Zeitschrift für Sozialismus und Frieden                                 2/03

Herausgeber: Verein zur Förderung demokratischer Publizistik (i.G.)

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Voraussetzungen und Ergebnisse der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution im historischen Kontext und in der Deutung bürgerlicher Geschichtswissenschaft

von Gerald Hoffmann

 

Kurt Gossweiler: Einleitende Bemerkungen

 

Einleitung

1. Entwicklung des Kapitalismus in Russland

1.1 Grundlagen bis zur Februarrevolution 1905

1.2 Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung in Russland

2. Die Revolutionen 1905-1917

2.1 Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1905

2.2 Februarrevolution, Doppelherrschaft und Oktoberrevolution 1917

2.3 Ursachen für den Sieg der Großen Sozialistische Oktoberrevolution

3. Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion

3.1 Die Anfänge nach der Oktoberrevolution

3.2 Kriegskommunismus

3.3 Neue Ökonomische Politik

3.4 Kollektivierung der Landwirtschaft und forcierte Industrialisierung

3.4.1 „Zwangskollektivierung“ und „voluntaristische“ Industrialisierung?

3.4.2 Die realen Bedingungen der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation

3.4.3 Exkurs: Die internationale Lage während der Industrialisierungsphase 1927-1938

3.4.4 Ökonomische und innenpolitische Entwicklungen 1929-1937

4. Thesen zur „Stalinismus“-Diskussion

Schluss

Literatur

Kurt Gossweiler: Einleitende Bemerkungen

Zwei Dinge sind es, die Kommunisten und Sozialisten in Deutschland vor allem beklagen: ihre Uneinigkeit und Zersplitterung zum einen, das Fehlen von jugendlichem Nachwuchs zum anderen.

Nicht, dass es der linken, antifaschistischen und den Bewegungen gegen den imperialistischen Krieg, gegen Sozial- und Demokratie-Abbau an Jugend fehlt – wo immer sie sich auf Kundgebungen oder bei Demonstrationen, wie in jedem Januar zu Karl und Rosa, auf der Straße zeigen, stellt die Jugend erfreulicherweise das Gros der Teilnehmer. Aber den kommunistischen und sozialistischen Parteien fehlt bisher ein fester, ihr die Zukunft sichernder Unterbau und Rückhalt in den nachwachsenden Generationen.

Das hat natürlich Gründe. Aber nicht über sie soll hier gesprochen werden, sondern darüber, weshalb wir dennoch mit Zuversicht in die Zukunft schauen können.

Je hemmungsloser der fast wieder uneingeschränkt unseren Erdball beherrschende Imperialismus seine räuberische und mörderische Natur auslebt, desto mehr Menschen werden rund um den Globus, also auch in Deutschland, zu der Einsicht getrieben: eine andere Welt ist nötig! Und dieser Einsicht folgt unvermeidlich die Frage danach, wie diese andere Welt, – eine Welt ohne Kriege, ohne Not und Massenelend, eine wirklich menschliche Welt –, zu erreichen ist.

Und wo diese Frage gestellt wird, da wird es immer Menschen geben, die entdecken, dass die Antworten auf diese Frage längst vorhanden sind, niedergeschrieben in den Werken von Marx, Engels und Lenin und vielen ihrer Schüler – der hervorragendsten Führer der Arbeiter – und der nationalen Befreiungsbewegungen –, und in eine trotz aller US-Erdrosselungsmühen unumbringbar lebendige Praxis umgesetzt von solchen hervorragenden Revolutionären wie Fidel Castro.

Als so einen Entdecker habe ich auch Gerald Hoffmann kennen gelernt. Genau genommen ist das Wort „Entdecker“ in seinem Falle allerdings nicht ganz am Platze, hat er doch – Mitte der siebziger Jahre in Dresden geboren – den Großteil seiner Schulzeit in der DDR erlebt. Aber an diese Zeit denkt er mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Zum einen nahm er hier seinen Anfang als Leistungssportler im Turmspringen, worin er es 1993 sogar zum Sieg bei einer Deutschen Jugendmeisterschaft brachte. Zum anderen aber erinnert er sich an seine Schule als an eine Einrichtung, die zur Anpassung erzog und in der selbständiges kritisches Denken und unbequeme Fragen nicht hoch im Kurse standen. Als er dann 1995 seine Laufbahn als Leistungssportler beendete und sich entschloss zu studieren, wechselte er nach einem Semester an der TU Dresden an die sogenannte „Freie Universität“ nach Westberlin und setzte dort das Studium der Publizistik, Psychologie und Soziologie fort.

Als kritischer Geist hat er sehr schnell mitbekommen, was es dort mit der „Freiheit“ des Denkens auf sich hatte. Jedoch kommt man auch an der FU beim Studium von Gesellschaftswissenschaften an Marx nicht vorbei. Gerald Hoffmann begann Marx zu studieren. Und da er, was er macht, gründlich macht, hat er auch Marxens Hauptwerk, „Das Kapital“, durchgearbeitet, und dort den Schlüssel gefunden zum Verständnis der Gesellschaft, in der wir leben. Aus seiner Beschäftigung mit der Geschichte und Theorie der Arbeiterbewegung war ihm bekannt, dass die Analyse des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium bei Lenin zu finden ist, und so begann er folgerichtig bei Lenin nachzulesen, wie dieser, von Marx ausgehend, die Analyse des Kapitalismus weiterführte. Lenin fesselte und beeindruckte ihn ganz besonders durch dessen Fähigkeit, die kompliziertesten Dinge verständlich darzustellen, durch seine zwingende Logik und die Analyse der inneren Widersprüche als treibende Kraft der Entwicklung.

Das alles erfuhr ich von ihm selber, aber bevor es zu einem persönlichen Kennenlernen kam, erhielt ich im Oktober 2001 einen Anruf von ihm – dem mir damals gänzlich Unbekannten – in dem er um eine Auskunft zu Fragen des Faschismus bat. Im Januar 2002 kam es dann zu einer ersten persönlichen Begegnung, der weitere folgten. Dabei erfuhr ich, dass er an der Universität eine Hausarbeit zum Thema „Voraussetzungen und Ergebnisse der Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ schrieb. Das machte mich natürlich neugierig, und ich fragte ihn, ob er mir ein Exemplar der Arbeit zur Einsicht überlassen könne. Im September vorigen Jahres erhielt ich sie und begann sogleich mit ihrem Studium – und erlebte eine unerwartete, aber freudige Überraschung: der Autor hatte sich laut Gliederung etwas vorgenommen, was einzulösen auf knappen 38 Seiten seines Manuskriptes ich mir kaum vorstellen konnte: nicht weniger als die Behandlung der Geschichte Russlands und der SU von 1905 bis zum Jahre 1938 versprach das Inhaltsverzeichnis.

Aber der junge Student hat das mir schier unmöglich Scheinende tatsächlich fertiggebracht, und das auf eine Weise, dass ich ihm sagen konnte, ich hätte in meiner Zeit als Universitätslehrer noch nie eine Seminararbeit von gleicher Güte geliefert bekommen.

Das, was mir als besonders bemerkenswert an dieser Arbeit erschien, war

Erstens: – Der besondere Gesichtspunkt unter den der Autor sie gestellt hat und den er in seiner Einleitung so formulierte: „Damit soll ein Beitrag zur Erfassung der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung geleistet werden, und zwar in Bezug auf die Herausbildung des Kapitalismus in Russland, sein Umschlagen in die sozialistische Revolution und die notwendigen Etappen des sozialistischen Aufbaus, nachdem der Bürgerkrieg siegreich beendet, die Revolution im westlichen Europa jedoch ausgeblieben und der Sozialismus in einem Lande zu erhalten und auszubauen auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt war. Dies wird – hoffentlich – zur Klärung der Frage beitragen, wieso die erste siegreiche sozialistische Revolution in der Weltgeschichte einerseits so gewaltige Anziehungskraft auf das westeuropäische Proletariat und die fortschrittliche Intelligenz ausüben konnte, weshalb jedoch andererseits u.a. ein Teil derjenigen, die ihr Exil vor dem deutschen Faschismus in der Sowjetunion gesucht hatten, sich später enttäuscht von den dortigen Entwicklungen abwandten, oder von den Staatsorganen gar wegen konterrevolutionärer Umtriebe verfolgt wurden.“

Hoffmann hat mit dieser Aufgabenstellung eine der Fragen aufgeworfen, deren unterschiedliche Beantwortung eine der gewichtigsten Ursachen für die Aufspaltungen unter den Kommunisten ist, und die Antworten, die er gibt, können einen Beitrag dazu leisten, diese Aufspaltung zu überwinden.

Zweitens: – Die Tatsache dass Hoffmann als Student einer westberliner Universität sich zu einem bedeutenden Teil auf die Arbeiten westdeutscher Historiker stützt, zugleich aber sich mit ihnen in ganz überzeugender Weise dort auseinandersetzt, wo sie den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen und ihre Aussagen nur die bourgeoisen Vorurteile und Beurteilungsschablonen zum Ausdruck bringen.

Mir scheint diese Arbeit deshalb besonders dafür geeignet, Interesse auch bei Jugendlichen zu finden, die ihre Sozialisation und Politisierung in der Alt-BRD erfuhren.

Drittens: – Die Fähigkeit Hoffmanns zur Herausarbeitung der wichtigsten Gesichtspunkte aus der Fülle des Stoffes, und eine Sprache, die versteht, diese wichtigsten Gesichtspunkte kurz und prägnant zu formulieren. (Als besonders eindrucksvolles Beispiel dafür empfand ich den Satz, mit dem Hoffmann die Richtigkeit, weil Notwendigkeit der Politik der Industrialisierung und der Kollektivierung begründet: „Die Restauration kapitalistischer Verhältnisse zumindest im Zuge eines verlorenen Krieges war absehbar, also durfte kein Krieg verloren werden.“ – Abschnitt 4, Thesen zur Stalinismus-Diskussion)

Viertens: – Die Thesen zur Stalinismus-Diskussion. Hoffmann geht an diese Diskussion so heran, wie es notwendig ist, wie aber viele Kommunisten der älteren Generation heranzugehen nicht bereit oder nicht mehr imstande sind. Er erklärt Stalin und sein Handeln aus seiner Zeit heraus, genau so wie es alle Marxisten zu tun gewohnt sind mit einer Figur der Geschichte wie z.B. Robespierre, aber noch nicht alle gelernt haben, genauso gegenüber Stalin zu verfahren. Doch erst, wenn ein solches Herangehen auch an ihre eigene Geschichte in der kommunistischen Bewegung zur Normalität geworden ist und Stalin nicht mehr als „Outlaw“, als Geächteter behandelt wird, dessen Werke für Kommunisten auf den Index gesetzt sind, wird sie ihre innere Zerrissenheit überwinden und wieder zu einer selbstbewussten, auf ihre historischen Leistungen stolze und für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft entscheidenden Kraft werden.

Natürlich soll mit alledem nicht gesagt sein, Hoffmanns Studie sei makellos und über alle Kritik erhaben. Um nur einen Punkt zu erwähnen: Im Abschnitt 2.3. nennt Hoffmann 4 Ursachen für den Sieg der Oktoberrevolution – aber die vielleicht wichtigste, die Sehnsucht der Massen nach Frieden – wird allenfalls indirekt berührt.

Insgesamt aber spricht diese Arbeit von einer erstaunlichen Reife und Treffsicherheit des Urteils, und von einer selten zu findenden Vertrautheit mit der marxistischen Theorie. Vor allem aber ist sie mir eine Bestätigung meiner Zuversicht vom unausbleiblichen Heranwachsen neuer, junger Marxisten-Leninisten, welche die Gewähr dafür sind, dass unsere Bewegung aus ihrem tiefen Tal herauskommt und einem neuen Aufstieg entgegengeht.

Ich bin deshalb sehr erfreut darüber und dankbar dafür, dass „Offensiv“ diese Arbeit einem größeren Leserkreis zugänglich macht.

                                                                                                                                     Kurt Gossweiler, Berlin

Einleitung

Gegenstand vorliegender Arbeit sind mit der Entwicklung des Kapitalismus in Russland zunächst die sozialökonomischen Voraussetzungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und weiterhin die durch sie eingeleiteten Jahre des sozialistischen Aufbaus.[1] Damit soll ein Beitrag zur Erfassung der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung geleistet werden, und zwar in Bezug auf die Herausbildung des Kapitalismus in Russland, dessen Umschlagen in die sozialistische Revolution und die notwendigen Etappen des sozialistischen Aufbaus, nachdem der Bürgerkrieg siegreich beendet, die Revolution im westlichen Europa jedoch ausgeblieben und der Sozialismus in einem Lande zu erhalten und auszubauen auf die geschichtliche Tagesordnung gesetzt war. Dies wird – hoffentlich – zur Klärung der Frage beitragen, wieso die erste siegreiche sozialistische Revolution der Weltgeschichte einerseits so gewaltige Anziehungskraft auf das westeuropäische Proletariat und die fortschrittliche Intelligenz ausübte, weshalb jedoch andererseits u.a. ein Teil derjenigen, die ihr Exil vor dem deutschen Faschismus in der Sowjetunion gesucht hatten, sich später enttäuscht von den dortigen Entwicklungen abwandten, oder von den Staatsorganen gar wegen konterrevolutionärer Umtriebe verfolgt wurden.

Der Betrachtungszeitraum erstreckt sich vom Ende des 19.Jh. (der vollen Entwicklung des Kapitalismus in Russland) bis zum Vorabend des zweiten Weltkrieges. Im vorliegenden Rahmen können diese Betrachtungen nur kursorischer Art sein und werden ihren Zusammenhang dadurch erhalten, dass sich die Darstellung auf sozioökonomische Prozesse beschränkt – eingedenk der These Lenins, die „Politik [sei] der konzentrierte Ausdruck der Ökonomik“ (LW 32/73)

Entgegen einer Wissenschaft vom „Standpunkt der fertigen Phänomene“ (MEW 24/218)[2], welche Geschichte von den Resultaten her zu deuten versucht und nicht aus deren Voraussetzungen, inneren Widersprüchen und realen Alternativen begreift[3], soll hier das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit (Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Verhältnisse) und subjektiver Bestimmung (ihrer weiteren Entwicklungsrichtung) für die Phase nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution herausgearbeitet werden. Anstelle von Interpretationen der Oktoberrevolution als historischem Irrtum, Zufall usw. (oder auch als ein von Lenin „voluntaristisch-subjektivistisch angegriffenes...Projekt“[4]) geht es um den Aufweis historischer Notwendigkeiten/Gesetzmäßigkeiten. Dabei wird untersucht, ob es sich beim Sturz des Kapitalismus um ein „Projekt“ Lenins handelte und ob der daraufhin einsetzende Prozess des sozialistischen Aufbaus durch die „voluntaristische“ Politik Stalins in sein Gegenteil verkehrt wurde.

In der Darstellung liegt daher besonderes Augenmerk auf der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung, welche gemeinhin als „Abkehr“ Stalins vom Leninschen Weg der Neuen Ökonomischen Politik gefasst und als „Wende“ vom Aufbau des Sozialismus zur „Willkürherrschaft“ des Stalinismus verstanden werden[5], d.h. auf der Epoche, die oft abschätzig oder feindlich, dabei aber immer undifferenziert als „Stalinismus“ diskutiert (bzw. abgetan) wird. Dies ist m.E. eines der lähmenden Spaltungsmomente der sozialistischen Bewegung, dessen Überwindung eine gezielte Auseinandersetzung mit dem konkret-geschichtlichen Kontext der 1930er Jahre in der SU und eine Reflexion auf den gesellschaftspolitischen Aspekt jedweder „Stalinismus“-Diskussion in der heutigen BRD erfordert.

1. Entwicklung des Kapitalismus in Russland[6]

Im Gegensatz zur geläufigen Auffassung, welche die Entwicklung des Kapitalismus in Russland als dessen (also Russlands) „Europäisierung“ bzw. „Verwestlichung“ [7], zumindest aber den Kapitalismus als von „außen“ verursachte Entwicklung begreift, geht es zunächst darum, die wesentlichen Voraussetzungen und Bedingungen zu skizzieren, die ein immanentes Verständnis des russischen Kapitalismus und der drei aufeinanderfolgenden Revolutionen in dessen Ausgang ermöglichen, also sein Verständnis als Entwicklungsweg, welcher zwar dieselbe Gesellschaftsformation wie im westlichen Europa hervorbrachte, jedoch in kürzerer Zeit, mit sehr verschiedenen Erscheinungsformen und gänzlich anderen Resultaten.

1.1 Grundlagen bis zur Februarrevolution 1905

Die um ca. 150 Jahre „verspätete“ Entwicklung des Kapitalismus in Russland erklärt sich aus den Bedingungen, welche die zur kapitalistischen sich fortentwickelnde Warenproduktion im Russischen Reich vorfand. Besonders hemmend wirkte sich das Fehlen dreier Grundbedingungen kapitalistischer Akkumulation aus:

1.)    Die Produktion war lange gestört durch kriegerische Verwüstungen (z.B. die Mongoleninvasion),

2.)    der Handel war beschränkt angesichts der geographischen Abseitslage von westeuropäischen Märkten/Hauptverkehrswegen,

3.)    die Verwertung der Arbeitskraft war behindert durch eine weitflächige und verstreute Verteilung der Bevölkerung, innerhalb derer noch leibeigene Abhängigkeitsverhältnisse vorherrschten.[8]

Andererseits ist der russische (im Vergleich zu west- und mitteleuropäischen Staaten) insofern ein „Sonderweg“ zum Kapitalismus, weil er ohne parallele geistige Emanzipationsbewegungen wie Reformation, Aufklärung usw. verlief.[9] Die sich langsam entwickelnde Warenproduktion samt Markt- und Handelsbeziehungen waren marginal und durchaus von staatlicher (d.h. zaristischer) Seite kontrollierbar und ggf. auch zurückzunehmen. Die Entwicklung bürgerlicher Verhältnisse im Rahmen des zaristischen Staates blieb auch zukünftig ein Haupthindernis für die freie Entfaltung des Kapitalismus in Russland. (vgl. 1.2)

Die eigenständige Entwicklung des Kapitalismus in Russland ab Mitte des 18. Jh. wurde vor allem durch die (mit der Eroberung von Meerengen gegebene) Anbindung an den Weltmarkt begünstigt und vorangetrieben durch die Neuerschließung innerrussischer Gebiete für die Warenproduktion. Trotz ihrer vergleichsweise schnellen Ausbreitung (viele Produktivkräfte konnten auf hohem Entwicklungsstand aus Westeuropa importiert werden) wurde die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung der kapitalistischen Entwicklung behindert durch die nach wie vor auf Basis der Leibeigenschaft operierende Landwirtschaft.[10]

1861 verwandelte die Aufhebung der Leibeigenschaft breite Massen von Landarbeitern in Lohnarbeiter und setzte zugleich große Geldmassen für Kapitalkredite frei, da viele Bauern Land zur privaten Bewirtschaftung kauften. Der dadurch sich ausdehnende innere Markt[11] eröffnete der kapitalistischen Akkumulation neue Quellen und dabei – aufgrund des im Vergleich zu Westeuropa geringen Anteils konstanten Kapitals (Maschinen, Gebäude etc.) – die Erzielung ungeheurer und in Europa längst der Vergangenheit angehörende Profitraten. Dies lockte wiederum das westeuropäisches Kapital ins Land[12] und verhalf der seit 1830 einsetzenden industriellen Revolution 1870-80 zu ihrem Höhepunkt. Zwischen 1890 und 1900 sowie zwischen 1909 und 1913 gab es weitere große Industrialisierungsschübe mit Wachstumsraten von über 8% pro Jahr, wobei die Produktionsmittel-Industrie doppelt so stark anwuchs wie die Lebensmittel-Industrie. In der technologischen Entwicklung und Pro-Kopf-Produktion lag Russland um die Jahrhundertwende an fünfter Stelle hinter den westlichen Staaten.

Der durch die Einbezogenheit Russlands in den Welthandel und die Entwicklung der nationalen Produktivkräfte gegebene Aufschwung wurde (wie in anderen Ländern) regelmäßig durch Überproduktionskrisen eingetrübt. Zugleich wurde die nationale Akkumulation des Kapitals durch die wachsenden Auslandsschulden gebremst und brachte die disproportionale Entwicklung eine immense Diskrepanz in Lebensstandard und Kulturniveau zwischen den wenigen industriellen Zentren und den ausgedehnten, rein landwirtschaftlich geprägten Gebieten hervor. Trotz des Wachstums der Industrie blieb der Anteil des Industrieproletariats an der Gesamtbevölkerung gering; es litt zudem unter katastrophalen Arbeitsbedingungen – despotische Fabrikführung, drakonische Geldstrafen, fehlender Arbeitsschutz, unter dem Existenzminimum liegende Löhne und überlange Arbeitszeiten. Erstmalig wurde 1897 eine Beschränkung des Arbeitstages auf 11½ (!) Stunden erlassen.

Dabei behielt der Adel trotz kapitalistischer Entwicklung die wichtigsten Posten in Politik und Verwaltung besetzt, was ihm 25% des landwirtschaftlich genutzten Bodens sicherte und gegenüber den lokalen Bevölkerungen die Einrichtung halbfeudaler Abhängigkeitsverhältnisse mit Arbeitszwang etc. ermöglichte (und zwar in Form der sogenannten Abarbeit für nach 1861 privatisierten Boden). Ungeachtet der Aufhebung der Leibeigenschaft hielten sich auch im Rahmen der noch bis ins 20. Jh. hinein bestehenden Dorfgemeinde (Obschina) überkommene Abhängigkeitsverhältnisse, weil die beständige Umverteilung kleinster privater Bodenparzellen und die Gemeinschaftshaftung die Menschen an „ihr“ Land banden; beides bot kaum Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte. Nur wenige Bauern kamen zu wirklich selbstständiger Existenz (bildeten jedoch keine eigenständige soziale Schicht innerhalb der nach wie vor zaristisch geprägten Gesellschaft), die meisten Bauern verarmten, weil sie mit ihren wenigen und veralteten Produktionsmitteln die Familien nicht ernähren, aber auch keine Nebenbeschäftigung in der Industrie finden konnten.[13] Die Pauperisierung der Bauern führte trotz des allgemein sehr dünn besiedelten Gebietes zu einer relativen ländlichen Überbevölkerung (d.h. Arbeitslosigkeit); die Bauernschaft (75% der Bevölkerung) wuchs absolut, obgleich sie relativ zum Proletariat abnahm.

1.2 Besonderheiten der kapitalistischen Entwicklung in Russland

a) Verbindung kapitalistischer Produktionsweise mit archaischen Sozialstrukturen:

Selbst während der Zeit der Hochindustrialisierung Russlands um 1880 erhielten sich im Gegensatz zu den zunehmend modernen Zentren feudale, sogar sklavenhalterische und selbst nomadische und gentile Sozialstrukturen in den ländlichen Peripherien, die zunehmend in Abhängigkeit von Waren aus den stärker industrialisierten städtischen Gebieten gerieten und einer mehrfachen Ausbeutung in Bezug auf Steuern, Wucherhandel und Bodenschätze unterlagen. Z.T. wurden die altertümlichen Lebensformen durch den Kapitalismus zersetzt; in vielen Teilen des Landes konservierte er sie jedoch, was „koloniale“ Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Staatsgrenzen erzeugte. Anstelle der Begründung eines einheitlichen Nationalstaates (wie z.B. in Frankreich) kam es in Russland zur Unterdrückung nationaler Minderheiten. Anstatt einer Auflösung überkommener Abhängigkeitsverhältnisse auf nationaler Ebene wurde deren Konservierung zur Funktion des Kapitals. Diese Verbindung moderner Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse mit archaischen Sozialstrukturen bedingte eine weitgehend rückschrittliche Gesellschaftsverfassung noch in der Blütezeit des Kapitalismus.

b) Kapitalismus im Rahmen der Monarchie:

Zaristische Selbstherrschaft und Entwicklung des Kapitalismus unterstützten sich wechselseitig, die Bourgeoisie wurde aber keine eigenständige gesellschaftliche Kraft. Der Zarismus spielte für die Durchsetzung kapitalistischer Warenproduktion nach wie vor die entscheidende Rolle: Geldkapital wurde staatlicherseits zur Verfügung gestellt, direkt und indirekt kapitalistische Unternehmungen gefördert, ihr Absatz garantiert und eine umfassende Schutzzollpolitik betrieben, um auf den billigeren Märkten Westeuropas Fuß fassen zu können. Die staatlichen Eingriffe in die Entwicklung des Kapitals zwangen z.B. auch leibeigene Bauern zur Ableistung des Frondienstes in Form von Manufakturarbeit. Die Verbindung fortschrittlicher Produktivkräfte mit überkommenen Produktionsverhältnissen behinderte die vollständige Durchsetzung des Kapitalismus[14]; die kapitalistische Wirtschaft wurde so weit gefördert, wie dies der Anpassung des bestehenden Feudalsystems an die allgemeine kapitalistische Entwicklung im In- und Ausland diente – man könnte sagen, dass immer nur so viel Kapitalismus „zugelassen“ wurde, wie dieser die zaristische Herrschaft nicht gefährdete[15] – womit die „erlaubten“ Formen des Kapitalismus zugleich beschränkte waren.

c) Staatlicher Monopolismus:

Die systematischen Eingriffe in die Wirtschaft weiteten sich gegen Ende des 19. Jh. zu einem das Monopol auf Eisenbahnbau und die Schwerindustrie umfassenden staatskapitalistischen Wirtschaftssektor aus. In diesem waren auch die meisten westeuropäischen Kapitalanleihen aufgenommen worden.[16] Aber selbst die staatsmonopolistischen Tendenzen führten nicht zu einer Beherrschung des Staates durch die eigentliche industrielle Bourgeoisie, sondern der zaristische Adel behielt weiterhin die politische Herrschaft.

d) Parallelität der Prozesse/Imperialismus:

Während die Modernisierungsschübe des Kapitalismus in Westeuropa einem „klassischen“ Muster: Leichtindustrie, Schwerindustrie, Verkehrswesen, Kreditwesen gefolgt waren, gingen in Russland diese Entwicklungen parallel voran und beschleunigten sich wechselseitig, wodurch in gewisser Weise der Kapitalismus der freien Konkurrenz „übersprungen“ bzw. schon sehr früh durch eine starke Zentralisation des Kapitals und Monopolbildungen überlagert wurde. Die Monopole entsprachen zwar nicht quantitativ, aber qualitativ (der ökonomischen Stabilität nach) durchaus den westeuropäischen.

2. Die Revolutionen 1905-1917

Die überaus schnell nachgeholte Entwicklung des Kapitalismus in Russland, welche die Gegensätze zwischen rückständigen Randgebieten und industriellen Zentren nicht gelöst, sondern verschärft hatte und sich auf eine halbfeudale Agrarstruktur sowie die Verfolgung jeglicher fortschrittlicher Regungen in der Bevölkerung stützte[17], war Ausdruck im höchsten Maße zugespitzter Widersprüche des Imperialismus. Darin besteht zugleich der innere Zusammenhang der drei russischen Revolutionen: So weit sie sich gegen die aus der feudalen Epoche Russlands erhaltene zaristische Selbstherrschaft richteten, waren sie unter – unabhängig von ihren tatsächlichen Ambitionen – antiimperialistische Revolutionen.

Dem bürgerlich-feudalen Ausbeuterblock stand dabei zunächst die Bauernschaft gegenüber, weil sie noch gegen den Feudalismus im kapitalistischen Staate kämpfte, wie andererseits auch das schnell anwachsende und von Anbeginn selbstbewusste und frühzeitig organisierte Proletariat für die Vollendung der bürgerlichen Emanzipation kämpfte, da 1905 noch nicht einmal die bürgerlichen Freiheiten der Rede, Versammlung, Presse etc. verwirklicht waren.[18] Der Widerspruch zwischen hochentwickelten Industriezentren und halbfeudaler Peripherie (vgl. Lorenz 1976/44) machte Bauernschaft und Proletariat also durch ihren gemeinsamen Gegner, den zaristisch-feudalen Kapitalismus (d.h. spezifisch russischen Imperialismus) zu revolutionären Klassen. Die fehlenden zivilgesellschaftlichen Traditionen traten in den anwachsenden Klassenauseinandersetzungen u.a. darin zutage, dass die Auflehnung der Bevölkerung relativ schnell Massencharakter und eher als in den westlichen Ländern gewaltsame, aber auch eigenständig organisierte Formen annahm. Wie weit jedoch die Tendenzen und Bestrebungen der Bevölkerung z.B. nach Konfiskation des gutsherrlichen Bodens und Demokratisierung der Gesellschaft über eine bloß bürgerliche Revolution hinausgehen würden und eine Fortführung der bürgerlich-demokratischen als sozialistische Revolution erlaubten, war in den drei Erhebungen 1905-17 von der Herstellung eines zur Gesellschaftsgestaltung fähigen Bündnisses zwischen Arbeiterklasse und landarmen Bauern abhängig. (vgl. Lorenz 1976/45f)

2.1 Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1905

Als die Auswirkungen der internationalen Wirtschaftskrise von 1903, die Krise des halbfeudalen Agrarsystems (Landarmut, Schuldenlast, geringe Entwicklung der Produktivkräfte) und die Niederlage im russisch-japanischen Krieg zunehmend für Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung sorgten, reifte der erste Ansturm auf die Bastionen der zaristischen Selbstherrschaft heran.[19] Massenstreiks fanden insbesondere nach dem sogenannten „Blutsonntag“ (9.1. 1905) statt, als das Militär in eine (noch keineswegs revolutionäre!) Massendemonstration von 140000 Menschen, die dem Zaren eine untertänige Petition übergeben wollten, geschossen und Tausende Demonstrierende getötet hatte. Das bislang weit verbreite Vertrauen in „Väterchen Zar“ war damit schwer erschüttert, wenn nicht zerstoben.[20]

In vielen Städten bildeten sich aus den Streikkomitees Sowjets (Räte) heraus, die sofort politische Machtfunktionen übernahmen[21], z.B. den Achtstundentag einführten oder die zaristische Polizei verhafteten. Die Ansätze zur Herausbildung einer revolutionären Rätemacht führte zu einem Kräftegleichgewicht („Balance of Power“) zwischen den revolutionären Teilen der Bevölkerung und der zaristischen Reaktion, was letzterer die Gewährung bürgerliche Freiheiten und die Übertragung gesetzgebender Vollmachten an die bisher nur beratende Duma (das russische Parlament) abnötigte – nicht zuletzt um die revolutionäre Gärung in der Bevölkerung zu beschwichtigen. Obgleich ein Notverordnungs- und Ausnahmeparagraph dem Zaren unumschränkte Vollmachten gab, waren die demokratischen Reformen durchaus geeignet die Autokratie in Richtung einer konstitutionellen Monarchie umzubilden. Dies machte den bürgerlich-demokratischen Charakter dieser (obgleich von der Bourgeoisie bereits beargwöhnten und bestenfalls mitgetragenen) Revolution aus – zumal die zu dieser Zeit entstandenen zwei großen bürgerlichen Parteien (die konstitutionellen Demokraten – „Kadetten“ und der Konservative Bund – „Oktobristen“) angesichts der über Ansätze bürgerlicher Umgestaltungen hinausgehenden Tendenzen des Proletariats schnellstens der Revolution den Rücken kehrten und einen Kompromiss mit der zaristischen Reaktion suchten, da sie mit ihr die das Interesse teilte, Russland vor dem revolutionären „Zerfall“ zu bewahren.[22] Das Zarenregime konnte daraufhin die Duma um so leichter als „demokratisches“ Aushängeschild für eine im wesentlichen unveränderte Politik gebrauchen.

Die proletarischen Kämpfe flauten jedoch erst nach einem politischen Generalstreik und der Niederwerfung des bewaffneten Dezemberaufstandes 1905 durch das zaristische Militär in Moskau ab. Bauernerhebungen[23] dauerten in Form von Zahlungsver-weigerungen, spontaner Beschlagnahmung von Grund und Gütern, Militär-dienstverweigerung oder Holzeinschlag auf Adelsgrund noch bis 1907 an, worin sich der – wenn auch noch weitgehend unorganisierte – Wille widerspiegelte, gegen die Lasten der autokratisch organisierten Landwirtschaft anzukämpfen. An einigen Orten bildeten sich Bauernräte, wobei der Widerstand der Bauern zunächst unmittelbar gegen die Repräsentanten der Monarchie (die kapitalistischen Pächter und Grundbesitzer) gerichtet war, noch nicht gegen die autokratische Verfasstheit der Landwirtschaft selbst. Auch im (hauptsächlich aus Bauern bestehenden) zaristischen Heer gab es besonders aufgrund der schlechten Versorgungslage nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg Auflösungserscheinungen. Jedoch aufgrund fehlender Koordination zwischen Bauernschaft und Proletariat und nur ansatzweiser Konstitution von Räten blieb es bei bürgerlichen Forderungen und Desertionen; zumeist ließ sich das Heer noch für konterrevolutionäre Einsätze verwenden.

Obwohl die bürgerlichen Errungenschaften der ersten russischen Revolution durch eine starke Einschränkung des Wahlrechts und das Verbot der sozialdemokratischen Dumafraktion z.T. wieder aufgehoben wurden, war das zaristische System merklich angegriffen. Bis 1907 die Periode der sog. „Stolypinschen Reaktion“ einsetzte, befand sich Russland gewissermaßen im „politischen Frühling“: Sozialdemo-kratische/kommunistische Parteien waren legal, wie auch Arbeiterpresse und Gewerkschaften. Es wurden Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen, Aufhebung von Ablösezahlungen und die Verringerung der Bodenpachten erkämpft.

2.2 Februarrevolution, Doppelherrschaft und Oktoberrevolution 1917

Da die wesentlichen Forderungen der ersten Revolution, nämlich Veränderungen in der gesellschaftlichen Grundstruktur, 1905 nicht umgesetzt worden waren, kochten die sozialen Erhebungen trotz der ab 1907 einsetzenden terroristischen Verfolgungen[24] immer wieder hoch. Im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges hatten sich die sozialpolitischen Widersprüche und Versorgungsprobleme schließlich derart verschärft, dass die Proteste gegen die Autokratie wieder revolutionären, d.h. landesweit massenhaften Charakter annahmen.

Vor allem im Zuge der Stolypinschen Bodenreform, welche die Armut der Bauern entgegen aller Versprechungen noch steigerte, begann ein neuer Aufschwung in der antizaristischen Bewegung – auf Seiten des Proletariats verstärkt durch die Empörung über ein Massaker bei den Goldfeldern an der Lena, wo die zaristische Miliz über 500 Arbeiter erschoss oder verwundete. Die Streikzahlen überstiegen daraufhin rasch die Millionengrenze. Im Laufe des I. Weltkrieges nahmen die Proteste aufgrund von Produktionseinstellungen bzw. Umstellung auf Kriegsproduktion, der sich daraufhin rapide verschlechternden Versorgungslage und der Zuspitzung sozialer Antagonismen rapide zu (vgl. Lorenz, ebd. 56f) und weiteten sich oftmals zu politischen Massenveranstaltungen aus. Noch bevor es wie 1905 zu einer die zaristische Selbstherrschaft rettenden Regierungsumbildung kommen konnte, brach am 26. Februar 1917 der Generalstreik aus; am 27. Februar wurde der Zar abgesetzt. Ähnlich wie 1905 formierten sich aus den Streikkomitees Sowjets; bürgerliche Rechte und Freiheiten wurden proklamiert, der Achtstundentag in Fabriken durchgesetzt und so die 1905 liegengebliebene bürgerliche Revolution vollendet. Jedoch „unterschied sich die russische Februarrevolution von den früheren bürgerlichen Revolutionen in West- und Mitteleuropa nicht nur in den Kampfmitteln, unter denen der politische Massenstreik und der bewaffnete Aufstand die Hauptrolle spielten, sondern auch im Ergebnis. In Gestalt der Sowjetmacht schuf sie eine politische Organisationsform, die die Möglichkeiten einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in sich barg.“ (Lorenz, ebd. 61)

Die Sowjets bildeten sich diesmal unter Einbeziehung der Soldaten, aber weitgehend ohne Führung der Bolschewiki heraus, die verhaftet waren oder sich in der Verbannung befanden. Obwohl die Sowjets unmittelbar Machtfunktionen auszuüben begannen, übergaben oder überließen sie einer aus Vertretern bürgerlicher Parteien gebildeten Provisorischen Regierung die politische Macht. Menschewiki und Sozialrevolutionäre (die nicht-bolschewistischen Linksparteien) agierten hauptsächlich aus parlamentarischen Zielstellungen heraus und wirkten analog dem Beispiel westeuropäischer bürgerlicher Revolutionen zunächst auf eine Epoche des freien Kapitalismus hin, bevor die eigentlich sozialistische Umgestaltung Russlands folgen sollte.[25] Da Sowjets wie auch bürgerliche Regierung Machtfunktionen ausübten, wurde die neue politische Konstellation als „Doppelherrschaft“ bezeichnet. Allerdings darf man die tatsächliche Machtverschiebung nicht übersehen: unmittelbar nach der Februarrevolution lag die Macht bei den Sowjets, weshalb die Provisorische Regierung keine Schritte ohne deren Kontrolle durchführen konnte. Da die menschewistisch/sozialrevolutionär geprägten Sowjets sich jedoch auf die Kontrolle der Durchführung bürgerlicher Reformen beschränkten und kaum darüber hinausgehende Forderungen erhoben, regte sich wenig Widerstand, als in der Folge ihre Befugnisse zunehmend eingeschränkt wurden und die Macht schrittweise an die Provisorische Regierung überging.

Mit der weitgehenden Fortführung der zaristischen Politik durch diese Regierung[26] gab sich die Bevölkerung jedoch nicht zufrieden, und wandte sich schrittweise von ihr ab. Insbesondere die Werktätigen versuchten z.B. in neu geschaffenen Organisationen unmittelbar Kontrolle über die Produktion zu gewinnen. Andererseits wurden die Bauern wieder aktiv, da der Kongress der Bauerndeputierten im April 1917 die Forderung nach Vergesellschaftung und gerechte Verteilung des gesamten nationalen Bodens erneuert hatte. Die Plünderungen/Enteignungen weiteten sich in einigen Gebieten zu einem Bürgerkrieg gegen die Grundbesitzer aus. Schließlich begann sich das durch die schlechte Versorgungslage geschwächte, hauptsächlich aus Bauern bestehende zaristische Heer angesichts der beginnenden Landverteilung aufzulösen – ca. 25% des gesamten Heeres desertierte bis September 1917.

Die Bolschewiki erhielten wieder vermehrt Zulauf, Streiks und Massendemonstrationen (vor allem gegen die auch von den Sowjets geduldete Fortführung des Krieges) verstärkten sich. Die Sowjets verloren an Einfluss in dem Maße, wie sie die volksfeindliche Politik der Provisorischen Regierung mittrugen, weshalb es für diese ein Leichtes war, die Sowjets faktisch zu entmachten und die Staatsmacht wieder uneingeschränkt auszuüben. Angesichts dessen verließen die Bolschewiki als einzige Partei den bisher eingeschlagenen Kurs einer loyalen Opposition gegenüber der Provisorischen Regierung und agitierten für die Bolschewisierung der Sowjets sowie deren Machtübernahme, da der Krieg und die Ausplünderung der Bevölkerung auf keine andere Weise beendet werden konnten. Die Mitgliederzahl der SDAPR wuchs von 43000 im April auf 240000 im September an; die Partei konnte trotz des Haftbefehls gegen Lenin und der Verfolgung durch die Staatsorgane ihren Masseneinfluss rasch ausweiten. Ebenso wenig wurde der Wunsch nach einer revolutionären Umwälzung der bestehenden Verhältnisse abgemindert durch militärisches Vorgehen gegen eine unter bolschewistischen Losungen die sinnlose Verlängerung des Krieges (die sog. „Juli-Offensive“) anprangernde Massendemonstration in Petrograd. Angesichts des offenen konterrevolutionären Terrors (basierend auf der Lüge, die Bolschewiki hätten im Juli den gewaltsamen Sturz der Regierung geplant), verbargen sich die Bolschewiki zum Teil erneut in der Illegalität und zogen die Losung „Alle Macht den Sowjets“ (aufgrund deren größtenteils menschewistischer Zusammensetzung und daher loyaler Haltung zur Provisorischen Regierung) zeitweilig zurück. Auf zwei illegalen Konferenzen der Bolschewiki in der Schweiz fanden die Forderungen nach Nationalisierung des Bodens und Beendigung des Krieges (bzw. dessen Umwandlung in einen Bürgerkrieg gegen die Provisorische Regierung) einhellige Zustimmung.

Durch Wahlen gerieten die Sowjets im August wieder zunehmend in die Hände der Bolschewiki, und die Forderung der Bevölkerung nach deren Machtübernahme verstärkte sich besonders nach einem (von den USA, Großbritannien und Frankreich unterstützten) militärdiktatorischen Putsch des Generals Kornilow, welcher nur mit Hilfe der Sowjetparteien sowie der Roten Garden zurückgeschlagen werden konnte. Daraufhin gingen neben dem Petrograder und Moskauer 250 weitere Sowjets auf die Linie der Bolschewiki über, die Proteste und Demonstrationen nahmen immer deutlicher sozialistischen Charakter an[27] und die Bolschewiki orientierten sich auf den bewaffneten Aufstand, da mittlerweile die letzte Chance einer friedlichen Machtübernahme vergeben war. Angesichts der Gefahr eines Separatfriedens der Westmächte gegen Russland, was einer konterrevolutionären Auslieferung Petrograds (das sich immer mehr als Zentrum des Aufstands abzeichnete) den Weg bereitet haben würde – sowie angesichts der revolutionären Stimmung der Massen – bereiteten die Bolschewiki ab Ende September (nach Lenins Rückkehr aus Finnland) gezielt den bewaffneten Aufstand vor.

Die aufgrund des Verrates der Pläne zum gewaltsamen Aufstand (durch Sinowjew, Kamenew und später auch Trotzki) unkoordiniert unternommenen Gegenaktivitäten der Regierung/ des Militärs konnten diesen nicht mehr verhindern; die Revolution brach los und siegte innerhalb weniger Tage (24.-26. Oktober) zunächst in der Hauptstadt Petrograd, und zwar vergleichsweise unblutig (es gab lediglich 8-10 Tote in den Gefechten). Strategisch wichtige Punkte wurden durch Rote Garden besetzt, später das Winterpalais gestürmt und die Provisorische Regierung verhaftet. Der II. Allrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten nahm am Abend des 25.10. 1917 die Dekrete über den (annexionslosen und gerechten) Frieden sowie (die Enteignung/Verteilung von privatem) Grund und Boden an. Auf dem Kongress setzten sich die Bolschewiki in fast allen Fragen durch, Lenin wurde zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare (dem vorläufigen Regierungsgremium) gewählt. Eine Woche später und unter größerem Blutvergießen gelangten die Sowjets auch in Moskau zur Macht. Die Aktivitäten konterrevolutionärer Verbände konnten durch die Roten Garden zurückgeschlagen werden und bis Februar 1918 verbreitete sich die Revolution nahezu über das ganze Land.[28] Die sozialistische Revolution hatte gesiegt.

2.3 Ursachen für den Sieg der Großen Sozialistische Oktoberrevolution

Der Sieg der Oktoberrevolution war keineswegs eine Sache des historischen Zufalls oder allein der revolutionären Gesinnung Lenins zuzuschreiben, wie dies zuweilen selbst unter sich als marxistisch verstehenden Intellektuellen behauptet wird. Der subjektive Faktor – die kampferfahrene revolutionäre Arbeiterpartei (die in der Tat seit 1898 wesentlich unter Inspiration und Leitung Lenins herangewachsenen war) – ist nicht zu trennen von drei objektiven Faktoren, innerhalb derer die Politik der Bolschewiki überhaupt erst ihre Bedeutung und Wirksamkeit erhielt und der Möglichkeit des Sieges der Oktoberrevolution zur Wirklichkeit verhalf.

  1. Die russische Bourgeoisie hatte im Laufe der kapitalistischen Entwicklung keine ihren Interessen entsprechende politische Ordnung erkämpft. Ihr Agieren war spätestens seit 1905 vielmehr (im Rahmen der zaristischen Selbstherrschaft) ein Reagieren auf die sich zuspitzenden Klassenauseinandersetzungen, innerhalb derer sie für eine Machtbeteiligung auf einen Klassenkompromiss mit der (auf den Landadel gestützten) zaristischen Führung angewiesen war. Dies zeigt sich daran, dass in der bürgerlich-demokratischen Revolution selbst die zunächst eingeschränkten bürgerlichen Freiheiten vom Proletariat einschließlich der Bauern gegen einen Großteil der Bourgeoisie durchgesetzt wurden.
  2. Insbesondere das zur Wahrung der Adelsprivilegien in halbfeudalem Zustand verbliebene Agrarsystem musste einen potentiell systemsprengenden Widerstand der landarmen Bauern hervorbringen, wovon schon die unablässigen Revolten und spontanen „Landnahmen“ seit 1905 und besonders zwischen März und November 1917 zeugten.
  3. Der Bourgeoisie stand zudem ein stetig wachsendes, zumeist auf engem Raum konzentriertes[29], gut organisiertes und selbstbewusstes Proletariat gegenüber, was frühzeitig eigenständige Ziele formulierte und den Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse aufnahm.

Mit Gründung der SDAPR um die Jahrhundertwende „begann sich das russische Proletariat aus einer ‚Klasse an sich’ in eine ‚Klasse für sich’ zu verwandeln, ehe noch die russische Bourgeoisie ihr eigenes politisches Programm formuliert hatte und bürgerliche Parteien entstanden waren.“ (Lorenz, a.a.O. 45) Diese sozialdemokratische (das hieß im damaligen Russland: kommunistische) Partei vereinigte 1917 im Kampf für den Sozialismus vier verschiedene emanzipatorische Grundströmungen in Russland: a) die allgemein-demokratische Bewegung für Frieden, b) das Bedürfnis der unterdrückten Völker nach nationaler Selbstständigkeit, c) die Forderungen der Bauern nach Bodenverteilung und d) den Drang des Proletariats nach Kontrolle über die nationale Produktion.

Als die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus besonders im I. Weltkrieg das Russische Reich dem Chaos auszuliefern drohte, verlor die Bourgeoisie zunehmend die Kontrolle über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und damit ihre Verankerung in der Bevölkerung.[30] Hinzu kommt, dass der organisierte Kampf der Bevölkerung gegen die Provisorische Regierung sich zu einem Zeitpunkt zuspitzte, als der internationale Imperialismus mit „eigenen“ Rivalitäten, d.h. mit dem ersten Weltkrieg „beschäftigt“ war und somit die konterrevolutionären Interventionen zwar nicht ausblieben, aber zu spät kamen, um die junge Sowjetmacht zu stürzen.

Im Ganzen kann gesagt werden, dass die verspätete Entwicklung in Russland ein ungewöhnliches Tempo ermöglichte, worin einerseits in kürzester Zeit ein hochentwickelter, andererseits aber kein liberaler, sondern äußerst reaktionärer Kapitalismus entstand, da er außerhalb der Zarenherrschaft nicht existieren konnte. Zusammen mit einer weltweit krisenhaften Entwicklung im Zuge des ersten Weltkrieges brachte die kapitalistische Entwicklung 1905 und 1917 in Russland günstige Bedingungen für den Sieg sozialistischer Bestrebungen hervor – die 1905 nur deshalb noch nicht siegten, weil (wie Lenin sagte) die rapide in die revolutionären Entwicklungen hineingezogenen kleinbäuerlichen Schichten mit einer bürgerlichen Umgestaltung zunächst zufrieden waren bzw. ihre Interessen in einem demokratisch bemäntelten „Scheinkonstitutionalismus“ (ein Ausdruck Max Webers) aufgehoben sahen. Als sich dies als Illusion erwies, weil die weiterhin imperialistische Entwicklung alle Widersprüche, anstatt sie zu lösen, in ungeahnt hohem Tempo verschärfte, wurde die marode Ordnung von den aufbegehrenden Massen 1917 letztlich schlichtweg überrannt.

3. Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion

Für das kapitalistische Westeuropa war mit dem Roten Oktober, insbesondere der Annullierung sämtlicher zaristischer Auslandsanleihen, eine entscheidende Machtstütze weggebrochen, da die riesigen Gebiete des russischen Reiches (an deren kapitalistischer Erschließung sich Frankreich und Großbritannien durch Kredite maßgeblich beteiligt hatten) dem kapitalistischen Einfluss von nun an entzogen sein würden. Zugleich war die russische Revolution Aufbruchsignal und Impuls für die arbeitenden Klassen[31] des westlichen Imperialismus, ihre Anstrengungen zu dessen Sturz zu intensivieren. Nach 1917 wurden in fast allen europäischen Staaten kommunistische Parteien gegründet, die im Rahmen der von sowjetischer Seite initiierten I. Kommunistischen Internationale zunächst zum Stützpunkt der Weltrevolution wurden – warum diese nicht ausbrach, kann hier nicht untersucht werden.

3.1 Die Anfänge nach der Oktoberrevolution

Zunächst ging die Sowjetführung jedoch davon aus, dass die westeuropäische Revolution nicht lange auf sich warten lassen und der russischen „zu Hilfe kommen“ würde.[32] Daher galt es vorerst die junge Sowjetmacht gegen die innere und äußere Konterrevolution zu sichern. Dafür wurden die zaristischen Behörden, Gerichts-, Polizei- und Straforgane durch neue ersetzt und zugleich jene Prozesse vorangetrieben, auf welchen der Sieg der Revolution basierte: Landverteilung und Arbeiterkontrolle. Erstere war mit dem allgemeinen Recht zur unentgeltlichen Bodennutzung zwar prinzipiell gegeben, aufgrund des Unwillens der Bauern zur Umsiedlung konnte jedoch in dicht besiedelten Gebieten zunächst das Land nur unter größter Zersplitterung verteilt und der allgemeine Landhunger noch nicht gestillt werden. Weitaus größere Erleichterung brachte die Befreiung von Pachtabgaben und Schulden sowie das Verbot von landwirtschaftlicher Lohnarbeit, wie die gesamte Volkswirtschaft überhaupt durch die Annullierung der unter zaristischer Herrschaft aufgenommenen Auslandsschulden und sonstige Kapitalanleihen entlastet wurde. In den Betrieben hatte sich seit Oktober 1917 zunehmend die Arbeiterkontrolle[33] durchgesetzt, da jedoch die Zusammenarbeit mit den früheren Unternehmern aufgrund deren aktiven/passiven Widerstands nicht funktionierte, wurden die meisten bis Frühjahr 1918 enteignet, womit die industrielle Bourgeoisie vollends ihre ökonomische Basis verlor. Weiterhin wurde durch gesetzliche Verankerung der nationalen Selbstbestimmung für die russischen Sowjetrepubliken der Unterdrückung von nationalen und religiösen Minderheiten die Grundlage entzogen. Als schließlich die (im Dezember gewählte und mehrheitlich aus Sozialrevolutionären bestehende) Konstituierende Versammlung das sowjetische Dekret (welches Russland zur Sozialistischen Räterepublik erklärte) nicht annahm, verfügte das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee deren Auflösung, und beseitigte so den letzten Rest des bürgerlichen Parlamentarismus.

So einfach der Sieg der Revolution jedoch zunächst gewesen war, so schwierig sollte sich deren weitere Durchsetzung erweisen. Aufgrund der enormen Zurückgebliebenheit des Landes, der schwierigen Versorgungslage wegen der vom Zarismus für Kriegszwecke zerrüttete Wirtschaft und der aggressiven Landnahme des deutschen Militärs im Vorfeld des Friedensvertrages von Brest-Litowsk kam es zunächst zu keinem (und erst recht nicht geplanten) Aufbau der Produktion in einem Umfang, welcher für die Errichtung des Sozialismus notwendig gewesen wäre. Der Sowjetmacht blieben zwischen der Beendigung des Weltkrieges (März 1918) und dem Beginn konterrevolutionärer Interventionen (Juni 1918) zu wenig Zeit, um etwa die Richtigkeit der verschiedenen Konzeptionen des Wirtschaftsaufbaus[34] an der Praxis zu erproben. Dem Land wurde um des Überlebens der Revolution willen ein tendenziell selbstzerstörerischer Kriegskommunismus aufgezwungen.

3.2 Kriegskommunismus

Im Frühjahr 1918 begannen breit angelegte innere (von den ehemals herrschenden Klassen forcierte) und äußere (durch im Weltkrieg siegreiche Entente–Armeen getragene) konterrevolutionäre Bewegungen, deren gemeinsames Ziel der Sturz der Sowjetmacht war.[35] Für die Bolschewiki (die inzwischen aufgrund der z.T. kapitulantenhaften, überläuferischen Haltung der Menschewiki und „linken“ Sozialrevolutionäre die Staatsmacht alleine behaupten) blieb in diesen Umständen für den Erhalt der Sowjetmacht keine andere Möglichkeit, als mit dem Primat stabiler (sich zuweilen auf 8000km ausdehnender) Fronten die Menschen wie in einer Festung am Leben zu erhalten. Da die auf die staatlichen Flächen begonnene landwirtschaftliche Großproduktion nur 3-4% der Gesamtnutzfläche umfasste und wegen fehlender Ausrüstung schwer anlief, außerdem der in Sowjethand verbliebenen Industrie aufgrund von Einkesselung und Blockade Roh- und Brennstoffe fehlten und schließlich viele Arbeitskräfte in der Armee gebraucht wurden, ergriff die Regierung drakonische Maßnahmen: Der gesamte Binnenhandel wurde verstaatlicht, es herrschte allgemeine Arbeitspflicht, Vorrang hatte die Rüstungsproduktion, Lebensmittel waren streng rationiert und die Produktionsaufträge und Rohstoffe wurden unmittelbar staatlich kontrolliert und zugeteilt.[36]

Die Ablieferungspflicht für Getreide und sonstige Lebensmittel, wie auch die unentgeltliche Versorgung großer Teile der Bevölkerung durch den Staat erschienen zwar unmittelbar als Verwirklichung kommunistischer Distributionsformen, wurden aber später auch von den Bolschewiki als „ernährungsdiktatorische“ Maßnahme bezeichnet – notwendig, um die Menschen vor dem Hungertod und den sozialistischen Staat vor dem Kollaps zu retten. Die Ablieferungspflicht zur Versorgung der nicht-ländlichen Bevölkerung während des Bürgerkrieges konnte nur mittels bürgerkriegsähnlicher Methoden durchgesetzt werden, wobei die vom Volkskommissariat für Ernährung aufs Land geschickten Komitees die Eintreibung nicht benötigter Lebensmittelvorräte zu besorgen hatten. Allerdings schlug durch die Verbündung dieser Komitees mit landarmen Bauern die Beschlagnahmung von Überschüssen z.T. in einen Überschuss an Beschlagnahmung um, so dass (als nichtintendierter, aber dennoch willkommener „Nebeneffekt“) die Landverteilung aus der Zeit der Oktoberrevolution und der Nivellierungsprozess in der Landbevölkerung weitergeführt wurden, womit z.B. der Landanteil der Kulaken (d.h. selbstständige Großbauern) von 15 auf 5% der landwirtschaftlichen Gesamtfläche zurückging. Wegen der staatlichen Konfiskationen verweigerte insbesondere die Großbauernschaft einen über den Eigenbedarf hinausgehenden Anbau, wodurch die Landwirtschaft fast zum Erliegen kam – oftmals konnte die volle Aussaat nur mit Waffengewalt erzwungen werden. Solche Maßnahmen betrafen jedoch auch Teile der sogenannten „Mittelbauern“, weshalb schließlich größere Teile der Landbevölkerung gegen die Sowjetmacht aufzubegehren begannen, was der Konterrevolution wiederum eine willkommene Massenbasis zumindest in den Randgebieten der Förderation verschaffte.

Zentralrussland, das am stärksten industrialisiert und gewissermaßen Zentrum der Revolution war, wurde innerhalb von drei Jahren von feindlichen Truppen mehrmals eingeschlossen. Von den gewonnenen Positionen unternahmen konterrevolutionäre Verbände immer wieder Vorstöße ins zentrale Russland. Besonders dramatisch war die Lage, wo innere Konterrevolution und feindliche Armeen sich verbinden und die noch schwache Rote Armee zunächst zurückschlagen konnten, somit ganze Landesteile wieder unter Fremdherrschaft und Militärdiktaturen gerieten (Ukraine, Teile Sibiriens). Dass die feindlichen Kräfte, wo sie sich durchsetzten, die alten Verhältnisse etablierten, bedeutete Terror gegen alle mit der Sowjetmacht sympathisierenden Menschen, die weitgehende Zerstörung der im Aufbau begriffenen Volkswirtschaft bzw. ihre Kontrolle durch sowjetfeindliche Mächte und eine ungeheure Ausbeutung der lokalen Bevölkerung.

In Reaktion auf die terroristische Intervention und innere Konterrevolution annullierten die Bolschewiki den Brester Frieden und nach einem Attentat auf Lenin im Sommer 1918 riefen sie die Bevölkerung zum Schutz des nationalen Reichtums und zu gezieltem Massenterror auf – dies, um Zeit zu gewinnen, bis die Rote Armee wirksame Gegenschlägen leisten konnte. Sie wurde unter Trotzkis Leitung weitgehend aus Elementen der vorrevolutionären Zeit wieder aufgebaut und wuchs im Laufe des Bürgerkrieges auf 5,5 Millionen Soldaten und Offiziere an. Von der Freiwilligenarmee wurde zur Wehrpflicht zurückgegangen, von militärischer Basisdemokratie zur hierarchisierten Befehlsarmee und wenn die Bolschewiki ehemals zur Zersetzung der zaristischen Armee aufgerufen hatten, so wurden sie jetzt zu glühenden Vaterlandsverteidigern. Die Rote Armee konnte nicht nur die feindlichen Vorstöße zurückschlagen, sondern ab Herbst 1918 bereits an vielen Frontabschnitten die Initiative zurückgewinnen und im Gegenangriff während des folgenden Jahres den Ring der feindlichen Armeen durchbrechen und deren nunmehr isolierte Regimenter zerschlagen bzw. ihre Führer liquidieren. Damit war nicht nur die größte Gefahr für die Sowjetrepublik gebannt bzw. diese unter schwersten Entbehrungen behauptet worden[37], sondern sie hatte mit dem Sieg über die imperialistischen Interventionstruppen auch dem Weltkapitalismus einen schweren Schlag versetzt, dessen „militärische, wirtschaftliche und politische Ziele“ (vgl. Fn. 35) sich im Gebiet der RSFSR auf absehbare Zeit nicht mehr verwirklichen lassen würden. Daher folgte nach 1919 seitens mehrerer europäischer Staaten die (faktische, wenn auch nicht immer offizielle) politische und wirtschaftliche Anerkennung der Sowjetmacht, wobei die Aufhebung des Handelsembargos wesentlich zur Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse beitrug.

3.3 Neue Ökonomische Politik

Privater Markt und illegaler Handel konnten durch die „proletarische Naturalwirtschaft“ des Kriegskommunismus (Lorenz, ebd. 111) jedoch nicht verdrängt werden, zumal diesen nicht-sozialistischen Wirtschaftsbeziehungen aufgrund der wirtschaftlichen Zerrüttung immer bedeutendere Versorgungsfunktionen zukamen. Allgemeiner Widerstand regte sich gegen die mit dem Kriegskommunismus einhergehenden Versorgungsmängel und allumfassenden Reglementierungen, etwa gegen die Arbeitspflicht, das Handelsverbot, die Zwangsabgaben und den verbreiteten Warenmangel, u.a. an Nahrungsmitteln und Winterkleidung. Nachdem die äußere Bedrohung im Abklingen war, wurde Sowjetrussland aufgrund seines völlig desolaten Zustandes nun von innen infrage gestellt. Die landesweit ausbrechenden Streiks und Revolten gipfelten im März 1921 im Aufstand von Kronstadt, der sich zur Erhebung ausweitete und nur mit Hilfe der Sowjetarmee niedergeschlagen werden konnte.

Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) stellte insofern eine (notwendige) Reaktion auf die innenpolitische Krise dar, zudem den Ansatz einer notwendigen Neustrukturierung der gesamtrussischen Wirtschaft, die aufgrund der kriegskommunistischen Mobilisierung allerletzter Reserven im Bürgerkrieg völlig am Boden lag. Die NÖP bedeutete insofern einen temporären Rückzug des Sozialismus, eine staatskapitalistische Übergangsformation[38] zur Schaffung der Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus – und zwar in einem Lande, denn 1922 war bereits absehbar, dass die „westliche“ (insbesondere deutsche) Revolution entgegen allen Hoffnungen und Erwartungen vorerst ausbleiben würde.

Zur Rekonsolidierung der Verhältnisse in der RSFSR löste die Staatsführung zunächst das Zwangsabgabesystem zur Versorgung der Städte im Kriegskommunismus zugunsten einer niedrigeren, anteilig zur Hofgröße steigenden Naturalsteuer ab. Da zugleich Ware-Geld-Beziehungen, freier Handel sowie der Verkauf von Überschüssen legalisiert wurden und für Wohnung, Heizung, Grundbedarfsartikel usw. wieder bezahlt werden musste, nahm die Bedeutung des Geldes so zu, dass die Naturalsteuer schließlich in eine landwirtschaftliche Geldsteuer umgewandelt wurde. Da im allgemeinen die landreichen Bauern ihre Felder nicht ohne Lohnarbeit bestellen konnten (allerdings auch nicht in Kollektivwirtschaften überführen wollten) und die landarmen Bauern über die zur Bestellung notwendigen Produktionsmittel nicht verfügten, wurden begrenzt auch Lohnarbeit sowie die Zinserhebung auf Geld- und Produktionsmittelverleih zugelassen. Der sowjetische Staat behielt in dieser Periode lediglich das Monopol auf den Außen- und Großhandel, das Finanzwesen sowie das Verkehrs- und Verteidigungssystem, während das produzierende Gewerbe innerhalb dieses Rahmens zu kapitalistischer Wirtschaftsweise angehalten war.

1926 erreichte die Landwirtschaft trotz einiger Missernten und Hungersnöte 1921 und 1924 (aufgrund derer über eine Million Menschen den Hungertod fanden) im wesentlichen wieder das Vorkriegsniveau, war aber keineswegs zu einer Akkumulation in der Lage, welcher es für den Ausbau und die Modernisierung der rückständigen (und mit enormen Selbstkosten arbeitenden) Industrie des im Ganzen immer noch agrarisch geprägten Riesengebietes der Sowjetunion[39] notwendig gewesen wäre. Die SU verfügte auch nach Wiedererreichen des Vorkriegsniveaus im Vergleich zu westlichen Industriestaaten lediglich über ca. ein Zehntel an Produktionskapazitäten, städtischer Agglomeration und Infrastruktur.[40] Auf dem Land war aber neben der aus der Revolutionszeit überkommenen Zersplitterung und Neuverteilung des Bodens bei generell überalterter, wo nicht gänzlich fehlender technischer Ausrüstung (Düngemittel, Pflüge, Traktoren, Mähmaschinen etc.) die Arbeitsproduktivität so gering, dass eine Steigerung der Produktion zunächst zwar bereits durch einfache Kooperation zu erreichen, die für die Industrialisierung des Landes notwendige Akkumulation von Lebensmitteln und Rohstoffen jedoch ohne völlige Umstrukturierung des landwirtschaftlichen Produktionssektors zum Zwecke kollektiver Bewirtschaftung nicht möglich war.

Obgleich in der sowjetischen Staatsführung über die Notwendigkeit der schnellstmöglichen Industrialisierung Einigkeit herrschte, stritt man über die Methoden. Herauszuheben sind hier drei Tendenzen, deren eine (von Stalin als „linke“ Abweichung apostrophierte) auf die (am Kriegskommunismus orientierte) völlige Unterordnung der Landwirtschaft unter die Bedürfnisse der Industrialisierung und die sofortige Liquidierung des Kulakentums als Klasse abzielte, während die andere („rechte Abweichung“) auf das „natürliche“ Wachstum der Landwirtschaft abzielte, wobei mit dem Export ihrer Überschüsse die Industrialisierung, also der Maschinen- und Technologieimport finanziert werden sollte (vgl. Lorenz, ebd. 157ff). Zunächst setzte sich keine dieser Linien durch, weil gegen die erste die unmittelbare Interessenverletzung der (in der Bevölkerung immer noch überwiegenden) Bauernschaft sowie die momentane Unfähigkeit der Sowjetwirtschaften sprach, das kulakische Warengetreide zu ersetzen. Gegen die zweite Linie sprach die Möglichkeit des Kapitalismus, die ausländischen Märkte für sowjetische Landwirtschaftserzeugnisse zu sperren und mit der Einschränkung des Maschinenexports die sozialistische Industrialisierung zu untergraben. Bis 1928 blieb daher die Politik der NÖP bestehen, wenn auch bereits unter verstärkter staatlicher Investitionstätigkeit in der Produktionsmittel-Herstellung und Förderung bereits bestehender Kollektivwirtschaften.

Ansätze hierfür, d.h. für eine landwirtschaftliche Kollektivierung waren durch die gemeinsame Landnutzung, gemeinschaftliche Bodenpacht, staatliche Produktionsgenossenschaften auf ehemaligen Adelsgütern schon gegeben, woran also angeknüpft werden konnte. Die Abhängigkeit der landarmen Bauernschaft von kulakischen Großwirtschaften wurde durch staatliche Kredite, Bodenzuweisung und technische Ausstattung bekämpft und die Bauern zum Eintritt in Kollektivwirtschaften angeregt.

Eine Verstärkung dieser Aktivitäten mit dem Ziel der weitgehenden Kollektivierung der Landwirtschaft wurde im ersten Fünfjahrplan beschlossen, welcher die Jahre 1928-1932 umfasste und die Phase der NÖP beendete. Aufgrund der überraschend positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahren der NÖP waren die Ziele sehr hoch angesetzt. Der erste Fünfjahrplan beschloss drei für den wirtschaftlichen Aufbau wesentliche Punkte:

Erstens die enorme Steigerung der Industrieinvestitionen vor allem im Produktionsmittel-Bereich[41],

zweitens die zersplitterte landwirtschaftliche Produktion in kollektivwirtschaftliche Basis hinüberzuleiten,

drittens die Ausbildung von der Sowjetmacht loyalen Spezialisten zur Meisterung der Technik, um die Bastionen der inneren Konterrevolution zu untergraben.

Nicht zuletzt sollte damit eine schnellstmögliche industrielle Selbstständigkeit und Verteidigungsfähigkeit gewährleistet sein, weil die außenpolitische Isolation der SU die Gefahr neuer Interventionen anzeigte. (s.u.)

3.4 Kollektivierung der Landwirtschaft und forcierte Industrialisierung

Spätestens ab hier treten die Darstellungen der Entwicklung in der SU derart auseinander, dass ich von einer „integralen“ Darstellung wie bisher absehe und die zwei dominierenden, sich wechselseitig ausschließenden Argumentationslinien jeweils gesondert heraushebe.

3.4.1 „Zwangskollektivierung“ und „voluntaristische“ Industrialisierung?

Lorenz interpretiert den marxistischen Satz, die Landwirtschaft sei die Basis der Industrie so, als sei die industrielle Entwicklung von der Produktivkraft der Landwirtschaft abhängig. Das ist aber einseitig. Die Produktivkraft der Landwirtschaft wird nämlich selbst durch den Entwicklungsstand der industriellen Produktivkräfte bestimmt, da die Landwirtschaft (im Gegensatz zur Industrie) nicht ihre eigenen Produktionsmittel erzeugt. Die Produktivkraft der Landwirtschaft ist also von einer bestimmten Qualität industrieller Produkte abhängig. Umgekehrt basiert die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht auf einer bestimmten Qualität landwirtschaftlicher Erzeugnisse (z.B. kontrolliert biologischer Weizen), sondern hier ist die Quantität entscheidend und diese nur durch Mechanisierung angemessen zu erhöhen, wobei die Anwendung großer Maschinerie die Kollektivierung der Landwirtschaft voraussetzt. Mit einem Wort: wenn die Landwirtschaft auch die ständige Basis für das Bestehen der Industrie darstellt, so ist die Industrie ihrerseits die Basis für die Erhöhung der Produktivkraft in Landwirtschaft und Industrie. Die Landwirtschaft ist damit für das gesellschaftliche Bestehen überhaupt das „übergreifende Allgemeine“, die Industrie hingegen für die gesellschaftliche Entwicklung. (Auf die Wichtigkeit des Unterschiedes zwischen Bestehen und Entwicklung komme ich unten zurück.)

Lorenz sieht den Primat (oder die bestimmende Dimension) der gesellschaftlichen Entwicklung hingegen nicht in der Industrie, sondern in der Landwirtschaft und die wirkliche Entwicklung in der SU muss ihm daher als „voluntaristische“ (1976/ 221, 231, 352), d.h. willkürliche und unbegründete Abkehr erscheinen, und zwar von einem selbst von Marx und Engels (vgl. 153) vorausgesehenen und von Lenin wie Anfangs auch Stalin eingeschlagenen Weg.

Die NÖP wurde Lorenz’ Auffassung nach unvermittelt beendet, als infolge des Zusammenbruchs des Getreidemarktes Ende 1928 die Getreidevorräte der Bauernschaft wieder weitgehend durch staatliche Konfiskation aufgebracht wurden, wodurch eine größere Hungersnot zwar zunächst verhindert werden konnte – aber nur auf Kosten einer Gefährdung der Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land. (vgl. ebd. 173) Als sich auch im nächsten Jahr die Getreidebeschaffung keine wesentliche Verbesserung der Ernährungslage brachte, wurde die aus dem Kriegskommunismus bekannte Ablieferungspflicht wieder eingeführt und von den Sowjetorganen unter Gewaltandrohung und -anwendung durchgesetzt. Dies entsprach nach Lorenz’ Auffassung einer rigorosen Abkehr von der NÖP (vgl. ebd. 175f) und auch einer endgültigen, weil die zwischen 1927 und 1929 nahezu stagnierende Landwirtschaft die ständig prosperierende Industrie nicht mehr zu tragen, die Stadt nicht mehr mit Getreide zu versorgen imstande war. Die Sowjetregierung beschloss nach Lorenz’ Ansicht in ihrer Ablösung der NÖP eine völlig unbegründete Flucht nach vorn, anstatt nämlich die vorhandenen „sozialistischen Entwicklungsmöglichkeiten der Landwirtschaft“ (145) „auf lange Zeit“ (154) zu nutzen und die Kollektivierung nur freiwillig und in einem „langfristigen Prozess“ („eine[r] Reihe genossenschaftlicher Übergangsstufen“) zu gestalten (ebd.)[42] – d.h. im Klartext: anstatt einer Rückkehr zu den bewährten Prinzipien der NÖP – beschloss die Sowjetführung die forcierte Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft sowie die Kollektivierung der Bauernschaft, d.h. die Zusammenlegung der bisher noch auf Privatbesitz gegründeten landwirtschaftlichen Kleinproduktion.[43]

Dieser Beschluss war nach Lorenz Ansicht gegen die Interessen der Bevölkerung gerichtet. Sowohl die überhöhten Ziele des ersten Fünfjahrplans, der Abbruch der langsamen Hineinentwicklung der Landwirtschaft in die Phase ihrer endgültigen Mechanisierung und Kollektivierung im Rahmen der NÖP sowie die verspätete und überhastete (damit nicht mehr „vermittelbare“) Reaktion des Staates auf Versorgungsstörungen machten daher Elemente einer irrationalen Wirtschaftspolitik aus, die das Land 1929 an den Rand einer Krise brachte (vgl. 218), weil mit dem Stopp der Getreideexporte und dadurch erzwungenen Produktionseinschränkungen eine schleichende Desorganisation des gesamten Wirtschaftslebens (Fluktuation der Arbeitskraft, Auflösung der Arbeitsdisziplin) verbunden war, was die Arbeitslöhne seit 1921 erstmals sinken ließ. Die Wirklichkeit scheint Lorenz Recht zu geben, denn tatsächlich ging im Zuge der Kollektivierung die Anbaufläche der Landwirtschaft um 10-20%, der Viehbestand sogar um 30-70%[44] und der Getreideertrag um ca. 10% gegenüber 1929 (was etwa dem Vorkriegsstand entsprach) zurück. Die Kollektivierung eilte also der Industrialisierung (d.h. Modernisierung) der Landwirtschaft offenbar voraus, weshalb die Großbetriebe anfangs mit kleinbäuerlichem Gerät bewirtschaftet werden mussten. Aber selbst wo die neue industrielle Agrartechnik vorhanden war, konnte sie wegen fehlender Fachkräfte oft nicht rationell genutzt werden. Ebenso schwierig gestaltete sich die Leitung und Planung der neu entstandenen, zumeist aber instabilen Kollektivwirtschaften, die vielen Bauern „fremd“ gegenüber stand. In der Folge zerfiel ein Großteil der Kolchose wieder, zumindest aber ließen die beständigen Ein- und Austrittsbewegungen die Kolchosen zu keiner geregelten Wirtschaft kommen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach Lorenz eine erste Welle Stalinscher Repressionen das Land erschütterte, nachdem sich die Parteiführung an überhöhten Planzielen der Industrialisierung gewissermaßen aus Eitelkeit festgebissen hatte und als weder diese erreicht, noch überhaupt eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung gewährleistet werden konnte, zur beschleunigten Industrialisierung und Zwangskollektivierung schritt, die wiederum nur mit terroristischen Methoden durchgesetzt werden konnten[45], da die objektiven Bedingungen zum freiwilligen Eintritt in die Kolchose noch nicht gegeben waren. Andererseits waren die Teile der Arbeiterschaft Repressionen ausgesetzt, welche sich der rigiden Arbeitsverfassung widersetzten, die einer Militarisierung gleichkam (unbefristete Betriebsbindung, hohe Strafen bei mangelhafter Arbeit und Fehlen etc.) Die Repressionen waren also scheinbar notwendig, um keine Fehler eingestehen und zur NÖP zurückkehren zu müssen, andererseits um die aufgrund der verfehlten Wirtschaftspolitik aufbegehrenden Bevölkerungsteile niederzuhalten und nicht zuletzt um die Funktionäre zu disziplinieren, welche sich weigerten, die Zwangspraxis gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen.

Lorenz stellt damit als Hauptwiderspruch die geradezu kopflose – also ihren Bedingungen und Notwendigkeiten vorauseilende – Industrialisierung auf Kosten der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung heraus, wobei die dadurch notwendig aufbrechenden Konflikte in der Gesellschaft durch staatsterroristische Maßnahmen so weit unterbunden wurden, dass die forcierte Industrialisierung und die „hinterherhinkende“ Akkumulation in Landwirtschaft und Konsumgüterindustrie aufrecht erhalten werden konnten. Da die Machtorgane der gesellschaftlichen Kontrolle entglitten waren, sieht Lorenz (ebd. 251) im „stalinistische[n] System“ das Gegenteil der von Marx/Engels antizipierten „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die Entwicklung aller ist“[46] (MEW 4/482), da die Vergesellschaftung der Produktion und ihr planmäßiger, am Gemeinwohl orientierter Ausbau nicht erfolgt waren (nach Lorenz waren die Pläne lediglich Propagandamittel), weiterhin die individuellen (!) Freiheiten massiv beschränkt wurden und Ansätze des Rätesystems aus den ersten Jahren der Sowjetzeit wieder zunichte gemacht worden waren.

Im Grunde genommen trägt Lorenz dafür nur zwei „Gründe“ vor: a) die Kollektivierung wurde überstürzt, die Landwirtschaft der Industrialisierung in ungebührlicher Weise untergeordnet; b) der sich daraufhin regende Widerstand der Massen war Ausdruck des Willens, die Sowjetführung abzusetzen und konnte nur durch umfassenden Staatsterror unter Kontrolle gehalten werden (dessen zentrale Lenkung ihren ideologischen Ausdruck im Personenkult fand.) Lorenz’ Darstellung lässt sich schließlich auf ein einziges Argument reduzieren, welches schon zu Zeiten der Industrialisierung von der rechten Opposition vorgetragen wurde: die Zeit für die landwirtschaftliche Kollektivierung sei noch nicht reif, das industrielle Wachstum viel zu hoch angesetzt, stattdessen sei wieder zur NÖP zurückzukehren (zur Idealisierung der NÖP s.u.)

Lorenz’ Diktum „zurück zur NÖP“ heißt nichts anderes als man hätte den Sozialismus nicht aufbauen dürfen“ (denn „nicht so“ hieß unter den gegebenen Umständen: gar nicht) und entspricht dem Plechanowschen Satz (über die Februar-Revolution von 1905): „man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen.“ Da aber „zu den Waffen gegriffen“ und der entscheidende Schlag gegen die Kulakenwirtschaften auf der einen und die zersplitterte Kleinproduktion auf der anderen Seite geführt wurde, kann Lorenz ab sofort die wirtschaftliche Verfassung des Staates nicht mehr als sozialistische auffassen (denn nur im Kapitalismus ist die Industrialisierung „Selbstzweck“, nur im Kapitalismus gibt es „periodische Krisen“; beides schreibt er der SU-Industrialisierung ab 1929 zu) und führt die zerrüttete Ökonomie auf die (verfehlte) Politik Stalins zurück.

In einem späteren Artikel (1979) gelangt Lorenz innerhalb seiner Anschauungen logischerweise zu einem den realen gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen völlig enthobenen Bild von „Stalins Regime der persönlichen Gewaltherrschaft“ (229). Als letztendlichen Grund für den „staatlich organisierten Massenterror“ (232), der durch willkürliches Auffinden von „Sündenböcken“ (231) den Machterhalt Stalins sicherte, weiß Lorenz nur noch „Selbstzweck“[47] (1976/231) anzugeben, wie ihm ebenso die forcierte Industrialisierung (wofür ebenfalls Stalin verantwortlich war; ebd. 236) und die „in allen ihren Lebensäußerungen einer totalen staatlichen Kontrolle unterworfen[e Gesellschaft]“ als Selbstzweck erscheint. (ebd. 251)[48]

Lorenz’ Methode besteht in diesen Passagen seiner „Sozialgeschichte“ darin, bestimmte Fakten der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung aus dem Zusammenhang gerissen nebeneinander zu stellen, und sie nicht als Resultate, also in ihrem realen Entstehungszusammenhang aufzufassen, sondern sie wahlweise mit den Verhältnissen während der NÖP bzw. denen kapitalistischer Staaten Westeuropas oder auch mit Gedanken und Formulierungen von Marx, Engels, Lenin und selbst Stalin zu vergleichen. Damit wird jedoch seine methodische Leitlinie, „die innere Entwicklung des Kapitalismus“ Russlands aus seinen besonderen historischen Voraussetzungen zu begreifen, für den Aufbau des Sozialismus offenbar verworfen, da er die „außerordentlichen Eigentümlichkeiten“ (LW 3/16) der SU nicht mehr „als besondere Erscheinungsformen allgemeiner Entwicklungsgesetzmäßigkeiten“ (Lorenz 1976/14) begreift, sondern lediglich unter Heranziehung verschiedener äußerlicher Maßstäbe bewertet.

Bei Zurückführung der von ihm als „voluntaristisch“ bezeichneten Politik auf die materiellen Verhältnisse und realen Entwicklungsnotwendigkeiten fällt die Absurdität und Irrelevanz seiner Vergleiche mit dem Hitlerfaschismus oder „anderen Diktaturen“ ins Auge. Sofern die Staatsmacht auf dem Gemeineigentum basiert und damit „Auftragsgewalt“ im Interesse der Bevölkerungsmehrheit ist, sind alle Vergleiche mit den (auf Privateigentum basierenden!) faschistischen Systemen nicht nur gesellschaftstheoretisch unhaltbar, sondern wissenschaftlich falsch und politisch irreführend. (vgl. Fn. 45)[49] Zudem bleibt in dieser Deutung offen, wie das überaus stabile Wirtschaftswachstum, das Vorrücken der SU auf den zweiten Platz der Weltindustrieproduktion (vgl. Meyer 1798a/42) zustande kommen konnte (welches Bedingung war für den Sieg über den Faschismus), wenn „die gesamte Industrie...während der Massenverfolgungen nur beschränkt funktionsfähig [war]“, es „in vielen Produktionszweigen...keinerlei Wachstum [mehr gab]“ und dem Terror „die Mehrzahl der führenden technischen und wirtschaftlichen Spezialisten sowie Hunderttausende von Facharbeitern zum Opfer“ gefallen waren. (1976/232f, meine Herv.)

3.4.2 Die realen Bedingungen der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation

Meyer (1977 und 1978a/b) beginnt die Darstellung der Entwicklungen ab 1929 wie Lorenz mit der Feststellung, dass in Industrie und Landwirtschaft um 1926 der Vorkriegsstand im Wesentlichen wieder hergestellt war, Industrie wie Landwirtschaft aber gegenüber Westeuropa und den USA immer noch weit zurücklagen und in der SU das Produktions- und Versorgungsniveau dieser Gesellschaften auf sozialistischer Basis nur durch Modernisierung und Ausbau der Industrie sowie Kollektivierung/Mechanisierung der Landwirtschaft zu erreichen waren. Meyer führt darüber hinaus an, dass die Bevölkerung der SU im Vergleich zu Westeuropa dreieinhalb mal so schnell wuchs und weist schließlich darauf hin, dass die SU bei ihrem (nach Planung und Ergebnissen geschichtlich bislang einmaligen) Industrialisierungsprogramm abgesehen von technischer Kooperation und geringem Maschinenimport ausschließlich auf nationale Akkumulationsquellen angewiesen war (vgl. 1978a/44f), also kein umfassender Außenhandel möglich war, keine Kolonien bestanden und keine kapitalistische Knechtung des Proletariats infrage kam.[50] Der Ausbau der Industrie in Richtung auf völlige Selbstständigkeit im Bereich der Produktionsmittelerzeugung erforderte zunächst den Ausbau der Energieversorgung und Verkehrswege, die keine unmittelbar konsumierbaren Güter hervorbringen, aber unerlässliche Grundlage einer funktionierenden Wirtschaft sind.

Eine wesentliche Quelle sozialistischer Akkumulation war die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität, was nur durch Kollektivierung und Mechanisierung der in 25 Millionen Einzelgehöfte zersplitterten Landwirtschaft möglich war. Der Zusammenbruch des Getreidemarktes 1928 war also nicht Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik (wie Lorenz annimmt), sondern Ausdruck der Tatsache, dass der wachsende Getreidebedarf der Städte auf Basis der zersplitterten Landwirtschaft nicht mehr befriedigt werden konnte. Zudem trafen Tendenzen der Kulaken (private Großbauern), ihr Getreide zurückzuhalten und auf die Erzielung besonders hoher Preise zu spekulieren, 1929 mit einer Missernte zusammen. Die Regierung stand vor der Alternative, diese Entwicklung zur Kollektivwirtschaft wie bisher im Rahmen der „Überzeugung durch Beispiel“ laufen zu lassen (und damit die Erfüllung des Fünfjahrplanes zu gefährden), oder direkt in die Dörfer zu gehen und einerseits kurzfristig die zurückgehaltenen Getreidevorräte z.T. mittels Waffengewalt einzutreiben und zugleich die Kollektivierung zu propagieren, um damit der kulakischen Privatproduktion, der industriellen Kleinproduktion und dem Wucherhandel gezielt die Grundlage zu entziehen.[51]

Im Rahmen der Kollektivierung wurde oftmals Gewalt angewandt und die Kollektivierung zum Teil überstürzt. Die Parteiführung distanzierte sich allerdings von solchen „erneute[n] Rückfälle[n] in außerordentliche Maßnahmen, administrative[r] Willkür, Verletzung der revolutionären Gesetzlichkeit, Hofrevisionen, ungesetzliche[n] Haussuchungen usw., wodurch die politische Lage des Landes verschlechtert und der Zusammenschluss von Arbeiterklasse und Bauernschaft gefährdet wurde.“ (SW 11/183) Stalin wies zudem auf die Planziele hin, wonach die Kollektivierung je nach den konkreten Gebietsstrukturen bis 1933 Zeit hätte und erklärte es für eine logische Folge, dass die zum Beitritt in die Kolchose gezwungenen Bauern wieder austreten und die faktisch nur auf dem Papier existierenden Kolchose wieder zerfallen würden (vgl. SW 12/168-75 und 177-204). Infolgedessen ging die Kollektivierungsquote der Gesamtlandwirtschaft um ca. 10% zurück und die verbliebenen staatlichen und Kollektivwirtschaften wirkten vermehrt auf die Qualitätssteigerung hin, indem die Effektivierung der Bodennutzung, Beherrschung der Technik, Abschaffung von Überspezialisierung und Zerlegung übergroßer Sowjetwirtschaften vorangetrieben wurde, was die Versorgungslage gegen Ende 1934 deutlich besserte und die schrittweise Aufhebung der Lebensmittelrationierung erlaubte.

Um die wachsende städtische Bevölkerung mit Lebensmitteln und die Industrie mit Rohstoffen zu versorgen, hätten zwar „abstrakt“ gesehen auch zurückhaltendere Alternativen mit ausgeglichenerem Wachstum gewählt werden können, was aber unter der Prämisse des Erhalts und der Stärkung des Sozialismus sowie angesichts der verschärften internationalen Rahmenbedingungen bewusst abgelehnt wurde.[52] Die Alternative war nämlich nicht (wie Lorenz annimmt) eine forcierte und eine andere, „ausgewogene“ Entwicklungsmethode des Sozialismus, sondern Untergang oder Erhalt des Sozialismus, wobei letzterer abhing von einem bestimmten Entwicklungsziel: „...unter den Verhältnissen der kapitalistischen Umkreisung (ist) es unmöglich, die Unabhängigkeit unseres Landes zu behaupten, ohne eine hinreichende industrielle Basis für die Verteidigung zu besitzen. [...] Wir haben die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder hinsichtlich der Errichtung einer neuen politischen Ordnung, der Sowjetordnung eingeholt und überholt. Das ist gut. Aber das genügt noch nicht. Um den endgültigen Sieg des Sozialismus in unserem Lande zu erringen, müssen wir diese Länder auch technisch-ökonomischer Hinsicht einholen und überholen. Entweder erreichen wir das oder wir werden zermalmt.“ (SW 11/220, Herv. G.H.) Diesem Ziel wurden auf wirtschaftspolitischem Gebiet alle grundlegenden Entscheidungen untergeordnet, und dass dem faschistischen Imperialismus 1941-43 das „Zermalmen“ der Sowjetordnung nicht gelang, ist wesentlich auf die im Zuge der Industrialisierungsphase erreichte Überwindung der Rückständigkeit des Landes zurückzuführen.

Im Gegensatz zu Lorenz, der das Ergebnis (d.h. den Sozialismus) ohne den Weg dahin (Schaffung der Voraussetzungen und Aufbau des Sozialismus) möchte, also zwar einräumt, dass aufgrund „einer Reihe außenpolitischer Faktoren...eine starke Industrie“ notwendig war (1976/166), aber bezweifelt, dass die tatsächliche Industrialisierung mit außenpolitischen (und selbst ökonomischen!) Argumenten zu rechtfertigen war (vgl. 1976/231, 216), argumentiert Meyer (1977/851-54), dass die industrielle Entwicklungsstrategie der Sowjetführung ohne Berücksichtigung der im folgenden skizzierten internationalen Lage überhaupt nicht verstanden werden kann.

3.4.3 Exkurs: Die internationale Lage während der Industrialisierungsphase 1927-1938

Zunächst kam es im Zuge der NÖP mit Ausnahme des „Krisenjahres 1927“ (als u.a. der sowjetische Botschafter Polens ermordet wurde und Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zur SU abbrach) zu einer relativen Stabilisierung der außenpolitischen und Handelsbeziehungen – nicht zuletzt, weil der Kapitalismus Mitte der zwanziger Jahre eine Phase temporärer Stabilität erlebte und vom Handel mit der SU profitierte. Ab 1930 jedoch, als sich die Weltwirtschaftskrise in Europa voll auswirkte, verstärkten sich Anzeichen, dass Faschismus und Krieg in den politischen Konzeptionen der imperialistischen Staaten zukünftig eine wesentliche Rolle spielen würden, was sich schlaglichtartig verdeutlichte, als 1933 (nach dem Machtantritt des Faschismus) Deutschland im sogenannten Hugenberg-Memorandum koloniale Ansprüche auf afrikanische Territorien geltend machte. Ohne dies zu sanktionieren, schlossen Großbritannien und Frankreich mit Deutschland und Italien einen „Viermächtepakt“, welcher mit der formalen politischen Gleichstellung des Deutschen Reiches auch dessen seit dem Versailler Vertrag geltende Rüstungsbeschränkungen aufhob. Daraufhin machte Deutschlands und Japans Austritt aus dem Völkerbund dieses ohnehin schwache Instrument der Friedenssicherung noch schwächer; zudem scheiterten 1934 die sowjetisch-französischen Bemühungen um einen Stabilitätspakt der Staaten östlich Deutschlands (das seinerseits 1935 mit dem Aufbau einer Luftwaffe begann.) 1936 spitzte sich die internationale Lage zu, als ein britisch-sowjetischer Beistandspakt scheiterte, die völkerrechtswidrige Annexion Äthiopiens durch Italien von Großbritannien faktisch anerkannt wurde, Deutschland durch die Rheinlandbesetzung die Locarno-Verträge offen aufkündigte (aber auch diesmal keine Sanktionen der Westmächte auf sich zog) und schließlich nach dem kriegsvorbereitenden Beschluss eines Vierjahresplans zur „Wiederherstellung der [deutschen] Wehrfähigkeit“ mit Italien die „Achse Berlin-Rom“ bzw. mit Japan den Antikominternpakt (dem bis 1939 noch vier weitere Staaten beitraten) zur Koordination der antisowjetischen Politik initiierte. Während dieser Isolation vom Westen hatte die SU bereits Angriffe Japans auf ihre Ostgrenze zu befürchten und schließlich auch abzuwehren, während in Europa Faschisierung und Kriegsvorbereitung stetig voranschritten: 1938/39 annektierte Deutschland Österreich, zerschlug die Tschechoslowakei und okkupierte das Memelgebiet. Rumänien wurde in eine wirtschaftliche Halbkolonie Deutschlands verwandelt, der Stahlpakt zwischen Deutschland und Italien geschlossen und schließlich durch den faschistischen Überfall auf Polen der II. Weltkrieg ausgelöst.

Die Innenpolitik der Sowjetführung kann natürlich nicht aus der außenpolitischen Lage abgeleitet werden, jedoch ist sie ohne deren Beachtung (wie es Lorenz tut) nicht zu verstehen. Auch dass die außenpolitische Lage sich in der Innenpolitik auswirkte, darf nicht als unmittelbare Kausalverbindung verstanden werden – was Lorenz tut, wenn er die Kollektivierung der Landwirtschaft und verstärkte Industrialisierung als unbegründet ablehnt, weil sich zu diesem Zeitpunkt die außenpolitischen Beziehungen der SU um 1929 stabilisierten. (vgl. 1976/216f)

Meyer deutet die internationalen Bewegungen in den dreißiger Jahren übergreifend als Isolation der SU (vgl. 1977/853), wenn auch bis 1941 keine direkte militärische Intervention erfolgte. Aber nicht nur die faschistischen Expansionsbestrebungen, sondern auch und gerade deren Duldung durch die (im Münchener Abkommen dokumentierte) Appeasementpolitik der Westmächte isolierte die SU. Dass sie die Isolation immer wieder durch Friedensverträge und Beistandspakte zu durchbrechen suchte, ist bekannt – das Scheitern dieser Bemühungen, wie auch die dadurch veranlasse Strategie eines Nichtangriffspaktes mit dem faschistischen Deutschland (welcher die Westmächte schließlich zur Anti-Hitler-Koalition zwang[53]) ebenfalls.

Zusammenfassend: An der „Wirtschaftsfront“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus zeichnete sich ab Beginn der 1930er Jahre ein Umschlagen zugunsten des Sozialismus ab, was seitens des Kapitalismus durch eine aggressive Außenpolitik zu kompensieren versucht wurde, wobei sich der faschistische Imperialismus offen kriegsbereit zur Eroberung von „Lebensraum“ zeigte, während der „gemäßigte“ französische und britische Kapitalismus sich politisch die Hände band und damit diese Expansionsbestrebungen passiv beförderte.

3.4.4 Ökonomische und innenpolitische Entwicklungen 1929-1937

Unter diesen Bedingungen vollzog sich innerhalb eines Jahrzehnts die Umwandlung der SU von einem Agrar- in ein Industrieland, wobei zwei Hauptziele die Herstellung wirtschaftlicher Selbstständigkeit (d.h. Unabhängigkeit von westlichen Importen) und militärische Verteidigungsfähigkeit waren. Alle Industriezweige (bis auf die häusliche Nebenindustrie) hatten in diesem Zeitraum ein absolutes (quantitatives) und relatives (in Bezug auf die Arbeitsproduktivität) Wachstum zu verzeichnen, der private Wirtschaftssektor wurde nahezu beseitigt und die SU arbeitete im Weltmaßstab mit modernster Technik und rückte an die zweite Stelle der Weltproduktion (hinter die USA) auf, wenn sie auch in der Arbeitsproduktivität und Pro-Kopf-Produktion noch hinter anderen westlichen Staaten zurückblieb (vgl. Meyer 1978a/42f). Dieser Wandel, die ursprüngliche sozialistische Akkumulation, musste vollzogen werden unter Ausnutzung nationaler Ressourcen, was schon aus der zunehmenden internationalen Isolation der SU (s.o.) und den entsprechenden Handelseinschränkungen zu schließen ist. Der Aufbau brachte eine grundlegende Umwälzung der Produktionsverhältnisse, wie auch der Sozialstruktur mit sich, wovon zunächst ein jährliches Wachstum der Arbeiterklasse um ca. 2,8 - 4 Mio. (durchschnittlich 10-15%) zeugt (vgl. ebd. 46, Tabelle.)

Dies machte aber, da die Arbeitslosigkeit bereits 1930 weitgehend beseitigt war, eine Mobilisierung bisher nicht in der Industrie tätiger Arbeitskräfte notwendig. So rekrutierten sich große Teile der „neuen Arbeiterklasse“ aus bisher nicht berufstätigen Frauen, was durch die Vergesellschaftung ihrer „häuslichen“ Funktionen (Nahrungsmittelversorgung, Kinderbetreuung) möglich wurde. Auch Immigranten, Angehörige der ehemaligen Oberschichten und (unmittelbar vor Kriegsbeginn) auch Rentner bildeten die moderne Industriearbeiterschaft. Den größten Anteil der neuen Arbeitskräfte bildeten Jugendliche und ehemalige Bauern, die aus den zunehmend mechanisierten Landwirtschaftsbetrieben abgeworben wurden. (vgl. ebd. 48)

Der Anteil kurzfristig Beschäftigter stieg somit auf zeitweise 50% an, was Schwierigkeiten in der Arbeitsorganisation in den zumeist riesigen Betrieben mit sich brachte.[54] Auch wenn sich das Bildungsniveau der Bevölkerung allgemein gehoben hatte (sinkender Analphabetismus, steigende Zahl von Schul- und HochschulabsolventInnen), fehlte es an der „Adaption industrieller Verhaltensweisen“[55] (ebd. 51), Arbeitsdisziplin und technologischen Fachkräften, derer es zur „Meisterung der Technik“ dringend bedurfte. Dies, zusammen mit dem z.T. geringen Lohn und fehlendem städtischen Wohnraum, brachte eine immense Fluktuation in den Belegschaften der Betriebe mit sich, die zuweilen mehrmals jährlich wechselten.

Lorenz stellt die Sache so dar, dass die zwecks Erfüllung „voluntaristischer“ Planziele eingeführte „Militarisierung der Arbeit“ Widerstand in der Arbeiterschaft hervorrief, der nur durch Staatsterror niedergehalten werden konnte. Meyer argumentiert umgekehrt, dass die Staatsführung den Schwierigkeiten der Arbeitsorganisation umfassende Disziplinierungsmaßnahmen entgegensetzte, um so z.B. der ungeregelten Arbeitswanderung Einhalt zu gebieten.[56] Die Maßnahmen gingen von der Einführung von Arbeitspässen über eine starke Lohndifferenzierung anhand von Produktionsleistungen und empfindliche Sanktionen für Arbeitsversäumnisse und Disziplinverletzungen bis zur gesetzlichen Betriebsbindung (1940), welche eigenmächtiges Verlassen der Arbeitsstelle verbot und es dem Staat erlaubte, Arbeitskräfte ab einer bestimmten Lohngruppe jederzeit und landesweit an Stellen größeren Mangels zu beordern. (vgl. Lorenz 1976/239) Diese Gesetze dienten vor allem der Schaffung fester Belegschaften und Erziehung zu Kooperation und Arbeitsdisziplin, um überhaupt erst die Ausnutzung der mit der Industrialisierung geschaffenen Möglichkeiten, d.h. die „Meisterung der Technik“ zu gewährleisten.

Die „Meisterung der Technik“ konnte aber auf dem Wege der Arbeitsdisziplinierung allein nicht gelöst werden; hier war die massenhafte Ausbildung von Facharbeitskräften und Organisatoren notwendig, was im erforderlichen Umfang zunächst nicht erreicht wurde. Daher hielten sich trotz gravierender Disziplinarmaßnahmen Mängel in der industriellen Produktion (Verschwendung, Beschädigungen, Planungsdefizite) die aufgrund des Planerfüllungszwanges zumeist „vor Ort“ durch strenge Kontrolle und unmittelbare Anleitung wettzumachen versucht wurden.

Dass in diesem ohnehin unter größten Schwierigkeiten verlaufenden Prozess Zuwiderhandlungen gegen Gesetze[57] bestraft wurden, wird nicht verwundern, sofern man nicht der Illusion verfallen will, die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft könne ohne Arbeitsverweigerung, Sabotage usw. verlaufen. Dass für Unfügsame und Landesverräter (gesamtwirtschaftlich bedeutungsvolle) Disziplinar- und Arbeitslager eingerichtet wurden, in denen unter Zwang und schlechter Bezahlung schwerste Arbeiten verrichtet werden mussten, ist tatsächlich eine von bürgerlichen Gesellschaften abweichende Praxis, wo die „Arbeitsdisziplin“ hauptsächlich durch die Masse der Arbeitslosen erzwungen wird.[58] Hofmann interpretiert auch jene drastischen Maßnahmen als Erscheinungen einer notwendigen „historischen Erziehungsdiktatur“ (1967/17).

Lorenz (1976/239) hingegen fasst diese Formen gesellschaftlicher Umgestaltung als „besondere Form von Arbeitsdienst“ auf (als gäbe es einen „abstrakten-allgemeinen“ Arbeitsdienst, der sich historisch jeweils faschistisch oder kommunistisch materialisiert) bzw. als „umfassende Zwangsorganisation der Arbeit“ (ebd. 246), welche „jede reale Vergesellschaftung [der Arbeit] verhinderte.“ (ebd. 248) Anstatt jedoch die Alternative zu nennen, die objektiv bestand (nämlich Zusammenbruch des sozialistischen Aufbaus), greift er wieder auf die „Methode“ des Vergleichens zurück und stellt fest, dass die Arbeiter unter Bedingungen der NÖP (ebd. 216-245 pass.) „besser“ gelebt hätten. Dies heißt aber nur, dass Lorenz die Epoche der Industrialisierung vom Standpunkt und aus der Perspektive der NÖP betrachtet, also die Industrialisierung nicht in ihrer Eigengesetzlichkeit und im Zusammenhang mit der weltpolitischen Lage begreift. Auch setzt er nicht die Anforderungen der Industrialisierung/ Beherrschung der Technik mit den realen Möglichkeiten in Beziehung (und erst recht nicht mit den tatsächlich verwirklichten Zielen), sondern bei ihm erscheint die Industrialisierung fast durchweg als von Stalin „voluntaristisch“ vorangetriebene Abkehr von der NÖP und Rückfall selbst hinter kapitalistische Produktionsverhältnisse.[59] Diese Interpretation ist schon alleine deshalb nicht haltbar, weil – und dies ist unbestritten – kein kapitalistisches Land jemals eine so enorme Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und des allgemeinen Kulturniveaus oder eine derart massenhafte Errichtung neuer Industriebauten usw. in so kurzer Zeit erreicht hat. Zudem muss bei der Beurteilung einer solchen Entwicklung der Ausgangszustand des jeweiligen Landes, hier also der SU, und nicht irgendein anderes oder „die kapitalistischen Länder“ allgemein als Maßstab zugrunde gelegt werden.

Der mit der Oktoberrevolution eingeleitete Sturz des Kapitalismus fand insofern mit der landwirtschaftlichen Kollektivierung seinen vorläufigen Abschluss, als dies der letzte Schritt zur Produktion auf überwiegend kollektiver/gesellschaftlicher und nicht mehr privater/kleinbäuerlicher Basis war. Auf die Schwierigkeiten der Durchsetzung der neuen Produktionsweise[60], wie auch auf die immensen Potentiale, die sie freizusetzen half, ist oben hingewiesen worden. Da der Kampf von der Ebene der Herstellung sozialistischer Produktionsverhältnisse in der SU sich nun (für deren zukünftigen Erhalt) auf die rasche Ausweitung der neuen Produktionsweiseverlagerte, dies aber wiederum in einer Situation internationaler Isolation und Bedrohung (deren Stoßrichtung unzweifelhaft die Vernichtung des sozialistischen Aufbaus war), wurde die Industrialisierung von (aus bürgerlicher Perspektive) „irrationalen“ und „voluntaristischen“ (in der Tat: man wollte den Sozialismus erhalten) innen- wie außenpolitischen Prozessen begleitet.[61]

4. Thesen zur „Stalinismus“-Diskussion

1) Um die Bedingungen des sozialistischen Aufbaus noch einmal zusammenzufassen: das gesamte Industrialisierungsprogramm betrat geschichtliches Neuland. Da weder historische Beispiele zur Orientierung, noch Bedingungen vorlagen, die zu einer gelassenen Entwicklung mit der langfristigen Korrektur von Fehlern notwendig gewesen wären, überstürzten sich unvorhergesehene Erfahrungen und neue Entscheidungen oftmals in der Praxis. Dies liegt begründet im Widerspruch zwischen der außenpolitischen Isolation und den insgesamt ungünstigen Mitteln zur Abwehr der daraus erwachsenden Bedrohung: Die Industrialisierung wurde durchgeführt bei einem gewaltigen Defizit an technisch versiertem Personal, einer noch nicht vollständig kollektivierten und mechanisierten Landwirtschaft, mit einer schnell wachsenden und insgesamt wenig an disziplinierte Arbeit gewöhnte Arbeiterklasse sowie unter Bedingungen innerer Konterrevolution (z.B. Sabotage.) Da die Volkswirtschaft über keine nennenswerten Reserven verfügte, konnten sich dabei schon relativ kleine, durch „Stoßarbeit“ nicht kompensierte Störungen wechselseitig immens verstärken. Planabweichungen wurde im Wissen um die Unausbleiblichkeit größerer und kleiner Störungen im Planerfüllungsprozess (trotz einer rigorosen Arbeitsdisziplin) durch die Schaffung gesellschaftlicher Reserven[62] vorzubeugen gesucht – d.h. durch eine Einschränkung aktueller Bedürfnisse zugunsten der Sicherung des zukünftigen wirtschaftlichen Aufbaus.

2.) Das diesen Aufbauprozess unterstützende und oft bemängelte „zentralistische Leitungssystem“ und die „Ausschaltung gesellschaftlicher Diskussionsprozesse“ über die Produktionsbedingungen hatten durchaus ihre Funktionen: einerseits zur Wahrung von Produktionsgeheimnissen, andererseits sollte eine Rücknahme des Industrialisierungstempos verhindert werden, die unter den gegebenen Bedingungen der äußeren Konterrevolution Tür und Tor geöffnet haben würde. Allein diese Möglichkeit – und das von westlicher Seite Absichten dazu bestanden, ist unzweifelhaft – wirft ein Licht auf die Funktion der Maßnahmen, die aus dem Zusammenhang gerissen als „Totalitarismus“, willkürliche Repressalien, Staatsterror oder systematische Förderung von innerparteilichem Kriechertum etc. erscheinen.[63]

3.) Die hier umrissene wirtschaftlich-politische, soziale und kulturelle Entwicklung der SU stellt eine qualitativ neue Etappe in der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit überhaupt dar: die Diktatur des Proletariats[64], der Aufbau des Sozialismus, die Grundlegung der Bedingungen für die Entfaltung sozialistischer und kommunistischer Produktions- und Lebensformen. Die sowjetische Gesellschaft entwickelte sich zwischen 1920 und 1935 im Ganzen nicht nur „weiter“, sondern tat einen qualitativen Schritt voran: der Sozialismus errang die wesentlichen gesellschaftlichen Positionen und wurde gegen alle Angriffe verteidigt. Daher rührt seine unwiderstehliche Anziehungskraft auf alle fortschrittlichen Kräfte der Welt. Weder lässt sich sagen, dass dies trotz, noch dass es durch die „Stalinsche Machtpraxis“ geschah. Dieser gesellschaftliche Entwicklungsprozess zeigte vielmehr (aus bürgerlicher Sichtweise unverständliche) Symptome, welche von einer sozialistischen Entwicklung unter schwersten Bedingungen hervorgebracht wurden und heute allgemein so hingestellt werden, als wären es willkürliche Abweichungen vom „eigentlichen“ oder „wahren“ Weg zum Sozialismus gewesen. Diese Interpretation trägt nicht den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der realen Gesellschaftsverfassung der jungen SU Rechnung und kann nicht angeben, ab welchen Punkten die Repressionsmaßnahmen (denn dass der Sozialismus sich mittels proletarischer Diktatur gegen innere und äußere Feinde behaupten muss, wird wohl nur von seinen Feinden bestritten werden) über die tatsächlichen Notwendigkeiten hinausgingen und sich auf Unschuldige erstreckte (nach Lorenz war sogar „niemand schuldig“).

4.) Die Restauration kapitalistischer Verhältnisse in der SU zumindest im Zuge eines verlorenen imperialistischen Krieges waren absehbar, also durfte kein Krieg verloren werden. Dafür musste wiederum die Industrialisierung auf den Bereich der Produktionsmittel und Rüstung konzentriert sowie die Landwirtschaft auf den gesteigerten Bedarf an Lebensmitteln umgestellt werden. Um dies zu gewährleisten wurde eine rigide Arbeitsverfassung (unter Einschluss von Zwangsarbeit) eingerichtet, wurden gewerkschaftliche und sonstige Mitbestimmungsmöglichkeiten abgebaut sowie experimentelle Bildungsformen und wissenschaftliche wie auch künstlerische Freiheiten aus der Zeit der NÖP zurückgenommen. Allerdings darf dabei nicht die Hebung des allgemeinen Kulturniveaus, des Bildungsstandes und der Grundversorgung der Bevölkerung übersehen werden, wie auch die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität, die Einbeziehung immer größerer Kreise der Bevölkerung in den sozialistischen Aufbau und das Verteidigungswesen. Meyer weist darauf hin, dass in dieser Zeit die Grundlagen geschaffen wurden, ohne die ein Sieg der Sowjetunion über die faschistischen Aggressoren nicht möglich gewesen wäre. Unter diesem Gesichtspunkt muss die Formierung der Gesellschaft, welche individuelle Entfaltungsmöglichkeiten in vielen Bereichen zugunsten kollektiver Lebensformen einebnete, als notwendige Vorbereitung auf einen Krieg aufgefasst und unter dieser Prämisse als richtige Politik eingeschätzt werden.

5.) Der gesamtgesellschaftliche sozialistische Aufbau war unter den gegebenen Bedingungen nicht durchführbar ohne Ausschaltung aller oppositionellen Strömungen und abweichender Wirtschaftskonzeptionen einerseits und die Vernichtung der konterrevolutionären Gruppierungen andererseits.[65] Davon fühlten und fühlen sich Viele abgeschreckt, und hätten lieber einen „freien“, „demokratischen“ Sozialismus gehabt bzw. eine „permanente“ (und keine „versteinerte“) Revolution – sehen also die historische Notwendigkeit dieses konkret-geschichtlichen Weges zum Sozialismus nicht ein.

6.) Generell kann gesagt werden: Je mehr Seiten der Entwicklung man in Betracht zieht und ihrer Vermitteltheit durch innere und äußere Faktoren nachspürt, umso weniger muss man, um zu einem Verständnis dieser Epoche zu gelangen, psychologisierende/personalisierende „Erklärungen“ über Stalins „Machtbesessenheit“/ „Paranoia“[66] usw. abgeben, Voluntarismus- und Totalitarismustheorien bemühen oder Vergleiche zu NÖP, bürgerlichem Parlamentarismus oder auch zum Faschismus ziehen.

Exkurs zur vorangegangenen These: Die Idealisierung der NÖP

Jegliche „antistalinistische“ Denkhaltung ist mit einer Idealisierung der NÖP verbunden. Woher kommt aber diese (nachträgliche) Verherrlichung z.B. von Lorenz bzw. das (damalige) Beharren auf ihr seitens Trotzki oder Bucharin?

Zunächst war die NÖP ein Rückzug, ein zeitweiliges Zugeständnis der Sowjetmacht, ein Kompromiss mit den kapitalistischen Elementen im Lande, da ohne sie nach dem Bürgerkrieg die Basis für den sozialistischen Aufbau nicht zu errichten war.[67] Die NÖP war daher von vornherein für einen gewissen Zeitraum anvisierte wirtschaftspolitische Übergangsstrategie, die beendet wurde, als einerseits die kapitalistischen Elemente in der Wirtschaft zu große Macht zu erlangen drohten, andererseits die Industrie so weit wieder hergestellt war, dass eine sozialistische Produktion auf Basis kollektiven Staatseigentums und mittels Entwicklung neuer Produktivkräfte, Eingliederung aller Arbeitslosen, sozialistischen Wettbewerbs usw. möglich war und die kulakische Warengetreideproduktion durch die kollektivwirtschaftliche ersetzt werden konnte. Die NÖP überlebte sich also oder trieb über sich selbst hinaus, weil sie ein in sich unlösbarer Widerspruch war: Kapitalismus im (Rahmen des) Sozialismus – dies ist aber geradezu das Ideal und der Wunschtraum „selbstständiger“ Kleineigentümer und Intellektueller: gewissermaßen die realexistierende „freie Marktwirtschaft“[68]: Privateigentum und Bereicherung, ohne dabei vom Monopolkapital zerquetscht zu werden. Dieses Phänomen war während der NÖP für einige Jahre tatsächlich vorhanden. Dass die sozialistische Staatsmacht in der zweiten Phase der NÖP, anstatt wie bisher Gewerbe und Handel durch ihr Außenhandels- und Verkehrsmonopol zu schützen und ihr damit freie Hand zu lassen, sie durch Steuern und gesetzliche Einschränkungen aus der Sphäre der Volkswirtschaft zu verdrängen begann, bedeutet nichts anderes als die Überleitung der NÖP in die Phase des planwirtschaftlichen Sozialismus. Sich dabei in seiner „Freiheit“ (d.h. Existenz als Kleinbürger) bedroht zu sehen, sowie die daraus resultierende Feindschaft gegenüber der Sowjetmacht gründet also in der realen Umwälzung gesellschaftlicher Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Das (u.a. Bucharinsche) Plädoyer für ein „langsames“, „gleichmäßiges“, „organisches“ „Hineinwachsen in den Sozialismus“ (auf Basis des Privateigentums?) war unter den gegebenen Bedingungen ein verdecktes „Zurückwollen“, damit objektiv konterrevolutionär; es „übersah“ den qualitativen Unterschied zwischen sozialistischer und kapitalistischer Produktion. Der Übergang von einer Produktionsweise zu einer qualitativ höheren macht sich aber nicht „von selbst“, sondern muss bewusst vollzogen werden. Lorenz’ Idealisierung der NÖP beginnt denn auch genau bei der Aufhebung der NÖP zugunsten des forcierten sozialistischen Aufbaus.

Dass der Übergang von der NÖP zum ersten Fünfjahrplan einen „Bruch“ mit der sozialistischen Entwicklung bedeutete, wie es z.B. aus Lorenz’ Darstellung hervorgeht, ist indessen nicht nachzuweisen. Meyer (1978b, 206/216) weist darauf hin, dass die Sowjetgesellschaft während der Industrialisierung weder in antagonistische Produktionsverhältnisse zurückfiel, noch sich in dieser Zeit eine neue Herrschaftsklasse herausbildete, sondern dass ein (wenn auch unter großen Schwierigkeiten) im Wesentlichen stetiger sozialistischer Entwicklungsprozess stattfand, mit einer (durchaus beabsichtigten) deutlichen Differenz zur vorhergegangenen Periode der NÖP, aber unter Wahrung der Kontinuität zur Oktoberrevolution.

7.) Dabei waren die Erfolge der Kollektivierung und Industrialisierung – Abschaffung des Privateigentums, stabiler und umfassender Ausbau der Industrie, Heranbildung einer technisch versierten und kulturell hochstehenden Bevölkerung – untrennbar verbunden mit der Funktion Stalins (als Generalsekretär der regierenden Partei), der in der Bevölkerung Vertrauen genoss und „in seinen Äußerungen viele komplexe Probleme der sich in einem Umwälzungsprozess befindlichen Gesellschaft auf einen einfachen und überschaubaren Nenner zu bringen [schien]“[69] (Meyer ebd. 204) Unter der Führung Stalins bewältigte die Bevölkerung der SU den umfassendsten gesellschaftlichen Aufbauprozess, den jemals eine Gesellschaft in so kurzer Zeit vollzogen hat, trug die SU die Hauptlast am Sieg über den Faschismus, trat sie aus der internationalen Isolation heraus und gestaltete sich ihr Leben – ein Novum der Weltgeschichte – allseitig ohne Grundlage des Privateigentums. Diese Jahre waren die praktische Widerlegung des Pessimismus und der Zweifel (auch vieler Bolschewiki), ausgedrückt etwa in der trotzkistischen These, dass der Sieg des Sozialismus in einem Lande unmöglich sei. Zudem: Bei aller antikommunistischer Verunglimpfung des Sowjetstaates in der „öffentlichen Meinung“ des westlichen Kapitalismus bezweifelte die Bourgeoisie keineswegs (vgl. obigen Exkurs zur Außenpolitik), dass in der SU ihr ärgster Feind, der Sozialismus, erstarkte. Insofern ist Stalin der Repräsentant für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion, und die Desavouierung des sozialistischen Aufbaus ist – wenn auch nicht immer Ziel – so doch mindestens Resultat jeglichen „Antistalinismus“.

8.) Für Feinde des Sozialismus liegt natürlich nichts näher, als die (angesichts der Aufgabe und der Bedingungen ihrer Lösung unvermeidbaren) Fehler, Übereilungen, Fehlschläge, Umwege etc. im Prozess des sozialistischen Aufbaus einer Person anzulasten, und damit den Blick von den (in der marxistischen Gesellschaftstheorie formulierten) Gesetzmäßigkeiten des sozialistischen Aufbaus abzulenken. Die negativen Erscheinungen der sozialistischen Entwicklung überzubetonen, das Positive und Neue zu „übersehen“ (oder einfach als selbstverständlich hinzunehmen) und die gesamte revolutionäre Praxis in der jungen SU mit der Elle der kapitalistischen Gesellschaft und der bürgerlichen Gesellschaftstheorie (insbesondere der Ideologie „individueller Freiheit“) zu messen – dies ist die ganze „Methode“ der „Antistalinisten“, welche nicht verstehen, auf welchen gesellschaftlichen Kräften dieser historisch erstmalige Schritt zum Kommunismus basierte und welche immensen Entwicklungsmöglichkeiten er – trotz schwierigster Bedingungen – freisetzte.

Schluss

Es kann hier nicht untersucht werden, warum die SU-Führung schließlich diesen Kurs verließ und unter ständiger Verkündung des Herannahens des Kommunismus zwischen 1956 und 1991 sämtliche Positionen der proletarischen Diktatur zugunsten der Restauration kapitalistischer Verhältnisse preisgab. Nur so viel sei bemerkt: unter dem Mantel der Bekämpfung des „Stalinismus“ (ein undifferenziertes Schlagwort bereits der „linken“ Opposition, die einst gegen Stalin um die Staatsführung kämpfte) wurden nicht etwa „Personenkult“, „Dogmatismus“, „befehlsadministrative Bürokratie“ o.ä. beseitigt, sondern im Laufe von ca. 30 Jahren sämtliche Errungenschaften der Oktoberrevolution aufgegeben.

Daraus ergeben sich für die heutige kommunistische Politik brennende Fragen, z.B.: welche Auswirkungen hatten und haben die Phrasen von „Erneuerung“, „Demokratisierung“, „Verbesserung“, „Humanisierung“ usw. des Sozialismus auf die Werktätigen und Intellektuellen (nicht nur der SU)? Warum wurde die revisionistische Politik in dieser Weise vorgetragen? (Ansätze hierzu bei Gossweiler 1997 und Brar 1991) – und nicht zuletzt: Wieso wird auch heute noch so vehement gegen die sowjetische Politik und Ideologie in der sozialistischen Aufbauphase polemisiert, während z.B. mit der Perestroika Gorbatschows in der Niedergangsphase des ersten sozialistischen Staatensystems kaum jemand Probleme hat?

                                                                                                                                                                       

                                                                                                            Gerald Hoffmann, Berlin, Februar 2003

Literatur:

LW = W.I. Lenin: Werke in 40 Bänden, Dietz Berlin 1956ff

MEW = K. Marx/ F. Engels: Werke in 43 Bänden, Dietz Berlin 1956ff

SW = J.W. Stalin: Werke in 13 Bänden, Dietz Berlin 1950-55; Bände 14-17 herausgegeben auf Beschluss des ZK der KPD/ML ab 1971 (Verlag Roter Morgen, Hamburg.) Die hier zitierte „Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang“ bildet Band 15 dieser fortgeführten Ausgabe.

Autorenkollektiv: Geschichte der KPdSU, Dietz Berlin 1984

Autorenkollektiv: Geschichte der UdSSR Teil III (Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950

Brar, Harpal (Vorabdruck 1991): Perestroika. Der Vollständige Zusammenbruch des Revisionismus

Helms, Hans G. (1969): Fetisch Revolution, Darmstadt/Neuwied

Haumann, Heiko (1979): Die Wende von 1929, in: Das Argument 115 (Argument Verlag Berlin)

Hildermeier, Manfred (1998): Geschichte der SU 1917-1991, München

Hofmann, Werner (1967): Stalinismus und Antikommunismus, Frankfurt/Main

Holz, Hans Heinz (1998) Stalin als Theoretiker des Leninismus, in: Streitbarer Materialismus Nr. 22, S. 21-43; München

Holzkamp, Klaus (1983): „Aktualisierung“ oder Aktualität des Marxismus?“ in: Das Argument Sonderband 100 „Aktualisierung Marx“ (Berlin 1983)

Gossweiler, Kurt (1997): Wider den Revisionismus (Stefan Eggerdinger Verlag München)

Lorenz, Richard (1976): Sozialgeschichte der SU 1917-1945 (Suhrkamp, Frankfurt/Main)

ders. (1979): Politische Säuberungen und Massenterror, in: Das Argument 114 (Argument Verlag Berlin)

Meyer, Gert (1977): Industrialisierung, Arbeiterklasse, Stalinherrschaft in der UdSSR I, in: Das Argument 106 (Argument Verlag, Berlin)

ders.: (1978 a und b) Industrialisierung, Arbeiterklasse, Stalinherrschaft in der UdSSR Teile II und III, in: Das Argument 107/108 (Argument Verlag, Berlin

 



[1] Eine Erklärung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen/Parteien im politischen System Russlands kann hier nicht geleistet werden; dafür sei auf das Buch von John Reed: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (Berlin 1973) verwiesen, insbesondere S. 16-29.

[2] Dies sagt Marx über Ricardo in Bezug auf ökonomische Fragen. Diese Methode „gilt“ jedoch auch für andere bürgerliche Wissenschaften (zumal die Geschichtswissenschaft, indem sie den auf ökonomischen Gesetzmäßigkeiten basierenden Geschichtsverlauf darstellt) – sofern sie zur Apologie des Kapitalismus als einzig „vernünftiger“ Gesellschaftsform mit „eifernder Gereiztheit“ (Hegel) am platt Faktischen festhalten.

[3] Vgl. Kurt Pätzolds wichtigen methodologischen Hinweis (in: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung, Berlin 1975; S. 11): „Geschichtliche Abläufe [können] nicht von ihren Endpunkten her beurteilt, [es] kann nicht vom Problem der Alternative in der Geschichte abstrahiert werden.“ Daraus ergibt sich „die generelle Forderung, die Geschichte von den Ursachen, nicht von den Resultaten her zu untersuchen...“ (meine Herv.)

[4] Wolfgang F. Haug, 13 Versuche marxistisches Denken zu erneuern (Berlin 2001), S. 68

[5] z.B. Lorenz 1979/224ff oder Haumann 1979/398

[6] Die Darstellung in Kap. 1 hält sich im wesentlichen an Band I der „Sozialgeschichte der Sowjetunion“ von Richard Lorenz (Frankfurt/Main 1976); soweit nicht anders angegeben sind statistische Angaben dieser Publikation entnommen)

[7] So etwa Manfred Hildermeier 1998/14

[8] Die auf Leibeigenschaft gegründete Produktion, d.h. der Feudalismus, entwickelte und stabilisierte sich gerade in einer Zeit, als in Westeuropa bereits der Kapitalismus aufzukeimen begann. (vgl. Lorenz 1976/15)

[9] Vgl. Hofmann 1967/37

[10] Während sich in Europa die industrielle Revolution ausbreitete, bildeten in Russland Manufaktur und Handwerk noch die Basis der kapitalistischen Entwicklung.

[11] Auf dieses Phänomen – die notwendige Ausdehnung des inneren Marktes durch die Freisetzung von leibeigenen Bauern als Arbeiter einerseits, und Organisation der Landwirtschaft auf Basis des (kapitalistischen) Privateigentums andererseits – verweist Lenin insbesondere im theoretischen Teil seiner Arbeit „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“, in: LW 3, S. 29-31)

[12] Die meisten Investitionen ausländischen Kapitals fanden im Bau von Eisenbahnen statt – während sie 1881-1914 für die Gesamtwirtschaft von 16 auf 44% stiegen, stellten sie in dieser Zeit bei den Eisenbahnen zwischen 94 und 74%.

[13] Nichtsdestotrotz erlaubte die Pauperisierung des Landvolkes eine große Ausbeutung der häuslichen Kustar- d.h. Nebenindustrie, was wiederum den Kapitalismus in Russland beschleunigte.

[14] Selbst nach 1850 (der russischen Niederlage im Krimkrieg), als die umfassende Kapitalisierung des Landes unumgänglich geworden war, schützte der Staat parallel zu seinem industriekapitalistischen Engagement (Protektionismus für russische Betriebe, Aufbau des Kredit- und Verkehrswesens) die Privilegien des Adels, verwendete z.B. das durch ausländische Anleihen freiwerdende inländische Kapital zur Bezuschussung der Adelsländereien.

[15] Dies betont Lorenz an verschiedenen Stellen, etwa S. 24, 30ff, 36, 38, 42, 46)

[16] Der Import von ausländischem Kapital wurde auch in dieser staatsmonopolistischen Phase fortgesetzt. Jedoch nicht die Investitionen (die durchaus unter Kontrolle der russischen Nationalwirtschaft vor sich gingen und diese also nicht diktieren konnten), sondern die späteren Rückzahlungsverpflichtungen machten Russland zu einer „tributpflichtigen Halbkolonie“, was sich u.a. in der Vorbereitung und Bündnispolitik des ersten Weltkrieges widerspiegelte. 1914 betrug die Rückzahlung von Auslandsanleihen 12,5% des gesamten Staatshaushaltes. (vgl. Meyer 1977/857)

[17] Z.B. der revolutionäre Demokrat N.G. Tschernyschewski (1828-1889) verbrachte über 20 Jahre seines Lebens, welches dem Kampf gegen den Zarismus und für ein sozialistisches Russland gewidmet war, im Zuchthaus oder in der Verbannung. (vgl. das Vorwort zu seinen „Ausgewählten Philosophischen Schriften“, Moskau 1953)

[18] Die Bourgeoisie hatte Interesse an Verbesserung, keineswegs aber der Umwälzung der bestehen Verhältnisse, da sie mit und unter der zaristischen Herrschaft entstanden waren. So kam Lenin zu der „scheinbar paradoxen Behauptung“, in Russland sei „der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich.“ (LW 15/45) Die Verwirklichung rein „bürgerlicher“ Freiheiten bedingte in Russland bereits Ansätze einer proletarischen Diktatur, weil die Bourgeoisie (aufgrund ihrer ökonomischen Verkettung mit und politischen Abhängigkeit vom Zarismus) an der Verankerung der „minimalen bürgerlichen Errungenschaften“, d.h. der konsequenten Verwirklichung der bürgerlichen Republik nicht interessiert sein konnte. (ebd.)

[19] „Die Geduld des Volkes näherte sich ihrem Ende.“ (SW 15, 71)

[20] „Das blutige Massaker löste eine riesige Streikbewegung aus, die sich von der Hauptstadt aus über das ganze Land verbreitete und das Fanal der Revolution in alle Teile des russischen Imperiums trug“ (Lorenz, ebd. 48) „Es gab keine Stadt, wo die Arbeiter zum Zeichen des Protestes gegen das Verbrechen des Zaren nicht gestreikt und politische Forderungen gestellt hätten. In einem Monat streikten mehr Arbeiter als in dem ganzen vorhergehenden Jahrzehnt.“ (SW 15/74)

[21] Lenin bezeichnete die Sowjets (siehe z.B. LW 31/11, 77) als die im revolutionären Kampf neu gefundene Organisationsform des Proletariats von internationaler Bedeutung, weil die Sowjets eine direkte und doch zentralisierbare Verbindung zwischen der arbeitenden Bevölkerung und der Kommunistischen Partei darstellten.

[22] „Dieser Umstand [das allseitige Anheben politischer Massenbewegungen] bewog die liberale Bourgeoisie, sich ernsthaft aufzuraffen. [Sie], die selbst die Revolution fürchtete, und gleichzeitig den Zaren mit der Revolution schreckte, wollte mit dem Zaren einen Kompromiss gegen die Revolution abschließen und forderte kleinere Reformen ‚für das Volk’, um das Volk ‚zu beruhigen’, die Kräfte der Revolution zu spalten und dadurch dem ‚Schrecken der Revolution’ vorzubeugen.[...] Die liberale Bourgeoisie schickte sich an, mit dem Zaren die Macht zu teilen.“ (SW 15/78) Lorenz (ebd., 49/50) schreibt dazu: „Die russische Bourgeoisie [suchte zwecks Machtbeteiligung] den politischen Kompromiss mit dem zaristischen Regime“, weil „sie in ihr [der Monarchie] die einzige Kraft erblickte, die Russland vor Zerfall und Anarchie schützen konnte.“ Zerfall und Anarchie bedeutet hier: die sozialistische Revolution aus der Perspektive des Bürgertums.

[23] Bereits 1905 hatte sich der Gesamtrussische Bauernbund gegründet, welcher die „Sozialisierung“, d.h. Vergesellschaftung und Verteilung des gesamten nationalen Bodens und eine Nutzungsbeschränkung für die ihn bestellenden Bauern proklamierte. (vgl. Lorenz, ebd. 51)

[24] Stalin weist an mehreren Stellen (SW 15/9, 78, 99, 122) auf Judenpogrome hin, die konterrevolutionäre Kräfte im Zusammenhang mit der Verwirrung, Bekämpfung und Niederhaltung der aufbegehrenden Massen organisierten.

[25] vgl. Lorenz ebd. 59f, Stalin ebd. 222f

[26] „Sie [die Bourgeoisie], die gestern noch eine Verständigung mit dem von der Februarrevolution gestürzten Zaren gesucht hatte, vermochte später, nach ihrem Machtantritt [in Form der Provisorischen Regierung], nichts Besseres auszuhecken, als die Politik des verhassten Zaren in allem Wesentlichen fortzuführen.“ (SW 15/264) „[A]uch das neue Kabinett... [suchte] die alte Politik fortzusetzen und die Kriegsanstrengungen sogar noch zu verstärken...“ (Lorenz, ebd. 70)

[27] „Das Land befand sich in einer nationalen Krise. Mit der Volkswirtschaft ging es bergab. Die herrschenden Klassen konnten die Katastrophe nicht aufhalten... Die Volksmassen wollten nicht mehr in der alten Weise weiterleben... Ein deutlicher Beweis für die Krise war die Zuspitzung aller Formen des Volkskampfes. Die Arbeiter begannen die Betriebsverwaltung aufzulösen, Direktoren zu verhaften und die Leitung der Produktion in die eigenen Hände zu nehmen.“ (Geschichte der KPdSU, Berlin 1984, S. 218f)

[28] „In den [dem Oktoberaufstand] folgenden Wochen konnte sich die Sowjetmacht mit Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten in fast allen Landesteilen des riesigen Russischen Reiches etablieren, wobei die Bolschewiki meist auch in den lokalen Sowjets das politische Übergewicht erhielten. [...] [J]edoch...in den zurückgebliebenen asiatischen Randgebieten [...] gelang der politische Umsturz in der Regel nur mit Hilfe revolutionärer Arbeiter und Soldaten aus Zentralrussland.“ (Lorenz, ebd. 76/77)

[29] „Das industrielle Proletariat [war] außergewöhnlich stark konzentriert; im Durchschnitt waren mehr als die Hälfte der Arbeiter in Betrieben mit über 500 Personen beschäftigt“ (ebd. 28)

[30] „Die russische Bourgeoisie, die wirtschaftlich noch nicht erstarkt und völlig von Regierungsaufträgen abhängig war, hatte weder die politische Selbstständigkeit noch genügend Initiative, die notwendig gewesen wären, um einen Ausweg aus der Lage zu finden.“ (SW 15/264)

[31] Dass die Bourgeoisie ebenfalls nicht passiv blieb, zeigt für Deutschland exemplarisch die 1918 erfolgte Gründung der Antibolschewistischen Liga, einer konterrevolutionäre Propagandaorganisation, die auf Betreiben konservativer Kräfte und mit Unterstützung von Wirtschaft und Reichsregierung eine wüste antisowjetische Demagogie (eine sog. „Volksaufklärung“) in Flugschriften mit Millionenauflagen, Massenveranstaltungen und Filmen betrieb, die deutsche Arbeiterbewegung als angeblich auf Bestreben der SU entstandene „Volkszersetzung“ bekämpfte und schließlich 1933 im faschistischen Propagandaapparat aufging. (vgl. Lexikon zur Parteiengeschichte, Band I; Leipzig 1983, 66-76)

[32] Noch 1920 in „Der linke Radikalismus“ (vgl. LW 31/80) wies Lenin darauf hin, dass es jetzt vordringliche Aufgabe der westeuropäischen Arbeiterparteien sei, die Massen an die Revolution heranzuführen.

[33] „Durch die Arbeiterkontrolle verhinderten die Arbeiter die vorsätzliche Stilllegung der Betriebe und die Einstellung der Produktion, untersagten die Ausfuhr von Fertigfabrikaten sowie Roh- und Brennstoffen und schützten die Betriebseinrichtungen.“ (Autorenkollektiv: Geschichte der UdSSR Teil III [Verlag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1950])

[34] Während Lenin für einen sowjetisch kontrollierten und verwalteten Staatskapitalismus auf zunächst unveränderter Produktionsgrundlage, also die „kapitalistische“ Disziplinierung der Arbeiter sowie Organisation der Produktion bei „sozialistischer“ Kontrolle der Rechnungsführung und Distribution votierte, setzten die „linken“ Kommunisten diesem „Verrat an der Sache des Sozialismus“ (weil nach ihnen Aufbau und Verwaltung der Wirtschaft nicht getrennt werden dürften) das Konzept eines der Politik analogen ökonomischen Rätesystem entgegen, damit ansetzend an der schon bestehenden demokratischen Arbeiterkontrolle mit der Wirtschaft auch der Sozialismus im Lande errichtet werden könne.

[35] Lorenz schreibt, dass die nationale „breite gegenrevolutionäre Bewegung [...] sich in zunehmendem Maße mit der Intervention der Entente verband, die in Russland sowohl militärische als auch wirtschaftliche und politische Ziele verfolgte.“ (ebd. 96, meine Herv.) Diese Aussage ist ungenau. Sie lässt offen, worin unter den gegebenen Bedingungen „militärische“, „politische“ und „wirtschaftliche Ziele“ jeweils bestanden haben sollen. Wenn Armeen imperialistischer Staaten auf das Gebiet eines sozialistischen Staates vordringen, der wenige Monate zuvor deren Kapitalanleihen annulliert, m.a.W. offiziell seine Weigerung kundgetan hat, die bis 1917 in Russland investierten Gelder zurückzuzahlen, können dann die militärischen Ziele andere sein, als mittels (bewaffneter) politischer Intervention die Widerherstellung wirtschaftlicher Verhältnisse zu erzwingen, in denen die Kontrolle des inländischen Kapitals sowie der Arbeitskraft seitens der Eigner dieses Kapitals wiederherzustellen ist?

[36] „So bildete sich im Laufe des Jahres 1919...das System des „Kriegskommunismus“ heraus, in dem der Staat sämtliche Produktions- und Distributionsfunktionen selbst zu übernehmen versuchte. Zu seinen Grundprinzipien gehörten die bäuerliche Ablieferungspflicht, die zentralisierte Leitung der nationalisierten Industrie, die unentgeltliche Verteilung von Lebensmitteln..., die Ablösung der Geldwirtschaft durch die Naturalwirtschaft sowie die allgemeine Arbeitspflicht. Das kriegskommunistische System ermöglichte es, die allerdringendsten Bedürfnisse der Roten Armee und der städtischen Bevölkerung zu befriedigen, so dass sich das bolschewistische Russland im Kampf gegen eine feindliche Übermacht behaupten konnte.“ (Lorenz, ebd. 113) Durch die Verstaatlichung des gesamten Lebens entstand jedoch eine riesiger „administrativer Apparat, der...selbst die zaristische Bürokratie in den Schatten stellte.“ (Lorenz, ebd. 112)

[37] „Als der Bürgerkrieg um die Jahreswende 1919/20 zunächst beendet war, stand das Land am Abgrund.“ (Lorenz, ebd. 113)

[38] „Die NÖP bedeutet Warenumsatz und Zulassung des Kapitalismus unter der Bedingung, dass der Staat das Recht und die Möglichkeit behält, den Handel vom Standpunkt der Diktatur des Proletariats zu regulieren. Ohne dies würde die Neue Ökonomische Politik eine einfache Wiederherstellung des Kapitalismus bedeuten...“ (SW 11/14)

[39] Im Dezember 1922 war der Staatenverband RSFSR durch Vereinigung mit Transkaukasien, der Ukraine und Belorussland zu einem Staat, der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) geworden.

[40] Hinzu kam die gesunkene Größe des Proletariats, da besonders während des Bürgerkrieges die Abwanderung aufs Land unmittelbar die besten Chancen zum Überleben bot.

[41] Diese Politik kann nur als „voluntaristisch“ missverstanden werden, wenn man die Marxsche Theorie der Zirkulation und Akkumulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals ignoriert. Marx bezeichnet das Mehrprodukt der Produktionsmittel-Industrie als „reale Basis der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter“ (MEW 24/494) und schreibt: „Damit also der Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion vor sich gehe, muss die Produktion in Abteilung I [der Produktionsmittel-Erzeugung] im Stand sein, weniger Elemente des konstanten Kapitals für II [Konsumgüterindustrie], aber um ebensoviel mehr für I herzustellen.“ (MEW 24/492) Lenin schließt daraus, „dass die Entwicklung der Produktion...auf der Linie der Produktionsmittel erfolgt.“ (vgl. LW 3/42-44, hier: 44) Die Industrialisierungspolitik der KPdSU ermöglichte die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis, woraus Lenins These verständlich wird, dass die Politik der konzentrierte Ausdruck der Ökonomik sei und den Primat gegenüber der Ökonomik habe. (vgl. LW 32/73)

[42] „Der künftige Erfolg der sowjetischen Kollektivierungsstrategien hing vor allem davon ab, ob es...gelingen würde, zunächst die erforderlichen technisch-ökonomischen, organisatorischen und politisch-psychologischen Voraussetzungen zu schaffen, so dass die große Masse der Bauern schließlich ganz von selbst an der Einführung kollektiver Wirtschaften interessiert war.“ (1976/153)

[43] Dabei ist zu beachten, dass auch die Kollektivwirtschaften (Kolchosen) noch Besitzer, wenn auch nicht ihres Bodens, so doch ihrer Produkte blieben, also Waren produzierten. Verstaatlicht und von der Warenproduktion ausgeschlossen waren lediglich die Sowjetwirtschaften (Sowchosen).

[44] Letzteres unter anderem auch aufgrund der massenhaften Abschlachtung von Nutzvieh, welches die von der Enteignung bedrohten Bauern der Kollektivwirtschaft zu verweigern suchten.

[45] Aussagen wie: Die „Stalinsche Schreckensherrschaft“ (1979/228) bedeutete eine „umfassende Zwangsorganisation der Arbeit“ (1976/246) und war Ausdruck des „absoluten Herrschaftsanspruchs“ (1979/230) Stalins, welcher eines unter Stalins alleiniger Verfügungsgewalt stehenden Verfolgungs- und Strafapparates („den mächtigsten..., den es je gegeben hat“; ebd. 228) bedurfte und sich schließlich in riesigen Konzentrations-, Arbeitslagern und Vernichtungsstätten (mit mehr als 10 Millionen Insassen, die immer wieder Massenexekutionen zum Opfer fielen; vgl. 229) manifestierte – oder Bemerkungen über den „Terror, der inzwischen den Alltag der Menschen bestimmte“ (1979/228), „zur gebräuchlichsten Verwaltungsmethode wurde“ (ebd. 225) und auf Einschüchterung/Lähmung aller Bevölkerungsteile sowie Abschaffung sämtlicher gesellschaftlicher Kontroll- und Mitbestimmungsmöglichkeiten abzielte und von einer willkürlichen Auswahl der generell unschuldigen Opfer, „der keinerlei objektive Kriterien zugrunde [lagen]“ (1979/229) geprägt war usw. – solche Aussagen sind (gewollt oder nicht) eine ebenso „umfassende“ wie „absolute“ und auf „keinerlei objektive Kriterien“ zurückführbare Projektion des Faschismus auf die SU, damit aber letztlich eine Relativierung der faschistischen Verbrechen, vor allem des Holocaust. Neuere – bürgerliche! – Forschungen haben ergeben, dass die Schätzungen (!) über die „Opfer des Stalinismus“ (auf die sich offenbar auch Lorenz stützt) deutlich nach unten korrigiert werden müssen. (vgl. Hildermeier 1998/454f) Hinzu kommt, dass sämtliche politische Gefangene im Rahmen des sowjetischen Rechts gemacht wurden, was zur damaligen Zeit selbst von bürgerlicher Seite nicht angezweifelt wurde.

[46] Die Frage, ob die „Einrichtung“ einer solchen Gesellschaft damals überhaupt schon zur Debatte stand, d.h. objektiv möglich gewesen wäre, kommt Lorenz überhaupt nicht in den Sinn. Wenn er sich „Kommunismus“ in einem schwach industrialisierten und von imperialistischen Mächten umgebenen Staate auch nur vorzustellen versucht hätte, wäre ihm die Ungereimtheit seines Vergleiches vielleicht aufgefallen.

[47] In ähnlicher Weise wird z.B. von Lars Rensmann (Kritische Theorie und Antisemitismus, Berlin 1998, u.a. S. 155) die faschistische Judenvernichtung als „Selbstzweck“ aufgefasst und damit deren reale Funktion im gesellschaftlichen Klassenkampf verschleiert. Die These des „Selbstzwecks“ ist selbst ein bürgerliches Ideologem der „Totalitarismus-Theorie“, welches – bei faschistischen wie proletarischen Diktaturen – auf der Abstraktion davon basiert, im Interesse welcher gesellschaftlichen Klasse die staatliche Macht ausgeübt wird. Auf diese Weise erscheint jede offene Diktatur als „Selbstzweck“ einer (kommunistischen oder faschistischen) Machtelite, die bürgerlich-parlamentarische Demokratie (die natürlich nicht als Diktatur, nicht als Klassenherrschaft aufgefasst wird) hingegen scheint den Zweck „außer sich“, in der „Freiheit des Individuums“ zu haben (vgl. Lorenz’ Klage über die „Einschränkung individueller Freiheiten“). – Die bürgerliche Gesellschaft hat ihren „Zweck“ in der Tat „außer sich“, nämlich in der Freiheit des Kapitals zur Ausbeutung des von Produktionsmitteln „freien“ Individuums.

[48]Um Stalin schließlich auch noch das letzte Übel der dreißiger Jahre anzuhängen, behauptet Lorenz: Stalins „Vernichtung der militärischen Führungsschicht“ schwächte die Verteidigungskraft der Roten Armee und verursachte einerseits den „sinkenden Bündniswert“ (!) der SU für die Westmächte, was die internationale Isolation der SU vorantrieb (1979/231), andererseits die Anfangsniederlagen im II. Weltkrieg nach dem deutschen Überfall. (vgl. kritisch hierzu: Harpal Brar 2001, Kap. 9)

[49] Hans G Helms (1969) kritisiert (wenn auch an der Frankfurter Schule) diese Tendenzen, die Industrialisierungsepoche der Sowjetunion „totalitaristisch“ zu deuten: „Zur Bestätigung der Totalitarismus-Theorie wurden die stalinistischen Liquidationen der linksradikalen Opposition und der konterrevolutionären bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte bemüht. Sie taugten scheinbar zur Bestätigung, weil sie im Licht der faschistischen Praxis betrachtet wurden. Ob sie nicht möglicherweise gerade durch die faschistisch organisierte, monopolkapitalistische Umwelt erzwungen wurden, um in der UdSSR ein Mindestmaß sozialistischer Praxis zu ermöglichen, wurde nicht einmal in Ansätzen diskutiert.“ (82f) „Die Totalitarismus-Kritik...nährte sich...von residualen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Bewusstseinsinhalten. An ihnen gemessen konnten die damals in der UdSSR experimentell entwickelten Organisationsformen kollektiver Praxis wie Parallelerscheinungen der faschistischen KZ-Praxis [vgl. Lorenz 1979/229!] rezipiert werden.“ (87f)

[50] Das heißt nicht, dass kein Arbeitszwang geherrscht hätte, oder dass die Bevölkerung nicht zu schwerster körperlicher Arbeit herangezogen wurde. Da jedoch die Arbeit hier unmittelbar den gesellschaftlichen Reichtum vermehrte, verbesserten sich Lebensstandard und Kulturniveau der arbeitenden Bevölkerung, während im Kapitalismus mit dem Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums deren absolute, zumindest aber relative Verarmung einhergeht.

[51] Sehr eindrucksvoll beschreibt Scholochow in seinem Roman Neuland unterm Pflug die Schwierigkeiten und Möglichkeiten des von der Stadt aus organisierten Umbaus der Landwirtschaft auf kollektiver Basis.

[52] „Abstrakt gesprochen, wenn wir von der äußeren und inneren Situation absähen, könnten wir natürlich auch ein langsameres Tempo einschlagen. Aber das ist es ja gerade, dass man erstens...[davon] nicht absehen darf und dass man zweitens, wenn man von den Verhältnissen, in denen wir leben, ausgeht, anerkennen muss, dass...diese Verhältnisse uns ein schnelles Entwicklungstempo...diktieren.“ (SW 11/219)

[53] vgl. hierzu: Gossweiler 1997/167-191 sowie 219-227

[54] „In Amerika ist ein ungelernter junger Arbeiter...von...gelernten Arbeitern umgeben. Ganz von selbst wird er angelernt. Hier kommt auf zehn bis fünfzehn ungelernte, völlig unerfahrene Arbeiter ein einziger Arbeiter, der Bescheid weiß und was kann.“ (H. Siemsen, zit. nach Meyer 1978a/53

[55] „Die Gewöhnung von Millionen von ehemaligen Landleuten, die in der Welt der traditionellen, privaten, nichtmechanisierten Arbeit...aufgewachsen waren, an industrielle und kooperative Arbeitsformen war ein langwieriger und schmerzvoller Prozess, der sich in Westeuropa über weit länger als ein Jahrhundert erstreckt hatte, in der UdSSR aber im Verlauf weniger Jahre durchschritten werden musste.“ (ebd. 51)

[56] „Die Erziehung zu einer neuen, sozialistischen Disziplin, der Kampf um die Arbeitsdisziplin ist die wichtigste Form des Klassenkampfes gegen die Anarchie der kleinbürgerlichen Disziplinlosigkeit.“ (Leitartikel des Bolschewik 1932, zit. nach Meyer, ebd. 51)

[57] Übrigens ist dies ein durchaus „objektives Kriterium“ für eine strafrechtliche Verfolgung, die aber z.B. Lorenz in eine „willkürliche politische Verfolgung“ umdeutet, indem er die sozialistische Gesetzlichkeit ignoriert.

[58] Lorenz’ (unbelegter!) Behauptung, in den russischen „Konzentrationslagern“ bzw. „Vernichtungsstätten“ seien über 10 Millionen Menschen der Willkür der Lagerleitungen (auch hier muss die Voluntarismus-„Theorie“ herhalten) und Massenexekutionen ausgeliefert gewesen (1979/229), ist entgegen zu halten, dass man mit den nicht exekutierten Feinden der Sowjetmacht durchaus nicht „willkürlich“, sondern gezielt disziplinarisch verfuhr, indem sie durch kollektive Arbeit an den gesellschaftlichen Produktionsprozess wieder herangeführt wurden.

[59] „Trotzdem [das Ernährungsminimum gesichert war] lebte die Mehrheit der Arbeiterschaft in den dreißiger Jahren in Verhältnissen, wie sie in den kapitalistischen Ländern längst der Vergangenheit angehörten.“ (Lorenz, ebd. 244).

[60] Zur Bedeutung der gesellschaftlichen Produktionsweise schreibt Marx: „In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen [Formen], und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen [Verhältnissen] Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstehenden Daseins bestimmt.“ (MEW 42/40 und MEW 13/637; Herv. G.H.)

[61] Wenn Lorenz annimmt, die Industrialisierung in der SU sei von irrationalen Motiven vorangetrieben worden, so hat er damit nicht ganz Unrecht, da die wirtschaftspolitische Situation der SU und damit die Politik der KPdSU nicht unwesentlich durch die imperialistischen Westmächte bestimmt war, deren aggressive außenpolitische Tendenzen ihrerseits aus dem „irrationalen“ Zwang zur Selbstverwertung des Kapitals hervorgehen.

[62] Nach Marx sind „Überschüsse...gleich mit Kontrolle der Gesellschaft über die gegenständlichen Mittel ihrer eigenen Reproduktion.“ (MEW 24/464f)

[63] Dass etwas als „unbegründet“ (irrational) erscheint, wenn man von seiner Begründung abstrahiert, verwundert indessen nicht und mag daran liegen, dass der Forschung die Kategorien bereits zugrunde lagen, welche schließlich ganz unschuldig als „Ergebnis“ präsentiert werden.

[64] Vgl. zur Theorie: Hofmann 1967, 21-30

[65] Stalins (meist belächelte oder z.B. von Lorenz 1979/224 und 231f als Legitimation für „seinen“ Terror hingestellte) Theorie der Verschärfung des Klassenkampfes unter Bedingungen der Diktatur des Proletariats (SW 12/1-38) muss – sofern man sich auf seine Begründung einlässt – durchaus als widerspruchsfrei und durch die Praxis bestätigt anerkannt werden. Davon abgesehen: Wenn bereits „die Kritik überlieferter Eigentumsverhältnisse...die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privatinteresses, auf den Kampfplatz [ruft]“ (MEW 23/15f; meine Herv.) – wie sehr muss das erst auf ihre tatsächliche Abschaffung zutreffen!

[66] So etwa bezeichnet W.F. Haug Stalin als „den grauen, grausamen, paranoiden Meister des Apparats“ (10) – anstatt „von Stalin ganz zu schweigen“ (62, in: „13 Versuche marxistisches Denken zu erneuern“, Dietz Berlin 2001

[67] Stalin schreibt dazu: „Die NÖP ist die Politik der proletarischen Diktatur, gerichtet auf die Überwindung der kapitalistischen Elemente und den Aufbau der sozialistischen Wirtschaft vermittels des Marktes... Können die kapitalistischen Länder, zumindest die entwickeltesten unter ihnen, beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne die NÖP auskommen? Ich denke, sie können das nicht. In diesem oder jenem Grade ist die NÖP mit ihren Marktbeziehungen und der Ausnutzung dieser Marktbeziehungen in der Periode der Diktatur des Proletariats für jedes kapitalistische Land absolut unerlässlich.“ (SW 11/128)

[68] Dies mag ein Hinweis darauf sein, wieso die spätbürgerliche Ideologie der kapitalistischen Restauration um 1990 ohne die Phrase „freie Marktwirtschaft“ nicht auskam, was zugleich eine unbewusste Reminiszenz an die gesellschaftlichen Zustände des fortschrittlichen Frühkapitalismus gewesen sein dürfte.

[69] Meyers Vorbehalt („schien“) verschwindet zudem, wenn man sich die Aufgaben vergegenwärtigt, welche die Stalinschen Reden und Schriften lösen sollten und die Bedingungen dieser Lösung: einerseits galt es die Vermittlung einer qualitativ neuen, revolutionären Weltanschauung in einem kulturell rückständigen und begrenzt alphabetisierten Lande, andererseits die politisch-praktische Orientierung auf die brennendsten Probleme der Gegenwart. Für die Heranführung breiter Kreise der Bevölkerung an die Weltanschauung der Arbeiterklasse und die revolutionäre Praxis der proletarischen Partei sind sie methodisch wie auch inhaltlich geradezu beispielhaft – und keineswegs eine Dogmatisierung/Simplifizierung/Kanonisierung etc. des Marxismus. (vgl. Holz 1998) Bemerkenswert ist in dem Zusammenhang auch Klaus Holzkamps Gedanke: „Zwar ist der Marxismus die Grundlage des historischen Realwerdens des Sozialismus und damit...in die Struktur der Produktions- und Lebensweise selbst eingegangen. Die Tatsache, dass die historische Kontinuität des Sozialismus noch nicht gesichert ist, dass er sich seit seinem Bestehen permanent gegen äußere und innere Kräfte behaupten muss, die – wenn sie sich durchsetzten – ihn wieder von der Landkarte tilgen würden, charakterisiert indessen auch die Rahmenbedingungen der Entfaltung marxistischer Wissenschaft im Sozialismus. Solange nämlich noch „Sein oder Nichtsein“ des Sozialismus die Frage ist, muss es hier wesentlich darum gehen, den Kernbestand der marxistischen Lehre als Basis der neuen sozialistischen Lebensform immer wieder gegen alle Tendenzen seiner Verfälschung und Aufweichung zu verteidigen; eine existentielle Grundsituation, in der zu viel auf dem Spiele steht, als dass man das (eigene und fremde) Recht auf Irrtum...immer hinreichend zugestehen könnte.“ (Holzkamp 1983, 54)