vielfach auch der Staatsanwaltschaft, charakteristisch, einen Sachverhalt zu ermitteln und erst danach (durch die Staatsanwaltschaft) zu prüfen, inwieweit dieser unter ein Straftatbestand subsumiert werden kann. Dieselbe Denk- und Vorgehensweise spiegelt sich in den gerichtlichen Urteil wider. Sie enthalten nicht selten weitschweifige allgemeine Darstellungen eines Sachverhalts - als tatsächliche Feststellungen des Tatrichters - und danach, vielfach recht summarisch, eine strafrechtliche Beurteilung bzw. Würdigung. Namentlich in den hier relevanten Strafverfahren vor bundesdeutschen Gerichten war des Öfteren festzustellen, dass entweder diese strafrechtlich erheblichen Tatsachen nicht aufgeklärt wurden, mitunter aber strafrechtlich völlig irrelevante Beweiserhebungen - mit offensichtlich verfahrensfremden Zwecken, so der Diskriminierung der angeklagten DDR-Bürger - stattfanden.

Die Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR beschäftigt sich eingehend auch mit der schwierigen Frage der Prüfung von Geständnissen und Widerrufen solcher. Auch insoweit dominiert das Erfordernis der inhaltlichen Prüfung - und nicht etwa rein formelle Gesichtspunkte. Auch die beweisrechtlich relevante Mitwirkung von Kollektivvertretern in der gerichtlichen Beweisaufnahme (gem. §§ 4, 24, 36,53 und 227 StPO/DDR) - eine demokratische Form der Beteiligung der Bürger an der Strafjustiz, die die Bundesrepublik nicht kennt - wird beweisrechtlich präzise geregelt. Gemäß den gesetzlichen Vorschriften wird darauf abgestellt, dass die Aussagen von Kollektivvertretern in der Hauptverhandlung ein zulässiges Beweismittel sein können, so weit sie die Mitteilung von Tatsachen zum Inhalt hatte (§ 24 Abs. 2 StPO/DDR). Der Kollektivvertreter hat u. a. darzulegen, von welchen Umständen das Kollektiv bei der Beratung und Bildung seiner Auffassungen ausgegangen ist, damit das Gericht deren Begründetheit beurteilen kann. Eventuelle Widersprüche zwischen dem Protokoll über die Kollektivberatung und den mündlichen Aussagen des Kollektivvertreters waren zu klären.

16) Von besonderer Bedeutung ist, dass - anders als in der Bundesrepublik - in der DDR im Rechtsmittelverfahren (sei es auf Grund des Protestes des Staatsanwalts oder aufgrund der Berufung des Angeklagten) die Beweisaufnahme der ersten Instanz selbst und unmittelbar sowie in vollem Umfang überprüft werden konnte, und zwar entweder unter dem Gesichtspunkt ungenügender Aufklärung oder dem unrichtiger Feststellung des Sachverhalts (§ 291 Nr. 1 StPO/DDR). Auch konnten im Rechtsmittelverfahren neue Tatsachen vorgebracht werden (§ 288 Abs. 5 StPO/DDR).

Da das DDR-Strafprozessrecht eine Beschränkung des Rechtsmittelverfahrens auf Rechtsfragen wie im bundesdeutschen Revisionsverfahren nicht kannte, konnte ausgeschlossen werden, dass objektiv falsche Feststellungen, also unwahre Tatsachen, unkorrigiert fortbestehen bleiben. Aus diesem Grunde bot das DDR Strafprozessrecht weitergehende Möglichkeiten, zumindest über das Rechtsmittelverfahren, zu wahren Erkenntnissen über den strafrechtlich relevanten Sachverhalt zu gelangen.

Resumierend darf ausgesprochen werden:

Unbeschadet bestimmter in jedem Justizwesen auftretender Mängel und Schwächen im einzelnen war das Beweisrecht des Strafprozesses der DDR von seiner Anlage und Struktur her dem bundesdeutschen, trotz dessen hohen Anspruchs auf Rechtsstaatlichkeit, deutlich und prinzipiell überlegen.

Es gewährleistete - ganz anders als das bundesdeutsche Strafprozessrecht - in hohem Masse die Feststellung wahrer Erkenntnisse über das Tatgeschehen als Grundlage des gerichtlichen Strafurteils.

Prof. Dr. Erich Buchholz, Berlin

Cuba

Fidel Castro: Politische Erklärung, 22. April 2002

Vorbemerkung der Redaktion: Das Gipfeltreffen in Monterrey/Mexiko (Internationale Konferenz der Vereinten Nationen über Entwicklungsfinanzierung) bereitete der mexikanischen Regierung nicht wenig Kopfzerbrechen, denn die Welt hat Herren und diese sitzen in den USA. Wenn die nicht mit Fidel Castro an einem Tisch sitzen wollen, versuchen ihre Marionetten (wie z.B. Herr Fox in Mexiko) selbstverständlich, dies zu deren Zufriedenheit zu organisieren – und zwar hinter den Kulissen. Dabei haben sie sich aber leider bei Fidel Castro in der Adresse geirrt, denn er legte den gesamten miesen Vorgang vor der Weltpresse offen – dass das Ganze bei uns annähernd totgeschwiegen wurde, verwundert nicht (nach unserer Information erschien der Abdruck des Telefonats zwischen Fox und Castro bisher nur im Rundbrief der Freundschaftsgesellschaft BRD-Cuba, Gruppe Essen; von dort haben wir dankenswerter Weise auch den Text zum Nachdruck bekommen). Wir bringen den Text aus Platzgründen gekürzt, das Telefongespräch natürlich aber komplett. Wer den Anfang des Textes nicht vollständig versteht, sei gebeten, weiter zu lesen – die Fragen beantworten sich im Laufe des Textes von selbst. Im Anschluss findet Ihr die Rede Fidel Castros bei besagter Konferenz in Monterrey. (D. Red.)

POLITISCHE ERKLÄRUNG DES VORSITZENDEN DES STAATSRATES DER REPUBLIK KUBA:

Meine Weigerung, die Beweise zu den Ereignissen in Monterrey beizubringen, die mich zwangen, mich noch am selben Tag meiner Rede auf dem Gipfeltreffen zurückzuziehen, war darauf zurückzuführen, daß Herr Castañeda in seinem dreisten Wagnis den Präsidenten Vicente Fox mit hineingezogen hatte. Ich konnte sie nicht vorbringen, ohne dabei den mexikanischen Staatschef mit darin zu verwickeln. (...)

Anfang dieses Jahres kommt es auf Initiative Mexikos unter dem Vorwand der Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu einem Besuch einer hochrangigen Delegation in Kuba mit Fox an der Spitze. Man näherte sich der Konferenz in Monterrey. Wie bereits Reagan kurz vor dem im Oktober 1981 in Mexiko stattfindenden Nord-Süd-Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs verfuhr, drohte auch Bush mit Abwesenheit für den Fall der Teilnahme Kubas. (...) Wir wußten recht wohl, daß eines der Ziele (des Besuches; d.Red.) darin bestand, uns darum zu bitten, von unserer Teilnahme Abstand zu nehmen. Sie wagten es nicht. (...)

Der Austausch mit Fox und anderen Mitgliedern der Delegation zu verschiedenen Aspekten verlief ernst und produktiv. (...) An jenem Nachmittag fand um 16.00 Uhr ein Gespräch zwischen unserem Minister für Auswärtige Angelegenheiten und Herrn Castañeda statt. Jener wagte nicht einmal, mit Felipe das Vorfeld des Genfer Antikubaprojektes zu diskutieren. Das Gipfeltreffen von Monterrey erwähnt er nicht und verspricht, in Genf keinerlei Antrag gegen Kuba weder zu fördern, noch zu unterstützen.

Um 20.00 Uhr Staatsempfang im Palast der Revolution; 20.53 Uhr Privatgespräch mit Präsidenten Fox in meinem Amtsraum. Als wir nach mehreren anderen Bemerkungen das Thema Genf ansprachen, versicherte er mir wörtlich, Mexiko werde nie etwas tun, was Kuba zum Schaden gereichen könne, denn es bestünden langjährige Beziehungen, die man keinesfalls beeinträchtigen wolle. (...)

Doch dieser angenehme Eindruck hielt nicht lange an.

Castañeda gab sich rätselhaften und seltsamen Erklärungen hin: „Die Beziehungen Mexikos zur kubanischen Revolution gibt es nicht mehr; jetzt sind es die Beziehungen zur Republik Kuba..."; „die mexikanische Haltung von heute ist nicht die Haltung der Vergangenheit" usw. (...) In den Nachtstunden jenes Tages kommt es zu einem schweren Zwischenfall, der nur beigelegt werden konnte durch die von der mexikanischen Regierung erbetene ernste und effiziente Kooperation Kubas in den frühen Morgenstunden des 1. März, ohne den Eindringlingen (in die Botschaft) auch nur einen Kratzer zuzufügen. Lügen und plumpe Verleumdungen werden verbreitet. Es wird sogar behauptet, dies alles sei auf eine Provokation Kubas zurückzuführen gewesen. Der März hatte begonnen. Das Gipfeltreffen von Monterrey war in nächste Nähe gerückt.

Meine Entscheidung, ob ich an Treffen dieser Art teilnehmen werde oder nicht, gebe ich niemals bekannt. Die Gründe liegen auf der Hand. Habe ich die Entscheidung getroffen, benachrichtige ich erst in letzter Minute die dafür zuständigen Personen. Es gibt sie sogar, die ohne jegliche Vorabinformation erscheinen und nie Schwierigkeiten mit den Gastgebern hatten. Dieses Mal, nachdem die Entscheidung annähernd drei Tage vorher getroffen worden war, informierte ich meine Ankunft 24 Stunden im voraus, am 19. März. (...)

Die Weltlage ist heute außerordentlich ernst und komplex. Die Konferenz befaßte sich mit einem Thema von lebenswichtiger Bedeutung für alle Länder der armen und ausgebeuteten Welt. Daran teilzunehmen war mein gutes Recht und ich entschied mich dazu. Ich wußte recht wohl, daß, sobald die Mitteilung über meine Teilnahme erfolgt war, es keine Minute dauern würde, bis der Präsident der Vereinigten Staaten informiert wäre und auf Mexiko unvermeidlichen Druck ausüben würde. Ich wollte ihnen dafür nicht allzu viel Zeit lassen. Ich verfaßte ein kurzes Schreiben und wies unseren Botschafter an, dieses im Amt des Präsidenten von Mexiko um 19.00 Uhr kubanischer Zeit, 18.00 Uhr mexikanischer Zeit, zu übergeben. (...) Der Inhalt meines Schreibens lautete wörtlich:

„Havanna, den 19. März 2002. Werter Herr Präsident!

Erneut las ich aufmerksam Ihr liebenswürdiges Schreiben vom 28. Januar dieses Jahres, in dem Sie mich zur Teilnahme an der Internationalen Konferenz der Vereinten Nationen über Entwicklungsfinanzierung einladen, die in Monterrey stattfinden wird. Bereits vorher hatte ich am 21. Dezember 2001 die Einladung der Botschafter Shamshad Ahmad und Ruth Jacoby, Kopräsidenten des Vorbereitungskomitees der Vereinten Nationen, erhalten.

Mein enormer Arbeitsumfang der letzten Wochen erlaubte mir nicht, die Sicherheit der Teilnahme an dieser Konferenz zu haben. Das bekümmerte mich stark Mexiko gegenüber, Durchführungsort dieses bedeutenden Treffens, sowie den Vereinten Nationen gegenüber, die diesem eine so hohe Bedeutung beimessen. Daher habe ich mich zu einer zusätzlichen Anstrengung und Teilnahme an dieser Konferenz entschlossen, sei es auch nur die minimal mögliche Zeit, was ich an erster Stelle Ihnen hiermit gern mitteile.

Ich hoffe, mit konstruktivem Geist zum Erfolg dieser Konferenz beitragen zu können, der Mexiko angestrengte Bemühungen angedeihen ließ. Werter Herr Präsident Fox, ich wünsche Ihnen Erfolg und versichere Sie meiner Freundschaft und persönlichen Achtung.

Fidel Castro Ruz"

Die Mitteilung über die Kürze meines Aufenthalts bedeutete ganz klar, daß ich mich ausschließlich auf die zwei Tage der Konferenz beschränken würde – diese war in der Tat meine Absicht – und kein weiteres zusätzliches Programm in Mexiko absolvieren würde. (...)

Um etwa 23.00 Uhr kubanischer Zeit wird in meinem Büro ein Anruf aus Mexiko erhalten mit der Benachrichtigung, daß Präsident Fox mich so dringend wie möglich zu sprechen wünscht. Da ich mich nicht in meinem Büro befand, wird darum gebeten, den Anruf etwas später zu wiederholen. Um 23.28 Uhr wird der Anruf aus Mexiko wiederholt. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit mehreren Genossen in einem kleinen Salon unweit meines Büros versammelt. Der Anruf um diese Zeit machte mich mißtrauisch. Wie seltsam, wo sich doch der Präsident früh zur Ruhe begibt! Der Ton verriet Dringlichkeit. Ich hatte bereits keine Zweifel mehr. Ich erhob mich, begab mich in mein Büro und bat, mich mit dem Präsidenten Fox zu verbinden. Es kam zu einem ungewöhnlichen Dialog, den ich so wiedergebe, wie er aufgenommen wurde.

Fidel: Hallo, Herr Präsident, wie geht es Ihnen?

Fox: Fidel, wie geht es dir?

Fidel: Sehr gut, sehr gut, vielen Dank; und Ihnen?

Fox: Das hört man gern! Hör‘ mal, Fidel, ich ruf‘ dich an wegen der Überraschung, die es für mich war, als ich vor nur ein paar Stunden von deinem beabsichtigten Besuch hier in Mexiko erfuhr. Zuerst und vor allem anderen möchte ich dir sagen, daß dieses hier ein Privatgespräch zwischen dir und mir sein sollte. Bis du einverstanden?

Fidel: Ja, einverstanden. Sie haben mein Schreiben erhalten, nicht wahr? Ich sandte es ihnen ...

Fox: Ja, ich habe dein Schreiben vor knapp zwei Stunden erhalten, und deshalb rufe ich jetzt an.

Fidel: Ach so; mir hatte man gesagt, Sie gingen früh schlafen, und so sandten wir das Schreiben zeitig.

Fox: Ja, ich gehe früh schlafen, doch das hat mich wach gehalten.

Fidel: Was Sie nicht sagen!

Fox: Nein, ich erhielt es... Hier ist es jetzt kurz vor 22.00 Uhr; ich erhielt es um 20.00 Uhr, während ich mit Kofi Annan zu Abend aß.

Fidel: Aha!

Fox: Doch schau her, Fidel, an erster Stelle spreche ich als Freund zu dir.

Fidel: Ja, Sie wenden sich zuerst als Freund an mich; ich hoffe, Sie sagen nicht, daß ich nicht kommen soll.

Fox: (lacht) Nun also, laß mich dir etwas sagen und dann sehen, was du dazu meinst.

Fidel: Ich höre, doch ich sage es Ihnen im voraus. Also gut.

Fox: Wie bitte?

Fidel: Ich höre, doch ich sage es im voraus.

Fox: Nun, hör‘ mich erst einmal an. Hör‘ mich erst einmal an.

Fidel: Ja.

Fox: Ja, als Freund. Mit dieser Überraschung in letzter Minute bereitest du mir tatsächlich eine ganze Anzahl von Problemen.

Fidel: Wieso?

Fox: Probleme der Sicherheit, Probleme der Betreuung.

Fidel: Also das ist für mich nicht von Bedeutung. Das beunruhigt mich nicht, Herr Präsident. Es scheint, Sie kennen mich nicht.

Fox: Das beunruhigt dich nicht?

Fidel: Nein, nicht im geringsten. Ich habe keine 800 Mann Begleitung wie Herr Bush.

Fox: Doch es ist nicht unbedingt eine Haltung unter Freunden, in letzter Minute zu avisieren, daß du hier erscheinen wirst.

Fidel: Ja, aber ich gehe auch wie kein anderer viele Risiken ein, und das wissen Sie recht gut.

Fox: Nun, du hättest je einem Freund vertrauen und mich etwas früher wissen lassen können, daß du vorhattest zu kommen. Das, so glaube ich, wäre für beide viel besser gewesen. Doch schau, ich weiß voll und ganz, daß du nicht nur das Recht dazu hast, sondern, wenn es dir nicht möglich ist, mir als Freund in diesem Sinne zu helfen und es für dich unerläßlich ist...

Fidel: Ja, sagen Sie mir, in welchem Punkt ich Ihnen helfen kann, nur in diesem nicht.

Fox: Gut. Dieser Punkt ausgenommen, wobei kannst du mir helfen?

Fidel: Sagen Sie mir, wie? Was soll ich tun? Die Risiken gehe ich mit aller Ruhe ein. (Die Sache wurde nun schon ernster: weder der Nachbar des Nordens noch das Gastgeberland waren an meiner Anwesenheit interessiert.)

Fox: Also, laß mich einmal...

Fidel: Aber Sie werden verstehen, daß es einem weltweiten Skandal Raum geben würde, wenn mir tatsächlich jetzt gesagt wird, daß ich nicht kommen soll.

Fox: Aber weshalb mußt du denn einen weltweiten Skandal auslösen, wenn ich mich als Freund an dich wende?

Fidel: Hören Sie, Sie sind der Präsident des Landes; und wenn Sie als Gastgeber es mir verbieten, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Rede morgen zu veröffentlichen.

Fox: So ist es, so ist es. Nein, du hast ein volles Recht darauf. Mal sehen, laß mich dir einen Vorschlag machen.

Fidel: Ja.

Fox: Ja?

Fidel: Sagen Sie.

Fox: Ich weiß nicht, wann du zu kommen die Absicht hast, denn das hast du mir nicht mitgeteilt. Mein Vorschlag wäre nun, du kämest am Donnerstag.

Fidel: Nun, sagen Sie, sagen Sie es genau. Ich bin bereit, ein Übereinkommen hierzu zu hören. Gut. Welcher Tag ist heute? Dienstag. Um welche Zeit wünschen Sie meine Anreise am Donnerstag?

Fox: Denn du hast... das heißt Kuba hat seine Rede vor dem Plenum am Donnerstag.

Fidel: Ja, ja, die genaue Uhrzeit dort, dort waren... Am Donnerstag sollte es um...

Fox: Gegen 13.00 Uhr.

Fidel: Nein, am Donnerstag muß ich an einem Podiumsgespräch teilnehmen und am Vormittag die Rede vorbereiten.

Fox: Denn deine Rede sollst du gegen 13.00 Uhr halten.

Fidel: So ungefähr. Ich helfe Ihnen in allem, störe Sie mitnichten, gehe nicht zu den Essen, nicht einmal zu der Zusammenkunft... Nun, diese Zusammenkunft, darüber müßten wir noch diskutieren...

Fox: So ist es, jawohl, laß mich zu Ende reden.

Fidel: Ja.

Fox: Du kannst am Donnerstag kommen, an der Tagung teilnehmen und deine Rede in der für Kuba reservierten Zeit um 13.00 Uhr halten. Danach haben wir ein Mittagessen, das der Gouverneur des Staates für die Staatsoberhäupter gibt. Ich biete dir sogar an und lade dich ein zu diesem Mittagessen, ja sogar, daß du neben mir Platz nimmst; daß du aber dann nach Abschluß der Tagung und der Teilnahme, also sagen wir, zurückkehrst und so...

Fidel: Auf die Insel Kuba?

Fox: Nein, also, vielleicht suchst du dir...

Fidel: Wohin? Ins Hotel? Sagen Sie.

Fox: Auf die Insel Kuba oder wohin du möchtest.

Fidel: Gut

Fox: Und du läßt mir dann – das ist meine Bitte an dich – den Freitag frei, damit du mir den Freitag nicht schwierig machst.

Fidel: Sie möchten nicht, daß ich Ihnen den Freitag kompliziert mache. Nun gut, es sieht ganz so aus, als haben Sie eine Zeile meines Schreibens überlesen, auf der ich Ihnen sage, daß ich mit konstruktivem Geist kommen werden, um für einen Erfolg der Konferenz zu kooperieren.

Fox: Ja doch, ich habe diese Zeilen gelesen.

Fidel: Wenn meine Worte nicht die Wirkung hatten... Ich verstehe die anderen Dinge, von denen wir nicht reden wollen, und das, was geschehen kann. Ich habe fast vorhergesehen, daß Sie mich anrufen würden, um mir so etwas Ähnliches zu sagen. Nun, sehr gut, ich sage Ihnen mit aller Offenheit: Ich bin bereit, mit Ihnen zu kooperieren. Ich bin bereit mit Ihnen zu kooperieren und zu tun, worum Sie mich ersuchen.

Fox: Wir können so verfahren.

Fidel: Ja, wiederholen Sie es mir bitte.

Fox: Also, Ankunft am Donnerstagmorgen; die Uhrzeit bestimmst du selbst.

Fidel: Ja, am Donnerstagmorgen; dann die Rede.

Fox: Ja, die Rede im Plenum; Teilnahme am Mittagessen der Staatschefs, zu dem ich dich sogar einlade, neben mir zu sitzen.

Fidel: Sehr gut, vielen Dank.

Fox: Am Nachmittag dann also deine Abreise zu einer dir genehmen Zeit.

Fidel: Ja, in Ordnung. Wie sieht es mit der Uhrzeit aus? Es gibt einen Zeitunterschied von einer Stunde, die Stunde, in der ich mich bewegen muß.

Fox: Wir haben eine Stunde Zeitunterschied.

Fidel: Sollte ich eventuell etwas früher ankommen müssen, sagen wir, da ich weiß, wo ich den größten Schaden anrichte (lacht), könnte ich vielleicht im Morgengrauen eintreffen.

Fox: Am Donnerstag?

Fidel: Denn meine Rede ist für 13.00 Uhr vorgesehen und man ist dabei, dort die Reihenfolge zu verhandeln; vielleicht spreche ich schon vorher; vielleicht, doch vorbereitet bin ich für etwa diese Uhrzeit, denn es gibt 30 Redner. Ich bin benachteiligt, denn es war im letzten Augenblick, und ich gestehe Ihnen, daß ich den Entschluß im letzten Augenblick gefaßt habe. Sie werfen mir vor, ein Freund sollte seine Teilnahme zu- oder absagen. An erster Stelle liegen hier zwei Dinge vor: Für mich bestehen Risiken und außerdem hatte ich es noch nicht entschieden. Das ist die Wahrheit.

Fox: Ja, ja; ich verstehe, ich verstehe.

Fidel: Doch zum gegebenen Zeitpunkt entschied ich, daß es erforderlich ist, wie ich Ihnen in meinem Schreiben erkläre. Ich bitte Sie, dieses, wenn es Ihnen möglich ist, noch einmal zu lesen.

Fox: Es liegt hier vor mir.

Fidel: Und der Generalsekretär ist in Ihrer Nähe? Sie speisen mit ihm zu Abend?

Fox: Vor 15 Minuten ist er gegangen. Er begab sich in sein Hotel und morgen wird er nach Monterrey reisen.

Fidel: Wie schade, daß ich nicht zuhören kann, wenn er spricht! Denn ich glaube, er spricht gleich zu Anfang.

Fox: Nun, Fidel, du... du... Ja, ich weiß, daß...

Fidel: Also, wenn Sie zuwege bringen könnten, daß ich beispielsweise als zehnter Redner an die Reihe komme, wenn Sie in der Reihenfolge für mich einen Platz besorgen...

Fox: Laß mich sehen, einen Augenblick.

Fidel: Ja.

Fox: Ich selbst werde am Donnerstag sprechen; die Eröffnungszeremonie beginnt um 9.00 Uhr.

Fidel: Um 9.00 Uhr, sehr gut.

Fox: Um diese Zeit wird, wie ich annehme, der Generalsekretär sprechen, und ich werde sprechen.

Fidel: Ja, ihm wollte ich zuhören, denn er war es ja, der mich eingeladen hat.

Fox: Deine Anwesenheit dabei ist kein Problem.

Fidel: Sie sind der Präsident des Gastgeberlandes; nicht die Vereinigten Staaten sind es, es ist Mexiko.

Fox: Für deine Anwesenheit besteht kein Problem. Du kommst zeitig und nimmst an der Eröffnung teil, beginnend um 9.00 Uhr, bei der er sprechen wird, und ich werde sprechen und, in der Tat, du bist als etwa der zehnte Redner an der Reihe.

Fidel: Nein, ich habe die Nummer 30; doch wenn Sie mir die Nummer 10 besorgen können, das heißt, nachdem die Hauptredner und noch ein paar andere dort gesprochen haben – ich glaube, Chávez macht den Anfang in seiner Eigenschaft als Präsident der Gruppe der 77 – und Sie für mich Nummer 10 oder 12 in der Reihenfolge besorgen...

Fox: Du möchtest also einen Wechsel, sagen wir, von 13.00 Uhr auf etwas früher?

Fidel: Sprechen Sie mit Kofi, sprechen Sie mit Kofi und erläutern Sie ihm Ihr Problem. Er wird verstehen, daß die Welt Herren hat und daß das sehr ernst ist.

Fox: Ich kann mit Kofi Annan sprechen. (lacht)

Fidel: Sprechen Sie mit Kofi (Lachen), verstehen Sie?

Fox: Ja, ja; ich kann mit ihm sprechen, warum nicht.

Fidel: Somit komme ich Ihnen noch viel mehr entgegen. Ich erscheine dort und halte meine Rede. Es wäre fast besser, ich käme so um Mitternacht, schliefe etwas und ginge dann dorthin.

Fox: Du brauchst mich nur benachrichtigen, wie spät du... Du teilst mir die Stunde mit; ich habe für dich eine Residenz, einen Ort, an dem du dich aufhalten kannst, falls du sehr früh kommst.

Fidel: Gut, ich hatte dort ein kleines Hotel, einige Zimmer, denn meine Teilnahme stand ja nicht fest.

Fox: Ja, es gibt nämlich keine Zimmer; darin liegt das Problem, es gibt keine Zimmer.

Fidel: Nein, doch für unsere Delegation sind dort 20 Zimmer reserviert; und einige können wir woanders unterbringen, in einem Gästehaus.

Fox: Ja, wir richten uns schon ein. Du hast Freunde in Monterrey, die dich im Nu unterbringen können. Das ist kein Problem. Du mußt in den frühen Morgenstunden eintreffen...

Fidel: Sehen Sie, ich kann Ihnen noch viel weiter entgegenkommen. Muß ich unbedingt in den frühen Morgenstunden eintreffen?

Fox: Ja. Doch was nennst du frühe Morgenstunden, 5.00 Uhr oder 6.00 Uhr?

Fidel: Nein, ich ziehe eine bestimmte Uhrzeit um ungefähr 22.00 Uhr vor.

Fox: Ach so! Ankunft am Mittwochabend.

Fidel: Ja, ja; ohne daß ich gesehen werde. Wir sehen uns dann am Vormittag dort. Man kann mich dann am Vormittag dort antreffen.

Fox: Versuche, in der Nacht zu kommen, wir werden uns schon einrichten; das heißt, mehr auf Mitternacht zu oder im Morgengrauen.

Fidel: Gut.

Fox: Du kommst, installierst dich und nimmst ab 9.00 Uhr teil.

Fidel: Ich installiere mich und bin dort um 8.30 Uhr: Merken Sie wohl.

Fox: Ja, in Ordnung, in Ordnung.

Fidel: Also, Sie garantieren mir das mit Kofi Annan und erklären ihm die Probleme; falls nicht, dann müßte ich mit ihm sprechen und es ihm erklären, denn eingeladen wurde ich von den Vereinten Nationen.

Fox: Darin besteht kein Problem. Ich...

Fidel: Es war sehr liebenswürdig von Ihnen als Gastgeber, mir eine Einladung zu schicken; doch es sind die Vereinten Nationen, die mich einladen. Ich sagte es Ihnen hier. Zu Beginn unserer Gespräche war dies, daß mir die Einladung zugegangen war, das Erste, was ich ansprach.

Fox: Gut; deshalb. Wir werden also weiterhin in dieser Richtung denken. Dann kommen wir zum Schluß...

Fidel: In Ordnung. So komme ich Ihnen entgegen und reise früher ab. Ohnehin ist mein stärkster Wunsch, hier zu sein. Ich habe viel Arbeit, und es gibt vieles, für das ich begeistert bin.

Fox: Fidel, darf ich dich um noch etwas bitten?

Fidel: Ja, bitte.

Fox: Wenn du da bist, wäre es für mich sehr gut, wenn es nicht zu Erklärungen zum Thema der Botschaft, den Beziehungen zwischen Mexiko und Kuba oder zu den Ereignissen käme, die wir in den vergangenen Tagen erlebten.

Fidel: Für mich besteht keinerlei Bedürfnis, dort Erklärungen abzugeben.

Fox: Wie gut!

Fidel: Sagen Sie, was kann ich noch für Sie tun?

Fox: Also in der Hauptsache nicht die Vereinigten Staaten oder Präsidenten Bush angreifen, sondern uns beschränken auf...

Fidel: Hören Sie, Herr Präsident, ich bin ein Mensch, der sich seit etwa 43 Jahren mit Politik befaßt; und ich weiß, was ich tue und zu tun habe. Sie brauchen nicht die geringsten Bedenken zu hegen, daß ich die Wahrheit mit Anstand und der erforderlichen Eleganz vorzubringen weiß. Sie brauchen nicht die geringste Befürchtung zu haben, daß ich dort eine Bombe loslassen werde; obwohl ich in der Tat mit dem vorgeschlagenen Konsens nicht einverstanden bin. Nein, ich werde mich darauf beschränken, meine Grund- und Hauptideen darzulegen, und das mit allem Respekt der Welt. Ich werde jenes nicht als eine Tribüne benutzen. Um zu agitieren; keinesfalls. Ich werde meine Wahrheit sagen. Ich kann auch fernbleiben und sage sie dann von hier aus. Ich sage sie dann morgen früh. Also für mich ist es nicht...

Fox: Eben das ist es, was du mir in deinem Schreiben anbietest: konstruktive Partizipation, damit es ein echter Beitrag zur Diskussion, zur Debatte und zur Lösungsfindung auf die Probleme wird, die wir alle auf der Welt haben.

Fidel: Ja, Herr Präsident. Auch sollten Sie in Betracht ziehen, daß eine Reise dieser Art für mich ein ziemliches Risiko beinhaltet.

Fox: Ja, das verstehe ich.

Fidel: Sie sollten es wissen. Ich tue es nicht – daß ich fernbliebe – denn ich würde mich schämen, da ich nun einmal beschlossen habe teilzunehmen. Vielen Treffen bin ich ferngeblieben. Ich war nicht auf dem Gipfeltreffen in Peru; doch für mich ist diese Konferenz von viel höherem Stellenwert, ist Mexiko von viel höherem Stellenwert. Mir schien sogar, ich würde damit Sie und die Mexikaner verletzen. Ich gehe dorthin, nicht um zu agitieren noch Kundgebungen zu organisieren, nichts dergleichen. Ich bedenke, daß Sie der Präsident jenes Landes sind und daß ein Wunsch Ihrerseits, und seien es noch so viele Rechte, von mir zu berücksichtigen ist. Es freut mich daher, daß Sie an eine anständige Lösung gedacht haben; daß ich zur genannten Stunde dort bin und dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zuhöre. Wenn Sie nun mit Unterstützung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen mir garantieren könnten – wir wollen doch dort nicht so lange bleiben; je mehr Zeit verstreicht, desto mehr... – daß ich auf der Ihrer Rede folgenden Rednerliste einen Platz zwischen den Nummern 10 und 15 bekomme; also darüber haben wir mit einem Genossen gesprochen, der dort ist. Wir werden ihm Anweisungen geben – er hat heute von mir bereits Anweisungen erhalten, sich um einen früheren Zeitpunkt für meine Rede zu kümmern – und dann wäre ich frei, um Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten wie möglich zu bereiten.

Fox: Ja. Höre, Fidel, auf jeden Fall bleibt die Einladung zu dem Mittagessen, zu dem du mich begleiten sollst. Das wäre so gegen 13.00 Uhr oder 13.30 Uhr, und nach dem Essen kannst du dann zurückkehren.

Fidel: Unter der Bedingung, daß du mir nicht Pfefferfleisch und Pute und sonst noch viele Speisen vorsetzt, denn der Flug nach hier mit sehr vollem Magen...

Fox: Nein, es gibt Lamm , das ist sehr lecker.

Fidel: Es gibt Lamm?

Fox: Jawohl, mein Herr, exzellent.

Fidel: Gut, sehr gut.

Fox: Dann können wir also bei dieser Übereinkunft bleiben, Fidel?

Fidel: Wir können bei dieser Übereinkunft bleiben und bleiben Freunde, Freunde und Gentlemen.

Fox: Ja, ich danke dir sehr dafür. Du teilst mir nur noch die Uhrzeit deiner Ankunft mit, um dich zu empfangen und zu beherbergen.

Fidel: Ich werde Ihnen die Uhrzeit meiner Ankunft mitteilen. Nun, wenn Sie wollen, komme ich sogar noch früher, und damit gehen wir vielem aus dem Wege. Wie spät wirst du morgen schlafen gehen?

Fox: Morgen?

Fidel: Ja.

Fox: Welcher Tag ist morgen, Mittwoch? Als guter Mann vom Lande werde ich morgen früh schlafen gehen.

Fidel: Als guter Mann vom Lande. Bei mir ist es gerade umgekehrt. Ich bin gewöhnlich ein guter Nachtmensch. Sagen Sie, welche Uhrzeit paßt Ihnen am besten?

Fox: Schau, so wie du sagtest: 22.00, 23.00, 24.00 Uhr, damit du dich installieren und ausruhen und am anderen Morgen anwesend sein kannst.

Fidel: Sehr gut, einverstanden.

Fox: Also erwarte ich nur noch von der Botschaft deine genaue Ankunftszeit, um dich dort zu empfangen, wie es sich gehört.

Fidel: Ja, morgen bekommen Sie die genaue Uhrzeit mitgeteilt.

Fox: Wir sprachen darüber mit der Botschaft.

Fidel: Ja, und wie stets danke ich dir für dieses Entgegenkommen, diese Ehre, wenn du dorthin kommst. Ich glaube, das würde sehr helfen...

Fox: Du begleitest mich zum Essen und von dort kehrst du zurück.

Fidel: Ab da erfülle ich Ihre Befehle: ich kehre zurück.

Fox: Fidel, ich danke dir vielmals.

Fidel: Gut, Präsident.

Fox: So werden unsere Sachen gelingen.

Fidel: Ich denke schon, und ich bedanke mich bei Ihnen...

Fox: Gut, ich ebenfalls und gute Nacht.

Fidel: ...für Ihr Entgegenkommen und Ihre Suche nach einer ehrenvollen und akzeptablen Lösung.

Fox: Ja, ich glaube, man kann sie als solche betrachten und ich danke dir dafür.

Fidel: Sehr gut, sehr gut; ich wünsche Ihnen viel Erfolg.

Fox: Gute Nacht.

Fidel: Gute Nacht.

Der Herr Präsident von Mexiko hatte das letzte Wort gesprochen. Es war mein unbestreitbares Recht, an dieser nicht von Herrn Bush, sondern von den Vereinten Nationen einberufenen Konferenz teilzunehmen. Doch gegen den ausdrücklichen Willen des Präsidenten des Gastgeberlandes konnte ich doch nicht nach Monterrey reisen; ich mußte mich damit abfinden, die mir zustehenden sechs Minuten zu benutzen und nach dem Mittagessen oder früher wieder abreisen, wenn es mir gelang, die Nummer 30 in der Rednerliste gegen eine niedrigere auszutauschen. Sie war mir durch Auslosung zugefallen, denn neben anderen Gründen hatte ich meine Anwesenheit nicht im voraus gewährleisten können, um eine sofortige Mobilmachung der Horde der bereits erwähnten Terroristen und Killer zu vermeiden, die von US-amerikanischem Territoriums aus organisiert und bezahlt werden, um mich, immer wenn ich zu einem internationalen Treffen reise, physisch zu eliminieren.

Ich muß hinzufügen, daß bei meiner Ankunft in Monterrey kein Herr Fox auf dem Flughafen erschien, wie er, ohne daß ich ihn darum gebeten hätte, versprochen hatte. Nicht einmal per Telefon gab es eine Anstandsbegrüßung. Das bekümmerte mich nicht im geringsten. Ich hänge absolut nicht an Etikette und Höflichkeitsformeln.

Dagegen genoß ich einen ganz besonderen Trost. Zur gleichen Zeit, da man mir befahl, unmittelbar nach dem Mittagessen abzureisen, wurde mir zweimal mitgeteilt, daß ich die immense Ehre haben werde, während des irdischen Genusses eines leckeren Lamms an seiner Seite zu sitzen.

Nun konnte ich mich von dem Gipfeltreffen jedoch nicht ohne eine mindeste Erklärung zurückziehen. Ich habe so etwas bei noch keinem Treffen getan. Der Herr Präsident der Vereinigten Staaten könnte meinen, Kuba habe Angst davor, mit erhobenem Haupt vor seiner mächtigen und erhabenen Erscheinung zu sitzen. Auf dem Gipfeltreffen 1992 in Rio de Janeiro zeigte sein Vater die löbliche – weil ungewöhnliche – Geste, den Saal mit Vorbedacht einige Minuten vor meiner Rede zu betreten, meinen Worten ruhig zuzuhören und am Schluß zu applaudieren, sowohl er als auch seine Delegation. Ein altes Sprichwort besagt, daß Höflichkeit eine Zier ist. Niemand in unserem Land, in Mexiko oder anderswo hätte ein so seltsames Verlassen des Treffens verstanden. Zur Erklärung sagte ich lediglich drei Zeilen:

„Ich bitte alle, mich zu entschuldigen dafür, daß ich sie nicht weiter begleiten kann aufgrund einer besonderen Situation, die durch meine Teilnahme an diesem Gipfeltreffen entstanden ist, und ich mich gezwungen sehe, unmittelbar in mein Land zurückzukehren." (...) Ich hatte keine unlösbare Komplikation zurückgelassen. Meine letzten Worte nach der Erklärung waren:

„An der Spitze der Delegation Kubas bleibt Genosse Ricardo Alarcón de Quesada, Präsident der Nationalversammlung der Volksmacht und unermüdlicher Kämpfer der Verteidigung der Rechte der Dritten Welt. Auf ihn übertrage ich die mir bei diesem Treffen als Staatschef zustehenden Vorrechte. Ich erwarte, daß ihm zu keiner der offiziellen Aktivitäten, auf deren Teilnahme er als Leiter der kubanischen Delegation und Präsident des obersten Organs der Staatsmacht Kubas ein Recht hat, der Zutritt verwehrt wird."

Damit wurde den Gastgebern eine recht einfache Lösung in die Hand gegeben. Ein Akzeptieren der Präsenz von Ricardo Alarcón, Leiter der Delegation bei den offiziellen Beratungen des Gipfeltreffens, und man hätte nicht mehr von dem Zwischenfall gesprochen. Nur ein Minimum an Vision und gesundem Menschenverstand war vonnöten. Nun weiß ich nicht, war es Hochmut, Arroganz und Abenteuergeist des Hofberaters des Präsidenten Fox oder war es die Präpotenz von Bush, was diesen anständigen Ausweg nicht zustande kommen ließ. (...) Einige Minuten vor Beginn wurde Genossen Alarcón mitgeteilt, er habe keinerlei Zutritt. So wie beschlossen, erklärte der Leiter unserer Delegation auf zahlreichen Pressekonferenzen die wahre Ursache meiner Abwesenheit. Unter anderem führte er aus:

„In seinem Pressegespräch äußerte Kanzler Castañeda gestern mehrfach, es habe keinerlei Bemühungen seitens irgendeines berechtigten Beamten gegeben, um der Teilnahme Kubas Vorbehalte entgegenzusetzen und legte mehrmals nahe, Kuba selbst sollte die Vorkommnisse erklären, da ihm die Gründe unbekannt seien. (...) Für das Podiumsgespräch des kubanischen Fernsehens am Nachmittag des 22. März äußerte unser Außenminister in seiner telefonischen Ansprache:

„Kuba wußte von dem vor der Konferenz durch Präsident Bush auf die mexikanische Regierung ausgeübten Druck. Präsident Bush drohte mit Nichterscheinen zum Gipfeltreffen, falls Genosse Fidel anwesend wäre. Das durch Resolution der UN-Vollversammlung gegründete Vorbereitungskomitee hatte die Einladung ergehen lassen – das Schreiben der beiden Botschafter, das eben bekannt gegeben wurde – und danach erfolgte die offizielle Einladung durch Präsidenten Fox. Danach wurde Genosse Fidel ersucht, nicht am Gipfel teilzunehmen, wie es doch sein Recht als Staatsoberhaupt eines Mitgliedslandes der Vereinten Nationen war und ihm bereits die Einladung des Vorbereitungskomitees der Vereinten Nationen zur Teilnahme an einer Konferenz zugegangen war, an deren Einberufung Kuba eine bedeutende Rolle gespielt hatte. Das ist die historische Wahrheit. Er wurde ersucht, nicht teilzunehmen, und die Bitte wurde – wie wir bereits sagten – von einer in der Regierung Mexikos sehr ermächtigten Person an ihn gerichtet, was sich aus ihrer Größenordnung ergibt. Er wurde gebeten, nicht zu kommen; und angesichts der unerschütterlichen Haltung Fidels, der das Recht Kubas auf souveräne Präsenz auf diesem Treffen verteidigte, wurde er gebeten, lediglich am Donnerstagvormittag zu erscheinen und sich unmittelbar nach dem vom Gouverneur des Staates gegebenen Mittagessen zurückzuziehen. Genosse Fidel hatte das Bedürfnis und die Pflicht, den Konferenzteilnehmern den eigentlichen Grund zu erklären, warum er dort nicht bleiben durfte – und er tat dies sorgfältig und taktvoll. Hierbei stellte er einen Antrag, dem entsprochen werden konnte und der logisch war, nämlich daß Genosse Alarcón, Präsident unserer Nationalversammlung, an den weiteren Aktivitäten der Konferenz teilnehmen sollte. Es hat in der Tat einen Mangel an Verständnis für diese Argumentation gegeben und einen Mangel an Akzeptanz für diese angemessene Beantragung."

Castañeda seinerseits dementierte frenetisch die Worte von Alarcón und Felipe.

Auf einer Pressekonferenz am 21. März gab Castañeda auf die Frage eines Journalisten, (...) folgende Antwort: „Kein ermächtigter Beamter der Regierung Mexikos hat jemals weder dieses noch ein Anliegen anderer Art, das diesem ähnlich sein könnte, vor der Regierung Kubas, den kubanischen Behörden vorgetragen." (...) Im Fernsehprogramm „Zona abierta" wiederholte Castañeda: „Kein mexikanischer Beamter hat jemals auf Fidel Castro Druck ausgeübt, früher als vorgesehen wieder abzureisen." Hinsichtlich des Druckes zum Ausschluß von Castro erklärte Herr Fox auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bush am 22. März: „Es hat keinen Druck gegeben. Herr Fidel Castro hat Mexiko, hat die UN-Konferenz besucht; er war hier, hat teilgenommen und ist nach Kuba zurückgekehrt. Weiter gab es nichts. So einfach war es." Bei einem Joaquín López Dóriga gewährten und in der Zeitung „La Jornada" veröffentlichten Interview antwortete Fox u.a. (...): „Castro war hier in Monterrey, hat am Kongreß, an der Tagung der Konferenz der Vereinten Nationen teilgenommen und dann entschieden abzureisen. Niemand hat ihn dazu gezwungen." In Erklärungen im mexikanischen Fernsehen antwortete er am 24. März : „Er (Fidel Castro; d.Red.) war schlicht und einfach gekommen, hat seine Rede gehalten, war auf dem Flughafen mit aller Zuvorkommenheit empfangen worden, wie alle anderen auch habe ich ihn bei seiner Ankunft begrüßt, ich habe mich von ihm verabschiedet, und er ist abgereist. Ganz einfach. Was gibt es? Was verbirgt sich dahinter? Ich verstehe es nicht." Bush seinerseits behauptete scheinheilig, es habe seitens der Vereinigten Staaten keinerlei Druck auf Mexiko gegeben.

Alle lügten wie gedruckt.

Die Glaubwürdigkeit unseres Landes war in Zweifel gezogen worden. Einer Umfrage zufolge waren fast die Hälfte der Mexikaner dazu gebracht worden, der Wahrheitsliebe Kubas zu mißtrauen. Im Leitartikel von Granma am 26. März heißt es: „Kuba besitzt unwiderlegbare Beweise des gesamten Geschehens, die jeden Zweifel vom Tisch fegen würden. Kuba hat vorgezogen, keinen Gebrauch davon zu machen, denn es möchte Mexiko nicht schaden, möchte dessen Prestige nicht verletzen, und nicht im geringsten möchte es eine politische Destabilisierung in diesem Bruderland. (...) Der Ehre Mexikos halber ist diesen Beleidigungen und Aggressionen des kubanischen Volkes in irgendeiner Weise ein Ende zu setzen. Man zwinge Kuba nicht, seine Beweise vorzulegen." Der Leitartikel schließt mit der Behauptung: „Wir erbitten nichts anderes, als daß die gegen Kuba geschleuderten Provokationen, Beleidigungen, Lügen und makabren Pläne des Herrn Castañeda aufhören. Andernfalls bliebe uns keine andere Alternative als das zu verbreiten, was wir nicht verbreiten wollten, und seine falschen und zynischen Äußerungen zu Staub zu machen; koste es, was es wolle. Niemand zweifle daran!" (...). Wir bewahrten Schweigen bis zu einem über Ethik und Wahrheit fast hinausgehenden Punkt. Doch der Tropfen, der das Glas zum Überlaufen brachte, der fehlte noch.

Am Mittwoch, den 10. April präsentierte der übernächtigte und verworfene Uruguay präsidierende Judas in der unrühmlichen Handlangerrolle, die bislang die Tschechische Republik übernommen hatte, vor der Kommission für Menschenrechte das Machwerk gegen Kuba, konzipiert und geschmiedet von Kanzler Castañeda mit Washington. Noch etwas nebenbei bemerkt. Man drohte uns sogar mit dem Bruch der diplomatischen Beziehungen; eine Regierung, in der ein Mörderminister für Gesundheitswesen den Tod von Kindern zuließ, um ganz einfach keinen Impfstoff aus Kuba zu beziehen, dem einzigen Land, das ihn mit den adäquaten Merkmalen produzierte, wie das französische Pasteur-Institut auf eine Anfrage Uruguays hin informierte. Nun stehen wir vor diesen Drohungen und brauchen nur noch zu fragen, worauf sie warten, um diese wahr zu machen.(...) Am 15. April veröffentlicht das Amt des Präsidenten von Mexiko ein Offizielles Kommuniqué mit der Information, daß Mexiko für das von Uruguay präsentierte Projekt stimmen wird. Uns war diese Entscheidung einige Tage im voraus bekannt. Sie entsprach einer Übereinkunft mit den Vereinigten Staaten.

Das Groteskeste war, daß man uns sogar bestechen und unser Schweigen zu den Vorkommnissen in Monterrey erkaufen wollte. Während der dramatischen Ereignisse in Venezuela, als das Leben von Hugo Chávez in Gefahr war und alles erledigt schien, übermittelte der Botschafter Mexikos in Kuba, dem ich keine Schuld zuschreibe, am 13. April – ungefähr 38 Stunden vor dem offiziellen Kommuniqué des 15. April – eine Botschaft der mexikanischen Regierung mit dem Versprechen, Petróleos Mexicanos könne die ausbleibenden venezolanischen Lieferungen von PDVSA übernehmen. Wir waren angewidert von dieser schamlosen Machenschaft des Betruges, mit der man unseren Protest gegen die für Genf geplante Ruchlosigkeit abschwächen wollte. Die Regierung Mexikos ist stets dagegen gewesen, daß Kuba aus Beschlüssen wie denen von San José und anderen irgend einen Nutzen hat. Wir haben uns lediglich kalt bedankt und nicht das geringste Interesse an diesem heuchlerischen Angebot gezeigt.

Das sowohl von Castañeda als auch von Präsident Fox während ihres Kubabesuches gegebene Versprechen, keine Schirmherrschaft, noch Förderung oder Unterstützung einer Resolution gegen Kuba zu übernehmen, war schändlich verraten worden. (...)

Die Völker sind keine nicht ernst zu nehmenden Massen, die ohne jegliche Ethik, Ehrbarkeit und Respekt betrogen und regiert werden können. Es kann wegen der Äußerung dieser Wahrheiten zum Bruch der diplomatischen Beziehungen kommen, doch die brüderlichen und historischen Bande zwischen den Völkern Mexikos und Kubas werden ewig bestehen.

Fidel Castro Ruz, Havanna, 22. April 2002

Fidel Castro: Rede auf der internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey/Mexiko

Exzellenzen: Was ich hier äußere, wird nicht von allen geteilt; doch ich werde sagen, was ich denke und werde dies mit Achtung tun.

Die derzeitige Weltwirtschaftsordnung ist ein System der Ausplünderung und Ausbeutung, wie es noch nie in der Geschichte dagewesen ist. Immer weniger glauben die Völker an Deklarationen und Versprechen. Das Prestige der internationalen Geldinstitute liegt unter dem Nullpunkt. Die Weltwirtschaft ist heute ein gigantisches Spielcasino. Neuere Analysen ergaben, dass für jeden in den Welthandel geflossenen Dollar mehr als hundert Dollar in Spekulationsgeschäfte fließen, die nichts mit der realen Ökonomie zu tun haben. Diese Wirtschaftsordnung hat für 75 % der Weltbevölkerung Unterentwicklung bedeutet.

Die extreme Armut in der Dritten Welt erreicht bereits ein Ausmaß von 1,2 Milliarden Menschen. Die Kluft wird größer, nicht kleiner. Die zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern bestehende Einkommensdifferenz, die 1960 das 37fache betrug, beträgt heute das 74fache! Man ist zu derartigen Extremen gelangt, dass die drei reichsten Personen der Welt ein Vermögen besitzen, das ebenso hoch ist wie das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder zusammengenommen. Im Jahr 2001 waren es 826 Millionen Menschen, die Hunger litten; die Anzahl der erwachsenen Analphabeten betrug 854 Millionen; 325 Millionen Kinder bleiben der Schule fern; zwei Milliarden Menschen leiden Mangel an wesentlichen Medikamenten zu niedrigen Preisen; 2,4 Milliarden Menschen entbehren der sanitären Grundleistungen. Jährlich sterben mindestens 11 Millionen Kinder unter fünf Jahren infolge vermeidbarer Ursachen und 500.000 erblinden durch Mangel an Vitamin A. Die Einwohner der entwickelten Welt leben 30 Jahre länger als die Bewohner Schwarzafrikas.

Ein wahrer Völkermord!

Den armen Ländern kann keine Schuld an dieser Tragödie gegeben werden. Diese waren es nicht, die ganze Kontinente eroberten und über Jahrhunderte hinweg ausplünderten, den Kolonialismus errichteten, die Sklaverei wieder einführten, noch den modernen Imperialismus schufen. Sie waren deren Opfer. Die Hauptverantwortung der Finanzierung ihrer Entwicklung kommt jenen Staaten zu, die heute aus offenkundigen historischen Gründen den Nutzen jener Grausamkeiten genießen.

Die reiche Welt soll die Auslandsschuld erlassen und neue weiche Kredite zur Entwicklungsfinanzierung gewähren. Die stets kargen und oftmals lächerlichen Unterstützungsangebote sind unzureichend und werden nicht eingehalten.

Was benötigt wird für eine echte nachhaltige sozioökonomische Entwicklung ist das Vielfache von dem, was behauptet wird. Maßnahmen wie die von dem kürzlich verstorbenen James Tobin empfohlenen, um dem unaufhaltsamen Strom der Geldspekulation einen Riegel vorzuschieben – obwohl seine Idee nicht auf Entwicklungshilfe gerichtet war – wären heute eventuell das einzig Mögliche, für die Schaffung genügender Fonds, die dann in der Hand der Vereinten Nationen und nicht von unheilbringenden Institutionen wie dem IWF direkte Entwicklungshilfe leisten könnten bei demokratischer Partizipation aller und ohne dass die Völker Unabhängigkeit und Souveränität opfern müssten. Das Konsensusprojekt, das uns von den Herren der Welt in dieser Konferenz aufgezwungen wird, bedeutet, dass wir uns mit einem demütigenden Almosen zu begnügen haben, das an Bedingungen geknüpft ist und Einmischung beinhaltet.

Alles seit Bretton Woods bis heute Gegründete ist nochmals zu überdenken. Ausschlaggebend waren die Privilegien und Interessen der Mächtigeren. Angesichts der tiefen Krise von heute bieten sie uns eine noch schlimmere Zukunft, in der es niemals eine Lösung geben wird für die ökonomische, soziale und ökologische Tragödie einer immer unregierbareren Welt, in der es jeden Tag mehr Arme, mehr Hungrige geben wird, so als sei ein großer Teil der Menschheit überflüssig.

Für die Politiker und Staatsmänner ist die Stunde ernsten Nachdenkens gekommen. Die Meinung, eine ökonomische und soziale Ordnung, die sich als unhaltbar erwiesen hat, könne mit Gewalt durchgesetzt werden, ist eine kopflose Idee. Die mit jedem Tag moderneren Waffen, die sich in den Arsenalen der Mächtigsten und Reichsten anhäufen, werden – wie ich bereits einmal äußerte – zwar die Analphabeten, die Kranken, die Armen und die Hungrigen töten können, doch die Unwissenheit, die Krankheiten, die Armut und den Hunger werden sie nicht töten können.

Man sollte ein für allemal „die Waffen ruhen lassen".

Es muß etwas getan werden, um die Menschheit zu retten! Eine bessere Welt ist möglich! Vielen Dank.

Fidel Castro Ruz, Monterrey, 21.März.2002

Netzwerk Cuba, Frank Schwitalla: Spendenaufruf für das Buchprojekt „Derechos Preservados" („Bewahrung der Rechte") über die Geschichte der cubanischen Revolution

Liebe Cuba Freundinnen und Freunde,

der Zentralverband der cubanische Gewerkschaft CTC will ein Buch über die Geschichte der cubanischen Revolution unter dem Titel „Derechos Preservados" (auf deutsch „Bewahrung der Rechte") herausbringen. Die CTC hat uns für dieses Projekt um Unterstützung gebeten und benötigt für den Druck der cubanischen Auflage 10.000 US Dollar. Der Druck wird von der Gewerkschaftsdruckerei ausgeführt, so dass die gesamte Spende auch in Cuba verbleibt.

Die letzte Mitgliederversammlung des Netzwerk Cuba e.V. hat beschlossen, dieses Projekt zu unterstützen und den Vorstand beauftragt, bei den Freundinnen und Freunden Cubas um Spenden zu bitten. Als Anlage findet ihr eine genauere Beschreibung mit einer kurzen inhaltlichen Übersicht.

Das Manuskript des Buches wird uns als Dank für unsere Unterstützung auch für die deutsche Übersetzung zur Verfügung gestellt. Glücklicherweise haben sich auch drei Cuba-FreundInnen bereit erklärt, die Übersetzung zu übernehmen, so dass wir hoffen, „Bewahrung der Rechte" auch bald auf deutsch herausbringen zu können.

Wir hoffen auf möglichst große Unterstützung und bitten daher um Spenden auf das Netzwerk-Cuba e.V. Spendenkonto, Postbank Berlin: BLZ : 100 100 10; Kontonummer: 32 33 31 00 unter dem Stichwort: „CTC-BUCH". Eine Spendenbescheinigung senden wir euch selbstverständlich zu, dafür benötigen wir lediglich eure Daten, die ihr uns auch telefonisch mitteilen könnt.

Vielen Dank! Mit solidarischen Grüßen

 

Bitte des Generalsekretärs der CTC, Pedro Ross Leal, zur Unterstützung der Herausgabe des Buches

„Derechos Preservados" („Bewahrung der Rechte") Autorin: Silvia Martínez Puentes, Journalistin

Benötigter Betrag: 10.000 USDollar; Auflagenhöhe: 7.000 Exemplare, ca. 250 Seiten; Fotos und Tabellen; Herausgeberin/Druck: Zentrale der Gewerkschaften Kubas (CTC). Druckerei der CTC

Verkauf/Verteilung: Es ist vorgesehen, einen Teil kostenlos innerhalb der Gewerkschaften auszugeben sowie einen weiteren Teil preiswert zum Verkauf anzubieten.

Herausgabe in Deutsch: Wird von der CTC befürwortet und das Manuskript kann bis Ende Juli 2002 zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt werden.

Vorgeschichte: Aus Anlass seiner Teilnahme am Internationalen Kubakongress im Juni 2001 bat Pedro Ross in einem Gespräch mit Frank Schwitalla, Vorsitzender Netzwerk, Marion Gerber und Reinhard Thiele von Cuba Sí, das Anliegen der Herausgabe des o.g. Buches an die Kubasolidaritätsbewegung zu übermitteln: "Die kubanische Revolution ist mit verleumderischen Ignoranten konfrontiert und hat glühende Verehrer. Einige kennen sie (die Revolution) nicht und wiederholen einfach nur das, was sie hören und lesen. Andere weigern sich, sie zu akzeptieren, ihre Authentizität und Einzigartigkeit und vor allem die Millionen Ideen, Stimmen und Handlungen, die ihr zu Grund liegen. Doch diejenigen, die über eigene Urteilskraft und menschliche Sensibilität verfügen, berühren sie mit ihren Händen, öffnen die Augen vor den Tatsachen und verehren die Kubanische Revolution. >Wir sind nicht perfekt<, singt ein kubanischer Liedermacher. Fehler treten auf in der Kubanischen Revolution, wie in jedem menschlichen Werk. Doch sie korrigiert sich ständig selbst, vervollkommnet sich im Widerstreit mit tausenden Hindernissen...... Dieses Bändchen soll der Versuch sein, in kurzer Form zu zeigen, wie sich die Kubanische Revolution in mehr als vier Jahrzehnten entwickelt hat......und was heute das revolutionäre Kuba ist, das durch die unzertrennbare Verbundenheit der Bevölkerung mit seiner Revolution charakterisiert ist..." (Rohübersetzung aus der Einleitung des Buches)

Strukturierung des Buches „Derechos Preservados"

01. Einleitung: Darlegung der Ziele des Buches 02. Chronologie der ökonomischen Entwicklung:

02. Wirtschaftliche Entwicklung Kubas von dem Sieg der Revolution bis heute nach Etappen; Tabellen mit vergleichenden Daten, Hindernisse und Schwierigkeiten und Darstellung, wie sie überwunden wurden und werden.

03. Vereint mit der Gesellschaft: Organisation der Werktätigen, die Ziele ihrer Kämpfe seit Gründung der Gewerkschaftszentrale im Jahr 1939, ihre Beziehungen mit der Arbeiterklasse; Darlegung der Arbeitsweise der Gewerkschaften und wie sie ihre Aktionen durchführen, Mitgliedschaft, Basisstrukturen und Teilnahme an ökonomischen Entscheidungen.

04. Ein Land von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Darstellung, wie sich die Wissenschaft in allen Wirtschaftszweigen und Bereichen der Gesellschaft und eine immer größere Zahl von Wissenschaftler-innen und hochqualifizierten Fachkräften in der Forschung entwickelten. Rundgang durch anerkannte Wissenschaftseinrichtungen, deren Forschungsergebnisse heute teilweise schon international genutzt werden oder noch in der Erprobungsphase sind.

05. Beschäftigung: Einschätzung der Entwicklung der Beschäftigung in Kuba vor dem Sieg der Revolution und Darstellung, wie dieses Thema schon vor 1959 Priorität in den Arbeitskämpfen hatte. Besorgniserregender Rückgang der Beschäftigung als Konsequenz der Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers – Darstellung, wie das Problem schrittweise verbessert wurde und wird und die gegenwärtige Strategie für Vollbeschäftigung.

06. Sozialversicherung und Sozialleistungen Ein Drittel des Staatshaushaltes Kubas werden für Sozialleistungen ausgegeben. Das System umfasst 100% der Bevölkerung - wie war es, wie ist es, welche Vorstellungen bestehen dafür für die Zukunft.

07. Eine Gesellschaft für alle Altersgruppen Kinder, Jugendliche und alte Menschen – wie werden sie unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen menschlichen und geistigen Bedürfnissen in Kuba behandelt. Eine Darstellung beginnend von der Geburt bis zur Lebenserwartung und Garantie für einen Lebensabend in Sicherheit.

08. Gesundheit: Ein Thema, das von der Kubanischen Revolution zu jeder Zeit vorrangig behandelt wurde. Die wichtigsten Errungenschaften, internationaler Ruf der kubanischen Medizin, Ausbildung von Spezialisten, internationale Hilfe - ausführliche Darstellung der Entwicklung der Medizin in Kuba, einem Land, das nach dem Sieg der Revolution 50% der Ärzte verließen.

09. Von der Kaserne zur Schule – Bildungswesen in Kuba: Ausführliche Untersuchung des Bildungswesens vor und nach der Revolution. Von der Alphabetisierung zur Entwicklung des Bildungssystems – Darstellung der verschiedenen Ebenen der Bildung, einschließlich Behindertenschulen und Hochschulausbildung. Diesem Kapital ist ein Überblick über Kultur und Sport angeschlossen.

10. Eine Revolution in der Revolution: Welch Bedeutung hat die Revolution für die Frauen in Kuba – von der Hausfrau zur Ministerin und anerkannten Wissenschaftlerin. Was war und was ist ihre Rolle in der Gesellschaft. Analyse aller Gesetze zum Schutz der Frauen in Kuba.

11. Die Sicherheit, Ja zu sagen – Das Wahlsystem in Kuba: Wie ist die partizipative Demokratie in Kuba und wie werden die Regierung und untergeordneten Instanzen gewählt.

12. Die Ohnmacht einer Großmacht – Die Blockade gegen Kuba: Was bedeutet diese scheußliche Politik für das kubanische Volk, wie viele Opfer hat sie ihm gekostet und wie viele Manöver hat der Imperialismus aufgewandt, um seine brutale Politik gegen Kuba durchzusetzen? Analyse der Politik und der Auswirkungen auf unsere Bevölkerung seit dem Sieg der kubanischen Revolution bis zur Gegenwart.

13. Der Menschenrechte beraubt: Lateinamerika, der Neoliberalismus und seine unheilbringenden Auswirkungen für den Kontinent. Was war Lateinamerika in all den Jahren im Vergleich zu Kuba?

Netzwerk Cuba, Frank Schwitalla

Freundschaftsgesellschaft Berlin – Cuba: "Fledermaus auf Beutejagd gegen Cuba"

Wer kennt sie nicht, die paradiesisch anmutenden Bacardi-Filmclips, in denen sich junge Männer und Frauen glücklich lächelnd um ein Glas Rum mit cubanischem Flair bewegen. Hinter der Inszenierung dieser Idylle ist aber leider eine andere Realität versteckt. Die Firma

Bacardi gehört bereits seit Jahrzehnten zu den Hauptfinanziers der reaktionären und teilweise terroristisch agierenden exilkubanischen Organisationen in Florida, insbesondere der "Fundación Nacional Cubano Americana" (FNCA).

Dies weist der kolumbianische Publizist Hernando Calvo Ospina in seinem gerade in deutsch erschienen Buch "Im Zeichen der Fledermaus. Die Rum-Dynastie Bacardi und der geheime Krieg gegen Kuba" systematisch nach.

Jedes Mittel recht?

Mit der Ära Reagan (US-Präsident von 1980-88) wurde der Kampf gegen Cuba immer mehr "modernisiert": intensive Lobbyarbeit gegenüber Präsidenten, Abgeordneten, Geheimdiensten usw. Sowohl bei der Durchsetzung der absurden anticubanischen US-Gesetze (Toricelli- und Helms-Burton) spielten Bacardi-Manager eine gewichtige Rolle und sie sorgen sich sehr um die Zukunft Cubas: die viele Cubagegner der USA versammelnde "Blue Ribbon Commission on the Economic Reconstruction of Cuba" machte sich Gedanken, wie Cuba in eine neoliberale Marktwirtschaft überführt werden könne und gab an, für die Privatisierung der cubanischen Wirtschaft Käufer gefunden zu haben, die bereit seien, 15 Mio US$ für 60% des cubanischen Bodens und anderer Werte zu bezahlen.

Bevorzugte Behandlung soll laut diesem Plan - kein Wunder - u.a. Bacardi erhalten. Und in einem FNCA-Vorstandspapier von 1990, heißt es nach der Aufzählung anticubanischer Pläne in Fettdruck: "Wir schrecken vor nichts und niemandem zurück. Wir wünschen es zwar nicht, aber wenn Blut fließen muss, so soll es fließen."

Rücksichtsloser Wirtschaftskrieg auf Alkoholbasis

Eine neue Strategie versucht Bacardi seit Mitte der 90er Jahre (Cuba hatte trotz aller Unkenrufe den Zusammenbruch des RGW überstanden!) nun auf dem wirtschaftlichem Feld. Denn damals "sagte Bacardi dem französisch-cubanischen Konsortium Pernod-Ricard-Havana Rum and Licours" den Kampf an, um ihm das Recht auf das Markenzeichen Havana Club-Rum zu nehmen."

Havana Club ist im Sektor des kubanischen Rum-Exports die wichtigste Deviseneinnahmequelle und stellt die bekannteste Rum-Marke dar. Daher ist diese Marke zur erklärten Zielscheibe antikubanischer Bacardi-Politik geworden.

Durch politische und rechtliche Manöver, die internationalem Recht und juristischen Grundsätzen wiedersprechen, begann Bacardi - als Havana Club auf dem Weltmarkt Erfolge zu erzielen begann - seine Zerstörungsversuche gegen die cubanische Marke. Unter Mithilfe reaktionärer US-Abgeordneter wurde 1998 speziell für (und auf Betreiben von) Bacardi eine Gesetzespassage (Amendment 211) geschaffen, die Bacardi nutzte, in den USA einen Rum namens "Havana Club" zu verkaufen. Derzeit läuft dagegen noch ein Berufungsverfahren in den USA.

So nicht!

Gegen diese spezielle Form der Aggression gegen die Wirtschaft Cubas wurden vor einigen Jahren in mehreren europäischen Ländern (Großbritannien, Belgien etc.) Kampagnen und Aktivitäten speziell gegen die Machenschaften von Bacardi gestartet.

Seither haben sie durch Aktivitäten der Soligruppen in Spanien (SODEPAZ) einen neuen Schub erhalten. Heute sind auch mehrere deutsche Kuba-Solidaritätsgruppen aktiv (darunter Kuba-Solidaritätsgruppen in Berlin, Köln, Freiburg und Essen). So wurden beispielsweise Tausende Getränkehandlungen in Deutschland über diese Machenschaften der Firma Bacardi informiert.

Die in Deutschland und anderen Staaten aktiven Gruppen gegen die anticubanischen Bacardi-Machenschaften verstehen sich als Teil dieser im Kontext der Globalisierungskritik wachsenden Bewegung. Der internationalen Kampagne geht es nicht um eine Verdrängung von Bacardi-Produkten, sondern darum, so lange Druck auszuüben, bis dieser Konzern seine aggressiven, reaktionären Aktivitäten gegen Cuba einstellt.

Was kann noch getan werden?

Mit konkreten Aktionen wollen wir einen Beitrag gegen die heutige neoliberale Globalisierung und für eine nachhaltigere Konsumweise und fairen Handel leisten. Jede/r kann sich an dieser Kampagne beteiligen, eigene Ideen für Aktionen entwickeln und umsetzen. Und jede/r kann z.B. als Gast in einer Bar die Kritik an Bacardi offensiv ansprechen.

* Bremen-Cuba: Solidarität konkret * Cuba Sí – AG der PDS * Freundschaftsgesellschaft Berlin – Kuba e.V. * Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba * Freundschaftsgesellschaft BRD – Kuba e.V. (RG Essen) * Soli Cuba e.V. Düsseldorf-Rommerskirchen * Frank Schwitalla, Vors. Netzwerk Cuba

 

Kontakt: Freundschaftsgesellschaft Berlin – Kuba e.V. fg-berlin-kuba@gmx.de

Die Stalin-Ära und der Anti-„Stalinismus"

Andrea Schön: Geschichtslügen: Fundamente des Anti-"Stalinismus"

Die wichtigsten Forschungsergebnisse nach Öffnung der Kreml-Archive

Der Anti-"Stalinismus", das trojanische Pferd in der kommunistischen Bewegung, steht und fällt mit dem Begriff des Stalinismus, d.h. einer aus der Personalisierung erwachsenen begrifflichen Verallgemeinerung "unsozialistischer" Phänomene - vulgo: In der Stalinzeit wurde heftig von "sozialistischen Prinzipien" abgewichen, und daran ist vor allem Stalin schuld. Verstanden wird dabei im abstrakt-revisionistischen Sprachgebrauch ein mehr oder minder kohärenter "Politiktyp" einer auf sozialistischer Ökonomie basierenden Gesellschaft, der auf Elementen wie "Überzentralisierung" in den Strukturen von Partei und Gesellschaft, administrativ-bürokratischen Methoden anstelle von kollektiven Entscheidungsprozessen bis hin zu "Kommandostrukturen" insbesondere in der Wirtschaft etc. beruht, zur Entfremdung des einzelnen vom kollektiven Eigentum, zu gesellschaftspolitischer Passivität und schließlich zur Abstumpfung der Massen zu unkritischen Befehlsempfängern führt. Damit einher geht die Kritik, daß jener "Politiktyp" sich außerstande erwiesen habe, die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution (Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheitsrechte, Pluralismus etc.) positiv aufzuheben, d.h. ihre progressiven Aspekte in die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft einzubeziehen. Noch weiter zugespitzt, wird in geschichtsphilosophischer Manier in Anlehnung an den Verlauf der französischen Revolution ein "Thermidor" in der Sowjetunion ausgemacht, d.h. die angebliche Vernichtung der Avantgarde der Revolution zugunsten der Herrschaft einer privilegierten bürokratischen Kaste.

Obwohl diese Ansätze sich marxistischer Begrifflichkeiten befleißigen, zeigt sich beim näheren Hinsehen, wie wenig die Dialektik zwischen Ökonomie und Politik im Sozialismus und damit einhergehend der Zusammenhang zwischen nationalem und internationalem Klassenkampf unter den konkret-historischen Bedingungen beachtet wird. Die Thematik ist allerdings zu komplex, um sie in einem kleinen Artikel auch nur ansatzweise sinnvoll zu behandeln. Es sind dazu auch schon viele wertvolle Analysen in der offensiv und in der Zeitschrift Rotfuchs erschienen und werden sicherlich auch noch in Zukunft erscheinen.

Ich möchte mich in diesem Artikel auf jene Zahlen und Fakten konzentrieren, die als "Hintergrundstrahlung" der vorgenannten "Stalinismus"-Debatte immer mitschwingen – ob man sich auf sie explizit bezieht oder nicht: Es handelt sich um die "Opfer des Stalinismus", deren vermutete Zahl den zumeist völlig unreflektierten Ausgangspunkt einer solchen Debatte bildet; unreflektiert deshalb, weil es an erster Stelle die Frage des Gegners ist, an der man (Kommunist) sich abarbeitet, dabei unmerklich bis unweigerlich in eine völlig metaphysische, d.h. ahistorisch moralisierende Diskussion gerät - und in jene Defensive, in die eigentlich der Gegner gehört, der es bis heute nicht verwinden kann, daß die Sowjetunion unter Stalin dem imperialistischen Lager seine bisher größten und schmachvollsten Niederlagen beigebracht hat.

Man stelle sich z.B. vor, Stalin hätte mit seinem Team in nur einem Jahrzehnt die Sowjetunion aus dem Mittelalter in die Neuzeit navigiert, anschließend die Hitlerarmee zerschmettert und im Anschluß daran das Land binnen fünf Jahren wieder auf Vorkriegsniveau gebracht – und das Ganze ohne eine "Unzahl" von Opfern, die natürlich ein riesiges Ausmaß annehmen muß, damit auch der skrupelloseste Genosse, moralisch bis ins Mark erschüttert, niemals mehr aus der Frage entlassen wird: "War das die Sache wert??"

Nach Vernachlässigung des ideologischen Phrasengeflechts um den Stalinismus-Begriff bleibt als Kern: die Anzahl der Opfer. Im folgenden möchte ich mich mit dem hierzu vorliegenden Datenmaterial beschäftigen, wie es insbesondere von Mario Sousa, Parteimitglied der schwedischen KPML(r), in seinem Artikel "Lies concerning the history of the Soviet Union" (Lügen in Bezug auf die Geschichte der Sowjetunion) zusammengetragen wurde.

Nach Öffnung der Archive des Zentralkomitees der KPdSU erschienen im Jahre 1990 einige wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, die in der Weltöffentlichkeit kaum Beachtung fanden – anders als etwa das berüchtigte "Schwarzbuch des Kommunismus" (Stephane Courtois et al., Frankreich 1997), das die "Stalin-Opfer" auf bis zu 20 Millionen hochrechnet (pikanterweise entspricht diese Zahl den russischen Kriegsopfern im Zweiten Weltkrieg) oder ähnlich illustre Literatur, die nach dem "Wer bietet mehr?"-Paradigma operiert.

Nazis lancieren Opfer-Legende

Bevor die aufgedeckten statistischen Daten genauer betrachtet werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der Opferlegende geworfen.

Wie bereits 1925 in Hitlers "Mein Kampf" angekündigt, galt die Ukraine als die "Kornkammer" für das "Volk ohne Raum" und damit als eines der wichtigsten Kriegsziele des deutschen Faschismus im Osten. Um den kriegerischen Feldzug propagandistisch vorzubereiten, startete Göbbels eine Hetzkampagne gegen die Bolschewiken der Ukraine, die angeblich ihr Volk einer bewußt von Stalin provozierten Hungerkatastrophe auslieferten. Die Kampagne erwies sich allerdings als allzu durchsichtig im Hinblick auf die dahinter stehenden faschistischen Kriegsziele.

Unterstützung nahte jedoch von William Hearst, dem Gründer der Regenbogenpresse in den USA, dem in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts 25 Tageszeitungen, 24 Wochenzeitungen, 12 Radiostationen, eine der ersten Fernsehstationen und 2 Nachrichtenagenturen gehörten. Die Gesamtauflage der Zeitungen betrug 13 Millionen Exemplare pro Tag und wurde von einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung in den USA gelesen. 1934 wurde der ultra-konservative Nationalist und Antikommunist Hearst von Hitler als Gast und Freund empfangen. Nach diesem Besuch waren Hearsts Zeitungen plötzlich voll von Horrorstories über die Sowjetunion – von angeblichem Völkermord über Fälle von Sklaverei, einer im Luxus schwelgenden Führung etc. Das Material lieferte die Gestapo.

Zu den ersten Kampagnen gehörte die besagte über die ukrainische Hungersnot: "6 Millionen Menschen sterben Hungers in der Sowjetunion", titelte die Chicago American am 18.2.1935 und lancierte Berichte, wonach diese von den Bolschewiki absichtlich herbeigeführt worden sei. (Nebenbei: Der dafür bezahlte Lohnschreiber nannte sich Thomas Walker, ein angeblich weitgereister Journalist, der jahrelang die Sowjetunion durchquert hatte. Wir kommen auf ihn noch zurück.)

Tatsächlich wissen wir, daß der Beginn der dreißiger Jahre von heftigen Klassenauseinandersetzungen auf dem Lande geprägt war: Arme, landlose Bauern revoltierten gegen die Kulaken, reiche Landbesitzer, um die Bildung von Kolchosen (Genossenschaften) durchzusetzen. Ein großer Teil der Kulaken wiederum versuchte seinerseits die Einbringung seines riesigen Privateigentums an Boden und Landwerkzeugen in die Kolchosenwirtschaft zu verhindern – indem er sein Vieh abschlachtete, durch Sabotageaktionen oder durch gezielte Unterwanderung der Kolchosen. Insgesamt waren 120 Millionen Bauern in diese heftigen Klassenkämpfe verwickelt. Die Partei hatte dabei die extrem schwierige Aufgabe, die Massenbewegung zur Enteignung der Kulaken in geordnete Bahnen zu lenken und zugleich die Landfrage als Klassenfrage grundsätzlich zu lösen (d.h. die Enteignung der Kulaken durchzusetzen). Insbesondere die Zusammenstöße mit rechten Nationalisten in der Ukraine führten zu heftigen Nahrungsmittelengpässen. Aber es war gerade diese reaktionäre Clique, die die Nazis während der Besatzung in ihrem Völkermord an den Juden unterstützte und nach dem Zweiten Weltkrieg im U.S.-amerikanischen Exil zynischerweise die Mähr vom "ukrainischen Holocaust" in die Welt setzte, der auch noch der Opferzahl der Juden entsprach: 6 Millionen (vgl. dazu Martens, S. 129 ff).

Opfer-Legende zum Zweiten

Die Lügen der Nazis überstanden den Zweiten Weltkrieg, indem sie vom amerikanischen und vom britischen Geheimdienst (CIA und MI5) kultiviert wurden und immer einen bevorzugten Platz in der Propaganda gegen die Sowjetunion einnahmen. Auch McCarthys Hexenjagd in den fünfziger Jahren basierte auf den Märchen der Millionen Hungertote in der Ukraine. 1953 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel "Black Deeds of the Kremlin" (Die schwarzen Taten des Kreml), finanziert von in die USA geflüchteten ukrainischen Nazi-Kollaborateuren. Während der US-Präsidentschaft von Ronald Reagan in den Achtzigern wurde dieselbe Propaganda-Platte erneut aufgelegt, und 1984 erhielt diese durch das Buch eines Harvard-Professors mit dem Titel "Human Life in Russia" (Leben in Rußland) wissenschaftliche Weihen. Im Jahre 1986 erschien ein weiteres Buch zum Thema, diesmal von einem ehemaligen Mitglied des britischen Geheimdienstes, Robert Conquest, seines Zeichens Professor an der Stamford University in Kalifornien, mit dem Titel "Harvest of Sorrow" (in deutscher Übersetzung: Ernte des Todes). Für dieses Werk erhielt Robert Conquest 80.000 US-Dollar von der faschistischen Ukraine National Organisation, die 1942 in der Ukraine eine Partisanenarmee zur Unterstützung der Nazis aufbaute und deren Mitglieder zum größten Teil als Polizisten, Hinrichtungskommandos, Partisanenjäger und örtliche Verwaltungsbeamte für die Gestapo oder die SS gearbeitet hatten (vgl. Martens, S. 127). Diese Organisation finanzierte im übrigen auch 1986 einen Film mit dem Namen "Harvest of Despair" (wörtlich: Ernte der Verzweiflung), der u.a. auf Conquests Material basiert. Zu jenem Zeitpunkt hatten die angeblichen Hungertoten der Ukraine bereits eine stattliche Zahl von 15 Millionen erreicht.

Ein Lichtblick in dem immer wieder neu aufgelegten Lügengespinst ist die Veröffentlichung von Douglas Tottle, einem kanadischen Journalisten, dessen Buch mit dem Titel "Fraud, Famine and Fascism, The Ukrainian Genocide Myth from Hitler to Harvard" (Fälschung, Hunger und Faschismus,Der Mythos vom ukrainischen Völkermord von Hitler bis Harvard) 1987 in Toronto erschien und materialreich die hartnäckig konservierte Lügenpropaganda widerlegte. Unter anderem konnte er nachweisen, daß diverse Autoren, darunter Conquest, Fotos von hungernden Kindern verwendet haben, die nachweislich aus dem Jahre 1922 stammen - Folgen des Interventionskrieges gegen die Sowjetunion! Des weiteren weist Tottle nach, daß Thomas Walker, jener Journalist, der für die Horrorberichte der Ukraine verantwortlich zeichnete, in Wirklichkeit auf den Namen Robert Green hörte, ein entlaufener Strafgefangener aus dem Staatsgefängnis von Colorado war und vor Gericht zugab, niemals in der Ukraine gewesen zu sein. Und ausgerechnet die Berichte des eigentlichen Moskau-Korrespondenten der Hearst-Presse, Lindsay Parrott, z.B. über die ausgezeichnete Ernte in der Sowjetunion im Jahre 1933 und die erzielten Fortschritte in der Ukraine, seien nie veröffentlicht worden. Parrott hielt sich 1934 in der Ukraine auf und konnte nach dem erfolgreichen Erntejahr keinerlei Anzeichen einer Hungersnot bemerken (Tottle; zit. n. Martens, S. 116).

Conquest und Solschenizyn - Opferlegende zum Dritten

Nach wie vor zu den berühmtesten Autoren über Millionentote in der Sowjetunion gehört Robert Conquest, der eigentliche Schöpfer aller Mythen und Lügen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Verbreitung fanden. Seine bekanntesten Bücher sind "The Great Terror" (Der große Terror) von 1969 und "Harvest of Sorrow". Danach sind nicht nur Millionen Menschen in der Ukraine Hungers gestorben, sondern ebenso in den Arbeitslagern des Gulag und im Zuge der Moskauer Prozesse 1936-38. Die Quellen von Conquest sind exilierte Ukrainer in den USA, eine illustre Gesellschaft, die den rechtesten Parteien angehörte und die Nazis im Zweiten Weltkrieg unterstützte. Viele der Helden von Conquest sind bekannt als Kriegsverbrecher, die am Genozid an der jüdischen Bevölkerung in der Ukraine 1942 beteiligt waren, darunter der verurteilte Kriegsverbrecher Mykola Lebed, Sicherheitschef in Lwow während der Besatzung. Er wurde unter die Fittiche der CIA genommen, der er als "Informations"quelle zur Verfügung stand.

Conquests Vergangenheit als ehemaliger Agent in der Desinformationsabteilung (Information Research Department (IRD)) des britischen Geheimdienstes – zuständig für das gezielte Lancieren von "Informationen" in der ausländischen Presse - wurde am 27.1.1978 in einem Artikel des Guardian enthüllt. Das IRD wiederum erhielt traurige Berühmtheit durch seine Verstrickung in den Rechtsextremismus, weshalb es seine Tätigkeit 1977 einstellen mußte. Bis dahin gelang es ihm, mehr als 100 der bekanntesten Journalisten Großbritanniens - von der Financial Times, The Times, dem Economist, dem Daily Mail und Daily Mirror, The Express, The Guardian etc. - mit Desinformationsmaterial zu versorgen. Robert Conquest arbeitete für den IRD bis 1956 mit der Aufgabe, zur sogenannten "schwarzen Geschichte" der Sowjetunion beizutragen. Auch nachdem Conquest offiziell den Dienst verlassen hatte, schrieb er seine Bücher mit dessen Unterstützung. So bestand "The Great Terror" im wesentlichen aus Material, das er in seiner Zeit beim Geheimdienst gesammelt hatte, und erschien mit Unterstützung des IRD. Conquests Hauptadressaten waren nützliche Idioten wie Universitätsprofessoren und Medienleute, die seinen Lügen ein breitestmögliches Publikum bescherten.

Ein weiterer berühmter "Gulag"-Autor ist der hinlänglich bekannte Alexander Solschenizyn, der wegen konterrevolutionärer Aktivitäten in Form von Verbreitung antisowjetischer Propaganda 1946 zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt worden war. Er vertrat die Ansicht, daß der Krieg gegen Nazideutschland durch einen Kompromiß mit Hitler zu verhindern gewesen wäre, und klagte die sowjetische Regierung und Stalin an, angesichts der schrecklichen Kriegsfolgen eine noch schlimmere Rolle als Hitler gespielt zu haben. Solschenizyn machte keinen Hehl aus seinen Nazisympathien. Mit Zustimmung und Hilfe Chruschtschows begann er 1962 mit der Veröffentlichung seiner Bücher, 1970 erhielt er für seinen "Archipel Gulag" den Nobelpreis für Literatur, 1974 emigrierte er in die Schweiz und anschließend in die USA. Dort wurde er gerne als Vortragsreisender herumgereicht, u.a. zum AFL-CIO Gewerkschaftskongreß im Jahre 1975 geladen und am 15.7.1975 sogar vor den US-Senat zur Einschätzung der Weltlage. Er agitierte für eine erneute Intervention in Vietnam (nach der Niederlage der USA!) zur Befreiung der angeblich Tausenden von gefangenen und versklavten U.S.-Soldaten sowie für einen amerikanischen Einmarsch in Portugal angesichts der sogenannten Nelken-Revolution 1974. Konsequenterweise betrauerte er die Befreiung der portugiesischen Kolonien in Afrika und propagierte die weitere Aufrüstung der USA gegen eine Sowjetunion, die angeblich über fünf- bis siebenmal so viele Panzer und Flugzeuge verfügte und über zwei- bis drei-, wenn nicht fünfmal so viele Atomwaffen. Besonders pikant: Im spanischen Fernsehen warnte er 1976 vor demokratischen Liberalisierungen u.a. mittels Verweis auf die 110 Millionen Opfer des russischen Sozialismus. Solschenizyns Sympathie für das ehemalige Zarenregime, die russisch-orthodoxe Kirche und seine pro-faschistischen Äußerungen ließen ihn als antisozialistischen Propagandisten schließlich in den Augen kapitalistischer Meinungsmacher erheblich an Wert verlieren (vgl. Sousa).

Die statistischen Methoden der Opferzähler

Conquest, Solschenizyn sowie der ebenfalls hinlänglich bekannte "Antistalinist" Roy Medwedew verwendeten für ihre Opferzählungen statistisches Material aus der Sowjetunion, z.B. nationale Volkszählungen. Auf diese wurde ungeachtet der konkreten Situation im Lande noch ein statistischer Bevölkerungszuwachs geschlagen. Daraus ergab sich eine Soll-Einwohnerzahl für die jeweils betreffenden Jahre. Die Differenz zu den Ist-Zahlen bedeutete danach entweder Tod oder Gefangenschaft. Tottle beschreibt diese Methode an folgendem Beispiel: "Nimmt man die Angaben der Volkszählung des Jahres 1926 (...) und diejenigen der Erfassung vom 17. Januar 1939 (...) sowie einen jährlichen Wachstumsdurchschnitt vor der Kollektivierung (2,36%), so kann errechnet werden, daß die Ukraine (...) im Zwischenzeitraum dieser beiden Volkszählungen 7,5 Millionen Menschen verloren hat" (zit. n. Martens, S. 122). Es ist klar, daß jeder halbwegs ernst zu nehmende westliche Wissenschaftler sich gegen eine solche Methode verwahren würde – ginge es nicht um die Sowjetunion. (Die Ukraine hatte im Jahre 1939 nicht einmal die gleichen Grenzen wie 1926, abgesehen von weiteren Faktoren wie Geburtenrückgang infolge des Interventionskrieges, Wechsel von eingetragener Nationalitätszugehörigkeit, Migrationen etc.)

Conquest errechnete auf diese Weise 1961 6 Millionen Hungertote in der Sowjetunion zu Beginn der 30er Jahre und erhöhte diese Zahl 1986 auf 14 Millionen. Für die Moskauer Prozesse allein errechnete er sieben Millionen Gefangene 1937-38 und eine Gesamtzahl von 12 Millionen politischen (!) Gefangenen in den Arbeitslagern im Jahre 1939 (im Jahre 1950 soll es abermals 12 Millionen politische Gefangene in der SU gegeben haben). Die gewöhnlichen Kriminellen haben nach Conquest diese Zahl noch bei weitem übertroffen, so daß in den Arbeitslagern angeblich 25-30 Millionen Gefangene saßen. Von den politischen Gefangenen seien zwischen 1937 und 1939 eine Million ermordet worden, weitere zwei Millionen seien Hungers gestorben. Einschließlich "statistischer Anpassungen" kam Conquest auf insgesamt 12 Millionen getötete politische Gefangene zwischen 1930 und 1953. Zusammen mit den Hungertoten der dreißiger Jahre ergibt das 26 Millionen Todesopfer auf das Konto der Bolschewiken (Stalin).

Die Phantasiezahlen erschienen in der bürgerlichen Presse der sechziger Jahre als Fakten, die angeblich auf wissenschaftlich-statistischen Methoden beruhen, und – obwohl maßgeblich aus dem Hause CIA/MI5 stammend - wurden bzw. werden sie bis heute von weiten Teilen der westlichen Bevölkerung (einschließlich der Linken) als bare Münze genommen. Gerade von jenen sich als links, progressiv, marxistisch etc. verstehenden Kreisen sollte man annehmen, daß sie die Quellen jeder Berichterstattung über die SU schon aus Prinzip unter die Lupe nehmen anstatt zwanghaft jeden Horrorbericht (insbesondere über die "Stalinzeit") nachzuäffen.

Doch die Situation verschlimmerte sich noch wesentlich unter Gorbatschow. Bis 1990 konnten Figuren wie Solschenizyn, Sacharow und Medwedew in der Sowjetunion niemanden mit ihren Hirngespinsten beeindrucken. Als dann aber die "freie Presse" eröffnet wurde, galt alles Oppositionelle und gegen den Sozialismus Gerichtete plötzlich als positiv und berichtenswert – mit desaströsen Folgen: Eine unglaubliche Inflation der angeblich Verhafteten und Getöteten setzte ein, und nach dem Motto "Wer bietet mehr?" verstieg man sich schon bald in die zig Millionen "Opfer der Kommunisten". Die Hysterie der von Gorbatschow protegierten "freien Presse" spülte wieder die Lügen von Conquest und Solschenizyn an die Oberfläche und forderte die Öffnung der Archive.

Gorbatschow öffnet die Archive und die Opferlegende zerbricht. Der offizielle Bericht über das sowjetische Strafsystem

Als im Jahre 1990 schließlich Gorbatschow die Archive des Zentralkomitees der KPdSU für historische Studien öffnen ließ, geschah etwas sehr Merkwürdiges: Die so lange Zeit ersehnte Öffnung der Archive, die allen Todesopferspekulanten die endliche Bestätigung ihrer mühsamen Rechnereien verheißen hatte, wurde plötzlich mit völligem Desinteresse und Grabesstille in den Medien quittiert.

Die Forschungsergebnisse, die die russischen Historiker W.N. Zemskow, A.N. Dugin und O.W. Xlewnjuk (Schreibweise aus dem Englischen übertragen!) seit 1990 in wissenschaftlichen Fachzeitschriften vortrugen, blieben völlig unbeachtet. Die Forschungsergebnisse gelangten nie über die engen professionellen Kreise der Fachzeitschriften hinaus und waren damit unfähig, die allgemeine Opferhysterie der großen Medien auch nur anzukratzen.

Auch im Westen wurden die Ergebnisse der Archivöffnung ignoriert und fanden sich weder in den großen Blättern der Printmedien noch in irgendeinem Fernsehsender. Die linke Presse dokumentierte ebenfalls wenig sichtbares Interesse an den Forschungsergebnissen, nicht zu reden von offizieller Revidierung bis dato unkritisch kolportierter Schauermärchen zum Thema "Verbrechen des Stalinismus". Was war geschehen?

Der offizielle Bericht über das sowjetische Strafsystem umfaßt beinahe 9.000 Seiten. Es haben viele Autoren daran mitgearbeitet, zu den bekanntesten zählen die genannten russischen Historiker Zemskow, Dugin und Xlewnjuk. Im Westen wurde der Bericht als Ergebnis der Zusammenarbeit von Forschern aus verschiedenen westlichen Ländern vorgestellt. Die Daten, auf die sich Mario Sousa bezieht und die wie eingangs erwähnt das eigentliche Thema dieses Artikels sind, wurden im Jahre 1993 veröffentlicht:

- in der französischen Zeitschrift "L'Histoire" (Die Geschichte) von Nicholas Werth, Forschungsleiter des französischen Forschungszentrums Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS – Nationales wissenschaftliches Forschungszentrum)

- in der Zeitschrift "American Historical Review" (Amerikanische Geschichtsbetrachtung) von J. Arch Getty, Geschichtsprofessor an der Universität von Kalifornien, Riverside, zusammen mit G.T. Rettersporn, einem CNRS-Forscher, sowie dem russischen Wissenschaftlicher Zemskow vom Institut für russische Geschichte an der russischen Akademie der Wissenschaften

Mario Sousa weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß keiner der beteiligten Forscher dem sozialistischen Lager zuzurechnen ist, es sich vielmehr um bürgerliche, zum Teil offen reaktionäre Forscher handelt – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß diese ihre wissenschaftliche Integrität über jede ideologische Befangenheit stellen, d.h. keine Datenfälschung im Interesse ihrer ideologischen Orientierung bzw. ihres Geldbeutels betreiben.

So geben die Daten reichhaltig Auskunft zu den folgenden Fragestellungen:

-Bestandteile des sowjetischen Strafsystems

-Anzahl der politischen und nicht-politischen Gefangenen-Anzahl der Todesopfer in den Arbeitslagern

-Anzahl der Todesurteile vor 1953, insbesondere in den Säuberungen der Jahre 1937-38

-durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafen

Der Gulag

Ab 1930 zählten zum sowjetischen Strafsystem Gefängnisse, die Arbeitslager und Arbeitskolonien des Gulag sowie spezielle offene Bereiche und Geldstrafen.

Die Untersuchungshaft fand in den normalen Gefängnissen statt. Die Strafen bei einem Schuldspruch reichten von einer Geldstrafe in Form eines bestimmten Prozentsatzes vom Lohn für einen definierten Zeitraum über eine Haftstrafe bis hin zum Todesurteil.

In die Arbeitslager wurden jene geschickt, die ein schweres Verbrechen begangen hatten (Mord/Totschlag, Raub, Vergewaltigung, Wirtschaftskriminalität etc.), sowie ein großer Teil der wegen konterrevolutionärer Aktivitäten Verurteilter. Auch jene, die zu mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden, konnten in Arbeitslager geschickt werden. Umgekehrt konnten Gefangene nach einer bestimmten Zeit im Arbeitslager in eine Arbeitskolonie oder in einen speziellen offenen Bereich überführt werden.

1940 gab es 53 Arbeitslager, in denen die Inhaftierten in großen Gebieten unter strenger Aufsicht arbeiteten.

Es gab 425 Arbeitskolonien, d.h. viel kleinere Einheiten als die Arbeitslager, mit einem freieren Reglement und weniger Aufsicht. Hierhin kamen Gefangene mit kürzeren Haftstrafen, deren Verbrechen bzw. politische Vergehen weniger schwerwiegend waren. Sie arbeiteten als gleichberechtigte Bürger in Fabriken oder auf dem Land und bildeten einen Teil der Zivilgesellschaft. In den meisten Fällen gehörte der gesamte Arbeitslohn dem Gefangenen, er war damit seinen Kollegen gleichgestellt.

Die speziellen offenen Bereiche waren in der Regel landwirtschaftliche Gebiete, in die Kulaken verbannt wurden, die im Zuge der Kollektivierung enteignet worden waren. Außerdem kamen dorthin auch Gefangene, die minderschwere Verbrechen begangen hatten.

454.000 sind nicht 9 Millionen!

Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die in den jeweiligen Lagern bzw. Gefängnissen zwischen 1934 und 1953 Inhaftierten, darunter den Anteil der wegen politischer Verbrechen Verurteilten sowie alle Todesopfer:

 

z. 1.

Januar

Arbeits-lager

politische

Gefangene

Anteil in %

Ge-storben

Anteil in %

 

vorzeitig

entlassen

Ent-kommen

Arbeits-kolonie

Gefäng-

nisse

Häftlinge

insgesamt

1934

510.307

135.190

26,5

26.295

5,2

147.272

83.490

   

510.307

1935

725.438

118.256

16,3

28.328

3,9

211.035

67.493

240.259

 

965.697

1936

839.406

105.849

12,6

20.595

2,5

369.544

58.313

457.088

 

1.296.494

1937

820.881

104.826

12,8

25.376

3,1

364.437

58.264

375.488

 

1.196.369

1938

996.367

185.324

18,6

90.546

9,1

279.966

32.033

885.203

 

1.881.570

1939

1.317.195

454.432

34,5

50.502

3,8

223.622

12.333

355.243

350.538

2.022.976

1940

1.344.408

444.999

33,1

46.665

3,5

316.825

11.813

315.584

190.266

1.850.258

1941

1.500.524

420.293

28,7

100.997

6,7

624.276

10.592

429.205

487.739

2.417.468

1942

1.415.596

407.988

29,6

248.877

18,0

509.538

11.822

360.447

277.992

2.054.035

1943

983.974

345.397

35,6

166.967

17,0

336.135

6.242

500.208

235.313

1.719.495

1944

663.594

268.861

40,7

60.948

9,2

152.113

3.586

516.225

155.213

1.335.032

1945

715.506

283.351

41,2

43.848

6,1

336.750

2.196

745.171

279.969

1.740.646

1946

600.897

333.833

59,2

18.154

3,0

115.700

2.642

956.224

261.500

1.818.621

1947

808.839

427.653

54,3

35.668

4,4

194.886

3.779

912.794

306.163

2.027.796

1948

1.108.057

416.156

38,0

27.605

2,5

261.148

4.261

1.091.478

275.850

2.475.385

1949

1.216.361

420.696

34,9

15.739

1,3

178.449

2.583

1.140.324

 

2.356.685

1950

1.416.300

578.912

22,7

14.703

1,0

216.210

2.577

1.145.051

 

2.561.351

1951

1.533.767

475.976

31,0

15.587

1,0

254.269

2.318

994.379

 

2.528.146

1952

1.711.202

480.766

28,1

10.604

0,6

329.446

1.253

793.312

 

2.504.514

1953

1.727.970

465.256

26,9

5.825

0,3

937.352

785

740.554

 

2.468.524

______________

Quelle: "Custodial Population 1934-1953" (Bevölkerung in Gewahrsam in der UdSSR 1934-1953), The American Historical Review

Aus diesen Zahlen läßt sich eine Reihe von Schlußfolgerungen ableiten:

Zunächst kann man sie mit den Daten von Robert Conquest vergleichen. Wir erinnern uns, daß nach Conquests Behauptung im Jahre 1939 12 Millionen politische Gefangene in den Arbeitslagern gewesen und davon 3 Millionen in der Zeit von 1937 bis 1939 ums Leben gekommen sind.

Und Conquest spricht in diesem Zusammenhang ausschließlich von politischen Gefangenen!

Im Jahre 1950 gab es nach Conquest ebenfalls 12 Millionen politische Gefangene. Wie man nun ersehen kann, stimmen seine Daten nicht einmal entfernt mit den recherchierten Archivdaten überein. 1939 betrug die Gesamtzahl aller Gefangenen in allen Formen des Gewahrsams insgesamt 2 Millionen. Von diesen waren 454.000 politischer Verbrechen für schuldig befunden – nicht 12 Millionen wie Conquest behauptet, und rund 165.000 starben zwischen 1937 und 1939 im Arbeitslager – nicht etwa 3 Millionen; das sind in diesem Zeitraum 5,3% aller Arbeitslagerinsassen. Zum leichteren Überblick:

 

 

Im Zeitraum

nach Behauptung Conquests

nach Archivdaten

1939

12 Mio. politische Gefangene in Arbeitslagern

454.432

1937-39

3 Mio. tote politische Gefangene

166.424Tote insgesamt

1950

12 Mio. politische Gefangene

578.912

Insgesamt lebten im angegebenen Zeitraum 2,5 Millionen Sowjetbürger in Gefangenschaft, d.h. 2,4% der erwachsenen Bevölkerung - sicherlich keine geringe Zahl und ein Indikator für die noch bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft. Trotzdem lag die Zahl noch unter der der imperialistischen Hauptmacht. Ein Vergleich mit den Daten aus den USA: 1996 gab es im reichsten Land der Welt 5,5 Millionen Gefangene, d.h. 2,8% der erwachsenen Bevölkerung.

Nun zur Frage der Todesopfer. Der prozentuale Anteil der im Arbeitslager Verstorbenen variiert im angegebenen Zeitraum zwischen 0,3% und 18%. Die Todesursachen waren im wesentlichen auf die allgemeine Mangelsituation im Lande zurückzuführen, insbesondere die medizinische Versorgungslage zur Bekämpfung von Epidemien. Das betraf damals allerdings wie erwähnt nicht nur die Sowjetunion, sondern auch alle entwickelten Länder. Erst mit der Erfindung des Penicillin während des Zweiten Weltkrieges wurde ein wirksames Mittel gegen ansteckende Krankheiten geschaffen. Tatsächlich waren es wiederum die Kriegsjahre, in denen die Hälfte aller Todesfälle im untersuchten Zeitraum zu verzeichnen war. Nicht zu vergessen die 25 Millionen Todesopfer, die "in Freiheit" starben. Der systematische Rückgang der Todesopfer nach dem Zweiten Weltkrieg (nominal und prozentual) ist denn auch auf die verbesserte medizinische Versorgung zurückzuführen.

Todesurteile und Hinrichtungen

Robert Conquest behauptet, die Bolschewiken hätten 12 Millionen politische Gefangene in den Arbeitslagern zwischen 1930 und 1953 getötet. Davon sei 1 Million bei den Säuberungen 1937 und 1938 umgekommen. Solschenizyn spricht gar von zig Millionen Toten in den Arbeitslagern, davon 3 Millionen allein 1937/38. Diese Zahl wurde im Zuge der "Wer bietet mehr?"-Kampagne unter Gorbatschow noch weit übertroffen. So nennt die Russin Olga Schatunowskaja etwa 7 Millionen Tote während der 1937/38 Säuberungen.

Die Daten aus diversen Archiven sprechen hingegen eine andere Sprache: Man muß dabei berücksichtigen, daß die Forscher sich verschiedener Quellen bedienten und diese miteinander abglichen. Dabei waren Doppelzählungen sicherlich nicht zu vermeiden. So wurden beispielsweise nach Dimitri Wolkogonow, von Jeltzin als Verantwortlicher für die Sowjetarchive ausersehen, 30.514 Personen bei Militärtribunalen in den Jahren vom 1.10.1936 bis 30.9.1938 zum Tode verurteilt. Eine andere Zahl stammt vom KGB: Nach Informationen, die im Februar 1990 der Presse freigegeben wurden, sind in den 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 681.692 in den Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der Überprüfung. Nach den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa die Zahl der tatsächlich vollstreckten Todesurteile 1937-38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in Haftstrafen umgewandelt worden bzw. basierten auf Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung.

Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in einem Arbeitslager. Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Eindruck, daß ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager nicht überlebte bzw. endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, daß die Strafzeit in der Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten nach der American Historical Review 82,4% der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre 1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6% zwischen 5 und 10 Jahren. Von den politischen Gefangenen erhielten 44,2% Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7% zwischen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen vor: 95,9% bis zu 5 Jahre, 4% zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1% über 10 Jahre.

Was die Kulaken betrifft, so wurden 381.000 Familien, d.h. 1,8 Millionen Menschen im Zuge der Enteignung in die Verbannung geschickt, wovon der kleinere Teil Arbeit in den Lagern oder Kolonien verrichten mußte. Aufgrund heftiger Klassenauseinandersetzungen zwischen den Kulaken und den ärmeren Bauern, die schließlich darin gipfelten, daß die Großbauern Kolchosfarmen überfielen, Bauern und Parteiarbeiter töteten, Felder anzündeten und Vieh abschlachteten, um Hungersnöte zu provozieren, wurden schließlich 1,8 Millionen der 10 Millionen Kulaken verbannt oder verurteilt. Bei diesen Klassenzusammenstößen waren wie erwähnt 120 Millionen Menschen involviert, so daß mit Sicherheit in diesem Zusammenhang auch manche Ungerechtigkeiten geschehen sind.

Die Säuberungen von 1937

Die Moskauer Prozesse waren der Endpunkt langjähriger Auseinandersetzungen mit Trotzki und seinen Anhängern, die die Beschlüsse des ZK kritisierten, umgingen, sabotierten und grundsätzlich nicht die innerparteilichen Mehrheitsverhältnisse akzeptierten. Das führte schließlich zu Kampfmitteln jenseits offizieller Diskurse: Industriesabotage, Spionage für den potentiellen Kriegsgegner (Deutschland, Japan) und schließlicher Landesverrat (Vereinbarungen zwischen Leo Trotzki und der deutschen Reichswehr bzw. Reichsregierung über die Abtretung großer Landesteile der Sowjetunion im Falle einer Naziinvasion, Umsturz der bestehenden und Ersetzung durch eine trotzkistische Regierung); vgl. u.a. Kahn & Sayers, Drittes Buch, S. 215 ff. Die Untersuchung der Umstände der Ermordung Kirows brachten nach und nach das verschwörerische Netzwerk ans Tageslicht.

Eine weitere Verschwörung fand in der Armee um Marschall Tuchatschewski statt, die eine Säuberung in der Roten Armee nach sich zog. Auch hierzu liegen von Conquest Horrorzahlen vor: Danach wurden 15.000 Offiziere und 20.000 Kommissare (d.h. die Hälfte der angeblich 70.000 Offiziere und politischen Kommissare der Roten Armee) gefangen genommen und entweder hingerichtet oder zu lebenslanger Haft in den Arbeitslagern verurteilt. Der Historiker Roger Reese gibt in seiner Arbeit "The Red Army and the Great Purges" (Die Rote Armee und die großen Säuberungen) hingegen folgende Fakten: Im Jahre 1937 gab es 144.300 Offiziere und politische Kommissare in Armee und Luftwaffe und 282.300 im Jahre 1939. Während der Säuberungen 1937/38 wurden 34.300 Offiziere und Kommissare aus politischen Gründen entlassen. Bis zum Mai 1940 wurden allerdings 11.596 rehabilitiert und wieder in ihre Posten eingesetzt. Das heißt, zu den Entlassenen zählten 22.705 Offiziere und Kommissare (davon 13.000 Armeeoffiziere, 4.700 Luftwaffenoffiziere und 5.000 politische Gefangene). Das sind insgesamt 7,7% aller Offiziere und Kommissare, wovon wiederum nur ein geringer Teil als Verräter verurteilt wurde, während der Rest ins zivile Leben zurückkehrte.

Insgesamt wird die Verfolgung der Konterrevolution als Klassenfrage unter anderem anhand der Zugehörigkeit politischer Gefangener zu bestimmten Berufsgruppen deutlich. So nennt Medwedew u.a.: Juristen, Verwalter im Erziehungswesen, Biologen, technische Intelligenz, Betriebsleiter, Chefingenieure, Maler, Schauspieler, Musiker, Architekten und Filmschaffende – klein- bis großbürgerliche Intelligenz. Das Wesen der "Repression" hat sich demnach von Lenin zu Stalin nicht geändert – daher im übrigen auch der Hinweis bürgerlicher Kritiker, bereits Lenin habe Verrat an den marxistischen Prinzipien begangen, Stalin habe das Ganze nur noch ins Monströse gesteigert. Tatsächlich war und ist die Bekämpfung der Konterrevolution die zentrale Klassenfrage, die Machtfrage der proletarischen Revolution, die Frage von Sein oder Nichtsein einer sozialistischen Gesellschaft. Sie ist mithin keine moralische Frage, zumal eine Revolution der denkbar ungünstigste Zeitpunkt ist, metaphysische Überlegungen über den Wert eines Menschenlebens anzustellen. Das mag zynisch klingen, ist darum aber weder weniger wahr noch wirklich: Der Imperialismus tötet täglich in der Dimension von Millionen; kein Mittel darf daher gescheut werden, diese Mordmaschinerie WIRKSAM außer Kraft zu setzen – damit die Menschheit endlich ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen kann und alsbald KEINE Opfer mehr zu zählen sind.

Andrea Schön, Dortmund

P.S. Noch ein Hinweis von Kenneth Neill Cameron, ehemaliger Professor an der New York University: In der Pariser Commune von 1870 war die Arbeiterklasse sich noch nicht der Brutalität bewußt, mit der die Bourgeoisie versucht, die verlorene Macht zurück zu gewinnen - wenn's sein muß, mit Hilfe ihrer erbitterten Feinde. Das Ergebnis: 30.000 Leichen säumten die Straßen von Paris, Bürgertum und Monarchie triumphierten. Dieser Erfahrung sollte man sich auch in Zukunft bei einem erneuten "Anlauf" wieder erinnern.

 

Literatur:

Cameron, Kenneth Neill: "Stalin - Man of Contradiction" (Stalin - Mann der Widersprüche), NC Press Limited, Toronto 1987
Martens. Ludo: "Stalin anders betrachtet", EPO VZW Verlag, Berchem/Belgien 1998
Sayers, Michael und Kahn, Albert E.: "Die große Verschwörung", Verlag Volk und Welt, 1949
Sousa, Mario: "Lies concerning the history of the Soviet Union", in: Proletären (Schweden), April 1998

 

Resonanz

Vera Butler: Zur Geschichte des Sozialismus

Zu Kurt Gossweilers Kritik an Fred Müller; in: Offensiv März-April 2002

Kurt Gossweilers Zusammenfassung der verschiedenen Etappen in der Bekämpfung des Revisionismus bietet eine willkommene und notwendige Übersicht der Konfrontation zwischen marxistisch-leninistischen Prinzipien und den bürgerlich-opportunistischen Tendenzen der Nachkriegsjahre. Kurt weist auf die Parallelen zwischen Tito – Chruschtschow – Gomulka – Kadar als den Hauptträgern des Revisionismus hin, die zur Schwächung und schließlich zum Kollaps des Sozialismus in ihren Ländern beitrugen.

Hat eine revisionistische Politik zum Untergang des Sozialismus und zur Restauration des Kapitalismus geführt? Um diese Frage zu präzisieren, zählt Kurt die Merkmale des Revisionismus auf, der (zusammengefasst) den Marxismus-Leninismus für veraltet erklärt, die Notwendigkeit einer proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats leugnet und die führende Rolle einer marxistisch-leninistischen Partei ablehnt, deren organisatorisches Prinzip der demokratische Zentralismus ist.

Kurt setzt sich mit Fred Müller auseinander, der den Niedergang des Sozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts dem Ausbleiben der Weltrevolution zuschrieb. Müller sah Russlands zunehmende wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem Westen als den Grund für eine unausbleibliche Niederlage. Kurt stellt die logische Frage, wieso der Kapitalismus einen großen Vorsprung erlangt haben sollte, wo ihm doch Osteuropa und China, Nordkorea und Vietnam abhanden kamen – wogegen die sowjetische Wirtschaft trotz dieser Erweiterung des sozialistischen Einflussbereiches angeblich zurückblieb?

Es handelt sich hier nicht um ein Paradoxon. Der Unterschied war, dass die Sowjetunion den brüderlichen Ländern großzügige wirtschaftliche Hilfe bot, wogegen die USA ihre Einflussgebiete seit jeher intensiv exploitierten. Die Nachkriegsindustrialisierung Polens, Ungarns, der Baltischen Staaten, die Weizenlieferungen an das hungernde Vietnam nach dem Sieg 1875, die Wirtschaftshilfe für Cuba sind bloß einige Beispiele dieser Belastung, die von der Mehrzahl der Sowjetbürger willig getragen wurde, selbst wenn es eigene Verzichte auf Konsumgüter bedeutete.

Das Argument über den Rückgang der wirtschaftlichen Potenz der UdSSR in den Nachkriegsjahren wurde durch die CIA weit verbreitet. Es entsprach nicht der Wirklichkeit, trotz der Belastung durch den „Rüstungswettlauf". Die CIA jonglierten mit Schätzungen, um sowjetische Leistungsstatistika zu „widerlegen". Müller war irre geführt, denn viele westliche akademische Quellen und die Medien propagierten das CIA-Modell. In Wirklichkeit progressierte die sowjetische Wirtschaft besser als die der Vereinigten Staaten, auch wenn die massiven Investitionen in Infrastrukturen notwendigerweise den Anteil der Konsumgüter beschränkten. Projekte wie Bratsk, die BAM-Eisenbahnlinie oder die Überlegenheit sowjetischer Raketen- und Allforschung, um nur einige zu nennen, seit weit bekannt. Außerdem gab es keine Arbeitslosigkeit, keine Inflation, und das Bildungswesen sowie die Gesundheitspflege waren vorbildlich. Es steht außer Zweifel, dass diese Errungenschaften der sozialistischen Wirtschaftsplanung zu verdanken waren, wie der heutige Zusammenbruch aller staatlicher Dienstleistungen und des Lebensniveaus in den früheren sowjetischen Republiken eindeutig belegen.

Das Ausbleiben der Weltrevolution erklärt Müller mit dem „Verrat der Sozialdemokratie". Kurt Gossweiler fragt, ob es sich nicht eher um einen „Verrat des Revisionismus" gehandelt habe. Hier stehen sich zwei Gesichtspunkte gegenüber, die im historischen Kontext analysiert werden müssen.

Die Weltrevolution, die zum marxistisch-leninistischen Konzept der revolutionären Entwicklungsstadien gehört, wurde nach der Oktoberrevolution und den Erfahrungen der Konterrevolution in Russland, aber auch in Polen, Deutschland und Ungarn zu einem Ziel der Zukunft. Stalins wenig ambitiöse, realistische Zielsetzung – „Sozialismus in einem Land" – entsprach den damaligen Kräfteverhältnissen und gewährleistete die soziale Umgestaltung und intensive Industrialisierung der Sowjetunion. Das Weltrevolutionsargument wurde weiterhin von Trotzki forciert, da es wohl seiner Idee von der „permanenten Revolution" einen theoretischen Anstrich gab, jedoch unter Kommunisten Konfusion zwischen Theorie und Praxis provozierte.

Es steht außer Zweifel, dass Chruschtschows Revisionismus die Bürokratisierung der KPdSU in Gang setzte. Anstatt eine führende Rolle in der sozialistischen Entwicklung der Sowjetunion auszuüben, wurde der Arbeitsstil der KPdSU zunehmend vom Formalismus geprägt. Die Kluft zwischen Werktätigen und Partei war auf die Dauer dazu angetan, den Zynikern und Opportunisten den Weg „nach oben" zu ebnen.

Allerdings bleiben mehrere Fragen offen. Wieso war es einer Einzelperson wie Chruschtschow möglich, im Alleingang derart tiefgreifende politische Änderungen durchzusetzen? Welche Rolle spielten die anderen Mitglieder des Politbüros? Wer informierte und beriet Chruschtschow, der von sich aus kaum gewusst hätte, wo er den Hebel für die revisionistischen Richtungsänderungen ansetzen musste, um den Einfluss des Marxismus-Leninismus zu untergraben? Derselbe Fragenkomplex bezieht sich auf die Koryphäen der „Perestroika", die Konterrevolutionäre Gorbatschow und Jeltsin – und ist bis heute unbeantwortet geblieben. Die Parallelen sind zu augenscheinlich, die Zerstörungen zu systematisch über eine lange Zeitspanne durchgeführt, um sie nur identischen ideologischen Abweichungen oder dem Voluntarismus einzelner Generalsekretäre zuzuschreiben.

So dürfen system-interne Faktoren, die zum Kollaps der Sowjetunion und der sozialistischen Länder Osteuropas führten, nicht ohne eine Analyse externer Einflüsse behandelt werden. Seit der Oktoberrevolution war Sowjetrussland und später die UdSSR unablässig der Subversion und der direkten militärischen Invasion seitens kapitalistischer Mächte ausgesetzt, gleich ob liberalen oder faschistischen Anstrichs. Für den Kapitalismus war die bloße Existenz eines alternativen Systems der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation eine Herausforderung, die außerdem wachsenden Anklang in den Ländern der „Dritten Welt" fand und die Monopolansprüche des Finanzkapitals in Frage stellte. Die Taktik der „psychologischen Kriegführung", von Allan Dallas bereits 1944 aus der Schweiz in Gang gebracht und von seinen Nachfolgern perfektioniert, sollte eine verheerende Wirkung auf die oftmals idealistischen und naiven Gemüter der Gegenspieler haben.

Ohne einen Überblick über das breite Spektrum der Kausalzusammenhänge werden Erklärungen für Bialowierze (Dezember 1991) und Alma Ata (Januar 1992), wo die Sowjetunion „formell" aufgelöst wurde, immer begrenzt bleiben. Vom Gesichtspunkt des historischen Materialismus sind geschichtliche Begebenheiten das Produkt antithetischer Spannungen, die sich zu einem gewissen Zeitpunkt zu unlösbaren Konflikten verschärfen und deren Überwindung durch die Kräfte des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritts den Anfang einer neuen Ära einleitet. Bis jedoch das Neue die Überhand gewinnt, sind Rückschläge unvermeidlich. Es ist daher notwendig, aus der Vergangenheit zu lernen, um Schlüsse für die Zukunft einer Welt des Sozialismus zu gewinnen.

Vera Butler, Melbourne

Monika Kauf: Die Bomben treffen uns alle gleichermaßen

Liebe Genossen! Vielen Dank für Eure Mühe, die Offensiv mit wissenswerten und streitbaren Themen immer wieder als eine wichtige linke Zeitschrift zu vertreiben und natürlich inhaltlich zu gestalten.

Mit dem „Parteienheft" hatte ich, wie viele andere, einige Probleme; nicht in erster Linie mit der Einschätzung, die ich nur teilweise zu teilen vermag, sondern in erster Linie, dass ich nicht glaube, dass diese Publikation der Sache dienlich ist! Die rasante Entwicklung zum weltweiten Krieg macht es unbedingt erforderlich, dass Kriegsgegner und allen voran die Kommunisten einheitlich gegen diese Gefährdung vorgehen. Dabei ist es aus meiner Sicht nicht so wichtig, wie im einzelnen bspw. Über Stalin gedacht wird oder ob die KPD eine andere Sicht auf Korea oder China hat oder ähnliche Dinge mehr.

Wenn wir uns nicht beeilen, über diese Grenzen hinweg endlich eine breite Antikriegsfront zu schaffen, den „Herren" dieser Welt mit einheitlicher Stärke Grenzen zu setzen, dann werden uns wohl die Bomben auf den Kopf fallen und dann ist alles zu spät! Es ist dann auch egal, wer welche Meinung hatte, die Bomben treffen uns alle gleichermaßen...

Zu Recht hat Rolf Vellay eine revolutionäre politische Führung für die Arbeiterklasse angemahnt und sich gegen die Spaltung der kommunistischen Parteien in der BRD „als die naturgemäß konsequentesten Kräfte im Kampf gegen die friedensgefährdende und volksfeindliche Politik des neuen deutschen Imperialismus" und der Lage in der Welt überhaupt ausgesprochen.

Das Sonderheft „Rolf Vellay" – vielen Dank an Euch und den Genossen Kurt Gossweiler – halte ich nicht nur für eine wichtige Lektüre, sondern für eine Analyse, die unser Denken und Handeln endlich von den Querelen gegeneinander zu einem dringend notwendigen Miteinander prägen sollte!

Monika Kauf, Berlin

Bundestagswahl

Redaktion Offensiv: Wählen gehen!

Die Bundestagswahl im September wird sehr unterschiedlich reflektiert.

I. Die einen geben eine Parole heraus, derzufolge man Stoiber stoppen müsse. Und sicherlich haben sie gute Argumente auf ihrer Seite: Eine konservative Regierung CDU/CSU/FDP könnte, nachdem Rot-Grün die letzten Reste von Gegenwehr der Arbeiterbewegung und der anderen sozialen Bewegungen in den letzten vier Jahren erfolgreich marginalisiert hat, angesichts dieser Trümmer ein noch rasanteres Tempo im Sozialabbau durchsetzen, Rentner, Kranke, Arbeitslose usw. bis an den Abgrund der absoluten Armut treiben, gleichzeitig die Angriffe auf die letzten Reste der Arbeiterrechte so verschärfen, dass man sich danach wie im 19. Jahrhundert fühlen wird. Das ist wahr. Allerdings hat die rot-grüne Regierung das alles in die Wege geleitet, ja erst möglich gemacht, sie geht vielleicht ein geringeres Tempo und weicht manchen extremen Grausamkeiten (noch) aus, aber eine Alternative ist das nicht. In diese Argumentation, Schröder sei das kleinere Übel, sollte man sich nun wirklich nicht einbinden lassen.

II. Die anderen sagen, nur eine starke PDS könne dafür sorgen, dass Rot-Grün in der kommenden Legislaturperiode nicht weiterhin eine solche unsoziale Politik macht wie bisher, denn nur eine starke PDS könne als linkes Korrektiv wirken und einen Kurswechsel einleiten. Auch das scheint uns keine Alternative zu sein, denn erstens hat die PDS sich bisher überall dort, wo sie in die Regierung gegangen ist oder sie diese als stiller Teilhaber „toleriert" hat, absolut nicht als linkes Korrektiv gezeigt, sondern – und das sieht man am deutlichsten in Berlin – die „neoliberalen" Sparprogramme übernommen und sich bemüht, das Ganze „in die Bevölkerung hinein zu moderieren" (Gysi). Und zweitens hat sich Roland Claus bei dem Hauptkriegstreiber dieser Welt, G.W. Bush, für den Aufruf dreier seiner Bundestagsabgeordneten entschuldigt, Bush und Schröder mögen doch ihre Kriege stoppen. Kurz danach bezichtigte die Parteivorsitzende Gaby Zimmer die drei Abgeordneten, die das Transparent im Bundestag hochhielten, öffentlich (Disput 6/02) der „subversiven Tätigkeit". Eine Partei, deren Bundestags-Fraktionsvorsitzender und deren Parteivorsitzende so etwas tun, ist keine Antikriegspartei mehr. Von ihr also eine inhaltliche Politik als tatsächliches linkes Korrektiv zu erwarten wäre blanke Illusion. Die PDS-Führung kippt schon um, bevor es überhaupt jemand von ihr verlangt hat. Deshalb muss man der bitteren Wahrheit ins Auge sehen: diese Partei macht nicht nur keine sozialistische Politik, sie macht auch keine soziale Reformpolitik. Und dass das viele Mitglieder der PDS gern anders hätten, ist zwar eine schöne, aber – so wie die PDS verfasst ist – folgenlose Tatsache.

III. Sehen wir weiter. Noch andere brechen aus anderen Gründen eine Lanze für die Wahl der PDS: Sie sagen, egal wie verkommen, korrupt, opportunistisch oder was auch immer die PDS sei, gelte sie als die linke Partei in Deutschland und deshalb müsse man sie stärken. Das hänge auch damit zusammen, dass eine PDS-Fraktion im Bundestag das politische Klima in Deutschland für die Linke positiv beeinflusse und damit die Spielräume für alle linken und alle kommunistischen Kräfte größer wären als bei einer Niederlage der PDS. Diese Argumentation hat u.E. einiges für sich, denn Diskriminierung und Kriminalisierung von z.B. Soli-Gruppen, Roter Hilfe, Zeitungsprojekten, Antifa-Gruppen, Globalisierungsgegnern, Marxisten-Leninisten usw. wäre sicherlich einfacher ohne die PDS im Bundestag – auch wenn die PDS überhaupt nicht viel zur Unterstützung oder zum Schutz dieser Gruppen tut. Aber trotzdem ist diese Argumentation ein gnadenloser Aufruf zum Kröten-Fressen – und man kann auch nicht an der Tatsache vorbei, dass eine PDS im Bundestag immer noch dazu gut ist, bei Unerfahrenen Illusionen zu nähren und/oder Enttäuschte in die Resignation zu führen.

IV. Und dann gibt es diejenigen, die die PDS für nicht wählbar halten – aus vielen (guten) Gründen: Der Antimilitarismus wird aufgeweicht, die Regierungsbeteiligungen zeigten und zeigen puren Opportunismus, die DDR wird pauschal verunglimpft, man entschuldigt sich permanent beim Gegner, die Programmdebatte zeigt die kleinbürgerlich-antikommunistische Orientierung der Führung und des Apparates und so weiter und so fort. Deshalb solle man, wo man kann, DKP oder KPD wählen. Diese Argumentation ist gut nachvollziehbar, wird sich aber mit den unter III. wiedergegebenen Überlegungen noch auseinandersetzen müssen.

V. Wesentliche Argumentationen, der Wahl fern zu bleiben, sind uns nicht bekannt, - und wir halten das auch nicht für eine Lösung. Hier ist der „Linken Opposition" zuzustimmen: Nichtwählen stärkt die Rechte.

VI. Konsequenz aus dem dargelegten? Auf jeden Fall wählen gehen. PDS oder links von der PDS, also DKP oder KPD wählen. Als Kommunist sollte man hier die konsequent marxistisch-leninistischen Kräfte bevorzugen, falls sie zur Wahl stehen. Eventuell Stimmen splitten, also einen kommunistischen Einzelkandidaten der KPD oder DKP mit der Erststimme wählen und die Zweitstimme der PDS geben.

Wir verstehen alle, die das nicht können. (Wir sind uns in der Redaktion nämlich auch mal wieder nicht einig.) Weshalb wir diejenigen gut verstehen, die das nicht können, sei an einem kleinen Beispiel erläutert: Die Berliner PDS führte Ende Juni 02 eine Landeskonferenz durch. Dort ging es um die Regierungsbeteiligung in Berlin. In der Diskussion „betonte Gysi, um Politik machen zu können, müsse man sich den gegebenen Realitäten stellen. Aufgabe der Linken sei es derzeit, den Abbau sozialer Standards zu bremsen. Mehr ließen die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse nicht zu, und jeder, der mehr verlange, versuche sich schon wieder als `Heilsbringer´ zu betätigen, ohne die Niederlage von 1989 verarbeitet zu haben" (junge Welt, 01.07.02) In der gleichen Konferenz sprach Gysi, als es um die Kürzungen im Kindertagesstättenbereich ging, von „Anpassungen" und die Schließung von elf Berliner Schwimmhallen nannte er „Abbau von Ausstattungsvorsprüngen" gegenüber den anderen Bundesländern (ebenda).

Den wähle, wer kann. - Falsch: der ist ja schon gewählt worden und steht jetzt gar nicht zur Wahl. Um so schlimmer. Denn der steht für die Politik der Partei. Und man kann ihn jetzt noch nicht mal abwählen.

Aber man wählt nicht nur den Gysi und nicht nur den Claus oder die Zimmer oder einen anderen einzelnen Funktionär, sondern die Partei als Ganzes und den Nimbus, den sie hat als linke Kraft, man muss die Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima berücksichtigen. Jaja, aber trotzdem ist der Claus hinterher wieder Fraktionsvorsitzender, bleibt die Zimmer Parteivorsitzende und Bartsch und Brie und Gysi und so weiter machen weiter, was sie wollen

Tja. Redaktion Offensiv, Hannover

Satiricus Realos der Ältere: Das Leben ist eine Party?

Das Leben ist (d)eine Party - Wahlspruch der PDS!

Daß das Leben eine Party sei, dies wollen uns smarte Werbeleute der PDS weismachen. Wie schon CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP umschmeichelt man die „bürgerliche Mitte",was immer dies auch sein mag. Doch sogar für den Gemüsehändler um die Ecke, der umseine Existenz ringt und mit einem Bein, mangels sozialer Absicherung, schon am Abgrund steht (Sozialhilfe) oder den Mittelständler mit 10 Angestellten, der hier im Osten mangels Aufträgen kurz vor der Pleite steht, klingt der Spruch von der Party wie Hohn. Für 60 Prozent der Bürger in Deutschland ist das Leben eh keine Party sondern harter Existenzkampf, der sich von Jahr zu Jahr verschärft: Sozialabbau, Verschärfung von Gesetzen und damit Abbau von in den 70er Jahren erkämpften Freiheiten, Arbeit für die Arbeiterklasse fast nur noch als diskriminierte Leiharbeiter, immer stärkere Disziplinierung von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen, Existenznot von Vollberufstätigen in Billiglohnjobs, Teuerung und, und, und!

Richtig wohl fühlt sich dabei nur die kleine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, die an den Fleischtöpfen des Landes sitzt, die haben dann richtig Spaß am Leben, und für die macht es auch einfach mehr Spaß, Politik zu machen als für die sauertöpfische Masse, geschweige denn für abgearbeitete Arbeiter. Möllemann und Westerwelle haben es vorgemacht, wie man Wahlkampf für Yuppies macht, da konnte die PDS nicht nachstehen. Flugs wurde eine Yacht gechartert, in MS „Socialist" (nicht Sozialist!) umbenannt (Mitteldeutsche Zeitung vom 23.7.02: Vor ein paar Tagen hat Dominic Heilig, Bundesjugendwahlleiter der PDS, Zielgruppenfernsehen geschaut. „RTL2" erläutert er und grinst. Da hätten sie einen Bericht gezeigt über Mallorca und wie sich dort Jugendliche aus Deutschland – schwer angegangen – Sangria mit einem Strohalm aus Eimern einflößten. Und einer von ihnen trug um den Hals ein Schlüsselband mit der vielfach wiederholten Aufschrift „Socialist")

Nun schippert also das neue Flaggschiff(?) der PDS die Elbe runter von Dresden bis Lübeck und soll Wahlkampf machen, was aber zumindest im Osten gründlich mangels Besuchern mißlingt.

Beim Aufenthalt der Yacht in Dessau folgte ich der Einladung in der Presse zum Besuch des Schiffes. Statt der angekündigten politischen Diskussion bekam ich allerdings nur eine hektische PDS-Crew zu sehen, die mit ihrem umfangreichen Proviant beschäftigt war (Wein, Bier, nobles Essen). Angela Marquardt, Bundestagsabgeordnete und 30jährige Vorzeigejugendliche mit Punkfrisur verkündete lauthals, daß Bier und andere Köstlichkeiten nur für die „Socialisten" da seien und nicht etwa für die Gäste. Auch mit den versprochenen Gesprächen wollte es nichts werden, dazu hatte keiner von der Politwerbetruppe Lust. Schließlich wollte man die Schiffsreise genießen und sich die Stimmung nicht durch politische Gespräche kaputtmachen. Das Socialist-Team entpuppte sich nicht als angekündigte PDS-Jugend, die die Politik der PDS würdig propagieren konnte, sondern als politisch wenig gefestigte Truppe mit bürgerlichen Ansichten und aus der bürgerlichen Klasse stammend, wie der leibhaftige Spruch von Schult: „Es strömen die verkorksten Söhne und Töchter der bürgerlichen Klasse in die linke Szene, holen das Strickzeug hervor, backen biodynamische Kuchen und sehen in ihrem Tun ein revolutionäres Ereignis!"

Neben einigen Äußerungen über die Rentnerplage auf Helgoland und über die Putzigkeit der Spezies Rentner im allgemeinen waren die Politwerber frappierend unpolitisch in ihren Äußerungen!

Da ich neben einem autonomen Linken der einzige Besucher war der, das Schiff betreten hatte, kümmerte sich nach einer geschlagenen Stunde dann doch noch ein Politagitator um mich, - mit dem umwerfenden Ergebnis, schon nach 5 Minuten einen potentiellen PDS-Wähler (der nun aber nicht mehr PDS wählt) des Schiffes verwiesen zu haben. Was war passiert? Hatte ich Naziparolen gegrölt, Schimpfworte gebraucht oder mich trotz Verbot an dem umfangreichen Alkoholvorrat des Schiffes bedient?

Nein ich hatte nur meine persönliche Meinung geäußert, daß ich mein Vorurteil hier bestätigt fände, daß die PDS eine bürgerliche Partei wie jede andere sei und daß sogar die PDS-Jugend keinen revolutionären Elan habe, geschweige denn sich für ein sozial gerechteres Land einzusetzen gewillt sei. Mit kleinen Reförmchen sei eben kein Blumentopf zu gewinnen. Als es dann noch um Begriffe wie Revolution, Marxismus-Leninismus, Sozialimperialismus und kommunistische Plattform in der PDS ging, meinte der PDS-Agitator sich des unbequemen Gastes entledigen zu müssen. „Da sind Sie hier verkehrt, wir sind keine Menschenschlächter(?) und mit Kommunisten haben wir schon gar nichts am Hut", und wies mir den Weg herunter vom Schiff! Sieht so der Nachwuchs der PDS aus?

Dann kann man nur raten: Yuppies aller Parteien, vereinigt Euch! Vielleicht zur FDP/PDS?

Für die weitere Fahrt nach Lübeck wünsche ich der „Socialist" allezeit wenig Gegenwind, auf daß die vergnügliche Schiffsreise nicht allzu sehr gestört wird, denn schließlich ist das Leben „fun" und Party bis zum Abwinken!

Satiricus Realos der Ältere

Offensiv intern

Anna C. Heinrich: Mein Austritt aus der PDS

Nach etwas mehr als neun Jahren Mitgliedschaft in der PDS bin ich nun kein Mitglied dieser Partei mehr.

Der Anlaß, ein ganz profaner, der Jahresbeitrag wäre mal wieder fällig gewesen. Und dann die Überlegung – will ich weiter diese Partei mit dieser Politik unterstützen? Die Antwort: Nein. Viele, viele Male saßen Frank und ich am Küchentisch (ein bei uns beliebter Ort, um zu debattieren oder über das Tagespolitische zu sprechen), und wir sprachen oft über die PDS. Sehr oft habe ich da schon gesagt: „Mir reicht es. Jetzt nicht mehr. Wo ist in dieser Partei das >Sozialistische< geblieben"? Jetzt aktuell mal wieder die Politik in Berlin (endlich angekommen am Ziel), so anbiedernd wie nur möglich. Vielleicht war es auch die Zustimmung zur Schließung von Kindergärten oder die Verschlechterung des Betreuungsschlüssels etc., was mich besonders angeht, da ich selbst Leiterin eines Kindergartens bin und weiß, wovon gesprochen wird.

Es gibt so viele gute Gründe, dieser Partei den Rücken zu kehren. Bisher habe ich, genau so wie viele andere, gesagt: „bleibt"!. Fest entschlossen war ich: wenn die Partei Kriegseinsätzen zustimmt, dann ist Schluss. Nun also doch früher – doch lange warten werden wir auch auf diese Zustimmung nicht mehr müssen – leider. Etwas Wehmut ist dann schon dabei – neun doch recht turbulente Jahre – die ich auch nicht missen möchte.

Wie weiter? Für mich beginnt nun keine „heimatlose" Zeit. Die „Offensiv" ist weiterhin (wie schon seit langer Zeit) der Hauptfaktor in meiner politischen Arbeit. Dies bleibt so. Ein Genosse sagte vor kurzem sinngemäß, „na ja warte, bis wir uns dann alle treffen, um die Gründung der Partei im leninschen Sinne vorzubereiten".

Genau! Noch nicht, aber wahrscheinlich schneller, als wir denken, wird dies wohl wirklich nötig sein.

Anna C. Heinrich, Hannover, Geschäftsführung der „Offensiv"

Fußball-WM-Nachlese

Redaktion Offensiv: Ein kleiner Blick auf die verordnete Massen"kultur"

Keine Angst, wir reden jetzt nicht von Fußball!

Aber die Zeitschrift „Konkret" (von deren anti-nationaler / anti-deutscher Ausrichtung wir absolut nichts halten, weil die Grundlage dieses Denkens so völkisch ist wie der Nationalismus selbst) hat in ihrer August-Ausgabe eine Seite mit Titelblättern der BILD-Zeitung abgedruckt.

Diese wollen wir hier in schriftlicher Form wiedergeben. Der Rest erklärt sich von selbst. Es handelt sich jeweils um die BILD-Ausgabe Düsseldorf, falls die wiedergegebenen Texte nicht der deutschen Grammatik entsprechen, liegt das nicht an Tippfehlern unsererseits, sondern an der BILD-Redaktion.

Freitag, 31. Mai: ENDLICH WM! LASST DIE BÄLLE TANZEN Und daneben eine junge, vollbusige Frau im Bikini, die Körbchen sehen aus wie Fußbälle.

Samstag, 1. Juni: HEUTE 13.30 UHR ALLE DEUTSCHEN GUCKEN! Und rot hinterlegt: RUDI, HAUDI SAUDI rechts daneben: DEUTSCHLAND – SAUDI-ARABIEN BITTE UM ERLEDIGUNG und links daneben das Bild eines aggressiv rufenden Rudi Völler mit geöffnetem Mund.

Montag, 3.Juni: DAS 8:0 SCHOCKT UNSERE GEGNER JUNGS, IHR MACHT UNS STOLZ! Links daneben der über den geöffneten Handteller pustende Klose mit der Bildunterschrift „DER ZARTE" und rechts daneben der aggressiv jubelnde Janker mit der Unterschrift „DER HARTE". Das Bild ist schwarz hinterlagt, das Wort „Jungs" ist rot gedruckt, der Satz „Ihr macht uns stolz" gelb, so dass die Nationalfarben sichtbar werden.

Dienstag, 11. Juni: 13.30 UHR ENTSCHEIDUNGSSCHLACHT GEGEN KAMERUN WINNI HEUTE WIRST DU RASIERT Links ein Bild von Kameruns Trainer Winni Schäfer mit Haaren, rechts eine Fotomontage: Schäfer mit Glatze.

Mittwoch, 12. Juni: 2:0 JAAA! WIR HABEN WINNIS SKALP Rechts daneben ein zufrieden grinsender Rudi Völler in Fotomontage mit der Frisur von Winni Schäfer.

Freitag, 14. Juni: MORGEN 8.30 UHR FRÜHSTÜCKEN WIR PARAGUAY STEHT AUF; WENN IHR FÜR DEUTSCHLAND SEID: Rechts daneben entweder die gleiche junge, vollbusige Frau wie vom 31. Mai oder eine dieser sehr ähnlich sehende, diesmal aber oben ohne, mit einer Hand die Brüste haltend und halb verdeckend, einen Kussmund machend.

Freitag, 21. Juni: HEUTE SCHICKT RUDI UNSERE FREUNDE NACH HAUSE AMI, GO HOME und kleiner darunter: NUR DIESES EINE MAL BITTE! Rechts daneben Rudi Völler mit US-Hut und als Pistole vorgestrecktem Zeigefinger.

Samstag, 22.Juni: YES, WIR SIND IM HALBFINALE 1:0 KAHN SCHLÄGT AMERIKA, rechts daneben: HALBFINALE GENEHMIGT, als Bild ein jubelnder Kahn.

Dienstag, 25. Juni: HEUTE 13.30 UHR GEGEN KOREA. ES WIRD DIE HÖLLE. KAMPF, KAMPF, KAHN! Dazu ein Bild von Kahn, den Mund weit geöffnet zu einem aggressiven Schrei, die Faust wie ein Boxer geballt – als wolle er sogleich zuschlagen.

Mittwoch, 26. Juni: 1:0 GEGEN SÜDKOREA FINALE!!! ...ABER BALLACK WEINKRAMPF IN DER KABINE Das Ganze schwarz-rot-gold umrahmt, ein Foto von Ballack und rechts daneben der Text: BILD FLIEGT 50 LESER ZUM ENDSPIEL!

Donnerstag, 27.Juni: FANS IM RAUSCH! TRAUMFINALE DA! BRASILIEN, NA UND... KAISER FRANZ: „AUCH DIE SIND ZU PACKEN!" Links daneben eine leicht südländisch aussehende junge, wieder vollbusige Frau, bekleidet mit einem gelben Oberteil, welches die Brüste kaum bedeckt und sogar die Brustwarzen sehen lässt. Rechts daneben der übliche, brüllende, aggressive Kahn.

Freitag, 28. Juni: KAHN VERSPRICHT WIR WERDEN WELTMEISTER Rechts daneben der übliche, aggressive Kahn.

Samstag, 29. Juni: 1954, 1974, 1990...ES IST WIEDER ZEIT BITTE KOMM NACH HAUSE Rechts dahinter ein Foto des Weltpokals in goldener Farbe.

Montag, 1. Juli: DEUTSCHLAND-BRASILIEN 0:2 KAHN, UNSER TRAGISCHER HELD Dahinter ein Bild, Kahn verzweifelt auf dem Rasen. Rechts darunter Kahn mit Mutter und der Text: HIER TRÖSTET IHN SEINE MUTTER.

Dienstag, 2. Juli: GANZ DEUTSCHLAND FEIERT DIESEN MANN ES GIBT NUR EIN’ RUDI VÖLLER UND ER SPRICHT NUR IN BILD! Dahinter das Bild eines zufrieden lächelnden und winkenden Rudi Völler. Dazu wieder alles in Nationalfarben gehalten, d.h. das Bild von Völler schwarz hinterlagt, „Ganz Deutschland feiert diesen Mann" rot hinterlegt und „Es gibt nur ein’ Rudi Völler" darüber in gelb.

 

Aber nicht die, sondern wir werden von den Hütern des Grundgesetzes und der freiheitlich-demokratischen Grundsordnung beobachtet! Redaktion Offensiv, Hannover


Harpal Brar: „Imperialismus im 21. Jahrhundert"

 

„Ein Update von Lenins `Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus´. Der Stil ist kantig bis brachial, der Begriffsapparat rostig, bei der Beweisführung wird manchmal etwas nachgeholfen, Entertainment kann man nicht erwarten.

Doch die klobige Erscheinung ändert nichts an der Effizienz dieses Werkes, so wenig wie bei den frühen Kalaschnikoffs: Die haben auch noch bei 40 Grad im Schatten in der Taiga und bei 30 Grad minus im sibirischen Eis gefeuert, und falls sie mal klemmten, genügten ein paar Hammer-schläge, um sie wieder flott zu machen.

Brar und vor allem Lenin wird man noch lesen, wenn Negrys `Empire´, der Beichtspiegel für New-Economy-Karrieristen, längst vergessen ist."

Jürgen Elsässer in: `Konkret´ Juni 2002.

 

Harpal Brar: „Imperialismus im 21. Jahrhundert. Sozialismus oder Barbarei.

ISBN: 3-89144-293-9. Pahl-Rugenstein-Verlag Bonn, Breite Str. 52, 53111 Bonn, Tel.: 0228-632306