Zeitschrift für Sozialismus und Frieden                                                                 1/04

Herausgeber: Verein zur Förderung demokratischer Publizistik (e.V.)

Spendenempfehlung: 1,60 Euro


Ausgabe

Januar-Februar 2004


 

Redaktionsnotiz

Kurt Gossweiler im Internet

Imperialismus heute

Andrea Schön: Deutschland auf dem Weg zur kriegsfähigen Weltmacht

Helmut Loeven: Wer sonntags arbeitet, kriegt auch keine Rente

Zur Geschichte des Sozialismus

Kurt Gossweiler: Geheimmission des BRD-Vizekanzlers beim DDR-Vize-Verteidigungsminister 1955 und 1956

Gerhard Feldbauer: Eine Betrachtung zum Sosswa-Buch Wolfgang Ruges und seinem politischen Werdegang

 

Zur Haftentlassung von Egon Krenz

Erich Buchholz: Juristen können alles begründen

 

Rechenschaftsbericht 2003

Realisierte Hefte 2003

Von wem es was zu lesen gab

Verbreitung der Offensiv

Finanzen

 

Resonanz

Seminar der Antifaschistischen Aktion Hameln-Pyrmont

 

Redaktionsnotiz

Das neue Jahr hat nicht besser angefangen, als das alte endete – wie sollte es auch? Aber es gibt trotzdem kleine Lichtblicke: Die Gewerkschaften sind zwar in großen Teilen (vor allem ihres Funktionärsapparates) handzahme Schoßhündchen des Kapitals, aber vielleicht bewegt sich doch etwas...  Ebenso wachsen die Initiativen und Bündnisse gegen den Sozialabbau. Leider wachsen auch die Verrücktheiten – wie in der DFG/VK oder bei Attack, wo man sich von Frau Roy distanziert bzw. den Streik als mögliches Kampfmittel ablehnt, an allen Ecken hört man immer noch von „Äquidistanz“ faseln, bürgerlicher Pazifismus verwirrt die Friedensbewegung usw., aber wie sollte es auch anders sein? Es fehlt an bewussten Kräften, um Richtung in die Bewegungen zu bekommen.

Unser Trägerverein hat am 10. Januar 2004 seine Jahreshauptversammlung abgehalten, die Genossinnen und Genossen waren mit dem Tätigkeitsbericht des Vereins und der Entwicklung der Offensiv zufrieden, die Geschäftsführerin wurde entlastet – und wir führten anregende politische Diskussionen. Außerdem musste in zwei kleinen Passagen die Satzung geändert werden, um die Gemeinnützigkeit zu erlangen. Das Finanzamt hatte mehr als ein halbes Jahr gebraucht, um zwei Formulierungen zu beanstanden.

Somit haben wir für das Geschäftsjahr 2003 keine Gemeinnützigkeit erreicht, was sehr negative Folgen hat: alle Genossinnen und Genossen, die uns 2003 mit Spenden unterstützt haben, können keine steuerabzugsfähigen Quittungen erhalten – und unser Verein ist steuerpflichtig. Wir arbeiten daran, dass das im nächsten Jahr nicht wieder so sein wird, auch wenn die Gegenseite daran arbeitet, uns möglichst viele Schwierigkeiten zu machen.

Wir müssen einen Fehler korrigieren, der uns leider in Heft 14/03 (Stalins Beiträge zur Marxistisch-leninistischen Militärtheorie und –politik 1940 – 1942/43 von Ulrich Huar) unterlaufen ist: Die Überschriften über den Tabellen auf Seite 85 des Heftes sind falsch. Über der ersten Spalte muss statt „Personalbestand“ stehen: „Personalbestand in Tausend“, über der zweiten Spalte muss statt „Geschütze und Panzer in Tausend“ stehen: „Geschütze und Granatwerfer“ und über der dritten Spalte statt „Granatwerfer“ „Panzer“. Die Zahlenreihen stimmen zum Glück. Wir bitten um Entschuldigung. Bitte korrigiert den Fehler im Heft!

Nun zu diesem Heft: Wir haben eine interessante Arbeit von Andrea Schön, die der Analyse des heutigen Imperialismus durch konkretes Zahlenmaterial und dadurch sehr transparent werdende Einschätzungen für künftige Entwicklungen wichtige Grundlagen gibt, darauf folgt ein Artikel von Helmut Loeven, den wir dankend übernommen haben aus seiner Zeitschrift „Der Metzger“. Er untersucht am Thema des Sozialkahlschlags in Deutschland die Bewusstseinslage, die falschen Fährten, die von den Herrschenden gelegt werden, und er stellt diesen die richtigen Antworten gegenüber. Kurt Gossweiler hat uns eine historische Arbeit zur Verfügung gestellt über einen Vorgang, der in Vergessenheit geraten ist: die Geheimmission des BRD-Vizekanzlers beim DDR-Vize-Verteidigungsminister 1955 und 1956 zum Zwecke der Absetzung Ulbrichts. Gerhard Feldbauer steuert eine historische Arbeit bei, die eigentlich eine Buchbesprechung ist, und doch eigentlich auch nicht. Es geht um Wolfgang Ruge, dessen Erfahrungen mit dem Sozialismus und dessen heutiger Sichtweise darauf – man möchte sagen, ein unschönes, aber in gewissem Sinne typisches Beispiel für den „Wendehals“. Danach analysiert Erich Buchholz am Beispiel der beiden Entscheidungen zur Haftentlassung von Egon Krenz das bundesdeutsche Justizwesen. Unser Rechenschaftsbericht für das Jahr 2003 und die Rubrik „Resonanz“ (hier bitten wir all diejenigen, deren Leserbriefe wir aus Platzgründen nicht veröffentlichen konnten, um Verständnis!) beschließen das Heft.

In dieser Ausgabe findet Ihr nichts über die EAL, ebenso wenig über die Programmdebatte der DKP. Das heißt aber nicht, dass diese Themen etwa nicht mehr aktuell wären. Die EAL kandidiert in Deutschland nicht zur Europawahl, weil Synaspismos aus Griechenland und Rifondazione Comunista aus Italien sich an der Gründung einer Europäischen Linkspartei (mit PDS, französischer und österreichischer KP usw.) beteiligt haben. Da würde eine Konkurrenzkandidatur nur stören. Aber das Projekt EAL und die Zusammenarbeit der DKP mit selbiger Gruppierung bzw. einzelnen trotzkistischen Gruppen aus der EAL ist damit nicht vom Tisch – ganz im Gegenteil. Und dass die DKP nun beschlossen hat, allein zur Europawahl zu kandidieren, sagt nichts über die weitere Zusammenarbeit in der EAL aus. Wir werden im nächsten Heft näher auf die im Hintergrund sich vollziehenden Bewegungen eingehen. Ebenso werden wir einen Blick auf die nun, nachdem die DKP beschlossen hat, auf ihrem nächsten Parteitag doch ein Programm und nicht nur eine programmatische Erklärung zu beschließen, wieder aktuell wichtiger werdende Programmdebatte werfen. Weiterhin können wir schon jetzt einen interessanten Artikel zur Problematik des Massenbewusstseins, der Rolle der Manipulierung und Deformierung, der Frage nach der Handlungsmotivation, des Subjekts und der Partei für das nächste Heft ankündigen, ebenso eine Arbeit, die – ausgehend von der unseligen Politik Gorbatschows - sich Gedanken macht über unterschiedliche Menschentypen, persönliche Konsequenz, die Entwicklung der Linken, unterschiedliche Bücher und die Situation überhaupt.

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Kurt Gossweiler im Internet

Am 12. 12. 03 erhielten wir folgenden Rundbrief als E-Mail von Klaus von Raussendorff:

„Liebe Leute, der Historiker Dr.s.c. Dr.h.c. Kurt Gossweiler zählt zu den bedeutendsten Erforschern des Faschismus und des Revisionismus in der kommunistischen und Arbeiterbewegung. Seine Aufsätze, Reden, Interviews und Stellungnahmen sind in der politischen Arbeit eine wahre Fundgrube. Die Texte Gossweilers werden in Zusammenarbeit mit ihm ab sofort unter www.kurt-gossweiler.de im Internet zugänglich gemacht.

                                                             Mit internationalistischen Grüßen, Klaus von Raussendorff“

Inzwischen sind auf der Internetseite rund 30 Arbeiten von Kurt Gossweiler einzusehen und/oder herunterzuladen.

Wir freuen uns sehr über diese ausgezeichnete Idee von Klaus von Raussendorff und haben natürlich gern zugearbeitet, haben wir doch eine ganze Menge an Texten von Kurt Gossweiler veröffentlicht.

Die Internet-Seite wird sicherlich noch um einiges erweitert werden, denn noch ist nicht alles ältere Material aufgespürt – und neue Arbeiten werden natürlich nach ihrem Erscheinen dort eingestellt. Es wird sich also lohnen, immer mal wieder auf diese Internet-Seite zu gehen.

Also: nutzen, weitersagen, bekannt machen:

www.kurt-gossweiler.de

                                                                                                                                       Redaktion Offensiv

Imperialismus heute

Andrea Schön: Deutschland auf dem Weg zur kriegsfähigen Weltmacht [1]

Wenn wir heute über Imperialismus reden, müssen wir nicht nur Lenins Imperialismustheorie in Betracht ziehen, sondern diese gründlich studieren, verstehen und entsprechend anwenden. Ich bin dabei der Auffassung, dass diese Theorie nicht nur völlig ausreicht, um die heutige Weltlage zu verstehen, d.h. dass es keinerlei Zusatzkonstrukte bedarf, um "neue Entwicklungen" zu erklären, sondern dass sie auch absolut notwendig ist, um das, was sich derzeit vor unseren Augen in der Welt abspielt, begreifen zu können. Es handelt sich also um eine "notwendige und hinreichende" Theorie zum Verständnis und zur Handlungsorientierung in der heutigen Welt.

Ich möchte mich im folgenden auf einen bestimmten Aspekt von Lenins Imperialismustheorie beschränken, nämlich den der territorialen "Aufteilung der Welt" unter den imperialistischen Großmächten, die Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen war. Die innerimperialistische Konkurrenz und ungleichmäßige Entwicklung erzwingt dabei nach Lenin eine regelmäßige Neuaufteilung der Welt, die wiederum unter Imperialisten nicht anders als gewaltsam erfolgen kann: "Die Kapitalisten teilen die Welt nicht etwa aus besonderer Bosheit unter sich auf, sondern weil die erreichte Stufe der Konzentration sie zwingt, diesen Weg zu beschreiten, um Profit zu erzielen; dabei wird die Teilung 'nach dem Kapital', 'nach der Macht' vorgenommen – eine andere Methode der Teilung kann es im System der Warenproduktion und des Kapitalismus nicht geben. Die Macht aber wechselt mit der ökonomischen und politischen Entwicklung ..." (Lenin, Werke Bd. 22, S. 257)

"Das Finanzkapital und die Trusts schwächen die Unterschiede im Tempo des Wachstums der verschiedenen Teile der Weltwirtschaft nicht ab, sondern verstärken sie. Sobald sich aber die Kräfteverhältnisse geändert haben, wie können dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt?" (ebd., S. 278)

"Der Kampf der Weltimperialismen verschärft sich. ... Bei der Teilung d(ies)er 'Beute' fällt ein außerordentlich großer Bissen Ländern zu, die nach dem Entwicklungstempo der Produktivkräfte nicht immer an der Spitze stehen ... Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben außer dem Krieg, um das Missverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits und der Verteilung der Kolonien und der 'Einflußsphären' des Finanzkapitals anderseits zu beseitigen" (ebd., S. 279-80)

Diese drei Zitate aus Lenins Imperialismustheorie mögen genügen, um die heutigen Widersprüche zwischen den imperialistischen Hauptzentren hinreichend zu verstehen und zu begreifen, dass und warum diese auf einen weiteren Weltkrieg zusteuern – oder, um mit Brecht zu sprechen, zusteuern müssen [2] .

Wir werden uns im folgenden insbesondere mit der EU bzw. den sie maßgeblich prägenden deutschen Imperialismus befassen, um die Konkurrenzsituation mit der USA angemessen erfassen zu können.

Zunächst lässt sich feststellen, dass mit dem Irak-Krieg zum ersten Mal nach der Konterrevolution die Widersprüche zwischen den USA und den maßgeblichen EU-Protagonisten Deutschland und Frankreich offen aufgebrochen sind. Zu unterschiedlich waren die Interessen, insbesondere die ökonomischen und geostrategischen, als dass man hätte den "Großen Bruder" ein weiteres Mal unwidersprochen agieren lassen. Es sei in diesem Zusammenhang nur auf die "Geberkonferenz" im Oktober 2003 in Madrid hingewiesen, auf der die Beiträge nur äußerst zögerlich flossen. Besonders krass stellte sich der Beitrag Deutschlands dar: Hatte dieser im ersten Golfkrieg noch ca. 5 Mrd. US$ betragen [3] , so waren es aus den verschiedensten direkten und indirekten Quellen dieses Mal kaum mehr als 100 Millionen €! Die Sammelbüchse der EU erbrachte in Madrid gerade einmal € 200 Mio., d.h. ebenso viel, wie von Südkorea allein gestiftet wurde (FTD, 24.10.2003).

Wenden wir uns also zunächst dem deutschen Imperialismus zu, der den dritten Anlauf zur Erringung der Weltherrschaft unternimmt und dabei auf ein umfangreiches, historisch entwickeltes Arsenal an Kampfmethoden zurückgreifen kann und dies auch wieder zunehmend offen tut. Deutschland ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,8 Bio. US$ die drittgrößte Ökonomie in der Welt. Im August 2003 schlug sie das Exportvolumen der USA um mehr als 7% und wurde mit einem Exportanteil am Weltmarkt in Höhe von 10,5% wieder Exportweltmeister. (Übrigens gelang dies Deutschland zum ersten Mal im Jahre 1937!!)

Diese Zahlen werden nicht nur mit großem Triumph in der deutschen großbürgerlichen Presse wiederholt, sie entfachen auch ein neues Selbstbewusstsein unserer Bourgeoisie, wie es unter anderem im wiederholten Vergleich zwischen ökonomischen Schlüsselzahlen (BIP, pro-Kopf-Einkommen, Handelsbilanz, Verschuldung etc.) der USA und der EU bzw. Deutschlands zum Ausdruck kommt. "Auf Augenhöhe" (vgl. u.a. FTD vom 24.3.2003) heißt die selbstbewusste Schlussfolgerung, und nicht ohne Häme wird der "Nachruf" von Chiracs ehemaligem Berater Emmanuel Todd auf die Weltmacht USA fleißigst zitiert. Die Notwendigkeit einer "multilateralen" Welt wird beschworen, konkret ist von einer "Friedensachse" Paris – Berlin – Moskau die Rede, die der kriegerischen USA entgegen zu setzen sei.

Während die liberalen Blätter noch von einer "alternativen" Weltmacht EU faseln (die sich angeblich auf die im "alten Europa" gewachsenen Werte des Humanismus, des sozialen Friedens und anderer Werte berufen könne, die den USA so ganz und gar abgehen), geht es in den etwas konservativeren Kreisen der deutschen Bourgeoisie seit der Konterrevolution deutlich offen zur Sache. Hören wir hierzu einige Schlüsselzitate aus berufenen Mündern:

Die Deutsche Bank orakelte bereits in ihrem "Osteuropa-Special" im Jahre 1990: "Gleichzeitig dürften ... Gewichtsverschiebungen im tripolaren System der Weltwirtschaft eine unausweichliche Folge der Öffnung Osteuropas sein. Europa gewinnt mit neuer Gestaltungskraft und Wachstumsdynamik an Statur. Es wird damit vom Juniorpartner zum echten Partner und potenten Konkurrenten der USA. Die Vereinigten Staaten müssen sich jetzt im internationalen politischen und militärischen Geflecht neu positionieren." (Herv. A.S.)

Lenins Zitat vom notwendigen Kampf um die Neuaufteilung der Welt zur Anpassung an sich verändernde Kräfteverhältnisse ist dem Autor sicherlich unbekannt. Die unverhohlene Kampfansage an den imperialistischen "Partner" ist allerdings genau das, was Lenin prophezeit: "Sobald sich aber die Kräfteverhältnisse geändert haben, wie können dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt?"

Im Jahre 1993 sekundiert der damalige Außenminister Kinkel: "... nach Außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht ... Wir sind auf Grund unserer Mittellage, unserer Größe und unserer traditionellen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa dazu prädestiniert, den Hauptvorteil aus der Rückkehr dieser Staaten nach Europa zu ziehen. Dies gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Stellung der deutschen Sprache und Kultur in Europa" (FAZ, 19.3.1993)

Am deutschen Wesen soll die Welt genesen ...

Der ökonomische Kampfplatz

In den vergangenen zehn Jahren konnte Deutschland tatsächlich ökonomisch "den Hauptvorteil" aus der Konterrevolution in Osteuropa ziehen. Hierzu einige Daten und Fakten:

Deutschland wickelt heute mit den zehn neuen Beitrittsländern 40% des mit allen EU-Staaten unterhaltenen Handelsvolumens ab, was 50% des Bruttoinlandsprodukts dieser Länder entspricht. Der Anteil der osteuropäischen Länder an Deutschlands Gesamtexport beträgt 12%, das sind beinahe so viel wie nach Frankreich und mehr als in die USA (FTD, 13.11.2002).

Mehr als 25% aller Direktinvestitionen (= Kapitalexport) in Osteuropa stammen von deutschen Monopolen, Deutschland ist der unbestritten größte Auslandsinvestor in der Tschechischen Republik und Russlands wichtigster Handelspartner mit einem jährlichen Handelsvolumen von derzeit 25 Mrd. €. Ein kurzer Blick auf die einzelnen Branchen:

Im Bankenbereich beherrscht die HypoVereinsbank (nach der Übernahme der Bank Austria) 10% des osteuropäischen Marktes ausländischer Banken (SZ vom 10.9.2001), die Allianz 11% (SZ vom 9.10.2002). Rechnet man die Anteile der Deutschen Bank, die "in nahezu allen Ländern Osteuropas ... unter den Auslandsbanken in vorderster Reihe (steht)" [4] , der Commerzbank, die in allen GUS-Staaten vertreten ist und Beteiligungen in Budapest, Prag und Warschau unterhält, sowie der DG-Bank hinzu, die – ähnlich wie die HypoVereinsbank – über Österreichs Bankverbindungen nach Osteuropa, in diesem Fall über einen 25%-Anteil an der Österreichischen Volksbanken AG, die Märkte in der Slowakei, Tschechien, Slowenien und Ungarn erschließt, kann man durchaus von einer marktbeherrschenden Stellung deutscher Banken in Osteuropa sprechen.

Auf dem Energiesektor zeigt sich ein ähnliches Bild: So beherrscht RWE den tschechischen Gasmarkt und hat mit der Übernahme von Transgas (97%) zugleich die Kontrolle über die Haupttransitpipeline für nach Westeuropa eingeführtes russisches Gas übernommen. Des weiteren beherrscht RWE 22% des slowakischen Strommarkts, mit einem 85%-Anteil an STOEN maßgeblich den polnischen Energiemarkt (die Übernahme des Herzstücks der polnischen Energieindustrie hatte im Sejm zu heftigen Tumulten geführt) und mit 56% am ungarischen Stromversorger ÉMÁSZ den dortigen Strommarkt (vgl. KAZ Nr. 303, 2003, S. 39).

e.on beliefert in Ungarn 45% der Stromkunden, besitzt in der Slowakei einen Marktanteil/Strom in Höhe von 37% und bewirbt sich gerade - mit der frisch übernommenen Ruhrgas AG - in Litauen um einen 34%-Anteil am Gasunternehmen Lietuvos Dujos, das zugleich das gesamte Erdgas-Leitungsnetz Litauens besitzt. Über die Ruhrgas hält e.on einen inzwischen 6,5%-Anteil am größten Energiekonzern in Europa, der russischen Gazprom, außerdem 49% am slowakischen Gaskonzern SPP, der Nummer 2 nach Gazprom, 16,3% am ungarischen Gasunternehmen FÖGAZ, 16,3% an DDGÁZ (ebenfalls ungarische Gasgesellschaft), 17,2% an der lettischen Latvijas Gaze, 38,71% an der estischen As Eesti Gaas und 50% an der polnischen IRB. Im Juni 2002 übernahm e.on schließlich 49% am größten slowakischen Stromversorger Zapadovslovenska mit einem Marktanteil von 37% (vgl. ebd.). Derzeit laufen Verkaufsverhandlungen in Rumänien für die lokalen Gasverteiler Distrigaz Sud und Distrigaz Nord, und in Bulgarien werden sieben Stromverteilungsfirmen privatisiert, für deren Erwerb e.on ebenfalls in den Startlöchern steht (FTD, 15.12.2003).

In Verhandlung ist derzeit außerdem der Bau einer alternativen Gaspipeline von Russland durch die Ostsee, die die bisherige durch die Ukraine, über die derzeit 80% des russischen Gas nach Westeuropa transportiert werden, nach und nach ersetzen soll. Hauptbeteiligte Handelspartner sind die e.on-Tochter Ruhrgas und die BASF-Tochter Wintershall.

Der Telekommunikationsmarkt wird wiederum weitgehend von der Deutsche Telekom beherrscht, die über maßgebliche bzw. Mehrheitsbeteiligungen an den tschechischen, ungarischen, polnischen, mazedonischen, kroatischen und slowenischen Telefongesellschaften verfügt (vgl. Liedtke, ebd., S. 174/175). Schließlich hat die deutsche Presse insbesondere mit dem WAZ-Konzern, der Passauer Neue Presse und Bertelsmann eine marktbeherrschende Stellung in der osteuropäischen Medienlandschaft: Dem WAZ-Konzern gehören 70% der kroatischen Zeitungen und 75% der bulgarischen, die Passauer Neue Presse besitzt 90% aller Printmedien im westlichen Tschechien (incl. Prag), Bertelsmann gehört Ungarns auflagenstärkste Zeitung (Nepszabadság) und einer der beiden großen Vollprogramm-Sender (RTL Klub). Zusammen mit Springer, Bauer und Burda kam Bertelsmann im Jahre 2000 in Polen auf einen Marktanteil von 38% (vgl. KAZ, ebd., S.39-40).

Aber auch der Balkan boomt: Deutschland ist wichtigster Handelspartner von Serbien und Montenegro, wo sich ein neuer Kooperationsrat um Investitionsförderung und den Ausbau des Handels kümmern soll. Außerdem kündigte Schröder Hermes-Kredite zur Unterstützung von Siemens bei der Erneuerung eines Wasserkraftwerks an, und die deutsche und die serbische Bahn wollen ebenfalls zusammenarbeiten (FTD, 31.10./1./2.11.2003).

Die bisher genannten Daten betreffen lediglich den ökonomischen "Hauptvorteil" in Osteuropa. Insgesamt haben sich die ausländischen Direktinvestitionen Deutschlands zwischen 1980 und 2000 verzehnfacht und betragen derzeit eine knappe halbe Billion US$ (442 Mrd. US$; vgl. jungeWelt, 22.10.2003). Interessanterweise sind es gerade die von der USA gebrandmarkten "Schurkenstaaten", mit denen der deutsche Handel (wie im übrigen auch der EU-Handel allgemein) floriert! So konnte man kürzlich im bundesdeutschen Fernsehen einen strahlenden Kanzler sehen, als über die blühenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Saudiarabien und Deutschland berichtet wurde: Das Handelsvolumen habe sich nämlich nach dem 11. September 2001 um 14% erhöht! Auf wessen Kosten, ist klar: Die US-Saudi-Beziehungen sind merklich abgekühlt, saudische Einlagen in Milliardenhöhe wurden aus den USA abgezogen, die USA verlagerte ihrerseits den militärischen Brückenkopf im Nahen Osten von Saudiarabien nach Katar.

China ist ein weiteres Land, mit dem der deutsche Handel boomt: Wie nach dem Chinabesuch des Kanzlers im Oktober 2003 berichtet wurde, sind die Exporte nach China im ersten Halbjahr 2003 um 50% gestiegen, in der Automobilindustrie sogar um 100%, womit China für den VW-Konzern zum wichtigsten Auslandsmarkt geworden ist. Iran, ein weiterer "Schurke", betrachtet Deutschland als seinen wichtigsten Handelspartner. Das Land erhält von deutschen Monopolen wie ThyssenKruppStahl (TKS), Siemens und MAN wichtige Ausrüstungen in der Fahrzeugindustrie und im Maschinenbau. Der Iran verfügt immerhin über 16-18% der weltweiten Gasreserven und ist daher als Energielieferant neben seiner geostrategischen Bedeutung wichtig. Die EU-Außenminister de Villepin, Fischer und Straw haben ganz zum Ärger der USA einen recht freundlichen Vertrag mit dem Iran zum Umgang mit atomwaffenfähigem Material und diesbezüglichen IAEA-Inspektionen ausgehandelt, der aufgrund eines fehlenden "Sanktionsmechanismus" die USA deutlich auf die Palme bringt (vgl. FTD, 21.10.2003).

Der militärische Kampfplatz

Es ist sonnenklar, dass ökonomische Ambitionen und hegemoniale Stellungen auch militärisch abgesichert werden müssen. Gerade der Jugoslawienkrieg hatte den Europäern und insbesondere Deutschland, das mit der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens bewusst den Stein um die Neuaufteilung des Balkan ins Rollen brachte, schmerzlich vor Augen geführt, was der Mangel an eigenständigen Interventionsarmeen zur Folge hat. Joschka Fischer im Jahre 1999:

"Der Konflikt im Kosovo führt uns in diesen Tagen dramatisch vor Augen, wie dringend und unverzichtbar die Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität für das Europa der Zukunft sein wird. Nur wenn es den Europäern gelingt, auch auf diesem Gebiet ihre Kräfte zu bündeln und eigenständig handlungsfähig zu werden, wird Europa seine Werte und Interessen im 21. Jahrhundert in vollen Umfang zur Geltung bringen können. Deshalb muss und wird ESVI [Europäische Sicherheits- und Verteidigungsinitiative] Bestandteil des politischen Subjekts Europa werden, dessen Verwirklichung ... die zentrale Gestaltungsaufgabe für Europa ist. Wir Europäer müssen in der Lage sein, Krisen, die uns unmittelbar betreffen, auch dann gemeinsam zu bewältigen, wenn unsere transatlantischen Partner sich nicht daran beteiligen. Europa braucht dazu glaubwürdige, eigenständige Fähigkeiten für ein einheitliches Krisenmanagement."

Es folgte der Vertrag von Nizza im Jahre 2000 zur Schaffung einer Interventionsarmee von 60.000 Mann, ausgerüstet mit 400 Schiffen, mobilisierbar in 60 Tagen und ein Jahr lang einsatzfähig. Es folgte mit Gründung der EADS ein erster Schritt zur Integration der europäischen Rüstungsindustrie (ich komme darauf zurück), es folgte der Entwurf und die bevorstehende Verabschiedung einer EU-Verfassung, in der die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbindlichen Charakter hat (Art. I-15) und in den Durchführungsbestimmungen ein europäisches Amt für Rüstung, Forschung und Bedarfsermittlung bzw. –deckung für die Absicherung "humanitärer Missionen" vorgesehen ist (Art. I-40).

Und so konnte die Financial Times Deutschland bereits am 13.10.2003 stolz titeln: "EU steht vor erstem großem Militäreinsatz", wenn sie ab Herbst 2004 die derzeit 12.000 Mann starke Sfor-Mission, davon derzeit 1.800 deutsche Soldaten, in Bosnien übernehmen soll. Man habe in diesem Zusammenhang beim NATO-Treffen der Verteidigungsminister in Colorado Springs die Bedenken der USA ausräumen können, dass dadurch das NATO-Bündnis in Frage gestellt würde (angeblich ebenso wenig wie durch die eigenständige EU-Planungseinheit, die im NATO-Hauptquartier im belgischen Mons eingerichtet werden soll, was im übrigen auch von Bushs Schoßhund Tony Blair unterstützt wird!)

Die Marschrichtung ist also klar: Europa rüstet sich zur konkurrierenden Weltmacht – selbstverständlich auf Kosten der wirtschaftlich weniger potenten Mitglieder! So wehren sich insbesondere die kleineren Länder gegen jene Verfassungsbestandteile, die ihren Einfluss erheblich vermindern: eine Reduzierung der Kommission auf 15 statt 25 stimmberechtigte Kommissare, Mehrheitsentscheidungen auf der Basis von 50% der Staaten und 60% der EU-Gesamtbevölkerung. Es ist kein Zufall, dass ein großer Teil dieser Länder sich unter die Fittiche des transatlantischen großen Bruders USA begibt, um sich dem absorbierenden Einfluss der EU-Großen zu entziehen und wohl auch ein gewisses Erpressungspotential zu gewinnen. Schließlich basiert der Konvententwurf maßgeblich auf den Vorschlägen Deutschlands und Frankreichs vom 22.11.2002. Es ist entsprechend kein Zufall, dass in Art. I-40, Abs. 6 der Kerneuropa-Gedanke ausdrückliche Form angenommen hat. Dort heißt es: "Mitgliedsstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind ..., begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union." Uns es sind konsequenterweise auch nur diese Mitglieder, die über den "Gegenstand der strukturierten Zusammenarbeit" abstimmen können sollen (Art. III-213 Abs. 1 und 3) [5] .

Schließlich ist es auch kein Zufall, dass die Gründung von EADS eine maßgeblich deutsch-französische Angelegenheit war, vorangetrieben von der DaimlerChrysler Luft- und Raumfahrttochter DASA unter Ausschluss der British Aerospace, nachdem diese kurz zuvor mit GEC Marconi fusioniert hatte (sehr zum Ärger von Daimler/DASA). Des weiteren hat die BAe inzwischen ihren 25%-Anteil am Raumfahrtunternehmen Astrium verkauft, das nun zu 100% EADS gehört. Dennoch ist BAe an allen wichtigen Rüstungsprojekten mit Kapitalanteilen beteiligt, die dem jeweiligen Abnahmeumfang des Projekts entsprechen (Eurofighter, Transporter A400M, Meteor-Raketen etc.), hält 37,5% an MBDA, einer EADS-Gesellschaft für Lenkflugkörpersysteme, und 20% an Airbus [6] .

EADS hat inzwischen im Bereich der zivilen Luftfahrt mit dem Airbus den US-Konkurrenten Boeing McDonnell Douglas ausgehebelt, wie in diesem Jahr die deutschen Bürgerblätter immer wieder stolz berichteten. Auch im militärischen Sektor ist der Konzern in allen Schlüsselbereichen – Fighter (Eurofighter sowie die französische Rafale über die Beteiligung an Dassault Aviation), Transportmaschinen (A400M), Tankflugzeuge, LFK (45(!) Lenkflugkörpersysteme, u.a. die Luft-Luft-Rakete Meteor), Kampfhubschrauber (Tiger, NH90) etc. – mit seinen US-amerikanischen Gegenspielern konkurrenzfähig. (Neben McDonnell Douglas sind dies Lockheed Marietta und Raytheon.) Fehlt noch die Entwicklung eines eigenständigen Satelliten-Kommunikationssystems, das mit "Galileo" auf den Weg gebracht wird: Dieses soll mit 30 Satelliten bis 2008 als ein vom amerikanischen GPS unabhängiges Lokalisierungssystem fertiggestellt werden. Interessanterweise beteiligt sich China mit 200 Millionen € an diesem Projekt [7]  (im übrigen genau dieselbe Summe, die die EU auf der "Geber"konferenz in Madrid Ende Oktober 2003 für den Wiederaufbau des Irak aufzubringen bereit war).

Deutschland spielt – wie auch die Bundesregierung offenherzig kundtut – eine Schlüsselrolle im militärischen Aufbau der EU [8] . Auch das ist kaum ein Zufall, hat es doch bereits im Jahr 1991 mit dem "Fürstenfeldbrucker Symposium" eine weichenstellende Versammlung gegeben, an der sich neben den Veranstaltern (Bundeswehr und Arbeitgeberverband) hochrangige Generäle, Firmenmanager, der damalige Verteidigungsminister Rupert Scholz und die Clausewitz-Gesellschaft (600 Offiziere a.D. und Politiker) beteiligten: Hauptthemen waren:

- die Wiederherstellung von Deutschlands "Normalität" und eine Rolle als "Partner in Leadership" mit den USA

- Militäreinsätze außerhalb deutscher Grenzen

- Auslandseinsätze der Bundeswehr, möglichst ohne Verfassungsänderung

- Bildung eines europäischen Sicherheitsrats

- Gründung eigener Eingreiftruppen

- Einsätze zur Durchsetzung des "Selbstbestimmungsrechts" von Minderheiten und "unterdrückten" Völkern

- Identifizierung von Gefährdungspotentialen: Verweigerung von Rohstoffzufuhr, Immigrationswellen etc.

- Umstrukturierung der Bundeswehr, Sicherung der Einsatzfähigkeit entlang einer 4.000 Kilometer langen EU-Außengrenze

- neues Geschichtsbild mit Betonung auf "Nation und Vaterland" statt Auschwitz und Holocaust

All diese "Themen" haben zwischenzeitlich erheblich Gestalt angenommen, u.a. mit der Formulierung der Verteidigungspolitischen Richtlinien im Jahre 1992 und der 2003 aktualisierten Fassung, die explizit die Beschränkung auf Landesverteidigung aufhebt ("Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch").

Im Zusammenhang mit den militärischen (Un-)fähigkeiten der EU, die gerne auch von bürgerlichen Blättern immer wieder beklagt wird (natürlich um die Notwendigkeit verstärkter Rüstungsausgaben in die Köpfe der Leser zu hämmern), wird gerne der Vergleich mit dem Rüstungshaushalt der USA herangezogen, dessen Umfang alle Länder der EU zusammen genommen nicht einmal bzw. höchstens zu 50% erreichen. Leider wird dieses oberflächliche Argument bis in weite Teile der – sich auch als marxistisch-leninistisch verstehenden Linken! – immer wieder gerne und gedankenlos nachgeplappert. Vergessen dabei wird vor allem, dass die USA horrende Summen allein zur Unterhaltung ihrer (offiziell!) 4.000 Stützpunkte in der Welt bereitzustellen hat. Sicherlich kann man diese Stützpunkte als gewichtigen Macht- und Einflussfaktor betrachten. Eben dieser zeigt aber gerade derzeit im Irak (und durchaus in den maßgeblich derart "gestützten" Ländern wie Südkorea, Philippinen, Indonesien etc.) seine unübersehbaren Grenzen. Außerdem hat pikanterweise eine Studie der ZAS (Zentrale für Analysen der Streitkräfte, ein Think-Tank der Bundeswehr mit Sitz in Waldbröhl) im Zusammenhang mit der Formulierung der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien festgestellt, dass es durchaus möglich sei, den technologischen Rückstand zu den USA durch "Überspringen einer Waffengeneration" aufzuholen ... (vgl. jungeWelt, 10.3.2003)

In diesem Zusammenhang vielleicht auch ein historischer Vergleich: Nach der Machtübertragung an Hitler hatte sich sicherlich kein Land der Welt vorstellen können, dass Deutschland innerhalb von sechs Jahren weltkriegsfähig werden würde. Dessen ungeachtet haben wir nach wie vor die Dynamik der innerimperialistischen Widersprüche als das bestimmende Moment und schließlich auch als das kriegsauslösende zu verstehen. Wir wissen schließlich, dass Imperialisten normalerweise nicht sorgsam die Waffen abzählen, bevor sie einen Krieg beginnen ...

Kontinuität der Kampfmethoden: Deutsche Volksgruppenpolitik

Last not least bedient sich der deutsche Imperialismus eines altbewährten Rezepts, um deutsche Interessen überall in der Welt geltend zu machen und angemessen zu "verteidigen": der Strategie der "5. Kolonne" bzw. der Volksgruppenpolitik.

Dank des durch Blut und Boden definierten Volksbegriffs, den Deutschland bis heute u.a. mit seinem Staatsbürgerschaftsrecht pflegt, entdeckt Deutschland über seine Vertriebenen-Verbände und den VDA (Verband des Deutschtums im Ausland), die ganz in der Tradition des kolonialistischen Alldeutschen Verbands im Kaiserreich stehen, überall in der Welt – und natürlich vor allem in Osteuropa und auf dem Balkan – deutsche Minderheiten, deren "völkische" Interessen es zu schützen gilt. Ein beliebtes Mittel dabei ist die Forderung nach Selbstbestimmungsrechten, die die Souveränitätsrechte des jeweiligen Landes nicht unerheblich untergraben. Um hier nur ein Beispiel herauszugreifen:

1991 wurde mit Polen ein "polnisch-deutscher Nachbarschaftsvertrag" geschlossen, der die Anerkennung ethnischer Minderheiten deutscher Abstammung vorsieht. Daran geknüpft wurde ein Forderungskatalog, der u.a. beinhaltete: Deutsch als Muttersprache in Schulen mit deutscher Bevölkerung; Gleichberechtigung bei der Ämterbesetzung (d.h. ethnische Quotierung!), "angemessene" Medienvertretung deutscher Minderheiten, "Heimatrecht" als kollektives Gruppenrecht. Auf diesem Weg lässt sich ein ganzer Staat sukzessive eindeutschen – oder man muss ihn überfallen, weil die deutschen Landsleute um Hilfe rufen.

Eben diese "Kollektivrechte" einer ethnischen Minderheit galt es im übrigen auch in Mazedonien zu schützen, wo Deutschland an vorderster Front die Durchsetzung von rund 30 Verfassungsänderungen zugunsten der albanischen Volksgruppe "überwachte" (soweit zum eigentlichen Sinn der Mission "Essential Harvest").

Wir sehen also, dass Deutschland auf der ganzen Klaviatur historisch bewährter Kampfmethoden zu spielen versteht, um seine imperialistischen Hegemonialinteressen durchzusetzen und abzusichern. Das Vorantreiben des EU-Einigungsprozesses – politisch, ökonomisch, militärisch – hat dabei unter deutschen Vorzeichen zu geschehen, ansonsten wird recht unverhohlen mit dem deutschen "Sonderweg" gedroht. Und dieser "Sonderweg" könnte beispielsweise ein Bündnis mit Russland bedeuten, der einzigen Atommacht, die den USA auch in dieser Waffengattung das Wasser reichen kann. Anlässlich der 6. deutsch-russischen Regierungskonsultation am 9.10.2003 in Jekatarinburg (Swerdlowsk!) wurden nicht nur 15 weitere Wirtschaftsvereinbarungen in Höhe von über einer Milliarde € abgeschlossen, sondern auch ein deutsch-russisches Abkommen für den Truppen-Transit deutscher Soldaten nach Afghanistan. Damit wurde zum ersten Mal einem NATO-Mitglied russischer Boden für militärische Zwecke zur Verfügung gestellt – und zum ersten Mal deutschen Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg, freiwillig diesmal ... (vgl. UZ, 17.10.2003)

Wir dürfen davon ausgehen, dass sich die aufgezeigten Widersprüche in Zukunft noch verschärfen werden und schließlich auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Hauptmächten führen. Wie Brecht sagt: Die Kapitalisten wollen keinen Krieg. Sie müssen ihn wollen!

                                                                                                                                     Andrea Schön, Essen

 

Nachtrag: "EADS erhält Großauftrag der britischen Regierung" (FTD, 23./24./25.1.2004):

"Der europäische Luft- und Raumfahrtkonzern EADS steht kurz vor Unterzeichnung eines 19-Mrd.-€-Auftrags der britischen Regierung. ... Das europäische Firmenkonsortium soll für die Royal Air Force 20 Luftbetankungsflugzeuge bauen ... Die angloamerikanische Konkurrenz Boeing und BAe Systems hatte sich bisher beste Chancen ausgerechnet, den milliardenschweren Auftrag zu gewinnen. Nun zog sie offenbar den Kürzeren. Der Auftrag mit 27 Jahren Laufzeit ist ein Durchbruch für den Flugzeugbauer Airbus, der zu 80 Prozent EADS gehört und zu 20 Prozent BAe Systems. Airbus wird die Flugzeuge liefern, Motoren und Bordelektronik kommen von Rolls Royce. ... Zwar ist der Auftrag zahlenmäßig begrenzt, der Abschluss ist aber entscheidend für die europäische Luftfahrtindustrie. Denn Erzrivale Boeing hält bisher praktisch das Monopol für Tankflugzeuge. Falls EADS und Airbus den Auftrag verloren hätten, wären sie von diesem Markt langfristig ausgeschlossen. ... Der Verlust des Auftrags ist ein Tiefschlag für Boeing. ... Zudem hatten die Amerikaner im vergangenen Jahr zusehen müssen, wie Boeing erstmals von Airbus bei Aufträgen für Zivilflugzeuge überholt wurde. Nun holt EADS auch im Militärgeschäft auf." (Herv. von mir, A.S.)

                                                                                                                                     Andrea Schön, Essen

 

Helmut Loeven: Wer sonntags arbeitet, kriegt auch keine Rente

 

Was wäre die Folge, wenn es dem Kapital gelänge, die Republik der Sowjets zu zerschlagen? Eine Epoche der schwärzesten Reaktion würde über alle kapita-listischen und kolonialen Länder hereinbrechen, man würde die Arbeiterklasse und die unterdrückten Völker vollends knebeln.                                             Stalin

Die Feiertage im Frühling sind mir geradezu heilig. Es mögen christliche Feiertage sein, das stört mich nicht. Es bleibt lange hell. Ich kann lange schlafen und habe dann doch noch einen ganzen Tag vor mir. Diese Feiertage nutze ich zu Spaziergängen, die zehn oder zwölf Stunden dauern können. Am „Himmelfahrtstag“ ging ich in das Waldstück zwischen Kaiserberg und Monning. Auf den ersten hundert Metern kamen mir Menschenmassen entgegen: Familien mit Kindern, die den Tag zu einen Zoobesuch genutzt hatten. Ein Stück weiter, mitten im Wald, ist ein riesiger Kinderspielplatz. Es macht mir viel Freude, Menschen zu sehen, die einen schönen Tag genießen. Wenn man weitergeht, kommt man tief in den Wald hinein, wo es hügelig wird: tiefe Täler, steile Hänge, und dahinter eine Landschaft aus Wiesen und Weiden, wo man kaum Menschen begegnet.

Am sogenannten Fronleichnamstag, drei Wochen später, ging ich wieder denselben Weg. Diesmal kamen mir keine Menschenmassen entgegen. Der Zooparkplatz war leer. Was mochte geschehen sein? Ob die Leute vielleicht dachten, der Feiertag wäre schon abgeschafft?

Als ich nach Hause kam, machte ich den Fernsehkasten an. Es war gerade ein Bericht über den Metall-Streik im Osten. Es wurde gezeigt, wie in Bussen und sogar mit Hubschraubern Streikbrechergesindel herangekarrt wurde. „Wir verteidigen unseren Arbeitsplatz vor der IG Metall!“ Und: „Die Streikposten kommen doch alle aus dem Westen!“

Kann man Menschen zu ihrem Glück zwingen? Darf man es? Muß man es? Ist es vielleicht der einzige Weg? Man hat immer wieder erfahren, daß man Menschen zu allem möglichen zwingen kann, nicht einmal zu zwingen braucht. Nur, wenn sie zu ihrem Glück gezwungen werden, leisten sie Widerstand, nur dann. Denen, die „aus dem Westen“ kamen, haben sie nur einmal sich widersetzt: als es Streikposten waren, die um ein besseres Leben für sie auf Posten gingen. Die Eroberer aus dem Westen, die ihnen ein schlechteres Leben bescherten, haben sie willkommen geheißen und ihnen noch als Streikbrecher zur Verfügung gestanden, als ihnen nur noch ein kleiner Rest geblieben war, der ihnen auch nicht mehr lange bleibt. Sie sind aus Schaden nicht klug geworden und glauben immer noch, es würde ihnen gelohnt, wenn sie die Hand lecken, die ihnen fast alles genommen hat. Man könnte die Leute, die „ihren“ Arbeitsplatz vor der IG Metall „verteidigen“, getrost ihrem Schicksal überlassen, wenn die Leidtragenden ihrer Torheit nur sie selbst wären, wenn ihre Torheit nicht anderen, Unschuldigen, das Kreuz brechen würde, auch und gerade außerhalb der Grenzen dieses Landes.

Ungerechtigkeit! Hurra! Hurra! Hurra!

Die Leute haben gemerkt, daß sie unzufrieden sind. Die Unzufriedenheit hat sich ausgebreitet wie ein Gerücht: Nichts Genaues erkennt man nicht. Die Leute wissen nicht, worüber sie unzufrieden sind. Die Leute schimpfen auf die Politiker, weil die ihre Wahlversprechen nicht halten. Am meisten schimpfen sie auf den Lafontaine, der zurücktrat, weil er seine Wahlversprechen nicht brechen wollte. Die Leute schimpfen auf die Politiker, weil das Schwätzer und Nichtsnutze sind. Bei Sabine Christiansen wird immer dann am lautesten geklatscht, wenn der Westerwelle wat sacht, der größte Schwätzer und Nichtsnutz.

Wenn man den Leuten, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, mit der Hinrichtung droht, sind sie unzufrieden, weil die Guillotine nicht funktioniert. Die Leute, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, sind unzufrieden, weil „alles so ungerecht“ ist. Darum würden sie die vorziehen, die alles noch ungerechter machen. Bei Umfragen kommt die CDU auf 48 %. Zugleich meinen nur 20 %, daß die CDU „es besser machen würde“ als Rotgrün. 28 % würden CDU wählen, obwohl sie glauben, daß die es auch nicht besser macht. Der Herzog mit seinem Gesicht findet: „Ein Ruck muß durch Deutschland gehen“. Die Leute, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, finden das auch. Sie wissen zwar nicht, was ein Ruck ist, aber er muß durch Deutschland gehen. Die Leute, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, sind richtig wütend über die „dringend notwendigen Reformen“ und verlangen ungeduldig, daß es mit den „dringend notwendigen Reformen“ endlich vorangeht. Die Leute wissen zwar nicht, was für Reformen das sind. Aber sie wissen ganz sicher, daß sie „dringend notwendig“ sind. Die Leute sind unzufrieden, weil sie für weniger Geld mehr arbeiten sollen, und darum klatschen sie dem Beifall, der ihnen sagt, daß zu viel verdient und zu wenig gearbeitet wird.

Durch Wegfall der Feiertage sollen mehr Arbeitsplätze entstehen, meint Clement. Auf derselben Zeitungsseite lese ich, daß durch die Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen mehrere tausend Stellen eingespart werden sollen. Die Regierenden, die Patentrezepte verkünden, mit denen sie seit Jahrzehnten vergeblich versuchen, der Arbeitslosigkeit Herr zu werden, dienen den Herren, die mit der Arbeitslosigkeit keine Probleme haben. Alle Maßnahmen, mit denen die Regierenden den Abbau der Arbeitslosigkeit betreiben, haben eins gemeinsam: Man erreicht mit ihnen das Gegenteil. Mit der Abschaffung des Kündigungsschutzes schafft man nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Kündigungen, also, daß man schneller arbeitslos wird. Das geschieht nicht aus Dummheit, sondern aus Gemeinheit. Die Herren, die den Regierenden Weisungen erteilen, haben sich ausbedungen, daß die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit nicht zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit führen dürfen. Für die sogenannten Arbeitgeber ist die Massenarbeitslosigkeit ein Druckmittel im Kampf um die Löhne. Die sogenannten Arbeitgeber verlangen: Kostensenkung und Wegfall von Schutzrechten. Sie sagen: Um Leute einzustellen, sind die Kosten zu hoch. Wenn die Kosten sinken und die Schutzrechte wegfallen, werden trotzdem keine Leute eingestellt. Die sogenannten Arbeitgeber verlangen: Auflösung der Tarifautonomie, Entmachtung der Gewerkschaften. Die Leute, die das hören, finden das gut. Sie können Gewerkschaften sowieso nicht leiden, weil sie nicht zugeben wollen, auf Gewerkschaften angewiesen zu sein. Die Leute, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, meinen, sie wären was Besseres, wenn sie sich bei denen, denen Gewerkschaften ein Dorn im Auge sind, liebkind machen. Darum lassen die Leute, die bei Sabine Christiansen am lautesten klatschen, sich gern erzählen, daß die Gewerkschaften starre Reformhindernisse und ihre Führer Bonzen sind. 1933 mußte man noch eine Diktatur errichten, um die Gewerkschaften zu zerschlagen. Heute muß man sie nur noch marginalisieren. Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit werden die Gewerkschaften zu marginalen Resten der Sozialpartnerschaft. Auf die wird nicht mehr gesetzt.

Mehr Arbeit durch mehr Arbeit. Durch mehr Arbeitslosigkeit mehr Arbeitsplätze

Die Hauptfrage in der Klassenauseinandersetzung ist der Lohn. Das Instrument, mit dem der Lohn reguliert wird, der Tarifvertrag, wird unwirksam gemacht. Das Instrument, mit dem der Tarifvertrag ausgehöhlt wird, nennt man „Öffnungsklausel“. Das heißt auf Deutsch: Im Tarifvertrag steht zwar drin, wie hoch der Lohn ist, aber das heißt noch lange nicht, daß der vereinbarte Lohn auch gezahlt wird. Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit können einzelne Unternehmer im Bereich ihres Betriebs geringere Löhne zahlen als die, die im Tarifvertrag stehen. Was dabei bestimmt nicht rauskommt sind neue Arbeitsplätze. Das ist auch nicht das Ziel. Das Ziel ist Lohndiktat.

Die sogenannten Arbeitgeber verlangen: längere Arbeitszeiten. Auch die FDP verlangt das. Auch CSU-Glos findet das: „Wir müssen als Deutsche insgesamt mehr arbeiten. Dann kommen wir wieder von den höheren Kosten runter und bekommen auch in Deutschland mehr Arbeit.“ Mehr Arbeit führt zu mehr Arbeit. Das hat er von Jürgen Donges, der zu den „Wirtschaftsweisen“ gehört. Der hat gesagt: „Ich fordere mehr Sonntagsarbeit in Deutschland. Auf die Diskussion über einzelne Feiertage darf man sich gar nicht erst einlassen. Dagegen darf der Sonntag nicht länger tabu sein. Dann werden die teuren Maschinen besser ausgelastet. Das senkt die Kosten. Und damit gibt es auch mehr Arbeit.“ Der Wegfall der paar Feiertage ist ein Schritt. Ein weiterer Schritt ist die Abschaffung des Wochenendes. Damit werden zwar keine neuen Arbeitsplätze geschaffen - im Gegenteil! Aber das ist ja auch nicht das Ziel. Das Ziel ist: die völlig uneingeschränkte Verfügung über die Arbeitskraft.

An dem Konzept, längere Arbeitszeiten durchzusetzen, erkennt man am deutlichsten, daß mit den Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit das Gegenteil erreicht werden soll. Denn nur durch kürzere, aber auf keinen Fall durch längere Arbeitszeit könnte die Zahl der Arbeitslosen sich verringern. Dabei ist überhaupt nicht die Frage, ob die Arbeitszeit verkürzt werden soll. Die Arbeitszeit ist verkürzt.

Die Heftzwecke wurde schon erfunden

Mit der Erfindung des Beils, des Hammers, des Rades, des Flaschenzugs, des Seils, der Stange, des Hebels, des Zahnrades, des Papiers, des Windrades, der Sense, des Brennglases, der Kurbel, der Wasserpumpe, der Schublade, der Säge, des Ofens, des Eimers, des Schiffes, des Webstuhls, des Dezimalsystems, des Hochofens, der Dampfmaschine, des Elektrokabels, des Automobils, der Buchführung, der Schiffsschraube, der Hydraulik, des Telefons und der Heftzwecke ist im Laufe der Jahrtausende die Arbeitszeit permanent verkürzt worden. In der Verkürzung der Arbeitszeit liegt der Sinn jeder technischen Weiterentwicklung. Die Frage ist nicht, ob die Arbeitszeit verkürzt werden soll, sondern wie die Verkürzung der Arbeitszeit zu handhaben ist. Die sogenannten Arbeitgeber, die die Arbeitszeitverkürzung verfluchen, haben sie konsequent durchgeführt, aber auf eine unvernünftige Weise: für die einen wurde die Arbeitszeit auf null gesenkt, und die anderen müssen so lange arbeiten wie vorher. Die Verkürzung der Arbeitszeit kommt nicht denen zugute, die arbeiten, sondern wirft sie in einen Konkurrenzkampf um die Teilnahme am Verwertungsprozeß. Wer glaubt, daß technischer Fortschritt (neudeutsch: „Innovation“) zu mehr Arbeitsplätzen führt, hat nicht alle Tassen im Schrank. Technischer Fortschritt, der nicht zur Arbeitszeitverkürzung genutzt wird, führt zu mehr Arbeitslosigkeit. Die gesellschaftlichen Bereiche, in denen in der Tat Bedarf nach Arbeitskräften besteht (etwa: Altenpflege), sind noch am ehesten von Streichungen betroffen. Der gesamte soziale Bereich gilt als „unproduktiv“.

Der Einwand, der an dieser Stelle unvermeidlich zu hören ist, lautet: die Unternehmen, namentlich die kleinen und die „mittelständischen“, wären nie in der Lage, kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich zu verkraften, sie würden unweigerlich pleite gehen, und so würden die gesteigerten Lohnkosten Arbeitslosigkeit verursachen. Dazu nur kurz: Erstens: Gerade die kleinen Unternehmen werden durch geringe Massenkaufkraft, die Folge von Massenarbeitslosigkeit und Lohndiktat ist, in den Ruin getrieben. Zweitens: Die meisten Entlassungen erfolgen durch Großunternehmen, die mit verringerter Belegschaft krisenfest weiterexistieren. Drittens: Die Lohnkosten in den kleinen und mittleren Unternehmen werden erst dadurch zu einem existenzbedrohenden Faktor, daß sie der Konkurrenz durch die Konzerne ausgeliefert sind. Nicht die Löhne, sondern die Kapitalkonzentration treibt die kleinen und mittleren Unternehmen vom Markt, und diesem Mechanismus blieben sie ausgesetzt, wenn sie auch nur den halben Lohn zahlen würden. Denn ebenso wie die Massenarbeitslosigkeit ist auch die Pleite für die herrschende Klasse kein Unglück: Sie vernichtet unproduktives Kapital. Zu fragen, ob es volkswirtschaftlich erträglich ist, die Arbeitszeit zu verkürzen, ist etwa so sinnvoll, als würde man fragen, ob es volkswirtschaftlich erträglich ist, daß der November kälter ist als der August.

Doppelter Preis, dreifache Leistung

Deutschland (früher: der Westen, heute: von der Maas bis an die Oder) gilt als Hochlohnland. Das ist allerdings so neu nicht und war in der Vergangenheit kein Hindernis für die Maximierung der Profite. Das ist nicht verwunderlich. Das Kapital mußte nicht (und müßte auch heute nicht) am Hungertuch nagen, wenn es hohe Löhne zahlt. Denn hoch (im Vergleich zu „Niedriglohnländern“) sind die Löhne nur in absoluten Zahlen. Das heißt aber gar nichts. Würden Sie nicht auch gern den doppelten Preis zahlen, wenn Sie die dreifache Gegenleistung dafür erhalten? Für das Kapital sind die Lohnstückkosten entscheidend, und die sind in dem Hochlohnland viel niedriger als in jedem Niedriglohnland. Und die Lohnquote ist in den letzten Jahrzehnten permanent gesunken.

In Zeiten, in denen lamentiert wird, daß „alles bergab geht“ und „hilflose Politiker das Land verrotten lassen“ (Arnulf Baring), Deutschland „am Abgrund“ sich befinde (FAZ) bzw. „vor dem Infarkt“ (Spiegel), ist „das Land“ so reich wie nie zuvor, mit einem Bruttoinlandsprodukt, das Jahr um Jahr traumhafte 2 Billionen Euro überschreitet.

Der Lohn ist die Hauptfrage in der Klassensauseinandersetzung. Damit ist nicht nur der Lohn des Arbeiters gemeint, der nach Stunden bezahlt wird. Auch das Gehalt des Angestellten ist Lohn. Lohn ist auch nicht allein das Geld, das früher wöchentlich in der Lohntüte überreicht wurde und heute monatlich aufs Gehaltskonto überwiesen wird. Ein Teil des Lohns wird in monatlichen und jährlichen Raten (Monatslohn, Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld) ausbezahlt. Das ist der Nettoverdienst. Hinzu kommen die vom Arbeitgeber an das Finanzamt abzuführende Lohnsteuer und die an die gesetzlichen Sozialkassen abzuführenden Beiträge einschließlich des sogenannten Arbeitgeberanteils. Vom Standpunkt des Kapitals ist der Lohn die Gesamtheit der Aufwendungen, die für den Erwerb der Arbeitskraft des Lohnabhängigen zu leisten ist. Vom Standpunkt des Lohnabhängigen ist der Lohn die Gesamtheit der Zuwendungen, die ihm für seine Arbeitskraft geleistet wird. Das ist der Nettoverdienst, und darüber hinaus die durch seine Arbeit erworbene Anwartschaft auf Leistungen, die ihm im Fall von Arbeitsplatzverlust, Krankheit, Invalidität und Alter zur Verfügung stehen. Vom Standpunkt des Kapitals ist der Lohn eine Minderung des Profits. Darum muß er erkämpft werden. Die Höhe des Lohns ist einzig und allein Resultat des Lohnkampfes, sie richtet sich nach nichts anderem als nach dem Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit.

Markt als reine Lehre

Die wirtschaftliche und sozialpolitische Realität der Bundesrepublik war geprägt von: Kapitalherrschaft. Die Aufgabe der Politik war: Sicherung zu schaffen für die Verwertungsbedingungen des Kapitals, Rahmenbedingungen zu garantieren für die Maximierung der Profite. Die wirtschaftliche und sozialpolitische Realität der Bundesrepublik war außerdem geprägt vom Klassenkompromiß: Tarifrecht, Mitbestimmungsgesetz, Streikrecht, legale Gewerkschaften, Schutzrechte und Sozialversicherung. Das sind lauter Dinge, die dem Kapital ein Dorn im Auge sind. Das Kapital hat in den sauren Apfel gebissen, denn das, was man den „sozialen Frieden“ nennt, war für das Kapital kein schlechtes Geschäft. All diese Zugeständnisse, die von der reinen Lehre des Marktes abweichen, waren auch mit einem Stillhalten der Arbeiterbewegung verbunden. Mit all diesen Zugeständnissen hat sich das Kapital die Loyalität der Arbeiterklasse erkauft. Es liegt nicht im Wesen sozialer Rechte, daß damit Stillhalten und Loyalität gegenüber dem Kapital verbunden sein muß. Wohl aber liegt das im Wesen der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die auf fatale Weise sozialdemokratisch dominiert ist. Hingegen liegt es im Wesen des Kapitals, alle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse bei bester Gelegenheit rückgängig machen zu wollen. Von den Bestandteilen des Klassenkompromisses wurde zuerst die Mitbestimmung angegriffen. Die anderen Bestandteile sind jetzt dran: Tarifautonomie, Schutzrechte und Sozialversicherung sollen „reformiert“, das heißt im Grunde: aufgelöst werden. Wenn jetzt schon hier und da laut darüber nachgedacht wird, Warnstreiks zu verbieten, dann wird im Grunde das Streikrecht in Frage gestellt. Wer das Streikrecht in Frage stellt, greift die Koalitionsfreiheit, die Legalität gewerkschaftlicher Interessenvertretung an. Wer glaubt, das gesamte Programm der Verelendung und Entrechtung liege bereits auf dem Tisch, irrt. Wer es hinnimmt (oder mit einstimmt), wenn Gewerkschaften als „unflexible Reformbremsen“ diffamiert oder auch nur als irgendein Interessenverband unter vielen mißdeutet werden, leistet einen Beitrag zur Entrechtung der arbeitenden Menschen.

Die Ideologie der „sozialen Marktwirtschaft“, die den Klassenkompromiß als Bedingung für die Kapitalverwertung hinnahm, ist obsolet. An ihre Stelle ist die Ideologie des Neoliberalismus getreten, die Rechtfertigung für unbeschränkte Autonomie der Besitzer von Geld- und Produtivvermögen, der schrankenlose Kapitalismus, der sich von den Fesseln der Demokratie befreit.

Von unnützen Essern und: Wer ist der größte Sauhund?

Die Propagandisten des Neoliberalismus sind eifrig damit beschäftigt, den Wohlfahrtstaat in Verruf zu bringen, seine Nutznießer schaffen eine Situation, in der es nicht mehr zulässig ist, daß Menschen, die keinen Mehrwert schaffen, vom Mehrwert mitessen. Sie belasten die Profitrate: Kranke, Arbeitslose, Behinderte, Alte. Der Wohlfahrtstaat, so sagen sie alle, sei „nicht mehr finanzierbar“. Ihr Konzept ist die Entsolidarisierung, ihre Methode die Neidkampagne: gegen Beamte, gegen Studenten, gegen Ausländer, gegen Raucher, gegen Kinderlose, gegen Politiker, gegen Gewerkschaftsfunktionäre, gegen Rentner, überhaupt: gegen alle anderen. Ihr Heilsversprechen ist die „Selbstverantwortung“. In der Altersvorsorge soll man jetzt für sich selber sorgen - als wäre bisher die Rente ein Geschenk gewesen. An den Krankheitskosten soll man sich jetzt „selbst beteiligen“ - als wäre bisher die Krankenkasse vom reichen Onkel spendiert worden. „Selbstbeteiligung“ heißt: nochmal bezahlen. „Selbstverantwortung“ heißt: Sieh zu, wo du bleibst. Kranke, Alte, Behinderte, Arbeitslose werden nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als „Lohnnebenkosten“. Wo Menschen überflüssig sind, wird das Elend hinnehmbar. Liberalismus bedeutete vor 200 Jahren mal: Befreiung des Einzelnen, heute nur noch: Entfesselung des Kapitals. Der Wahlspruch lautet: Reichtum muß sich wieder lohnen.

Das Rentenniveau - so wird behauptet - sei in Deutschland so hoch wie nirgendwo sonst. Den Rentnern - so wird behauptet - gehe es heute so gut wie nie zuvor. Mit solchen Behauptungen (Behauptungen!) hätte man früher in Wahlkämpfen zu punkten versucht: Seht her, wie gut es bei uns den Rentnern geht! Heute wird der Wohlstand der Rentner als gesellschaftlicher Mißstand angeprangert, den es zu beheben gilt. Daß die Lebenserwartung größer geworden ist, ist nicht etwa ein segensreicher Fortschritt, sondern ein echtes Problem, das man sich gern elegant vom Halse schaffen möchte. Der Vorsitzende der Jungen Union Philip Mißfelder, dieser Scheißkerl, hat sich dazu geäußert. (Ich werde ihn nicht zitieren. Das Papier, auf dem schon sein Name steht, soll nicht auch noch durch die Wiedergabe seiner Auswürfe beschmutzt werden). Er hat Empörung und Wut auf sich gezogen. Das ist nicht zu seinem Nachteil, denn er beteiligt sich an dem Wettbewerb, wer der größte Sauhund ist (den wird er verlieren, solange Merz und Westerwelle im Rennen sind und Kohl noch mitgewertet wird). Solange feststeht, daß Wut und Empörung folgenlos bleiben, wirken Wut und Empörung einschüchternd. Die aggressiven Ausfälle Mießfelders waren kein Mißgeschick, sondern trafen den Ton, mit dem mit solchen Leuten umgegangen wird, die von irgendwem oder irgendwas abhängig sind. Wer Rente oder Stütze bezieht, muß sich daran gewöhnen, angeschnauzt zu werden. Das ist wichtig für das Gemeinschaftsgefühl. Wenn etwa die Katrin Göring-Eckhardt von den Grünen sagt, daß auch von den Alten ein Beitrag zur Stabilisierung blablabla geleistet werden muß, dann sagt sie ja dasselbe. Sie drückt es nur etwas geschwollener aus. Vergleiche: die Hetze gegen Ausländer, die mal in ordinäre, mal in vornehme Sprüche gekleidet wird (Stammtisch für die einen, FAZ für die anderen). Die vornehmen Arschlöcher verachten die ordinären Arschlöcher nur dafür, daß sie das, was sie selber meinen, so unvornehm ausdrücken.

Nullrunde gefällig?

Die Altersrente drückt die Profitrate. Den Leuten wird aber erzählt, daß die Rente das Einkommen der Jungen drückt. Die Leute, für die die Erhöhung der Profitrate die Frage aller Fragen ist, hören es gern, wenn die Jungen darüber schimpfen, daß die Alten zu viel Geld bekommen. Die Jungen, die darüber schimpfen, daß die Alten zu viel Geld bekommen, setzen sich dafür ein, daß sie selbst im Alter weniger Geld bekommen. Von den „Nullrunden“ bei der Rente in diesem und im nächsten Jahr sind auch die betroffen, die erst in 50 Jahren in Rente gehen. Bei zwei „Nullrunden“ wird die Rente in 50 Jahren erst zum 48. Mal erhöht (aber bei zwei Nullrunden wird es nicht bleiben). Das Verarmungsprogramm trifft nicht nur die heutigen Rentner, sondern erst recht die Rentner, die jetzt noch gar nicht geboren sind. Solche „Einschnitte“ sind erheblich. Wenn man schon zu erheblichen Einschnitten bereit ist, wie wäre es dann mit folgendem Vorschlag zur Stabilisierung der Sozialversicherung: Nicht nur das Einkommen der Arbeitnehmer wird herangezogen, sondern jedes Einkommen, und zwar ohne Beitragsbemessungsgrenze.

Norbert Blüm (CDU) findet das ungerecht. Beiträge, die über die Beitragsbemessungsgrenze hinausgingen, stünden in keinem realen Verhältnis zu den Leistungen, die von der Sozialversicherung zu beanspruchen wären. Ach!

Das mag ja sein. Aber warum gibt es denn dann keine Obergrenze bei der Einkommensteuer? Kein Mensch kann sagen: Ich zahle so viel Steuern, dafür will ich, daß in der Schule drei Lehrer eingestellt werden müssen, die nur für mein Kind da sind. Kein Mensch kann sagen: Ich zahle so viel Steuern, dafür will ich eine Autobahn ganz für mich alleine haben.

Aber aus diesem Vorschlag wird nichts. Denn die „dringend notwendigen Reformen“ sind nicht dazu da, die Sozialversicherung zu stabilisieren, sondern, die Last der Alters- und Krankenversorgung von der Profitrate zu nehmen. Darum wird auch die Vermögenssteuer nicht wieder eingeführt und der Spitzensteuersatz nicht erhöht. Stattdessen holt man das Geld bei den Rentnern, die haben's ja!

Hilf dir selbst, dann hilft dir niemand

Damit die Kranken, die Arbeitslosen und die Rentner nicht mehr auf die Profitrate drücken (vulgo: den Reichen auf der Tasche liegen), wird das Risiko der Krankheit, der Arbeitslosigkeit, der Invalidität und des Alters privatisiert. Versorgung der Kranken, Arbeitslosen und Rentner wird nicht mehr als gesamtgesellschaftliche Aufgabe akzeptiert. Die Neoliberalen preisen die Verelendung durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität und Alter in den höchsten Tönen. Sie nennen das „Selbstverantwortung“. Ihr Credo: „Deregulieren, Privatisieren, Steuern senken“. Ihr Rezept: Subventionen abschaffen. Wieso Subventionen abschaffen? Gibt es dafür einen Grund? Hat das einen Sinn? Egal! Subventionen müssen abgeschafft werden, weil sie nun mal daran glauben. Ihr Argument: Subventionen kosten Geld. Ach! Straßen kosten auch Geld. Schulen kosten auch Geld. Straßen abschaffen? Schulen abschaffen? Aber nichtdoch: Schulgeld einführen! (Das kommt auch noch, wetten?). „Selbstverantwortung“ heißt auf deutsch: Sieh zu, wo du bleibst. Deregulieren heißt auf deutsch: Planlos draufloswirtschaften. „Privatisierung“ heißt, daß alles so funktionieren soll wie zur Zeit in Deutschland die Eisenbahn.

So sind also all die liberal-konservativen Konzepte, zu deren Verwirklichung es noch nicht einmal einer liberal-konservativen Regierung bedarf, nicht nur gekennzeichnet durch ein menschenverachtendes Kalkül, sondern auch durch ebenso menschenverachtende ideologische Verblendung.

…und die Kinder anderer Leute

Zum Aberglauben der Herrschenden gehört der sogenannte „demographische Faktor“. Die Renten der Zukunft - so wird behauptet - seien deshalb nicht finanzierbar, weil es so viele Alte gibt und so wenig Kinder. Die Lebenserwartung steigt, die Geburtenrate sinkt. Darum kommen auf einen Rentner immer weniger Beitragszahler. Die Lösung: Mehr Kinder müssen geboren werden. Die Bösen, auf die mit dem Finger gezeigt wird: die Kinderlosen. Frau Merkel (hach! schon diesen Namen zu erwähnen kotzt mich an!) Frau Merkel findet, die Kinderlosen belasten die Rentenkassen und müssen darum mit Sonderbeiträgen belastet werden.

Was für ein Quatsch! Es gibt keinen „Demographischen Faktor“. Bei der Finanzierung der Sozialsysteme spielt die Demographie überhaupt keine Rolle.

Es stimmt, eines Tages werden anderer Leuts Kinder meine Rente bezahlen müssen. Aber belaste ich dadurch die Sozialkassen? Zunächst einmal entlaste ich sie. Denn bevor anderer Leuts Kinder meine Rente bezahlen, habe ich durch meinen höheren Steuersatz die Schule für anderer Leuts Kinder mitbezahlt, habe ich durch meinen Krankenkassenbeitrag die Krankheitskosten für die mitversicherten Kinder anderer Leute, die denselben Beitragssatz bezahlen wie ich, mitbezahlt. Ich tu das gern. Ich bezahle gern die Schule und den Kinderarzt für die Kinder anderer Leute, denn das ist gerecht, sozial und vernünftig. Aber ich werde mir auch gern meine Rente von den Beiträgen anderer Leuts Kinder bezahlen lassen, denn das ist nicht weniger gerecht, sozial und vernünftig. Außerdem ist ja noch gar nicht gesagt, ob die Kinder anderer Leute, deren Ausbildung und deren Kinderarzt ich mitbezahle, jemals Beiträge in die Sozialkassen einbezahlen werden. „Die Kinder, die heute geboren werden, sind die Beitragszahler von morgen.“ Wirklich?

Zunächst einmal sind es Kinder, denen die Fürsorge und die Zuwendung der Gesellschaft zuteilwerden muß, ohne daß dies von irgendeinem zukünftigen Nutzen abhängig gemacht werden darf!

Wenn unter den Bedingungen der sogenannten Marktwirtschaft die Menschen, die vor 20, 30, 40, 50 Jahren geboren wurden, nicht genügend mit Jobs versorgt werden können, - woher dann die Zuversicht, daß den Menschen, die heute geboren werden, in 20, 30, 40, 50 Jahren ein Job zur Verfügung steht? Durch eine Steigerung der Geburtenrate wird in 20, 30, 40, 50 Jahren nicht die Zahl der Beitragszahler erhöht, sondern eher die Zahl der Arbeitslosen.

Es stimmt, früher kamen auf einen Rentner viele Beitragszahler, heute weniger, und in Zukunft sind es noch weniger. Aber das spielt gar keine Rolle. Mit den vielen Beitragszahlern war es früher schwerer als heute mit wenigen, die Renten zu finanzieren. Wo vor 30 Jahren im Walzwerk in einer Schicht 80 Leute gearbeitet haben, sind es heute 15, und die leisten mehr als früher die 80. Bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme kommt es nicht auf die Zahl der Beitragszahler an, sondern auf die gesamte wirtschaftliche Leistung. Wenn der durch Produktivitätssteigerung gewonnene Mehrwert nicht genutzt wird, um die sozialen Leistungen zu sichern, dann ist das und nur das die Ursache für die Finanzierungskrise der Sozialleistungen.

Das Hineinhalluzinieren eines sogenannten Demographischen Faktors in die soziale Auseinandersetzung ist Zeichen ideologischer Verblendung. Nach der reinen Lehre des Konservatismus ist das Ideal die Familie. Der fleißige Vater, die treusorgende Mutter, die wohlerzogenen Kinder - als Grundlage für Nation & Vaterland und nach Gottes Gebot. In allem, was davon abweicht - Scheidungen, Ehen, die kinderlos bleiben, unverheiratete Paare, Lesben, Schwule, Kommunen, Alleinerziehende - bahnt sich der Untergang an, das Chaos. Doch hier befinden sich die Konservativen (die auch noch die Handwerksordnung und die Feiertage verteidigen) im Rückzug und ebnen den Weg den Neoliberalen. Deren Ideal sind nicht Familie und Vaterland, sondern der leistungsbereite Egoist, der für nichts verantwortlich ist.

Ihnen muß man sich widersetzen, den einen wie den anderen. Wenn man kann, soll man sie stürzen. Wenn man sie nicht stürzen kann, muß man sich ihnen verweigern.

Nachtrag:  Die (Alters-)Armut ist weiblich

Die „Reformen“ des Rentensystems haben für die gegenwärtigen und zukünftigen Rentner verheerende Folgen. Die Renten werden weniger als bisher vor Armut im Alter schützen. Bei den Renten werden Frauen überproportional benachteiligt, und zwar nicht nur bei den Witwenrenten, sondern auch bei Renten, die auf eigenen Beitragsleistungen beruhen.

Da sich die Renten nicht an den Bedürfnissen, sondern am Arbeitseinkommen orientieren, wirkt sich das relativ geringe Arbeitseinkommen berufstätiger Frauen auf die Höhe der Renten aus.

Zwar ist das Arbeitseinkommen von Frauen zwischen 1995 und 2003 schneller gestiegen als das der Männer. Bei Frauen lag der Einkommenszuwachs in diesem Zeitraum bei 24 Prozent, bei Männern bei 19 Prozent. Aber dadurch schrumpft der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen nur minimal. Für Oktober 2001 ermittelte das Statistische Bundesamt, daß das Arbeitseinkommen der Männer das der Frauen um mehr als 20 Prozent übertraf.

Im Angestelltenbereich gehören Geschäftsführer und Filialleiter zu den Spitzenverdienern. Männer in dieser Position verdienten 2001 im Schnitt 5765 Euro, Frauen in vergleichbarer Position nur 3939 Euro. Am unteren Ende der Einkommensskala stehen Kassierer und Verkäufer. Während ein Kassierer im Schnitt 2604 Euro verdiente, kam eine Kassiererin auf 1956 Euro. Ein Verkäufer verdiente 2602 Euro, eine Verkäuferin nur 1764 Euro.

Die Rente richtet sich aber nicht nur nach der Beitragshöhe, sondern auch nach der Beitragszeit. Bei Erreichen des Renteneintrittsalters können die meisten Frauen wesentlich kürzere Beitragszeiten nachweisen als Männer.

In Kleinbetrieben mit relativ geringem Lohnniveau und in „schlecht bezahlenden Wirtschaftszweigen“ ist der Frauenanteil relativ groß. In der statistischen „Leistungsgruppe eins“ (Leitende Angestellte) sind viermal so viel Männer wie Frauen tätig. Hingegen haben nur 3 Prozent der berufstätigen Männer, aber 28 Prozent der berufstätigen Frauen einen Teilzeitjob.

Seit der Erhebung im Jahre 2001 hat sich der Trend fortgesetzt. Die Zahl der Mini-Jobs (weniger als 400 Euro Monatsverdienst) hat sich in den letzten zwei Jahren von 1,6 Millionen auf 5,8 Millionen erhöht. Diese von der Regierung als große Job-Offensive gefeierte Entwicklung erhöht die Tendenz zur Altersarmut der Frauen, die die meisten Minijobs und ungeschützten Arbeitsverhältnisse ausfüllen.

Die Spitzenverbände der Wirtschaft haben mit der Bundesregierung Vereinbarungen zur Gleichstellung von Frauen getroffen, aber die Wirkung bleibt aus. Der Deutsche Gewerkschaftsbund stellte fest, daß nur etwa 6 Prozent der Betriebe Schritte zu größerer Chancengleichheit unterstützen. „Frauen sind immer noch bei der Bezahlung und der Arbeitszeit diskriminiert“, meint die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer.

Die Diskriminierung ist anhand der Rentenberechnung deutlich zu erkennen. 10,1 Prozent der Männer im Rentenalter beziehen eine Rente über 1500 Euro, aber nur 0,3 Prozent der Frauen. Mit weniger als 600 Euro Rente müssen 1,7 % der Männer, aber 59,2 Prozent der Frauen auskommen.

                                                                                                                            Helmut Loeven, Duisburg

Zur Geschichte des Sozialismus

Kurt Gossweiler: Geheimmission des BRD-Vizekanzlers beim DDR-Vize-Verteidigungsminister 1955 und 1956

Was wollte der Vizekanzler Schäffer bei seinen Geheimmissionen 1955 und 1956 beim DDR-Vize-Verteidigungsminister Vincenz Müller?

Vorbemerkung der Redaktion: Wir bringen hier eine aus aktuellem Anlass verfasste Einordnung der Vorgänge 1955 und 1956, die Kurt Gossweiler am 1. 12. 2003 abgeschlossen hat – und danach seine Tagebuchaufzeichnungen über die fragliche Zeit. Es handelt sich dabei um einen Vorabdruck aus dem zweiten Teil der „Taubenfuß-Chronik“, der in wenigen Monaten erscheinen wird. Wir danken Kurt Gossweiler sehr herzlich für die Überlassung des Materials und weisen darauf hin, dass der zweite Teil der „Taubenfuß-Chronik“ mit Sicherheit eine lohnende Anschaffung sein wird. (D. Red.)

Zwei Bücher und ein Fernsehfilm haben eine fast ein halbes Jahrhundert zurückliegende und den meisten, die von ihr damals aus den Zeitungen erfuhren, sicherlich längst aus dem Bewusstsein entschwundene Episode aus dem immerwährenden Kampf der BRD um die Liquidierung der DDR aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückgeholt: Die geheime Mission des BRD-Vizekanzlers und Finanzministers Fritz Schäffer, der zweimal, 1955 und 1956, in die Hauptstadt der DDR reiste, um sich dort mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR, Vincenz Müller, und dem Sowjetbotschafter in der DDR, Puschkin, zu treffen.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst 1958 davon, dass ein Regierungsmitglied der Bundesregierung heimlich zu Besprechungen in die DDR gereist sei, nämlich, als dies Walter Ulbricht in einer Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland bekannt gab. Offiziell wurde als Grund für diese Reise nur verlautbart, Schäffer habe der Wunsch getrieben, etwas zu tun, um die endgültige Spaltung Deutschlands zu verhindern und Wege zu einer Konföderation beider deutscher Staaten zu erkunden.

Als ich das damals las, war ich mir ziemlich sicher, dass dies nicht das wahre Motiv eines Finanzministers der Adenauer-Regierung gewesen sein konnte: was aus dieser Richtung kam, konnte nur auf die Unterminierung der DDR zielen. Deshalb schaute ich mir etwas genauer an, in welchem politischen Umfeld diese Geheimmissionen unternommen worden waren und kam zu dem Ergebnis, der wirkliche Auftrag und die wirkliche Absicht Schäffers könnte nur gewesen sein, zu erkunden, ob es in der Führung der DDR nicht Kräfte gab, mit deren Hilfe Walter Ulbricht gestürzt werden könnte, und des weiteren auch zu erkunden, wie sich die neue sowjetische Führung zu einem solchen Unternehmen stellen würde.

Dieses Ergebnis meiner Überlegungen vertraute ich damals meinem politischen Tagebuch [9]  an, das zu führen ich Ende 1956 begonnen hatte, als ich – aufgrund der blutigen konter-revolutionären Ereignisse in Ungarn und der mir unerklärlichen Haltung der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen, die tagelang untätig zusahen, wie die entfesselten weißen Bestien die Kommunisten jagten und ermordeten, wie eins 1919 in den Tagen der siegreichen Konterrevolution, - heftig daran zu zweifeln begann, dass an der Spitze der KPdSU noch immer nur Leute standen, denen man voll vertrauen konnte.

Eine Bestätigung meiner zur Überzeugung gewordenen Vermutung erhielt ich vor zwei Jahren von einer ganz unerwarteten Seite: In der „jungen Welt“ erschien im Januar 2001 aus der Feder des in der DDR zum Historiker ausgebildeten Professors Siegfried Prokop die Besprechung des Buches eines westdeutschen Autors Peter Joachim Lapp: „Ulbrichts Helfer. Wehrmachtsoffiziere im Dienste der DDR“, in dem auch die militärische Laufbahn des Generales Vincenz von Müller dargestellt und dabei auch dessen Geheimtreffen mit Schäffer erwähnt wurde. Prokop beschäftigt sich in seinem Artikel in der Hauptsache mit diesem Vorgang und dessen Darstellung und Bewertung durch Lapp.

Dabei schreibt Prokop: „Ganz nebenbei lässt Prokop den Leser nun wissen, dass in den Gesprächen Müller gegenüber Schäffer weitgehende politische Änderungen in der DDR für die nahe Zukunft in Aussicht gestellt habe. Auf sowjetisches Betreiben hin werde die Nationale Volksarmee in der DDR die Macht übernehmen, Ulbricht verhaften und die Regierung absetzen, worüber auch schon Franz J. Strauß in seinen Memoiren berichtet hatte. Sowjetische Kreise seien an einem Österreich-Status für die DDR (das ist sicherlich ein Fehler: es müsste hier: Deutschland heißen! K.G.) interessiert gewesen und hätten deshalb Kontakte zu Bonn gewünscht. Am 20. Oktober 1956 kam es zu einem Geheimgespräch Schäffers mit dem Ostberliner Sowjetbotschafter Georgi M. Puschkin, an dem Müller teilnahm.“

Lapp hat also in den DDR-Akten den dokumentarischen Beweis dafür gefunden, dass „auf sowjetisches Betreiben hin“ (und das war 1955/56 Chruschtschow, und nicht mehr, wie 1953, Berija!) Walter Ulbricht verhaftet und die DDR-Regierung gestürzt werden sollte, und dass Vincenz Müller zu denen gehörte, die dazu ausersehen und bereit waren, diesen konterrevolutionären Staatsstreich auszuführen. Da dies der DDR-Führung bekannt geworden war, kann deren – von Prokop in seiner Rezension berichteten – Reaktion eigentlich nur durch ihre Zurückhaltung überraschen: V. Müller wurde im Dezember 1957 vom Dienst suspendiert und am 28. Februar 1958 pensioniert. Die Vorwürfe gegen ihn beschränkten sich darauf, er habe ZK-Beschlüsse verletzt, gegen die führende Rolle der SED in der NVA opponiert, seine parteiliche und dienstliche Stellung in der Nationalen Volksarmee missbraucht, er habe eine eigene Politik betrieben und auf Untergebene zersetzerisch gewirkt.

Ich bin meinem ehemaligen Kollegen und Genossen an der Humboldt-Universität, Professor Siegfried Prokop, ja zu Dank dafür verpflichtet, dass er mir mit seiner Besprechung des Lapp-Buches zur Kenntnis dieser dokumentarischen Bestätigung meiner Annahme von vor 50 Jahren verholfen hat. Aber ich kann zugleich nicht umhin, mich über seine sonderbare Reaktion auf die Enthüllung der konterrevolutionären Aktivitäten des Vincenz Müller zu wundern. Denn seine Kritik gilt nicht etwa dem Vincenz Müller wegen dessen Verrat an der DDR, sondern dem Buchautor Peter Joachim Lapp, weil der diesen Verrat nicht positiv gewürdigt hat. Prokop schreibt nämlich:

„Angesichts dieser Vorwürfe der SED-Führung gegen Müller verwundert Lapps Buchtitel `Ulbrichts Helfer` einigermaßen. ... 1956 haben Vincenz Müller und seine Mitstreiter immerhin einen couragierten Versuch unternommen, aus der Logik des Kalten Krieges auszubrechen, was heute gewürdigt werden sollte.“ Für einen mit den BRD-Oberen abgesprochenen Staatsstreich gegen die DDR die euphemistische Umschreibung „Ausbruch aus der Logik des Kalten Krieges“ zu erfinden, das ist geradezu für die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz verdächtig!

Ich war der Meinung, eine solche Stellungnahme in der „jungen Welt“ sollte nicht unwidersprochen bleiben und sandte der Zeitung deshalb eine Leserzuschrift, in der ich u.a. schrieb: „Ob gerade die `junge Welt`  das richtige Organ ist, eine solche `Würdigung` für `couragierte Versuche` - wie sie schließlich unter Gorbatschows Regie 1989/90 zum Ziel führten – zu präsentieren, erscheint mir zweifelhaft. Aber darum geht es mir jetzt nicht. Vielmehr darum, dass Prokops Darstellung und wohl auch die von P.J. Lapp die Hintergründe und Zusammenhänge dieser Schäffer-Mission im Halb-Dunkel lassen.“ Nach einem Hinweis auf meine Tagebuch-Aufzeichnungen von 1958 schrieb ich weiter: „Prokops Rezension des Buches von Lapp zeigt mir, dass ich damals – angewiesen nur auf die Presse – mehr an Hintergründen und Zusammenhängen beschrieben habe, als Prokops Rezension hergibt. Ich bin daher sicher, dass, nachdem diese damaligen Vorgänge in der „jungen Welt“ durch Prokops Buchbesprechung großes Interesse gefunden haben und der Wunsch, noch mehr darüber zu erfahren, geweckt wurde, diese meine damalige Niederschrift eine sehr willkommene Ergänzung zu Prokops Rezension darstellen würde. Ich schicke Euch deshalb eine Kopie dieser Niederschrift.“ Seitens der „jungen Welt“ gab es auf dieses Angebot keine Reaktion.

Dagegen fiel Prokops Kritik bei Lapp auf fruchtbaren Boden. Er schrieb nämlich ein neues Buch, diesmal nur über Vincenz Müller, und diesmal wurde der nicht als „Ulbrichts Helfer“ vorgestellt, was ja fas das Schlimmste von allem Schlimmen ist – eine Steigerung zum Schlimmsten könnte nur noch der Ausdruck „Stalins Helfer“ sein – sondern als „General bei Hitler und Ulbricht“. Und dieses Buch diente auch als Grundlage für einen Fernsehfilm gleichen Titels, bei dem Prokop sogar als Sachverständiger mitwirken durfte. Dieser Film wurde am 25. November 2003 im RBB Berlin ab 21.15 Uhr gesendet. Das Bild von Vincenz Müller als eines Verschwörers gegen die DDR wird darin durch das Zeugnis abgerundet, dass Müller bis zu seinem Tode die Verbindung zum West-Geheimdienst nicht abreißen ließ.

In diesem Film wirkte auch Markus Wolf als Zeitzeuge mit. Was er dabei mitteilte, war nur ein Bruchteil dessen, was schon in seinem Buch „Spionagechef im geheimen Krieg“ zu lesen war, widmete er dort doch der Schäffer-Mission nicht weniger als acht Seiten (S. 164-172). Im Buch teilt Wolf mit, dass Schäffers Geheimreise in den Osten ihm selbst von einem westdeutschen Informanten angekündigt worden war, und dass Schäffer am Bahnhof Marx-Engels-Platz von zwei Beamten seines Dienstes empfangen wurde. Alles weitere, was Markus Wolf in seinem Buch über die Mission Schäffers in Berlin erzählt, steht in scharfem Gegensatz zu dem, was Lapp in seinem Buch und in dem Film mitteilt. Bei Markus Wolf war alles ganz harmlos: Schäffer wollte nur mit Vertretern der Sowjetunion und der DDR über seine Konföderationspläne sprechen. Und Wolf dann wörtlich: „Der vorgeschobene Anlass für Schäffers Ausflug in den Osten war ein Besuch bei General a.D. Vincenz Müller, mit dessen Familie der Vizekanzler befreundet war.“

Im Film sagte er als Zeitzeuge, die Abstimmung der Schäffer-Mission habe in seinen Händen gelegen. „Die Gespräche Müller – Schäffer wurden von uns aufgenommen.“ Aber entweder wurden nicht alle Gespräche aufgenommen, oder aber Markus Wolf sagt in seinem Buch die Unwahrheit. Denn das Gespräch, in dem Müller dem Schäffer den geplanten Staatsstreich mitteilte, wovon Lapp sowohl in seinem Buch als auch im Film berichtet, wird in Wolfs Buch nicht nur nicht erwähnt, sondern als „abenteuerliche Version“ abgetan. Bei Wolf (S. 171/2) ist zu lesen: „Eine abenteuerliche Version der Schäffer-Initiative gibt Franz Josef Strauß in seinen Erinnerungen zum besten. Er behauptet, der Vizekanzler habe die Verbindung zu General Müller gesucht, weil der ihm `weitreichende Andeutungen` über einen Putsch der NVA gemacht habe, `bei dem Ulbricht verhaftet und die ganze Regierung abgesetzt` werde. Strauß veröffentlichte diesen Unsinn wider besseres Wissen. Wir wussten nicht nur von Schäffer, dass Strauß in die Konföderationspläne eingeweiht war. Unsere Kontakte zu einem seiner engsten Vertrauten, dem Verleger und Chefredakteur der Passauer Neuen Presse, Hans Kapfinger, bestätigten die Mitwisserschaft von Strauß. Im übrigen waren alle Gespräche zwischen Schäffer und Müller unter unserer Kontrolle, denn der General kooperierte in dieser Sache aus politischer Überzeugung mit meinem Dienst.(Unterstreichung von mir, K.G.)

Wenn alle Gespräche unter seiner Kontrolle waren, dann auch das Gespräch, in dem Müller den Besucher über den geplanten Putsch der NVA gegen Ulbricht und die DDR-Regierung berichtete und über das Lapp in seinen Büchern und im Film informiert. Und dann hat davon auch Markus Wolf gewusst. Dann hat er aber nicht nur davon gewusst, sondern dann war er an der Verschwörung beteiligt! So ganz ungewöhnlich wäre das übrigens nicht: Schließlich sollte der Staatsstreich ja „auf sowjetische Anregung“ erfolgen, und das hieß ja wohl, auf Anregung auch des sowjetischen Geheimdienstes, dem ja auch Markus Wolf unterstand. Und das hieße letztlich auch nur, dass Markus Wolf schon 1955/56 die Generalprobe für seine Rolle 1989/90 absolviert hätte. Nachdenklich muss auf jeden Fall stimmen, dass Markus Wolf, obwohl er Lapps Bericht im Buch und im Film über die Erklärung Müllers gegenüber Schäffer vom bevorstehenden Streich gegen Ulbricht und die DDR-Regierung kannte, im Film nicht die Gelegenheit wahrnahm, seine im Buche so entschieden vorgetragene Zurückweisung dieses Berichtes als eine „unsinnige, abenteuerliche Version“ zu wiederholen.

Aber sowohl in seinem Buche als auch im Film wirft Wolf Walter Ulbricht vor, der habe die vereinbarte Vertraulichkeit der Gespräche gebrochen; er schreibt (S. 171): „Nun aber – (immerhin erst im Oktober 1958) – brach Ulbricht um eines schnellen Propagandaerfolges willen die Zusage strikter Vertraulichkeit, die ich dem Vizekanzler hatte geben lassen. Ulbricht erklärte, in seinem Plan ((der deutsch-deutschen Konföderation) habe er doch nur die Vorschläge eines Bonner Regierungsmitgliedes aufgegriffen.“

Ja, das war nun einmal die Art Walter Ulbrichts, die Leute, die ihm und der DDR eine Grube gegraben hatten, am Ende selbst in eben diese Grube purzeln zu lassen!

Und im übrigen: wohl aus leicht zu erratenden Gründen hatte Markus Wolf Walter Ulbricht, um dessen Sturz es bei den Gesprächen gegangen war, offenbar nichts davon berichtet, dass er, Wolf, dem Schäffer strikte Vertraulichkeit über die mit ihm geführten Gespräche zugesagt hatte. Wolfs Vorwurf an die Adresse Ulbrichts bestätigt in ihrer Haltlosigkeit nur noch einmal, wie sehr ihm der zuwider war.

Nach dieser Übersicht über die aktuellen Informationen zu den Geheimgesprächen des BRD-Vizekanzlers Schäffer mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR in den Jahren 1955/56 lasse ich nun meine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1958 zu dem gleichen Gegenstand folgen:

Nun zu einigen Ereignissen der letzten Jahre, die scheinbar mit Chrustschow gar nichts zu tun haben, die jedoch auch ins Register seiner Niederlagen gehören. Es handelt sich dabei um die streng geheim gehaltene Mission des damaligen Finanzministers, jetzigen Justizministers der BRD, Fritz Schäffer, in die Hauptstadt der DDR in den Jahren 1955 und 1956, deren Bekanntgabe durch Walter Ulbricht in Bonn große Verwirrung auslöste. Also:

 

Zu den „Ostkontakten“ des Bundesministers Fritz Schäffer [10] :

Es begann alles scheinbar ganz harmlos:

18. Oktober 1958: Auf einer Tagung des Nationalrates der Nationalen Front des demokratischen Deutschland zum Thema: „Für Friedensvertrag, Konföderation und atomwaffenfreie Zone!“ lässt Walter Ulbricht wie nebenbei die Bemerkung fallen, der Vorschlag, zur friedlichen Wiedervereinigung über eine Konföderation der beiden deutschen Staaten zu kommen, stamme ursprünglich von einem CDU-Minister der Bonner Regierung, der ihn in vertraulichen Gesprächen im Oktober 1956 und im Juli 1957 mit Vertretern der DDR gemacht habe.

Am 22. Oktober 1958 druckt die „Frankfurter Rundschau“ ein verlegenes Dementi ab: „Wie dpa meldet, stellte ein Regierungssprecher am Dienstag fest, der Bundesregierung sei `nicht bekannt, dass irgendein Bundesminister mit einem Vertreter der Pankower Regierung gesprochen hat`“ Dieses Dementi hielt jedoch nicht lange vor, denn Walter Ulbricht stieß am 10. November nach: auf einem Jugendforum in Leipzig wiederholte er, der Vorschlag der Konföderation sei in Gesprächen mit Regierungsvertretern der DDR von einem Minister der Bonner Regierung erörtert worden. Abschließend meinte Walter Ulbricht, er hoffe, der an den Gesprächen beteiligte Bonner Minister werde sich zu den Tatsachen äußern, sonst müssten es die Vertreter der DDR tun. Das wirkte. Schäffer blieb nichts anderes übrig, als wenigstens ein halb wahres, halb verschleiertes Teilgeständnis abzulegen. Er gab am 12. November zu, in „Ostberlin“ gewesen zu sein und dort ein Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Puschkin,  geführt zu haben, über das auch Bundeskanzler Adenauer informiert gewesen sei. Am 14. November 1958 half sein DDR-Gesprächspartner, Vincenz Müller, stellvertretender Verteidigungsminister der DDR, Schäffers Gedächtnis nach mit einem Interview, das an diesem Tage in der „Berliner Zeitung“ erschien und am 15. November im „Neuen Deutschland“ nachgedruckt wurde. Folgende Passagen aus diesem Nachdruck sind besonders bemerkenswert:

„Berlin (ND). Das Aufsehen, das in der westdeutschen Öffentlichkeit das am Mittwoch von Bundesjustizminister Schäffer abgegebene Teilgeständnis ausgelöst hat, wurde am Freitag durch ein Interview der „Berliner Zeitung“ mit dem ehemaligen Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, Abgeordneten der Volkskammer und Mitglied des Nationalrats der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Vincenz Müller, weiter gesteigert. Durch das Interview wird eindeutig festgestellt, dass es sich bei Schäffers Erklärung nur um ein Teilgeständnis handelt. Schäffer hatte zugegeben, im demokratischen Berlin eine Besprechung mit dem damaligen sowjetischen Botschafter geführt zu haben, leugnete aber Verhandlungen, die er mit Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik geführt hatte. Das Interview hat folgenden Wortlaut:

Frage: Was sagen Sie zu der Behauptung der Westpresse, dass keine Verhandlungen von Vertretern der DDR mit Herrn Minister Dr. Schäffer stattgefunden haben?

Antwort: Doch, es sind solche Verhandlungen geführt worden. Herr Dr. Schäffer äußerte den Wunsch, mit einem Vertreter der DDR Beratungen zu führen, um einen Fortschritt in der Wiedervereinigung zu erreichen. Herr Dr. Schäffer meinte, dass die Zeit für eine Wiedervereinigung durch einen Kompromiss im Sinne der Neutralisierung und einer gemäßigten Wiederbewaffnung Deutschlands arbeite.

Frage: Sprach Herr Dr. Schäffer mit Ihnen als Privatperson oder hatten Sie den Eindruck, dass noch andere Herren in Bonn solche Gedanken vertreten?

Antwort: Herr Dr. Schäffer betonte zwar, dass er zunächst persönlich mit Vertretern der DDR die Möglichkeiten zur Herbeiführung eines Kompromisses sondieren wolle. Er erwähnte aber, dass es in Bonn Minister und Parteifreunde gebe, die ebenso denken wie er.

Frage: Wann und wo fanden die Unterredungen statt?

Antwort: Die erste Besprechung fand am 11. Juni 1955 und die zweite am 20. Oktober 1956, beide im demokratischen Berlin, statt. Bei dem zweiten Gespräch waren wir in meiner Wohnung ungefähr drei Stunden zusammen.

Frage: Was war der Inhalt der Verhandlungen?

Antwort: Herr Dr. Schäffer legte seine Gedanken über eine Konföderation im Sinne der Zusammenarbeit der Benelux-Staaten dar. Er schlug vor, eine Art Programm für die Wiedervereinigung vorzubereiten, in dem die Wirtschaftsfragen, die Fragen des Personenverkehrs und die Kulturfragen festgelegt sind. Dafür sollten Termine festgelegt werden, damit ein solches Programm bis Juli 1957, also noch vor den Bundestagswahlen, veröffentlicht werden kann.

Frage: Zwischen wem sollte dieses Programm vereinbart werden?

Antwort: Herr Dr. Schäffer sagte, darüber würde man am besten mit einem Mitglied der Regierung der DDR direkt sprechen. Es wurde vereinbart, weitere Besprechungen über die Wege der Wiedervereinigung zu führen. Dafür habe ich ihm einen beauftragten Vertreter vorgestellt.

Frage: Hat Dr. Schäffer das alles auf eigene Kappe gemacht?

Antwort: Herr Dr. Schäffer sagte mir: Selbstverständlich habe ich den „Alten“ (Adenauer) informiert. Solche Sachen kann ich nur mit dem Kanzler und mit Strauß besprechen. Ich musste den „Alten“ bitten, nur wenige Personen ins Vertrauen zu ziehen.

Frage: Herr Müller, Ihre Informationen bestätigen doch vollkommen die Darstellungen Walter Ulbrichts im Nationalrat, wo er sagte, dass die Anregung zu dem Vorschlag der Bildung einer Konföderation sich aus Verhandlungen mit einem Minister der Bonner Regierung ergab.

Antwort: So war es tatsächlich.“

Nun war es an Schäffer und Adenauer, sich zu einem Geständnis der Wahrheit zu bequemen. Der „Vorwärts“ vom 17. November 1958 berichtete: „Eine aufschlussreiche Erklärung gab der Bonner Minister Schäffer zu seinen Gesprächen in der DDR ab. Er habe jetzt in mehreren Wählerversammlungen in Nordbayern seine Wähler gefragt, ob er anders hätte handeln sollen. ... Es sei kein einziger gegen ihn aufgestanden.“ Und der Berliner sozialdemokratische „Telegraf“ hatte schon einen Tag vorher berichtet: „Bundeskanzler Adenauer gab gestern zu, dass er schon vor dem Gespräch seines damaligen Finanzministers Schäffer mit Puschkin wusste, dass der seinerzeitige Pankower stellvertretende Verteidigungsminister und heutiger General der `Volksarmee`, Vincenz Müller, die Vermittlung für diese Gespräche übernommen hatte.“

Das war allerdings wiederum eine Halbwahrheit, denn danach sei Müller nicht Gesprächspartner, sondern Gesprächsvermittler mit dem sowjetischen Botschafter gewesen. Der vollen Wahrheit musste also weiter zum Durchbruch verholfen werden.

Am 19. November 1958 gab Vincenz Müller ein Fernsehinterview, in dem er nochmals Einzelheiten aus dem Gespräch mit Schäffer vom 20. Oktober 1956 darlegte. Ihm folgte am

22. November 1958 Professor Otto Rühle, wie Vincenz Müller Mitglied des Hauptvorstandes der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NDPD) und Volkskammerabgeordneter, ebenfalls mit einem Fernsehinterview über seine Verhandlungen mit dem Bonner Minister Schäffer am 13. März 1957. Beide Aussagen musste Schäffer wohl oder übel bestätigen.

Bereits am 16. November hatte Walter Ulbricht auf einer Wahlkundgebung in Leipzig seine bisherigen Enthüllungen erweitert durch die Erklärung, auch andere führende Leute aus dem Bonner Staatsapparat hätten mit DDR-Vertretern gesprochen, wie z.B. Ernst Lemmer (Minister für gesamtdeutsche Fragen) mit dem verstorbenen stellvertretenden Ministerpräsidenten Otto Nuschke.

In unseren Darstellungen erscheint Schäffer als ein Mann, der endlich etwas für die friedliche Wiedervereinigung tun wollte und sich deshalb nach Berlin Ost begab, um mit „Pankow“ zu verhandeln. Diese Version ist für den politischen Zweck, den sie verfolgt – die Adenauer-Politik noch mehr in die Enge zu treiben -, hervorragend geeignet. Aber die Wirklichkeit sieht natürlich etwas anders aus, und darüber sind sich wahrscheinlich nicht nur die „Eingeweihten“ klar. Aktionen, die mit Wissen und Billigung von Adenauer gestartet werden, sind von jedem Verdacht frei, ehrenwürdigen Zielen gedient zu haben. Worum ging es also? Um das zu ergründen, muss man sich die Daten rund um die Zeitpunkte der Fühlungnahme etwas näher ansehen.

11. Juni 1955: Erster Kontakt Schäffer – Vincenz Müller.

Einiges zur Kennzeichnung des politischen Umfelds dieses Datums:

15. Mai 1955: Abschluss des Österreichischen Staatsvertrages – vielfach gedeutet als Vorbild und Modellfall für die „deutsche Einigung“.

26. Mai 1955: Ankunft der sowjetischen Delegation in Belgrad. Chrustschows Totalrehabilitierung Titos.

2. Juni 1955: Sowjetisch-jugoslawische Deklaration, sowjetische Legitimierung des jugoslawischen „Nationalkommunismus“ im Alleingang, ohne vorherige Konsultierung mit den Bruderparteien.

Der erste Besuch Schäffers erfolgte als just in der Zeit, da Chrustschow das „Trojanische Pferd des Imperialismus“, den „Kundschafter des Imperialismus“ – dies Chrustschows eigenen Bezeichnungen für Titos Jugoslawien! -, in die „Festung“, in die kommunistische Weltbewegung, wieder hineinholt; also in der Zeit, da die Tito-Revisionisten die Gelegenheit zugespielt bekommen, - diesmal im Bunde mit den Führern der KPdSU! – zum zweiten Male Anlauf zu nehmen für Aktivitäten, die die Beseitigung so genannter „stalinistischer“ Parteiführer, insbesondere in den sozialistischen Ländern, zum Ziele haben; Aktivitäten, deren Höhepunkt und erste Niederlage der konterrevolutionäre Putsch in Ungarn war.

20. Oktober 1956: Zweiter Kontakt Schäffer – Vincenz Müller.

Schäffer trifft sowohl mit Vincenz Müller als auch mit dem Botschafter der UdSSR, Puschkin, zusammen, mit vorheriger Billigung Adenauers und nachfolgender Information an den USA-Außenminister J.F.Dulles, der diesen Schritt ebenfalls völlig in Ordnung findet. Was geschah sonst noch im politischen Umfeld dieses Datums?

Das Wichtigste geschah in Ungarn und Polen: in beiden Ländern wurde der revisionistische Umschwung schrittweise vorbereitet.

6. Oktober 1956: Staatsbegräbnis für den 1949 wegen Hochverrats zum Tode verurteilten und hingerichteten Laszlo Rajk in Ungarn. Aus diesem Anlass Massendemonstrationen mit konterrevolutionärem Einschlag.

10. Oktober:  In Polen wird Hilary Minc zum Rücktritt als Mitglied des Politbüros der polnischen Partei „aus Gesundheitsrücksichten“ gezwungen. Dazu schreibt das Magazin „New Statesman and Nation“ in seiner Nummer vom 13. Oktober 1956: „Der Rücktritt von Hilary Minc soll Gomulka den Weg freimachen ins Politbüro“ In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass im Prozess gegen Rajk vor dem Budapester Gericht der Angeklagte Brankow, - vor seiner Verhaftung Geschäftsträger der jugoslawischen Gesandtschaft in Budapest – zu Gomulka aussagte: „Ich erinnere mich, dass damals, als sich in Polen der Fall Gomulka ereignete (1948, K.G.), große Hoffnungen (in Belgrad, K.G.) gehegt wurden, dass Gomulka die Gedankengänge Titos in Polen verwirklichen werde.“ [11]

11. Oktober 1956: Delegation der ungarischen Partei unter Führung Gerös in Jugoslawien. Zu den dort geführten Verhandlungen sagte Tito in seiner berüchtigten Rede in Pula: „Wir wollen Beziehungen zur Ungarischen Partei der Werktätigen, denn wir hoffen, dass wir so, indem wir die ungarische Partei nicht isolieren, leichter auf deren richtige innere Entwicklung einwirken können.“ (Nämlich: Imre Nagy wieder an die Spitze zu bringen; K.G.)

13. Oktober 1956: Imre Nagy wird wieder in die Partei aufgenommen!

20. Oktober 1956: Imre Nagy erhält einen Lehrstuhl für Landwirtschaftswissenschaft an der Budapester Universität.

24. Oktober 1956: Imre Nagy zum Ministerpräsidenten ernannt! (Rajks Nachfolge scheint gesichert.) Zur Vorgeschichte: Chrustschow und Tito trafen sich Ende September – Anfang Oktober auf der Krim. Dort wurde – so Tito in seiner Pula-Rede – über die Notwendigkeit der Absetzung Gerös gesprochen. Keinen Monat später ist er abgesetzt!

19.-20. Oktober 1956: 8. Plenum der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Hauptreferent: der noch funktionslose Gomulka! In seiner Rede hinterhältige Angriffe gegen „die kleinen Stalins“ in den kommunistischen Parteien. Wie „Statesman and Nation“ vorhergesehen, wird Gomulka zum Ersten Sekretär gewählt. Auf wen – unter anderen oder gar in erster Linie – die Attacken gegen „die kleinen Stalins“ zielten, das präzisierten in jenen Tagen jene Polen, die DDR-Gäste in der Polnischen Botschaft in Berlin unverblümt fragten, wann denn sie ihren „kleinen Stalin“ – und sie gaben zu verstehen, dass damit kein anderer als Walter Ulbricht gemeint war – auch davonjagen würden? Noch viel deutlicher als Gomulka wurde einen Monat später, am 11. November 1956, Tito in seiner Rede in Pula, als er ausführte: es sei „absolut notwendig, gewisse Leute zu ermahnen, ... die in den Ostländern, aber auch in einigen westlichen Ländern an der Spitze der kommunistischen Parteien stehen. ... Jene eingefleischten stalinistischen Elemente, ... denen es in den verschiedenen Parteien gelungen ist, sich noch auf ihren Positionen zu halten. ... In einzelnen Ländern und Parteien Osteuropas sprechen manche führenden Leute davon, dass sich bei ihnen so etwas (wie in Ungarn; K.G.) nicht ereignen werde. ... Das Gleiche hat auch Gerö gesagt, das hat auch Rakosi gesagt, und was hat es ihnen genützt? Es nützt ihnen gar nichts. ... Es geht jetzt wirklich darum, ob in den kommunistischen Parteien der neue Geist siegen wird, der in Jugoslawien seinen Ausgang genommen hat...“

Der eigentliche Wegbereiter Gomulkas war Chrustschow. Ohne die Ernennung Titos zum „teuren Genossen“, ohne die Rehabilitierungskampagne für alle Verräter von Rajk bis Nagy, ohne die Verleumdungskampagne gegen Stalin, ohne den plötzlichen Tod Bieruts – ohne all dies säße Gomulka – sehr zum Wohle des Sozialismus und des polnischen Volkes – noch heute im Gefängnis, wohin er hoffentlich recht bald wieder kommt.

Und in der DDR und der SED? Dazu führt Erich Honecker auf dem 35. ZK-Plenum der SED im Februar 1958 aus:

„Im Oktober 1956 kam es im Zusammenhang mit der Vorbereitung des 29. Plenums ... zu scharfen Auseinandersetzungen mit Genossen Schirdewan. ... Genosse Schirdewan spitzte die Auseinandersetzung noch dadurch zu, dass er die Politik der Partei, wie sie unter Führung des Zentralkomitees und seines Ersten Sekretärs durchgeführt wird, in verleumderischer Art und Weise herabsetzte.  ... Anstatt die überwiegende Mehrheit des Politbüros zu unterstützen und seine Haltung zu überprüfen, hielt er es für erforderlich, Angriffe gegen Genossen Ulbricht zu richten, weil dieser im Einvernehmen mit dem Politbüro die Versuche, die Parteilinie zu ändern, verhindert. ... Für ihn spielte offenbar keine Rolle, dass zur damaligen Zeit der Gegner auf der gleichen Linie vorstieß.“

Und wo suchte und fand Schirdewan nach seiner eigenen Schilderung Rückhalt gegen Ulbricht, dem er in einer sachlichen politischen Auseinandersetzung in keiner Weise gewachsen war? Bei dem gleichen sowjetischen Botschafter Puschkin, der etwa um die gleiche Zeit auch für das Anliegen des BRD-Ministers Schäffer offene Ohren hatte!

Schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass den Imperialisten durch Tito, z.B. in seiner Pula-Rede, Hoffnungen gemacht wurden, man könne bei den Bestrebungen, die „Stalinisten“ abzusägen, auf Hilfe auch seitens sowjetischer Politiker rechnen: „Wir haben gesehen, dass ... es aber noch immer Möglichkeiten gibt, dass in der Führung der Sowjetunion in einer inneren Evolution die Elemente siegen, die für eine kraftvollere und schnellere Entwicklung in Richtung auf eine Demokratisierung, für eine Aufgabe aller Stalinschen Methoden ... sind.“ Tito lässt in dieser Rede durchblicken, seine Bemühungen, die sowjetischen Führer für die Absetzung Rakosis zu gewinnen, seine nicht erfolglos gewesen.

Die Situation, in der Schäffer seine zweite Unterredung mit Vincenz Müller hat und den sowjetischen Botschafter in der DDR – nicht etwa den sowjetischen Botschafter in Bonn! – aufsucht, ist also u.a. dadurch gekennzeichnet:

1.      Eine wüste Hetzkampagne gegen Ulbricht seitens der imperialistischen Propagandaapparate.

2.      Ergänzung dieser Kampagne durch bestimmte Persönlichkeiten an der Spitze einiger kommunistischer Parteien.

3.      Unterstützung dieser Kampagne durch Mitglieder der obersten Führung der SED

4.      Durch Tito erzeugte Hoffnung bei den Imperialisten, sogar durch Politiker der Sowjetunion Unterstützung zu finden bei den Versuchen, Walter Ulbricht von der Führung zu verdrängen.

Wenn in einer derartigen Situation Schäffer Geheimverhandlungen führt, die von Adenauer im voraus, von ihm und Dulles nachträglich gebilligt werden, dann darf man sicher sein, dass sie nicht der Erkundung von Wegen zur demokratischen Wiedervereinigung, sondern von Wegen zur „inneren Evolution“ in der DDR galten, deren Beginn die Beseitigung des ihnen so verhassten Walter Ulbricht von der Staats- und Parteispitze sein sollte.

Nimmt man all diese Ereignisse zusammen, dann steht außer Zweifel, dass die geheime Mission Schäffers darin bestand, zu erkunden, welche objektiven und subjektiven Möglichkeiten in der DDR bestanden, Walter Ulbricht den Weg Gerös und Rakosis gehen zu lassen, ob es Leute in der Regierung und in der Partei gab, die fähig und bereit waren, das zu bewerkstelligen, und vor allem: ob sich die Sowjetunion solch einem Vorgang gegenüber genauso förderlich verhalten würde wie in Polen und Ungarn.

Noch nicht klar ist, welche Rolle Vincenz Müller und der Botschafter Puschkin spielten. Hat Puschkin den Besuch Schäffers sofort dem Genossen Walter Ulbricht mitgeteilt oder nur seiner eigenen Führung, also Chrustschow, der sich schon seit 1953 erfolglos bemühte, Ulbricht das Genick zu brechen? Hat Vincenz Müller die Sache konspirativ im Alleingang gemacht oder mit Wissen und Billigung oder gar im Auftrag der zuständigen Stellen? Kann man aus der Tatsache, dass Puschkin als Botschafter von Perwuchin abgelöst wurde, die Schlussfolgerung ziehen, dass er für unsere Führung und Partei zu einer unerwünschten Person geworden war? Kann man aus der Tatsache, dass Vincenz Müller als stellvertretender Verteidigungsminister abgelöst wurde, die Schlussfolgerung ziehen, dass er die Verhandlungen hinter dem Rücken der zuständigen Stellen geführt hat und somit in ein Komplott gegen Walter Ulbricht verwickelt war?

Für beides spricht einiges.

Erstens kann man davon ausgehen, dass Chrustschow großen Wert darauf legt, besonders in wichtige Schlüsselpositionen – und dazu gehört sicherlich der Botschafter in der DDR – ihm ergebene Vertrauensleute zu setzen. Denn das Hauptziel seiner Deutschlandpolitik deckte sich mit dem von Dulles: Entfernung der echten Revolutionäre von der Spitze der Partei und der Regierung als erste Etappe der Umwandlung der DDR in einen revisionistischen Staat nach dem Beispiel Ungarns und Polens. Deshalb ist sein Hauptgegner in der DDR Walter Ulbricht.

Zweitens kann man annehmen, dass sich Schäffer mit einer so heiklen und vertraulichen Mission nur an solche Leute wendet, von denen ihm durch seine Nachrichtendienste bescheinigt wurde, sie seien dafür geeignet.

Drittens spricht dafür auch die zeitliche Nähe der auf den Sturz Ulbrichts abzielenden Aktivitäten Schirdewans.

Dies zusammengenommen lässt den Schluss zu, dass wir es hier mit Aktionen zu tun haben, die von Chrustschow über Gomulka und Schirdewan bis zu Schäffer und von da zu Adenauer und Dulles reichen. Zu ihnen gehört auch noch der dritte Kontakt:

13. Juli 1957: Treffen Schäffer – Otto Rühle. Dieses Treffen fand nicht in der DDR, sondern im Bonner Finanzministerium statt. In seinem Fernsehinterview berichtete Rühle, er sei als Beauftragter der DDR zu Schäffer nach Bonn gefahren. In seinem Gespräch mit Schäffer sei u.a. Einstimmigkeit über eine friedliche Lösung des Deutschlandproblems erzielt worden; Schäffer habe es vermieden, die Möglichkeit einer Konföderation wieder zur Sprache zu bringen; er habe für einen Vertrag zwischen beiden deutschen Staaten plädiert, in dem Maßnahmen zur Vorbereitung der Wiedervereinigung und der Termin für allgemeine Wahlen festgelegt werden sollten. Abschließend habe Schäffer seine Absicht geäußert, nach weiteren Gesprächen mit Rühle das Gespräch mit Ministerpräsident Otto Grotewohl oder anderen Regierungsmitgliedern in Berlin weiterzuführen. Dazu ist es dann nicht mehr gekommen.

Warum? Offensichtlich, weil sich die westliche Seite von ihrer Fortführung keinen Erfolg mehr versprechen konnte, d.h. weil sie einsehen musste, dass Ulbricht nicht zu stürzen ist. Was geschah nämlich im politischen Umfeld dieses dritten Kontakts?

22. – 29. Juni 1957: Das berüchtigte Juni-Plenum des ZK der KPdSU mit dem Sieg Chrustschows über die Verteidiger des Leninismus Molotow, Kaganowitsch und andere, die zur „parteifeindlichen Gruppe“ erklärt wurden. Darüber große Genugtuung in der Westpresse! Am 5. Juli 1957 schreibt die Welt: „Der Sieg Chrustschows beeindruckt Ost und West. Und Ulbricht?“ Das Juni-Plenum wird also als Signal aufgefasst für den bevorstehenden Sturz des „Stalinisten“ Ulbricht in Deutschland! Und das, wie wir sahen, ja nicht grundlos! Schließlich gab es im ZK der SED einige Leute, die seit langem darauf bedacht waren, jede Chance für einen Angriff auf Ulbricht wahrzunehmen. Und zweifellos lag es nahe, Ulbricht mit Molotow in eine Reihe zu stellen und die Forderung nach seiner Absetzung mit dem Juni-Plenum des ZK der KPdSU zu begründen. Nicht ohne triftigen Grund hat unsere Parteiführung schneller als alle anderen und demonstrativ eine vorbehaltslose Zustimmung zum KPdSU-Plenum erklärt.... Sie durfte niemand die Zeit lassen, ihr zuvorzukommen.

Gleich nach dem Juni-Plenum reisten Chrustschow und Bulganin in die CSSR und kündigten ihren baldigen Besuch in der DDR an. Der fand dann vom 7. – 14. August 1957 statt. Diesmal ließ sich Chrustschow aber nicht von Bulganin, sondern von seinem Intimus Mikojan begleiten. Das war geeignet, die Hoffnung der Imperialisten auf die Ergebnisse dieses Besuches noch höher zu schrauben. Sie sahen in Chrustschow einen Wundermann, der selbst das Unmögliche möglich machen kann. Hatte er nicht Stalin entthront? Hatte er nicht Molotow, Malenko und Kaganowitsch aus dem Sattel geworfen? Hatte er nicht fertig gebracht, Tito selbst nach Ungarn und Titos Pula-Rede wieder erneut in die Reihen der „Genossen“ einzuschleusen und sogar die Albaner dazu zu kriegen, mit Tito ein „Versöhnungstreffen“ durchzuführen? Und da sollte er es nicht fertig bringen, mit Unterstützung seiner Freunde im ZK der SED den Ulbricht zu stürzen?

Die Situation nach dem Juni-Plenum der KPdSU 1957 legt deshalb die Annahme nahe, dass das Schäffer-Ruge-Gespräch vom 13. Juli 1957 nicht allein, aber auch der Vorbereitung jener Maßnahmen dienen sollte, die zum Sturz Ulbrichts und darauffolgend zur „Annäherung“ der beiden Staaten, also der mehr oder weniger verhüllten Kapitulation der DDR gegenüber der BRD zu führen bestimmt waren.

Der Besuch Chrustschows nahm aber einen ganz anderen Verlauf als erwartet. Statt die Position Ulbrichts zu erschüttern und zu untergraben, musste Chrustschow im Gegenteil dazu beitragen, diese Position zu festigen und unerschütterlich zu machen. Urteilt man nicht nach der Person des Redners, sondern nach dem Inhalt der Reden, dann war der entscheidende Mann der sowjetischen Delegation weder Chrustschow noch Mikojan, sondern der still im Hintergrund wirkende Gromyko. Sie enthielten nämlich nichts von dem, worauf man im Westen gehofft und worauf man sich dort bei Chrustschow eigentlich immer verlassen konnte – keine Attacken gegen die „Stalinisten“, keine Ermunterung der Gegner Ulbrichts, statt dessen demonstrative Unterstützung. Das war der Grund dafür, weshalb dieser dritte Ostkontakt Schäffers keine Fortsetzung mehr fand. Und das ist auch der Grund dafür, weshalb das Scheitern dieser Ost-Missionen auch in das Register der Niederlagen Chrustschows gehört

 

Nach meinen Beobachtungen lassen sich seit dem Machtantritt Chrustschows wenigstens fünf Versuche feststellen, Walter Ulbricht zu stürzen:

 

Erster Versuch: im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953. Beteiligt – wenn nicht in direkter Koordinierung, so doch in indirektem Zusammenwirken: Herrnstadt-Zaisser-Chrustschow, Adenauer-Dulles.

Zweiter Versuch: im Zusammenhang mit Chrustschows Tito-Rehabiliterung und dem ersten Ostkontakt Schäffers am 11. Juni 1955. Beteiligte: Schäffer-Puschkin-Chrustschow, Adenauer-Dulles.

Dritter Versuch: Oktober-November 1956 in Auswirkung des XX. Parteitages der KPdSU und im Zusammenhang mit den konterrevolutionären Ereignissen in Polen und Ungarn und dem zweiten Ostkontakt Schäffers. Beteiligt: Schirdewan-Puschkin-Chrustschow, Schäffer-Adenauer-Dulles.

Vierter Versuch: In der Folge des Juni-Plenums 1957 des ZK der KPdSU und im Zusammenhang mit dem dritten Ostkontakt Schäffers. Beteiligt: Schäffer-Adenauer-Dulles, Chrustschow.

Fünfter Versuch: im Zusammenhang mit dem 35. Plenum des ZK der SED im Januar-Februar 1958. Beteiligt: Schirdewan-Wollweber-Chrustschow.

 

Walter Ulbricht hat es mit immer wieder von neuem überraschender Meisterschaft verstanden, die Minen, die seine Gegner gegen ihn gelegt haben, unter deren eigenem Hintern hochgehen zu lassen.

Ulbricht ist der deutsche Politiker des 20. Jahrhunderts, der vor die schwierigste aller Aufgaben gestellt ist und sie gemeistert hat: sich und seine Sache zu behaupten nicht nur gegen die Angriffe eines vielfach übermächtigen Gegners – des deutschen Imperialismus -, sondern auch noch gegen die heimtückischen Dolchstöße in den Rücken aus den Reihen des eigenen Hauptverbündeten!

Dafür ist ihm ein Ehrenplatz im Buche der Geschichte der sozialistischen Revolution sicher!          

                                                                                                                               Kurt Gossweiler, Berlin

Gerhard Feldbauer: Eine Betrachtung zum Sosswa-Buch Wolfgang Ruges und seinem politischen Werdegang [12]

Ein Vorwort soll laut der 24-bändigen Brockhaus Enzyklopädie über „Anlass, Entstehung und Zweck des Werkes“ Auskunft geben, die „Einführung zu einem Buch“ bilden. Die Eindrücke, die Wolfgang Ruge von seiner Ankunft als damals sechzehnjähriger Jungkommunist in der Sowjetunion Ende August 1933 auf einem Grenzbahnhof zu Schweden in seinem Buch  auf den ersten sechs Seiten rückblickend darlegt, sind als ein Vorwort zu verstehen. „An den Absperrzäunen, durch die wir über einen verwahrlosten Vorplatz zu dem windschiefen Stationsgebäude auf sowjetischer Seite geleitet wurden, klebte fingerdicker Dreck, schreibt er. „Ebenso unwirtlich sah es im Inneren des russischen Bahnhofs aus. Der von Spinnweben und Staub starrende Wartesaal war seit Ewigkeiten nicht gelüftet worden. Es roch nach Schimmel und Fäulnis“. In der folgenden Schilderung der Fahrt im Zug nach Moskau ist von „rauchenden, spuckenden, schwatzenden Menschen“, die auf „ungewöhnlich geformten Koffern, Kisten, Säcken und Bündeln hocken“ [13]  die Rede, „von belastenden Gerüchen, zusammengepferchten Leibern, ... neugierig glotzenden Kindern“, die noch nie Bananen gesehen hatten und denen man zeigen musste, wie die ihnen geschenkten Früchte abzuschälen waren.

Scheckige Mietskasernen und stinkende Höfe

In Moskau nimmt Ruge „verwahrloste Adelssitze mit verwüsteten Gärten, Villen mit herabfallendem Fassadenputz und scheckige Mietskasernen mit stinkenden Höfen“ wahr, „alterschwache Straßenbahnen, ... wenige klapprige Autos, ... Männlein wie Weiblein in erbärmlichem Schuhwerk“. Er vergisst nicht, mehrmals festzuhalten, so etwas sei „in Berlin undenkbar, ... unmöglich gewesen“. [14]  Wohlgemerkt, dass in dieser Darlegung Realität steckt, soll keineswegs bestritten werden. Aber der Autor schreibt das 2003, 13 Jahre nach der schweren Niederlage des Sozialismus, nach der er  bereits 1991 u. a. mit seiner Publikation „Stalinismus - Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“ die meisten seiner in der DDR bezogenen marxistisch-leninistischen Positionen widerrufen hat und stimmt damit auf sein Buch ein, legt sich auf seine Sicht der Ereignisse aus heutiger Zeit fest.  

Ruge kommt als Sohn einer Kommunistin nach Moskau. Auch dazu erfolgt eine dem heutigen Zeitgeist entsprechende tendenziöse Einstimmung. Seine Mutter war eine zweite Ehe mit einem „strenggläubigen Kommunisten“ eingegangen, der ihre Kinder „zu disziplinierten Klassenkämpfern“ erziehen wollte. „Unter dem Einfluss ihres neuen Partners trat Mutter der Kommunistischen Partei bei, entdeckte dort ihre theoretische Begabung und stieg, von sich selbst berauscht, ins politische Leben ein“, startete in „der Männerpartei“ KPD eine politische Karriere, was dazu führte, dass „die Komintern ihre Fühler nach ihr ausstreckte“ und sie „in der geheimsten Abteilung des Stabes der Weltrevolution“ zur „Agentin und Dolmetscherin“ machte (S. 11-17). 

Ein echter Russe werden ?

Obwohl bei dem jungen Ruge von Anfang an zu vielen Fragen der Entwicklung in der Sowjetunion Distanz vorherrscht, will er ein „echter Russe werden“, beantragt und erhält 1936 die sowjetische Staatsbürgerschaft. Er wird als Kartograph ausgebildet, besucht eine Abendoberschule, legt das  Abitur ab und beginnt ein Fernstudium in Geschichte. Nichts trübt vorerst seinen Werdegang. Dann, nach dem Überfall Hitlerdeutschlands, wird er wegen seiner deutschen Herkunft im September 1941 nach Kasachstan verbannt, 1942 als Arbeitssoldat mobilisiert und in das Lager Sosswa eingeliefert, in dem sich zahlreiche frühere Kulaken befinden. Es liegt in einer Kleinstadt im Gebiet von Tjumen im nordöstlichen Ural am Beginn der westsibirischen Tiefebene. Ruge schildert, dass die Arbeitssoldaten keine Strafgefangenen waren, faktisch aber so wie die übrigen Lagerinsassen, darunter viele Berufskriminelle, behandelt wurden. Viele fallen bei schwerer körperlicher Arbeit Hunger und Kälte zum Opfer. [15]  1948 werden sie durch einen Regierungserlass zu freien Bürgern erklärt, haben aber in ihren Verbannungsgebieten zu bleiben und dürfen Sosswa und einen gewissen Umkreis nicht verlassen.

Ruge, der während des Krieges als Holzfäller arbeitete, wird nun Geodät für Kleinbahnen, dann Projektant und Ingenieur. In dieser Zeit beendet er ohne Wissen der Lagervorgesetzten, wie er schreibt, an der Universität Swerdlowsk sein Fernstudium in Geschichte. Unter dem Vorwand von Dienstreisen, die er nun als Ingenieur unternehmen kann, begibt er sich nach Swerdlowsk, um die Prüfungen abzulegen. Seine Examensarbeit schreibt er über den Schwarzmeerhandel der Republiken Genua und Venedig im 14. und 15. Jahrhundert. Das Thema ergibt sich daraus, dass er dazu den Quellenbestand einer nach Sosswa ausgelagerten Bibliothek aus Odessa nutzen kann. 1948 erhält er das Diplom. [16]  Anfang 1956 kann Ruge mit seiner dritten Frau die UdSSR verlassen. Das Ehepaar entschließt sich, in die DDR ausreisen.

Das bittere Schicksal Ruges, dem man menschliche Anteilnahme schuldet, ist eingebettet in die widerspruchsvolle Zeit der sowjetischen Epoche unter Stalin. Dieser ist jedoch nicht nur der Gewaltherrscher, als den Ruge ihn ausschließlich abhandelt. [17]  Stalin setzte in der unerbittlichen Klassenauseinandersetzung mit unsäglicher Härte die politische Linie, die er verkörperte, durch und unterdrückte tatsächliche und vermeintliche Abweichungen. Unter seiner Führung erfolgte der unvergleichliche Aufbau der bis dahin einzigen sozialistischen Gesellschaftsordnung, auf deren Grundlage es möglich wurde, ebenfalls mit Stalin an der Spitze, dem Ansturm des Hitlerfaschismus unter ungeheueren Verlusten nicht nur standzuhalten, sondern den Sieg zu erringen und die Völker Osteuropas von seinem Joch zu befreien und einen weltweiten Beitrag zum Befreiungskampf der Völker insgesamt zu leisten. In dieser Etappe des Aufbaus der ersten sozialistischen Gesellschaft und ihres Existenzkampfes, in der unzählige Opfer gebracht werden mussten, wurden auch viele unschuldig von der Repression erfasst, gab es auch Verbrechen. 

An der Komplexität der Probleme vorbei

Es fällt auf, dass Ruge Faktoren, die zur Untersuchung der komplizierten Zusammenhänge der Repression gehören müssen, weitgehend  ausklammert. So zum Beispiel, dass eine bestimmte Verselbständigung des Macht- und Sicherheitsapparates in dem eurasischen Riesenreich eine Rolle spielte. Es gab tiefgreifende Richtungskämpfe in der KPdSU, welche zweifelsohne die Existenz des jungen sozialistischen Staates gefährdeten. [18]  Es ist bekannt, dass führende Militärs der Roten Armee an einen Militärputsch dachten, um Stalin zu stürzen. [19]  Marschall Tuchatschewski, der eine Schlüsselrolle in der engen militärischen Zusammenarbeit der Roten Armee mit der Reichswehr spielte und enge Beziehungen zu einigen ihrer höchsten Militärs, die später in Spitzenpositionen der Hitlerwehrmacht aufstiegen, unterhielt, wurde bonapartisticher Ambitionen beschuldigt. [20]  Er weilte zweimal (1925 und 1932) in Deutschland, traf mit höchsten Reichswehrmilitärs und bei seinem letzten Besuch mit Hindenburg zusammen. Noch nach dem Machtantritt Hitlers, im Mai 1933, äußerte Tuchatschewski gegenüber deutschen Militärs, „die Reichswehr sei die Lehrmeisterin der Roten Armee in schwerer Zeit gewesen; das sei unvergessen.“ Er betonte „die Gefühle der Freundschaft der Roten Armee zur Reichswehr.“ [21]  Deutsche Offiziere waren noch nach dem faschistischen Machtantritt bis Oktober 1933 Gäste der Roten Armee. Noch 1934/35 suchten hochrangige Reichswehrmilitärs, die Kontakte zur ihren Partnern in der Roten Armee aufrecht zu halten. [22]  Bis heute ist nicht geklärt, ob Stalin über alle Einzelheiten der hochrangigen Zusammenarbeit zwischen Roter Armee und Reichswehr informiert war. [23]  Das alles ignoriert Ruge, dessen spezielles Forschungsgebiet die Weimarer Republik war. [24]

Wolfgang Ruge hat einen Abgrund menschlicher Widersprüche erlebt. Dass er erlittenes Unrecht und unsagbares Leid sich von der Seele schreiben wollte, ist zu verstehen. Seinen Erinnerungen über die Verbannungszeit in Sibirien kann man, wenn man einmal davon absieht, dass das meiste zusammenhangslos, oft auch sehr widersprüchlich dargelegt wird, trotzdem manch Informatives entnehmen, beispielsweise darüber, wie Besonderheiten der russischen Geschichte nachwirkten; die aus der zaristischen Vergangenheit herrührende ungeheuere Rückständigkeit; das Fehlen einer Epoche bürgerlicher Demokratie und Aufklärung; die Übernahme von Methoden des zaristischen Staatsapparates, eingeschlossen Repressions-methoden. Aber der in der DDR befähigte Historiker ist fast durchweg noch nicht einmal in Ansätzen in der Lage, sein persönliches Schicksal in die Komplexität der daraus resultierenden Probleme und in die geschichtlichen Dimensionen des unter der fortbestehenden kapitalistischen Einkreisung und den Bedingungen schärfsten Klassenkampfes stattfindenden sozialistischen Aufbaus einzuordnen.

Hans Heinz Holz hat 1999 unter der Überschrift „Verkörperung der Widersprüche“ eine knappe Analyse vorgelegt, die ich ob ihrer Ausgewogenheit für die bisher treffendste halte. Er schreibt darin: „Aus der Erkenntnis historischer Umstände, nicht aus moralischen Appellen erwächst die politische Fähigkeit, in der Zukunft Fehlentwicklungen vermeiden zu können. Die historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Aufbauphase der Sowjetunion, die mit dem Namen Stalins verbunden ist und bleibt, ist ein notwendiges Stück unserer Parteigeschichte, d. h. unseres politischen Selbstverständnisses. Verklärung wie Verdammung wären beide Verdrängung wie Verzicht auf die historisch-materialistische Methode, die wir auch auf unsere eigene Geschichte anwenden müssen.“ [25]

Die Schicksale der von den Präventivmaßnahmen (denen man generell das notwendige Erfordernis nicht absprechen kann)  bei Kriegsausbruch betroffenen deutschen Emigranten in der Sowjetunion sind unterschiedlich. [26]  Ein Beispiel von vielen: Prof. Stefan Doernberg, bekannter Historikerkollege Ruges in der DDR, meldet sich nach dem faschistischen Überfall als Siebzehnjähriger freiwillig zur Roten Armee und wird sofort in einer Komsomolbrigade an der Front bei Smolensk zum Bau von Befestigungsanlagen eingesetzt. Später als Deutscher zunächst interniert, kämpft er ab 1943 wieder in den Reihen der Roten Armee, nimmt an der Befreiung der Ukraine und Polens teil und ist, als Berlin eingenommen wird Leutnant. Es gab viele Doernbergs, und dessen Einschätzung unterscheidet sich wesentlich von der Ruges, wenn er auf die Millionen und Abermillionen Russen, Ukrainer, Belosrussen, Angehörige anderer Völker der UdSSR verweist, die als „Untermenschen“ hingemordet wurden und betont, dass trotz der tiefwirkenden Deformationen die sozialistische UdSSR „die einzige Kraft war, die die Welt vor dem Rückfall in die faschistische Barbarei bewahren konnte. Auch das ist eine bleibende historische Wahrheit, die 1945 weltweit unumstritten war.“ [27]

Ruge in der Botschaft Hitlerdeutschlands

In diesem Zusammenhang stößt man auf die Frage, ob Ruge völlig schuldlos in die Verbannung geschickt wurde und dort verbleiben musste, oder er nicht Anlass dazu lieferte, ihm zu misstrauen? In den Schilderungen seiner Haltung zur Sowjetmacht erweist er sich rückblickend fast durchgängig - um es verhalten auszudrücken - als stiller Opponent des sowjetischen Systems. Er unterhält Kontakte zu in dieser Hinsicht Gleichgesinnten. Hervorzuheben ist seine frühe Absicht, die Sowjetunion, das „einst gepriesene und gelobte Land“, wieder zu verlassen, die er dann mit der Beantragung eines Ausreisevisums nach Palästina bei der Botschaft Hitlerdeutschlands in Moskau zu verwirklichen sucht.  Dazu gibt er an, er habe seinen Pass, den er bei der Emigrationsbehörde abgeben musste, verloren, und bittet darum, ihm einen neuen auszustellen. Den  erhält er von dem „höflich lächelnden Beamten“ mit dem  Vermerk „Gültig im Verlauf von zehn Tagen zur Rückreise nach Deutschland“ ausgehändigt. Ruge wollte zwar dem „sowjetischen Hexenkessel“ entkommen, aber natürlich nicht, um nach Hitlerdeutschland zurückzukehren und dort in die Fänge der Gestapo zu geraten. Er vernichtet den Pass umgehend. War der sonst politisch so intelligente Ruge wirklich so naiv, zu glauben, die Botschaft des faschistischen Deutschland sei in Moskau nicht überwacht und seine Vorsprache dort nicht bemerkt worden? ( S. 60 ff.).

Im übrigen beantragt Ruge, der eben erst dem „sowjetischen Hexenkessel“ entkommen wollte, erst jetzt seine Aufnahme in die Staatsbürgerschaft der UdSSR. Da kommt man schon ins Grübeln darüber, wie ehrlich die von ihm angegebenen Motive, ein „echter Russe“ zu werden, zu nehmen sind. Ging es ihm jetzt wirklich nur darum, in die „Geheimnisse der russischen Seele“ einzudringen, „eine echte Beziehung zur russischen Kultur herzustellen, die Arbeiter- und Bauernmacht mit spezifisch sowjetischen Augen wahrzunehmen“ (S. 53), oder ist bereits bei dem jetzt Zwanzigjährigen, wenn vielleicht auch erst unterschwellig, der Hang vorhanden, sich anzupassen, um sich bessere Bedingungen für seinen Werdegang zu sichern, ein Charakterzug, der für seine Karriere in der DDR und nach deren Okkupation durch die BRD 1989/90 mit seinem sofortigen Übergang auf die Seite der Ideologen der Konterrevolution typisch wird. [28]

Dass Ruge gegen den im August 1939 von der UdSSR mit Hitlerdeutschland geschlossenen Nichtangriffspakt Vorbehalte hatte, ist verständlich. Nicht aber, dass er als Historiker nicht in der Lage ist, eine der Realität wenigstens annähernd nahe kommende Einschätzung des Vertrages - der in einer Situation des sich abzeichnenden Existenzkampfes des Sozialismus mit dem Faschismus zustande kam - zu geben. Eine nüchterne Prüfung des Handelns aller agierenden Kräfte verdeutlicht auch heute noch, dass die UdSSR dadurch dem ihr von den Westmächten zugedachten Schicksal des Kriegsopfers entging. Erst nach der Erfahrung der militärischen Niederlage fast aller europäischen Staaten sah sich Großbritannien angesichts fehlender Alternativen gezwungen, eine militärische Allianz mit der UdSSR einzugehen.

Ruge schreibt, dass „viele Russen, die ich kannte, nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrages plötzlich ihre Sympathien für (Hitler)Deutschland entdeckten“ Sie brachen in „reinstes Entzücken für den Verbündeten Hitler (aus), den starken Mann, der die ins Chaos weisende Demokratie in Deutschland zertrümmert hatte“. Nachdem die faschistische Wehrmacht Polen überrannt hatte, „kannte die Begeisterung der meisten Moskauer keine Grenzen mehr, ... hörte man allenthalben: Gitler - molodez! (Hitler ist ein Prachtkerl!)“. Seine zweite Frau Vera meinte, „dass die beiden Führer Stalin und Hitler, den verrotteten westlichen Demokratien auf die Sprünge helfen würden.“ (S. 70 f.).  Bleibt zu fragen, mit welchen Russen Ruge hier verkehrte, in welchem Milieu er sich bewegte? [29]

Kulaken erwarteten faschistische „Befreier“

Die Hitlerbewunderung, von der Ruge spricht, müsste, auch wenn das übertrieben sein sollte, eigentlich, nicht zuletzt im zeitlichen Abstand, ein gewisses Verständnis für die vorbeugenden Maßnahmen, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion ergriffen wurden, erwecken. Ruge räumt selbst ein, dass es „auch Leute gab, die dieses System (die Sowjetmacht) ablehnten“ (S. 46), und dass „Sowjetfeinde in Minsk und Mogiljow die faschistischen Piloten mit Lichtsignalen zu den angeflogenen Zielen“ dirigierten (S. 77). Im Lager stellt er später fest, dass es tatsächlich Insassen gab, die darauf warteten, dass die Hitlerwehrmacht bis nach Sibirien kommt. Frühere Kulaken bereiteten sich darauf vor, auf rote Fahnen ein Hakenkreuz aufzunähen, um die „Befreier“ zu begrüßen (S. 197 f.). Auch diese Fakten ordnet Ruge jedoch mit keinem Wort in den geschichtlichen Zusammenhang ein. Erinnert sei auch daran, dass sich der in Gefangenschaft geratene Befehlshaber einer Armee, der sowjetische General Wlassow, dazu her gab, formell an die Spitze eines von der Hitlerwehrmacht gebildeten russischen „Komitees zur Befreiung der Völker Russlands“ zu treten und unter sowjetischen Kriegsgefangenen für eine „russische Befreiungsarmee“ zu werben, die in Stärke von zwei Divisionen an der Seite der Hitlerwehrmacht eingesetzt wurde. [30]  

Wie tief Ruge in Form und Inhalt dem antikommunistischen Stil bürgerlicher Schreiberlinge verfällt, sei nochmals an zwei Beispielen aufgezeigt. Auf die Rede Stalins nach dem faschistischen Überfall, die zu einem Manifest des Großen Vaterländischen Krieges wurde, geht er inhaltlich kaum ein. Er schreibt lediglich: „Sein Akzent ist schauerlich, viel Schlimmer als sonst. Nach jedem zweiten Satz trinkt er glucksend Mineralwasser. Dazwischen laute Rülpser“. `Für die Sache Lenins und Stalins`, „quetscht er gurgelnd heraus“ (S. 80). [31]  Eine Spendensammlung Weihnachten 1941 für die Soldaten an der Front setzt Ruge mit dem von Goebbels eingeführten „Winterhilfswerk“ gleich und kommentiert, „jetzt hat die Obrigkeit den Faschisten wohl auch dieses Gaunerstück abgeguckt.“ (S. 130).

Ruge entschließt sich 1956 in die DDR zu gehen, weil er dort und nicht in der BRD die besten Möglichkeiten für seine berufliche Entwicklung sieht. Er träumt bereits von einer großen wissenschaftlichen Karriere. „Ich sehe mich schon“, schreibt er „als Hochschulprofessor auf dem Podium“. Dafür ist er bereit, „all das Geschehene der letzten Jahre (zu) verdrängen“, obwohl mir, wie anderen auch, „nicht verboten (wurde), über meine Erlebnisse in Sibirien zu reden“. Zwar will er dem „geschönten DDR-Bild“ nicht getraut haben, aber er meinte, dass es „dort leichter sei, das Leben zu meistern“. Dennoch schreibt er von ihn manchmal beschlei-chenden Gedanken, „dass ich möglicherweise aufs falsche Pferd gesetzt habe“ (S. 439 ff.). [32]  

Das Gespräch über seine Arbeit in der DDR führt Karl Schirdewan, [33]  der ihm vier Arbeitsmöglichkeiten anbietet: Als Übersetzer der Leninwerke, als Mitarbeiter am gesellschaftswissenschaftlichen Institut des ZK der SED oder an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg, schließlich als Forscher am Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften (S.439 f.). Ruge entscheidet sich für das vierte Angebot. Als Spezialgebiet wählt er den Zeitabschnitt der Weimarer Republik.

Vom renommierten DDR-Historiker...

An seinem Institut (dem späteren Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR) wird er bereits nach zwei Jahren Abteilungsleiter. Er promoviert, habilitiert sich und erhält eine Professur. Vor allem aber wird Ruge, der zweifelsohne über ein ausgesprochenes Forschertalent verfügte, ein produktiver angesehener Wissenschaftler, der fundierte Arbeiten vorlegt: Untersuchungen über den deutschen Imperialismus 1917-1945, Gesamtdarstellungen zur Weimarer Republik, Studien zum Faschismus, zur Außenpolitik, biographische Arbeiten (Gustav Stresemann, Matthias Erzberger, Paul von Hindenburg u. a.) sowie unterschiedliche biographische Essays (Clara Zetkin, Walter Rathenau, Alfred Hugenberg, Heinrich Brüning, u. a. ). 1982 wird er zum Ehrenmitglied der Historikergesell-schaft der DDR gewählt, 1988 Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

In seinen wissenschaftlichen Publikationen zeigte Ruge das verhängnisvolle Wirken der aggressivsten imperialistischen Kreise und ihrer konservativen Helfershelfer als Träger bzw. Wegbereiter des Faschismus auf und legte, Lehren ziehend den Ausweg dar, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Aber er tat noch mehr, er bekannte sich zum Marxismus-Leninismus, zur historischen Bedeutung der Oktoberrevolution und des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion sowie der führenden Rolle der Partei der Bolschewiki. In seinem Buch „Deutschland 1917-1933“ (Berlin/DDR 1974) schrieb er: „Die Große Sozialistische Oktoberrevolution konnte siegen, weil an ihrer Spitze die Arbeiterklasse stand. ... Entscheidend war, dass das russische Proletariat eine revolutionäre Partei - die von Wladimir Iljitsch Lenin geführte Partei der Bolschewiki - besaß. ... Durch die sozialistische Revolution in Russland fand de facto die revolutionäre Lehre von Marx, Engels und Lenin ihre Bestätigung in der Tat. Die Praxis der russischen Revolution machte offenkundig, dass die historisch herangereiften gesellschaftlichen Umwälzungen in allen Ländern grundsätzlich der Oktoberrevolution folgen müssen.“

So wie es Ruge nicht verboten wurde, sich über sein Schicksal in der UdSSR zu äußern, wurde von ihm ebenso wenig gefordert, diese Bekenntnisse abzulegen. Aber es kann wohl davon ausgegangen werden, dass ein dialektischer Zusammenhang dergestalt besteht, dass es ohne von marxistisch-leninistischen Positionen ausgehend Ruge gar nicht möglich gewesen wäre, in der DDR fundierte wissenschaftliche Arbeitsergebnisse vorzulegen. Gleichzeitig spielte eine Rolle, dass Ruge seine Karriere im Auge hatte, was ihn zu diesen Bekenntnissen veranlasste und tunlichst die Teilnahme an kritischen Auseinandersetzungen - zu denen es in der DDR durchaus Möglichkeiten gab - zu vermeiden. Solche Haltungen gediehen bei nicht wenigen Funktionären der SED im Klima einer bestimmten Verbürgerlichung der Partei. [34]

...zum antisowjetischen Geschichtsfälscher

Bereits in der DDR entstandene opportunistische Stromlinienförmigkeit führte angesichts der sich abzeichnenden Niederlage des Sozialismus zu einer neuen Form der Anpassung. Die Konterrevolution saß Ende 1989, Anfang 1990 noch gar nicht fest im Sattel, die Annexion der DDR lief gerade erst an, da beteiligte sich Ruge bereits an ihrer ideologischen Wegbereitung und widerrief früher vertretene Positionen. Erstaunlich schnell, bereits im Frühjahr 1991, erschien sein Buch „Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte“, in dem er die Sowjetunion unter Stalin auf eine „stalinistische Gesellschaft“ reduzierte, die von der sozial-ökonomischen Basis als auch der Staatsstruktur her nicht als sozialistisch gekennzeichnet werden könne. Der Staat sei Großkapitalist und Großgrundbesitzer in einem gewesen, die Bauern faktisch Leibeigene des Staates. Trotzdem bot dieses Buch noch gewisse  Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen dunklen Seiten der kommunistischen Bewegung. Davon konnte in den folgenden Publikationen, z. B. in der „Weltbühne“ [35]  kaum noch die Rede sein.

Ruge geriet zunehmend ins Fahrwasser antisowjetischer Geschichtsfälscher mit ihren Schwarz- und Rotbüchern, übernahm den unwissenschaftlichen Begriff des Stalinismus als Synonym für das Sozialismus-Modell der UdSSR und begann, anknüpfend an die Rolle der „beiden Despoten“ (Hitler und Stalin), bei denen er zahlreiche vordergründige „Gemeinsamkeiten“ ausmachte, dieses mit dem Faschismus zu vergleichen. Ruge blieb auch nicht bei der Auseinandersetzung mit dem „Stalinismus“ stehen, sondern ging alsbald zur Revision des Leninismus über.

Eine der peinlichsten Geschichtsklitterungen fabrizierte Ruge mit einem Beitrag im „Neuen Deutschland“ zum 125 Geburtstag Lenins, den er „Der gestrauchelte Gigant“ überschrieb: [36]  Zu den darin präsentierten Unwahrheiten gehörte die Behauptung, die Oktoberrevolution sei es gewesen, die Not und Verwüstung ausgelöst und das Land mit Blut und Tränen überschwemmt habe, nicht aber die innere Konterrevolution und die bis dahin in der Geschichte beispiellos dastehende militärische Intervention von 14 kapitalistischen Staaten. Die maßgebliche Frage, welchen Einfluss diese Ereignisse auf den weiteren Revolutionsverlauf, darunter das Maß der Gewaltanwendung, hatten, klammerte er völlig aus.

Historisch-philosophischer Unsinn

Als ein weiteres Beispielen aus Ruges Arbeiten sei ein ND-Artikel zum 75. Todestag Lenins angeführt, den er geschmackloser Weise mit einem Foto des bereits schwerkranken, teilweise gelähmten und offensichtlich geistig abwesenden Parteiführers ausstattete. [37]  Das Elaborat trug den Titel „Angetreten, die Geschichte zu überlisten“. Ruge ging von den Schwächen aus, welche die ersten siegreichen sozialistischen Revolutionen der Welt in Russland und später in Osteuropa begleiteten. Berechtigte kritische Ansatzpunkte wurden indes durch Ruges revisionistisches, bürgerliches Denken, seine defätistische und durchweg ahistorische Betrachtungsweise ihrer Glaubwürdigkeit beraubt und regelrecht ins Gegenteil verkehrt. Ruge diffamierte Lenin als Pokerspieler, der antrat, „die Geschichte zu überlisten“; die Partei degradierte er nun als zur von Lenin „befehligten Truppe“, welche die Revolution in eine „sozialistisch deklarierte Bahn“ lenkte. Durch diese Entwicklung sei eine „Bipolarität der Welt“ herbeigeführt worden, die „fast das ganze 20. Jahrhundert prägen sollte“. Nach dieser jetzt bezogenen antidialektischen Logik Ruges hätten Lenin und die Bolschewiki auf die Oktoberrevolution verzichten und die „Einpolarität“ der imperialistisch beherrschten Welt akzeptieren sollen. Zu diesem historisch-philosophischen Unsinn nur soviel: Die Bipolarität der modernen Welt existiert seit der Geburtsstunde des Kapitalismus in Gestalt des Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital. Ruge warf hier selbst das kleine Einmaleins des Marxismus über Bord. Mit derartigen „Weisheiten“ ging es in besagtem Beitrag am laufenden Band weiter. Da wurde Lenin unterstellt, er wähnte mit der Machtergreifung der Bolschewiki „sei die schwierigste Hürde genommen.“ (Er hat sich wiederholt und grundsätzlich gegenteilig geäußert). Dass „die Weltrevolution ausblieb“, mit der Lenin unter bestimmten Bedingungen rechnete, lastete Ruge ihm nun als Fehleinschätzung an. Kein Wort dazu, dass die Revolution beispielsweise in Deutschland von der SPD niedergeschlagen und so verhindert wurde.

Wie widersinnig Ruge schrieb, verdeutlichte sein Schlusssatz, der zwar „die kühnen und die Welt aufrüttelnden Ideen Lenins“ erwähnte, aber sofort relativierend festhielt, sie seien „mit dem Staatsgründer zu Grabe getragen worden“. Waren es etwa beerdigte Ideen, die den Sowjetstaat noch über sechs Jahrezehnte existieren ließen; die trotz aller später einsetzenden Deformationen den Volksmassen nie gekannte Fortschritte brachten, welche die entscheidende Grundlage des Sieges der Sowjetunion über den Faschismus bildeten; die in Osteuropa sozialistische Staaten hervorbrachten und fast fünf Jahrzehnte am Leben erhielten; die heute wieder weltweit mögliche Aggressions- und Expansionskriege verhinderten; die den Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems herbeiführten? Zeugen nicht China und Kuba, um nur diese Staaten zu nennen, vom weiterwirkenden Einfluss der Leninschen Ideen?

In einem weiteren Beitrag, „Zum 85. Jahrestag des Aufstandes der Bolschewiki - Eruption nach oder vor der Katastrophe“ betitelt, setzte Ruge seine opportunistische Linie fort, in die er diesmal eine Revision  Marx´ einbezog. In diesem Elaborat bediente er selbst die Hitlerfaschistischen Parolen von der „jüdisch-bolschewistischen Verschwörung“ in dem er die Partei der Bolschewiki als ein Häuflein „verbitterter Juden“, die Lenin „um sich geschart“ hatte, diffamierte. Die wieder folgenden  Darlegungen zur Repression unter Stalin, bei der die Überprüfbarkeit der angeführten Fakten teilweise dahin gestellt bleiben muss, boten nichts Neues. [38]

Untersuchung des Opportunismus der Gegenwart steht noch aus

Es ist erschütternd zu verfolgen, wie der einst hochqualifizierte Wissenschaftler Ruge, der sich sowohl durch Klarheit der Analyse als auch geschliffenes Wort auszeichnete, zu einem Dutzend-Schreiber bürgerlichen Formats abgesunken ist. Bleibt am Ende zu fragen, was einstige Verfechter der Sache des Marxismus-Leninismus dazu bewogen hat, auf die andere Seite der Barrikade zu wechseln. Eine Antwort darauf steht noch aus. Sie zu suchen, wird dazu beitragen, die vielfältigen Ursachen und Wurzeln opportunistischer Erscheinungen der Gegenwart aufzudecken und so zu verhindern, dass sie in den Reihen der Kommunisten und revolutionären Sozialisten Fuß fassen. Fest stehen dürfte, dass eine kritische Auseinandersetzung und Bewertung von Fragen der Geschichte des Sozialismus ein solides theoretisches Fundament voraussetzt, wie es uns die Klassiker hinterlassen haben. Wer dieses Fundament aufgibt, endet in jener Sackgasse, in die Ruge geraten ist. [39]                                                                                                                                                   

                                                                                                              Gerhard Feldbauer, Poppenhausen

Zur Haftentlassung von Egon Krenz

Erich Buchholz: Juristen können alles begründen

Der Volksmund sagt: Juristen können alles begründen. Das ist in der Tat nicht so falsch.

Die neuerliche Entscheidung des Kammergerichts, die Egon Krenz von der weiteren Verbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe verschont, ist ein weiteres Beispiel dafür. Denn eben dieses Kammergericht hatte auf der gleichen Rechts- und Tatsachengrundlage in der gleichen Besetzung ein halbes Jahr zuvor die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bestätigt, mit der Egon Krenz die Strafaussetzung zur Bewährung verwehrt wurde.

Natürlich freuen sich Mitstreiter und Freunde von Egon Krenz darüber, dass er nun in Freiheit ist. Aber für einen Juristen ist die jüngste Entscheidung vom 18. Dezember 2003 Veranlassung für eine Anmerkung, die ich unter die obige Überschrift setze.

Ich darf dazu auf zwei persönliche Erlebnisse zurückgreifen:

Ziemlich bald nach 1945 nahm ich im Hinblick auf mein Jurastudium Gelegenheit, mich in der Berliner Justiz umzusehen. Dabei ergaben sich zwei Gespräche mit zwei älteren Landgerichtsräten, die bereits in der Weimarer Justiz tätig waren. Beide bemerkten im Verlauf der Gespräche – unabhängig voneinander, aber fast gleichlautend – folgendes: „Junger Mann, wir machen das immer so: wir überlegen erst, was herauskommen soll, dann suchen wir die entsprechenden Paragraphen.“

Ich war damals geschockt von einer solchen Herangehensweise an die Entscheidung von Rechtssachen. Musste ich doch diese Erläuterungen so verstehen, dass man das Recht, die Paragraphen, je nachdem, so oder so, heranzieht, um das vorgestellte oder gewünschte Ergebnis juristisch begründen zu können. Ich bezeichnete für mich eine solche für mich unerträgliche Herangehensweise als ein ergebnisorientiertes Judizieren. Jedenfalls hatte ich mir damals nach diesen beiden Gesprächen vorgenommen, wenn ich einmal Jurist sein würde, es nicht so zu machen.

Als ich dann in der Folgezeit an der Universität Lehrtätigkeiten aufnahm, hatte ich mich ganz ausdrücklich nicht darauf eingestellt, unseren Studenten derartiges meines Erachtens rechtsfeindliches, ergebnisorientiertes Judizieren zu vermitteln. Jenes Gespräch aus der Nachkriegszeit verschwand dann langsam aus meinem Gedächtnis.

Fast 50 Jahre später kam die Erinnerung an diese Gespräche wieder hoch, und zwar, als ich als Strafverteidiger vor West-Berliner Gerichten für angeklagte ehemalige DDR-Bürger, Juristen und Angehörige der Grenztruppen auftrat. Für alle Beteiligten wurde in all diesen Verfahren immer deutlicher, dass entsprechende Verurteilungen bereits vor Beginn der Hauptverhandlungen feststanden. Die Verhandlungen selbst fanden nur statt und die Ausführungen in den Urteilsbegründungen dienten nur dem Zweck, um das vorgefasste Ergebnis juristisch zu „begründen“ bzw. zu kaschieren. Mir wurde deutlich: das ergebnisorientierte Judizieren ist ein Wesenszug dieser Justiz!

Genau dies spiegeln auch die beiden im Ergebnis entgegengesetzten Entscheidungen des Kammergerichts vom 12. Juni und vom 18. Dezember 2003 in Sachen Egon Krenz wider, die auf gleicher Rechts- und Tatsachengrundlage ergingen:

Im Juni 2003 wollte das Kammergericht Egon Krenz (noch) nicht freilassen;  im Dezember 2003 wollte (oder sollte?) man ihn freilassen. Warum es zu dieser geänderten Auffassung kam, ist den Begründungen der beiden Entscheidungen nicht zu entnehmen – wenn man davon absieht, dass das Kammergericht im Juni 2003 meinte, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, aber im Dezember des gleichen Jahres den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt. Warum es nun der richtige Zeitpunkt war, steht nicht in den Gründen.

Beide angesprochenen Entscheidungen argumentieren bei übereinstimmender Tatsachengrundlage aufgrund der in beiden Entscheidungen herangezogenen Vorschrift des §57 Abs. 2 StGB mit dem gleichen juristischen Instrumentarium, mit den gleichen juristischen „Bausteinen“.

Die vom Tatrichter dem Landgericht Berlin in seinem – rechtswidrigen – verurteilenden Unrechts-Urteil zugrunde gelegten (falschen) Tatsachen haben sich nicht geändert und konnten sich auch nicht mehr ändern. Das Verhalten des Verurteilten im Strafvollzug war bereits Anfang 2003 von der Justizvollzugsanstalt ebenso positiv beurteilt worden, wie auch bereits damals von einer günstigen Sozialprognose sowie davon ausgegangen wurde, dass der Verurteilte nicht wieder straffällig werden wird. Neue Tatsachen, die eine andere Beurteilung zu rechtfertigen vermögen, sind in dem halben Jahr nicht hinzugekommen.

Die gleichen, auf die gesetzlichen Voraussetzungen der Reststrafaussetzung bei Halbstrafe gem. § 57 Abs. 2 StGB abstellenden juristischen „Bausteine“ in Gestalt der Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des Strafvollzuges nebst der geläufigen Kommentierung und der gängigen Rechtsprechung wurden nur jeweils unterschiedlich zusammengesetzt und dadurch unterschiedlich gewichtet. So wurden im Endergebnis durch unterschiedliche Wertungen entgegengesetzte Entscheidungen herbeigeführt.

In der Entscheidung vom 18. Dezember wird ausdrücklich auf die Ausführungen in der Entscheidung vom Juni 2003 Bezug genommen: vieles wird – teilweise mit etwas unterschiedlicher Nuancierung – wiederholt, so, was die „Schuldschwere“ betrifft, das persönliche Verhalten des Verurteilten im Strafvollzug, die günstige Sozialprognose usw.

Im Juni 2003 hatte das Kammergericht den „Strafzweck der gerechten Sühne für schwere Schuld“ und den Ausnahmecharakter der Reststrafaussetzung in Fällen des § 57 Abs. 2 StGB betont, wobei es die „schuldmindernden Umstände in der Person des Verurteilten, auch sein Verhalten im Herbst 1989 nicht übersehen“ wollte. Sein positives Verhalten im Strafvollzug hatte damals nicht gezählt, weil es bei Egon Krenz „weder der Beseitigung von Defiziten im Sozialverhalten, noch der schulischen oder der beruflichen Aus- und Fortbildung oder Behebung tatursächlicher Charaktermängel“ bedarf. Aber „angesichts der Schwere der Schuld“ sei eine Reststrafaussetzung „derzeit noch nicht gerechtfertigt“.

Demgegenüber liest man in der Entscheidung vom Dezember 2003, die auf der gleichen Rechts- und Tatsachengrundlage erging, dass „Gesichtspunkte der Schuldschwere, der Generalprävention und der Verteidigung der Rechtsordnung ... an Gewicht verlieren, je weiter sich der Vollzug dem Zweidrittelzeitpunkt nähert“. „Bei einem länger dauernden Strafvollzug“ – im Juni 2003 war nach dreieinhalb Jahren noch kein „länger dauernder Strafvollzug“ angenommen worden! – käme, heißt es jetzt, „dem Tatgeschehen – abgesehen von der Schuldschwere – nur noch eine eingeschränktere Aussagekraft“ zu. „Umstände wie das Vollzugsverhalten und die Lebensumstände des Verurteilten“ gewönnen nunmehr „für die individuelle Kriminalprognose an Bedeutung“, zumal es bei dem Verurteilten, was das Kammergericht auch im Juni 2003 bereits wusste, „ohnehin weder der Beseitigung von Defiziten im Sozialverhalten, noch der schulischen oder der beruflichen Aus- und Fortbildung oder Behebung tatursächlicher Charaktermängel“ bedurfte. Daher sei „zum jetzigen Zeitpunkt“ die Reststrafaussetzung gerechtfertigt.

Offenkundig standen dem Kammergericht bei beiden auf die gleiche Rechtsvorschrift gestützten Entscheidungen die gleichen maßgeblichen tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung; neue Tatsachen sind zwischen Juni und Dezember 2003 nicht hinzu.

Der springende Punkt in den betreffenden Entscheidungen ist: im Juni war eine Strafaussetzung noch nicht gerechtfertigt, aber im Dezember 2003 sei sie gerechtfertigt gewesen. Es handelt sich somit auf der gleichen Rechtsgrundlage augenscheinlich um eine unterschiedliche Bewertung der gleichen Tatsachen. Warum im Juni 2003 der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen war, aber im Dezember 2003 doch, bleibt das unausgesprochene Geheimnis der gleichen Richter des Kammergerichts.

Wie Juristen die unterschiedliche Beurteilung gleicher Sachverhalte juristisch zu begründen vermögen und zu begründen haben – wie uns das die beiden vorerwähnten Entscheidungen des Kammergerichts anschaulich demonstrieren – das haben die erkennenden Richter als erfahrene Juristen hinreichend gelernt.

Angesichts des offenkundig politischen Charakters des Verfahrens gegen Egon Krenz und der in den Medien im Zusammenhang mit seiner in Betracht kommenden Strafaussetzung zu Bewährung zum Ausdruck gekommenen politischen Auffassungen ist offensichtlich, dass hinter der juristischen Begründung letztlich politische Gründe für die entgegengesetzten Entscheidungen maßgeblich waren. Denn eine schlüssige Erklärung für die unterschiedlichen Entscheidungen ist im juristischen Bereich nicht zu finden.

Hinter den beiden entgegengesetzten Entscheidungen stehen politische Gründe.

                                                                                                                                 Erich Buchholz, Berlin

 

Rechenschaftsbericht 2003

Realisierte Hefte 2003

 

  1/03    Ausgabe Januar-Februar 2003                                                      Auflage: 600     Rest: ca.30  

  2/03    „Voraussetzungen und Ergebnisse der Großen

              Sozialistischen Oktoberrevolution“ von G. Hoffmann              Auflage: 900      Rest: 15      

  3/03    „Stalins Beiträge zur Parteitheorie, Heft I“ von U. Huar           Auflage: 900      Rest: ca.130

  4/03    „Stalins Beiträge zur Parteitheorie, Heft II“ von U. Huar          Auflage: 900      Rest: ca.130

  5/03    Ausgabe März-April 2003                                                            Auflage: 600      Rest: ca.40

  6/03    Ausgabe Mai-Juni 2003                                                                Auflage: 600      Rest: ca.40

  7/03    „Zum Opportunismus in der kommunistischen und

              sozialistischen Bewegung Italiens, Heft I“ von

              G. Feldbauer                                                                                  Auflage: 900      Rest: ca.110

  8/03    „Zum Opportunismus in der kommunistischen und

              sozialistischen Bewegung Italiens, Heft II“ von

              G. Feldbauer                                                                                  Auflage: 900      Rest: ca.110

  9/03    „Stalin zum Klassenkampf“ von H. Brar                                      Auflage: 900      Rest: ca.190

10/03    „Die Ursprünge des modernen Revisionismus; oder: Wie

              der Browderismus nach Europa verpflanzt wurde“ von

              K. Gossweiler                                                                                Auflage: 900      Rest: ca.80

11/03    Ausgabe Juli-August 2003                                                           Auflage: 600      Rest: ca.60

12/03    „Stalins Beiträge zur marxistisch-leninistischen

              Militärtheorie und Militärpolitik 1918-1940“ von U. Huar     Auflage: 900      Rest: ca.100

13/03    Ausgabe September-Oktober 2003                                             Auflage: 600      Rest: ca.30

14/03    „Stalins Beiträge zur marxistisch-leninistischen

              Militärtheorie und –politik 1941 – 1942/43“ von U. Huar       Auflage: 900      Rest: ca.80

15/03    Ausgabe November-Dezember 2003                                          Auflage: 600      Rest: ca.40

Von wem es was zu lesen gab

Antiimperialistische Koordination, Gernot Bandur, Günter Bauch, Anne und Hans Beck, Ingeborg Böttcher, Gertrude Bongaerts, Gerhard Branstner, Harpal Brar, Erich Buchholz, Jürgen Burmeister, Vera Butler, Thomas Ebermann, Stefan Eggerdinger, Siegmar Essbach, Gerhard Feldbauer, Hans Fischer, Frank Flegel, Wladimir Gerasimtschuk, Geschäftsführung Offensiv, Kurt Gossweiler, Dieter Hainke, Heinz W. Hammer, Hannoversche Allgemeine Zeitung, Anna C. Heinrich, Klaus Herrmann, Gerald Hoffmann, Heinz Hoffmann, Ulrich Huar, Irakische Kommunistische Partei (Kader), Hermann Jacobs, Monika Kauf, KKE, Patrik Köbele, Hanne List, Helmut Lucas, Hanfried Müller, Niedersächsisches Innenministerium, Willi Opitz, Michael Opperskalski, Wolfgang Pfaffenberger, Redaktionen und Journalistinnen und Journalisten aus Deutschland, Redaktion Offensiv, Karl-Heinz Reinhardt, Wilhelm Heinrich Rettler, Werner Roß, Eva Ruppert, Edgar Schäfer, Andrea Schön, SDAJ, Nikos Seretakis, Horst Schneider, Erich Schreier, Hans Schröter, Heribert Sommer, Hans Stahl, Robert Steigerwald, Ton Veerkamp, Andrea und André Vogt, Ingo Wagner, Zbigniew Wiktor, Samy Yildirim.

Verbreitung der Offensiv

 

Die 183 Orte in Deutschland, in denen „Offensiv“ gelesen wird

Altlandsberg, Augsburg, Bad Bentheim, Bad Doberan, Bad Freienwalde, Bad Homburg, Bad Langensalza, Bad Soden, Berlin, Bessenbach, Beutel, Bielefeld, Bischofrode, Bissingen, Blumberg, Bodolz, Börnersdorf, Bonn, Brandenburg, Braunschweig, Bremen, Brüssow, Buchholz, Burgdorf, Buxdehude, Celle, Cieren, Cottbus, Crailsheim, Darmstadt, Delmenhorst, Dorfen, Dortmund, Dresden, Düsseldorf, Duisburg, Eberswalde, Edemissen, Eggersdorf, Eichwalde, Erfurt, Erkelenz, Essen, Estorf, Ferdinandshof, Fernwald, Frankfurt/M, Frankfurt/0, Fraureuth, Frechen, Freiberg, Freiburg, Friedrichsdorf, Friederichshafen, Frohburg, Gelsenkirchen, Gera, Gersdorf, Gießen, Göttingen, Goslar, Großlehna, GroßUmstadt, Grünow, Güstrow, Gütersloh, Halle, Hamburg, Hameln, Hamm, Han.Münden, Hannover, Harnekop, Hatten, Hattingen, Havelberg, Heidelberg, Heidenheim, Heidesheim, Heppenheim, Hermsdorf, Hess.Oldendorf, Hildesheim, Hohenahlsdorf, Hoyerswerda, Ilmenau, Jena, Kamen, Karlsbad, Kassel, Kehl-Neumühl, Kelbra, Kleinmachnow, Koblenz, Köln, KönigsWusterhausen, Kückenshagen, Kusel, Leipzig, Leun, Lichtenau, Lindhorst, Lübeck, Lüneburg, Magdeburg, Mahlow, Mainz, Marburg, Mönchengladbach, Möttingen, Moosburg, Müncheberg, München, Münster, Naunhof, Neuenhagen, Neuruppin, Neuss, Nürnberg, Oberhausen, Offenbach, Oldenburg, Osnabrück, Paderborn, Perleberg, Petershagen, Pforzheim, Pötenitz, Pomster, Poppenhausen, Potsdam, Radebeul, Raesfeld, Ravensburg, Rechen, Recklinghausen, Reut, Röthenbach, Ronnenberg, Rosenthal, Rostock, Rudolstadt, Rüdersdorf, Saarburg, Salzwedel, Schlangenbad, Schönkirchen, Schwabhausen, Schwäbisch-Hall, Schwaig, Schwanebeck, Schwedt, Schwerin, Stelle-Wittenwurth, Strausberg, Stuttgart, Suhl, Thorgau, Tostedt, Trier, Tübingen, Uelzen, Urnshausen, Wächtersbach, Wandsdorf, Warin, Wedel, Weissenburg, Weissenstadt, Wernding, Wernsdorf, Wetzlar, Wiesbaden, Wilkau, Winsen/Luhe, Wismar, Wörnitzostheim, Wollin, Woltersdorf, Wuppertal, Zarrentin, Zittau, Zwickau.

 

Die 27 Länder, in denen 'Offensiv' gelesen wird:

Australien, Belgien, Chile, Cuba, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Indien, Italien, Japan, Kanada, Luxembourg, Niederlande, Österreich, Polen, Rußland, Schweden, Schweiz, Slowakische Republik, Spanien, Syrien, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn, USA.

Die 44 Orte im Ausland, in denen 'Offensiv' gelesen wird:

Antwerpen (Belgien), Athen (Griechenland), Avon (Frankreich), Bratislava (Slowakische Republik), Brüssel (Belgien), Budapest (Ungarn), Calcutta (Indien), Damaskus (Syrien), Den Haag, (Niederlande), Faliro (Griechenland), Florenz (Italien), Forio (Italien), Gavorrano (Italien), Göteburg (Schweden), Havanna (Cuba), Kopenhagen (Dänemark), Linz (Österreich), Livry Gargan (Frankreich), London (Großbritannien), Lutsk (Ukraine), Luxemburg (Luxemburg), Madrid (Spanien), Melbourne (Australien), Moskau (Rußland), Neapel (Italien), New York (USA), Prag (Tschechische Republik), Ricany (Tschechische Republik), Regusse (Frankreich), Rom (Italien), Röschitz (Österreich), S. Abbondio (Schweiz), Salzburg (Österreich), Sundsvall (Schweden), St.Petersburg (Russland), Tokyo (Japan), Toronto (Kanada), Urbino (Italien), Valparaiso (Chile), Valby (Dänemark), Wasquehall (Frankreich), Wien (Österreich), Wroclaw (Polen), Zaandam (Niederlande)

Finanzen

Die Finanzabrechnung ist diesmal etwas komplizierter, weil sie in zwei Teile zerfällt: bis 11. 1. 2003 war die Offensiv „herrenlos“, d.h. von der Kommunistischen Plattform der PDS Hannover gekündigt, aber noch ohne Trägerverein. In dieser Zeit von der Kündigung (6.11.2002) bis zur Vereinsgründung (11.1.2003) haben wir ein Plus von 6.140,73 € zu verzeichnen gehabt. Dieses Plus geht mit in die Offensiv-Abrechnung 2004 ein.

Bevor nun die weitere Abrechnung folgt, sei allen, die uns finanziell geholfen haben, hier ganz, ganz herzlich gedankt!

Vom 12.1.03 bis zum 31.12.03 hatten wir ein Spendenaufkommen von 7.955,70 €.

Einnahmen:

Bestand aus der „herrenlosen“ Zeit:                                                        6.140,73 €

Spenden 2003                                                                                           7.955,70 €

Summe Einnahmen:                                                                                14.096,43 €

 

Ausgaben 2003:

Porto:                                                                                                         3.808,48 €

Druck:                                                                                                        9.926,12 €

Internet:                                                                                                           79,67 €

Anzeigen und Werbematerial:                                                                     640,11 €

Büromaterial und neuer Etikettendrucker:                                                 574,76 €

Summe Ausgaben:                                                                                  15.029,14 €

Saldo 2003:                                                                                              -  932,71 €

Dieses Minus trägt die Redaktion – oder anders ausgedrückt: die Haushaltskasse von Anna und Frank. Wir müssen also wieder – wie fast immer – verstärkt um Spenden bitten.

Spendet für die „Offensiv!“ Wir brauchen ein kleines Polster, um über das Jahr zu kommen!

Spendenkonto: Konto Frank Flegel, Nr. 3090180146 bei der Stadtsparkasse Hannover, BLZ 250 501 80, Kennwort „Offensiv“.

Für Auslandsüberweisungen: Konto Frank Flegel,

Internationale Kontonummer (IBAN): DE10 2505 0180 0021 8272 49,             

Bankidentifikation (BIC): SPKHDE2H                                                                                                

                                                                                                                     Redaktion Offensiv, Hannover

Resonanz

Hallo Frank, vor allem Dir und allen Mitstreitern des „Offensiv“ die besten Neujahrswünsche. Ich möchte Dir einige Kommentare zu den neuen Artikeln durchgeben.

Vor allem war ich an der Abhandlung über „Die europäische antikapitalistische Linke (EAL)“ interessiert, denn wir sind hier in Australien von den intellektuellen/ideologischen Diskussionen in Europa weit entfernt.

Nach der Beschreibung der EAL besteht für mich kaum ein Zweifel daran, dass eine solche Organisation das ideale Terrain für trotzkistische Infiltration abgibt – eine Taktik, die wir auch hier kennen. Das Entscheidende scheint mir die praktische Frage: „Wer finanziert die diversen trotzkistischen Gruppierungen und ihre oft sehr kostspieligen Journale und andere Veröffentlichungen?“ Das allein macht mir den heutigen Trotzkismus suspekt, ganz abgesehen von den persönlichen Erfahrungen meines Vaters in Russland 1920/21, als Trotzki Kriegskommissar war und es systematisch versuchte, seine Leute in entscheidende Positionen in der Roten Armee einzuschleusen. War es die Absicht, später einen Militärputsch zu organisieren? Darauf gibt es keine beweisbaren Antworten, nur Hypothesen. Trotzdem sind die Trotzkisten in Russland heute wieder politisch aktiv – als „Sozialistische Arbeiterpartei“, und einer ihrer Vorsitzenden ist Roy Medvedev, der Historiker. Dasselbe soll in Polen der Fall sein.

Die Erfahrungen mit EAL und den proliferierenden trotzkistischen Gruppierungen sollten zum Nachdenken anregen, wieso es der IV. Internationale weiterhin gelingt, besonders Jugendliche anzuziehen. Wie sieht ein Vergleich mit der Mitgliedschaft der DKP aus?

Ich schlage vor, den Inhalt der diversen trotzkistischen Publikationen zu analysieren. Sie verschwenden keine Zeit mit tiefsinnigen theoretischen Dissertationen, sondern behandeln Probleme, die den Menschen heute zu schaffen machen: Arbeitslosigkeit, Studiengelder, Pensionskürzungen, Wehrdienst usw. Der trotzkistische Polit-Ökonom Ernest Mandel hat schon vor Jahren in einem umfassenden Werk („Der Spätkapitalismus“) eine treffende Untersuchung der Rolle des amerikanischen Dollars ausgeführt, die heute wieder aktuell ist. Das sind Themen, die ich im „Offensiv“ vermisse. (...)

Zum Vorschlag in der „Redaktionsnotiz“ betreffs vergleichender Zahlen und Fakten zu einer Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen den USA, der EU und Deutschland: NATO-Material zu diesem Thema dürfte ausgiebigst vom Internet zu haben sein. Aber selbst ohne weitere Recherchen sollte es klar sein, dass Deutschland im Vergleich zu den USA (oder auch nur Frankreich oder Großbritannien) keine Nuklearmacht ist und daher militärisch nicht  konkurrieren kann. Dazu kommen die heutigen amerikanischen Kapazitäten im All – wiederum ein Gebiet, wo Russland, nicht aber die EU oder nur Deutschland mithalten können. Darüber wird in der internationalen Presse so viel geschrieben, dass mich derlei Fragen wundern. Lebt Eure Linke auf dem Mond oder Mars?

Schließlich hatte die UdSSR ja auch im Warschauer Pakt eine Führungsstellung dank ihrer wirtschaftlichen und militärischen Macht. War sie deshalb „imperialistisch“, wie ihr vom Westen vorgeworfen wurde? Dass Deutschland als 82-Millionen-Volk mit einem modernen Industriepotential im Europa-Rat ins Gewicht fällt, ist selbstverständlich. Trotzdem kann von einem deutschen „Imperialismus“ nicht die Rede sein. Die kapitalistischen Polen, Tschechen, Balten schreien ja alle nach deutschen Investitionen, um ihre Wirtschaften anzukurbeln. (...)

                                                                                                            Vera Butler, Melbourne, Australien

 

Lieber Frank, vielen Dank für die schöne Weihnachtssendung. Die Ausgaben 14/03 und 15/03 der "offen-siv" sind heute morgen bei mir in einwandfreiem Zustand angekommen. Ich habe mich bereits ein wenig in das Heft von Huar (14/03) eingelesen. Wie von UH nicht anders zu erwarten, ist wieder einmal alles sehr sauber recherchiert und so gut dargestellt, dass "jedes halbwegs aufgeweckte Schulkind" es begreifen sollte.

Kein Wunder also, dass die antistalinistischen Linken sich so verhalten, wie Du es im Vorwort einer etwas zurück liegenden Ausgabe beschriebest. Wunderst Du Dich wirklich über dieses Verhalten? Du wunderst Dich ja auch nicht, wenn Du zu einem Brombeerstrauch gehst und dort Brombeeren findest und keine Bananen.

Je mehr man nachträglich über gewisse Dinge in Erfahrung bringt, desto weniger verwundern sie einen.

Das entscheidende Problem der antistalinistischen Linken ist die Aufschieberitis: immer morgen, niemals heute.

Wir können mit dem Sozialismus nicht beginnen, weil die Bedingungen dafür nicht geschaffen sind.

Wir können mit dem Aufräumen nicht beginnen, weil mit dem Aufräumen noch nicht begonnen worden ist.

Wir können mit dem Abwasch nicht beginnen, weil mit dem Abwasch noch nicht begonnen worden ist.

Wenn einer dann doch etwas tut, und damit Erfolg hat, dann desavouiert er solche Leute, und dann sind sie sauer. So what?

Ich wünsche frohe und geruhsame Weihnachtstage, sowie ein guten und gesunden Rutsch ins Neue Jahr 2004. Des Weiteren entbiete ich kommunistische Grüße an Dich, Deine Familie, an Anna und die anderen Genossinnen und Genossen.                                                                                                                       

                                                                                                        Samy Yildirim, Zaandam, Niederlande

 

Lieber Frank, liebe Anna, ich wünsche Euch ein gesundes, kämpferisches und erfolgreiches neues Jahr und sende Euch meine allerherzlichsten Glückwünsche zu 10 Jahren »offen-siv«! Mögen viele weitere Jahre mit dieser wichtigen Zeit- und Streitschrift folgen!

Hier ein freundschaftlich-kritischer Leserbrief zu Eurem Beitrag »Von schönen Witzbolden und Leuten, denen es nicht so gut geht« in Nr. 15/03:

Der zweite Teil der Artikelüberschrift bezieht sich ganz offensichtlich auf den Chefredakteur der Monatszeitschrift »RotFuchs«, Genossen Klaus Steiniger. Im Artikel beschreibt Ihr (S.21) die Bemühungen des Genossen Hans Fischer, während des UZ-Pressefestes kurzfristig die Verantwortlichen diverser linker Zeitschriften zusammen zu bekommen und zitiert Hans mit den Worten »... und Steiniger geht es nicht so gut, der muss hier auf dem Platz etwas spazieren gehen.« Nun verstehe ich zwar Euren Ärger über das nicht zustande gekommene Treffen, aber mit Eurem Beitrag habt Ihr Euch m.E. heftigst vergalloppiert:

Im selben Artikel beschreibt Ihr (S. 22), mit welch üblen Methoden die Zeitschrift »offen-siv« schon angegangen worden ist: »"Wo das Geld wohl herkommt, das möchte ich gern mal wissen..." wird ... Stimmung gemacht. Diese Methode ist in hohem Maße demagogisch ... soll der geneigte Empfänger solcher Gerüchte und üblen Nachreden sozusagen von selber" denken. Man säht Vorurteile, ohne eine Begründung oder einen Beweis liefern zu müssen.«

Richtig, richtig, richtig! NUR: Ihr bedient Euch in Bezug auf den Genossen Steiniger genau dieses Verfahrens! Denn Ihr sagt nichts anderes als: Klaus Steiniger hat nicht die cojones, um sein Desinteresse an dem Treffen zu formulieren, also drückt er sich mit dem Vorwand, es ginge ihm schlecht. Und das, Genossen, ist - ein kleiner Blick auf den Lebenslauf des Genossen Steiniger spricht da Bände - so was von falsch und bedarf einer Entschuldigung! Zur Sache selbst: Ich war beim UZ-Pressefest kurz beim »RotFuchs«-Stand: Die Luft in dieser Halle war sehr schlecht und ich verstehe jeden, der sagt, dass er mal eine Stunde Spaziergang benötigt, weil es ihm schlecht geht. Und unser Genosse Klaus Steiniger ist mit seinen 71 Jahren ja nun auch nicht mehr direkt im Jungpionier-Alter. Als Kommunisten und damit Radikal-Humanisten haben wir unseren Klassenbrüdern und -schwestern, unseren Genossinnen und Genossen jedoch keine Häme und üble Nachrede, sondern Anteilnahme und Solidarität entgegen zu bringen!

Ihr schreibt (in Fußnote 8, S. 19): »Die gemeinsamen Erfahrungen waren fruchtbar und die inhaltlichen Gemeinsamkeiten sind riesengroß - nach dem, was wir im RotFuchs lesen. Es müßte doch möglich sein, sich zusammenzusetzen ... Wir wären jedenfalls an einer Entspannung der Situation sehr interessiert - vor allem wegen der vor uns liegenden Aufgaben.«

Wieder: Richtig, richtig und nochmals richtig! Wir leben mitten in einer geschichtlichen Zäsur. Die Substanz der bürgerlichen Republik BRD wird derzeit in rasantem Tempo zerbröselt. Die Arbeiterverräter der SPD fungieren (mal wieder) als Speerspitze bei der Liquidierung der Errungenschaften der Arbeiterklasse der letzten 100 Jahre. In dieser ebenso dramatischen wie gefährlichen Situation dürfen sich die marxistisch-leninistischen Kräfte nicht gegenseitig lähmen. Klassenkampf ist angesagt!                                        

Mit kommunistischem Gruß, Heinz-W. Hammer, Essen

 

Hallo liebe Genossen! Ich habe von einem Freund das Heft 12/03 des Offensiv (U. Huar, Stalins Beiträge zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie und Militärpolitik 1918 bis 1940) bekommen. Vorweg die Bemerkung, daß ich es als eine sehr gute Arbeit ansehe, die mir sehr viel gegeben hat. Einige Dinge möchte ich aber trotzdem ansprechen über die man wenigstens mal nachdenken sollte bzw sich darüber austauschen sollte. (Meine Bemerkungen richten sich an Ulrich Huar.)

1. Ich habe lange gebraucht, bis ich die Argumentation über bzw. gegen die Freiwilligenarmee nachvollziehen konnte, denn zwangsläufig unterstellt man einer Freiwilligenarmee ein höheres Bewußtsein als zwangsrekrutierten Einheiten. Ich mußte in verschiedener Literatur nachlesen um der Argumentation folgen zu können. (unter anderem Geschichte des Bürgerkrieges Moskau 1949) Im Endeffekt weiß ich nun, was gemeint ist und glaube, daß das Argument richtig ist.

2. Milizsystem – natürlich ist die Argumentation zum Milizsystem richtig, sie kann in der heutigen Zeit nicht die Funktion einer regulären Armee übernehmen und eine sichere Verteidigung des Vaterlandes garantieren. Anders muß man es sehen, wenn, neben regulären Streitkräften, Milizen vorhanden sind, sie stellen im System der Landesverteidigung ein durchaus wirksames Argument dar. Denken Sie an die Volkswehrdivisionen, die unter anderem Leningrad und Moskau mit verteidigten und die später den Grundstein für Divisionen stellten, von denen nicht wenige den Gardetitel erhielten oder richtiger sich erkämpften. Diese Einheiten waren natürlich in ihrem Kampfwert regulären Einheiten teilweise unterlegen. Weniger Kampfunterstützungsmittel – geringerer Anteil an Berufskommandeuren – oft ungeübt im Zusammenwirken und Unterstützung – höheres Durchschnittsalter. Trotzdem haben sie zwei entscheidende Vorteile:

a. sie verteidigen nicht den relativ abstrakten Raum „Heimat“, sondern den Betrieb, die Stadt, das Wohngebiet hinter sich, Ihre Fabrik, ihre Stadt, ihr Wohngebiet und

b. sie besitzen Ortskenntnis, die der Kommandeur von regulären Einheiten weder durch das Studium der Karte, des Geländes oder durch Aufklärung je in dem Umfang und der Detailgenauigkeit erreichen kann oder sie nur durch langwierige Kämpfe in einem begrenzten Raum erreichen kann. Richtig ist, daß die Kombination von regulären und Milizverbänden, so glaube ich, die günstigste Form der Landesverteidigung ist. (...)

3. An anderer Stelle, als es um die Wählbarkeit von Kommandeuren (s.27) ging, steht: „Die Wählbarkeit der Kommandeur gehört zu den sichersten Mitteln, jeder Armee zu zersetzen, zu zerstören.“  Dem kann ich nicht zustimmen. Bei der FARC (sie besteht seit 35 Jahren) haben die Mannschaften ein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung von Kommandeursplanstellen. Es ist nämlich nicht so, daß man sich dann einen Kommandeur sucht der „liberal“ ist. Einheiten, die bewußt erzogen, denen die Härten des Gefechts bewußt sind, werden sich einen Kommandeur suchen, der ihnen den Erfolg im Gefecht (Angriff wie Verteidigung) garantiert. Hier ist ein ernster Widerspruch in der sozialistischen Militärtheorie.

Einerseits werden politisch gebildete und bewußte Kämpfer gefordert und oft auch behauptet, daß dieses Bewußtsein vorhanden wäre. Auf der anderen Seite unterstellt man (und nichts anderes ist das) den Einheiten das Fehlen jeglichen Siegeswillen, wenn sie sich angeblich Kommandeure suchen, die diesen Sieg nicht garantieren . Ich war selbst Offizier und habe erlebt was für „Typen“ teilweise die Stufenleiter nach oben gefallen sind. Auf der einen Seite wirklich fähige Offiziere, aber auch nicht wenige, deren Prinzip der Umsetzung der Befehle (und das in Friedenszeiten) auf Kosten der Soldaten ging. Eben das altbekannte System: „nach oben kratzen nach unten treten“. Wir haben leider weniger (und wenn nur schemenhaft ) an der Ausbildung von Bewußtsein gearbeitet als an der Umsetzung von Befehlen. Ein Bericht, der schön voll war von „politischen und Freizeitaktivitäten“, zu denen die Soldaten oft hinbefohlen wurden, ob sie wollten oder nicht, war wichtiger als die wirkliche Arbeit mit den Menschen.

Warum sind so wenige ehem. Offiziere heute noch politisch aktiv, obwohl sie Theoretisch dazu sogar auf Grund ihrer Fahnen- und Offizierseides verpflichtet wären. Man müßte, wenn wir wieder vor diesem Problem stehen, darüber noch einmal streiten. Ich könnte mir eine Variante vorstellen, daß (wenigstens bei den unteren Kommandeursplanstellen bis Ebene Bataillon) der übergeordnete Kommandeur den Einsetzungsvorschlag macht, aber die Parteigruppe ihn bestätigen muß bzw. umgekehrt.

4. Zu den „Säuberungen“ Grundsätzlich waren sie richtig und notwendig, denn der Satz ist ja allbekannt, daß eine Revolution nur so viel wert ist, wie sie sich zu verteidigen weiß. Aber ich finde bei Ihnen einige Pauschalisierungen, die mir nicht gefallen.

a. Meines Wissens gibt es keine Statistik, die belegt, daß der Anteil an Offizieren, die vorher in Haft waren und die dann während des vaterländischen Krieges verräterisch die Seiten wechselten, über den Durchschnitt hoch war. (...)

b. Auf Seite 83 steht sinngemäß der Fakt, daß nach 1953 viele der Inhaftierten zu Konterrevolutionären geworden sind, wenigstens zu glühenden „Antistalinisten“(obwohl ich nicht weiß, ob es da einen Unterschied gibt). Das stimmt sicherlich, aber die Haft, ob nun schuldig oder unschuldig, dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben. Deshalb ist das Verhalten dieser Personen nach ihrer Haftentlassung kein Beweis für Ihr Denken und Handeln vor ihrer Inhaftierung.

c. Das Argument, daß die „Säuberungen“ ein Enthauptungsschlag gegen die rote Armee war, kann man nicht so einseitig bewerten. Ich weiß, daß prozentual mehr höhere Kommandeursdienstgrade aus der Armee entfernt oder verhaftet wurden als niedere. Zwangsläufig mußten untere Dienstgrade in der Dienststellung nachrücken. Also wurde der Bataillonskommandeur Regimenter oder gar Divisioner. Das bedeutet: kommandierte er vorher ca. 400 Mann waren es dann plötzlich 9000. War vorher seine Aufgabe die Erfüllung taktischer Operationen mit begrenzten Zielen, so waren es plötzlich operativ-taktische oder gar strategische Aufgaben in Rahmen des Korps oder der Aufgabe der Armee. Das lernt man nicht von heute auf morgen. (...)

Man kann natürlich die Frage auch andersherum stellen. Was wäre passiert, wenn diese Säuberungen nicht gewesen wären und ich muß zugeben, daß ein einziger Marschall gereicht hätte, der gegen die SU arbeitet, um rießigen Schaden und Niederlagen herbei zu führen. Ich wollte mit meiner Argumentation die Säuberungen nicht verteufeln, aber wollte auch richtigstellen, daß sie sehr wohl Einfluß auf den Ausbildungsstand und die operativ-taktischen und strategischen Fähigkeiten des Kommandeursbestandes hatten. (...)

Was ich an Ihrer Argumentation wichtig finde, daß Sie zugeben daß Stalin und mit Ihm die Sowj. Staats- und Parteiführung Fehler beging, und es konnte auch nicht anders sein. Waren sie doch auch nur Menschen, die einem natürlichen Erkenntnisprozeß unterliegen. Aber sie haben die Revolution siegreich zuende gebracht, den Faschismus besiegt und angefangen ein riesiges Land zu industrialisieren.

Ich wünsche Ihnen alles Gute und danke ihne für die gute Arbeit                                                            

                                                                                                                        Ralf Stoll, beim Roten Tisch

 

Lieber Genosse Frank, schöne kommunistische Grüße aus Polen für Sie, das gesamte Redaktionskollektiv sowie für die Autoren und Leser der hoch eingeschätzten Zeitschrift „Offensiv“. Vielen Dank für die Ausgaben der „Offensiv“, sie geben mir viel informatives Material zur Situation und zu den Diskussionen in der deutschen Arbeiterbewegung.

Besondere Grüße und Wünsche für Prof. Ulrich Huar für seine Ausarbeitung der Stalin-Beiträge – nicht nur zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie. Die Bedeutung der Stalinaktivitäten - auf den verschiedenen Gebieten - für die Entwicklung des Marxismus-Leninismus und für den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus bleibt außerordentlich, und deswegen wird Stalin von den Feinden des Sozialismus so gehasst.   

                                                                                        Ihr Genosse Zbigniew Wiktor, Wroclaw, Polen

 

Zum xten Mal zum Parteienheft (Die Überschrift stammt vom Leserbriefschreiber! D. Red.)

Werte Gen. Flegel und Opperskalski! Im sogenannten „Parteienheft“ vom Januar 2002 scheint mir, daß vor allem die Einschätzung der KPD absolut unzureichend und deshalb falsch eingeschätzt wurde. Die Entwicklung der Realität in den letzten zwei Jahren bestätigen diese Fehleinschätzung. Vielleicht kommt es daher, daß revisionistische Parteien wie die PDS oder die DKP aus ihrer Führungsstruktur heraus einen klaren antisozialistischen, antibolschewistischen und natürlich antistalinistischen Kurs steuern. Mit solchen Parteien lässt sich aber die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) nicht vergleichen. Was die DKP betrifft, sind die revisionistischen Wurzeln noch auf Chruschtschows sogenannter Geheimrede auf den XX. Parteitag der KPdSU zurückzuführen. Ich verweise hierzu auf die Analysen von Kurt Gossweiler u. a. Es ist sicher, daß es sowohl in der SPD, PDS und der DKP in den Mitgliedschaften noch viele aufrechte Kommunisten gibt, die den Kurs ihrer revisionistischen Parteien zumindest ablehnen. Was das Programm dieser Parteien anbelangt, so sind sie bereits im „Manifest der Kommunistischen Partei“ unter III. 1) „Der reaktionäre Sozialismus,“ als „b) kleinbürgerlicher Sozialismus“, „c) Der deutsche oder wahre Sozialismus“ und „2) Der konservative oder Bourgeoisie-Sozialismus“ im wesentlichen gekennzeichnet. Trotz aller Schönrednerei hat sich ja bekanntlich am Wesen des Kapitalismus/Imperialismus nichts geändert. Deshalb ist ja im Programm der KPD (vom 7.10.1999) der Satz; „Die deutsche Arbeiterklasse und ihre Verbündeten benötigten und benötigen in ihrem Kampf gegen den Klassengegner, die Klasse der Kapitalisten und ihre sozialdemokratischen Stützen eine marxistisch-leninistische Kommunistische Partei Deutschlands, eine Partei ´Leninschen Typs´“. (Programm der KPD S. 3) Und weiter: „Die weitere Entfernung der DKP vom Marxismus-Leninismus vertieft die Meinungsverschiedenheiten zwischen der KPD und einigen Funktionären der DKP. Anstatt die Zusammenarbeit bis hin zur Vereinigung von KPD und DKP als einheitliche Partei mit marxistisch-leninistischen Anspruch zu fördern, behindert der wachsende Revisionismus  in der Spitze der DKP die Annäherung an die PDS diesen Prozess.“ Was nun die KPD betrifft, so war und ist sie seit ihrer Neugründung 1990 von einer See von Feinden umgeben. Ob es nun die revisionistischen Parteien DKP oder PDS oder gar die SPD wahrhaben wollen oder nicht, sie stehen in einer Reihe mit der herrschenden Bourgeoisie. Auch das ist ein untrügliches Zeichen für den von ihnen praktizierten Antistalinismus, das einende Band gegen jeglichen Sozialismus. Was die gegenwärtige Quantität der KPD betrifft, so ist das angesichts der vereinigten Hetze und dem Totschweigen der KPD wo immer möglich, nicht im geringsten verwunderlich, daß diese Partei nur deshalb noch nicht von der herrschenden kapitalistischen Klasse verboten wurde, weil diese angesichts des KPD-Verbots von 1956 eingesehen hat, daß eine wahre kommunistische Partei nicht ausgerottet werden kann und es für die Unterdrückungsorgane gegenwärtig einfacher ist, diese Partei mit ihrer beschränkten zahlenmäßigen Größe mit „legalen“ Mitteln im Zaun zu halten. Zudem hat dies den Vorteil den manipulierten Massen die kapitalistische „Demokratiefähigkeit“ anhand der KPD gegenüber vor Augen zu führen, auch wenn man das nicht immer der Partei gegenüber so genau nimmt. Letztendlich ist eine Observierung beim gegenwärtigen Mitgliederbestand der KPD, so glaubt man, „billiger“. 

Im Programm der KPD auf S. 5 heißt es: „Die KPD ist keine Partei, die über die Arbeiterklasse oder durch die Masse der Werktätigen zur Herrschaft gelangen will.“ Als besonders wichtig erachte ich es, wenn weiter im Programm steht: „Eine Wissenschaft wird nicht durch eine Mehrheitsabstimmung zur Wissenschaft, das trifft auch auf den Marxismus-Leninismus zu.“ Ich interpretiere das so, daß der Marxismus-Leninismus die einzige wissenschaftliche Ideologie der nationalen und internationalen Arbeiterklasse ist. Die immer wieder von Zeit zu Zeit aufkommenden Massenbewegungen beweisen es ständig, daß wie es im Programm der KPD heißt: „Der Verlauf einer Revolution zeigte, daß aller Kampfeswille

der Arbeiterklasse, der revolutionären Arbeiter und Soldaten eine revolutionäre Partei nicht ersetzen konnte.“

Ohne hier auf bekannte historische Tatsachen einzugehen, muß aber darauf hingewiesen werden: „Die KPD bewertet die historischen Tatsachen immer vom Standpunkt der Arbeiterklasse. Dieser Standpunkt beweist, daß bis zum Tode von J. W. Stalins der Sozialismus siegreich und erfolgreich war. Gemeinsam mit der KP Chinas wurde das sozialistische Weltsystem errichtet. Der Imperialismus befand sich auf der Verliererseite der Weltgeschichte. Dort wo man sich der Lügen über Stalin beugte, siegte die Konterrevolution.“

Mao Tse-tung, nach Stalin ein nicht weniger gehasster kommunistischer Führer, drückte es in seiner blumigen chinesischen Sprache am 15.11.1956, also nach Chruschtschows sogenannter Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU, so aus:

  „Das Schwert das Stalin darstellt, haben die Russen von heute (1956 A. H.) weggeworfen. Gomulka (Dessen Auflösung der polnischen LPGs dem kapitalistischen Polen in der EU noch teuer zu stehen kommen wird. A. H.) und einige Ungarn haben es aufgehoben um die Sowjetunion zu bekämpfen um das was man Stalinismus nennt, zu bekämpfen. Die Imperialisten nutzen dieses Schwert auch um Menschen zu töten; Dulles (ehemaliger USA-Außenminister A. H.) hat einmal damit gedroht.“

Und weiter mit Mao: „Der Bericht Chruschtschows (auf dem XX. Parteitag 1956 A. H.) sagt, daß es möglich ist, über den parlamentarischen Weg an die Macht zu gelangen; das bedeutet, daß dem Leitbild der Oktoberrevolution von anderen Ländern nicht mehr gefolgt werden muß. Wenn diese Tür einmal ganz geöffnet ist, ist der Leninismus so gut wie verworfen.“ (Zitiert aus: Stalin anders betrachtet von Ludo Marten).

Wenn Ihr in Eurem Schlusssatz im Artikel über die KPD (Parteienheft) schreibt: „Die KPD und ihre Mitglieder werden ein unverzichtbarer Bestandteil der noch zu schaffenden einheitlichen kommunistischen Partei in Deutschland sein.“ Widersprechen sich da die beiden Autoren dieses Artikels nicht? Das fairste wäre es, wenn sie sich in einem neuen Artikel über die KPD vom Klassenstandpunkt aus erneut über die KPD äußern würden und dabei ihre Fehler und Einschätzungen berichtigen würden. So etwas nennt man Selbstkritik üben.

Bei allen Schwächen und Fehlern, die der KPD noch anhaften mögen: in Deutschland ist die KPD die einzige Partei des Proletariats und sie vertritt deren wissenschaftliche Ideologie den Marxismus-Leninismus. Keine andere Partei hat deshalb eine Zukunftsperspektive außer der KPD. Nicht der Revisionismus noch der Kapitalismus oder gar der Imperialismus hat eine Perspektive. Die KPD, Partei des Proletariats steht auf der Gewinnerseite. Nur die Natur könnte uns da einen Strich durch die Rechnung machen, aber eine gesellschaftliche Kraft vermag es nicht, es sei denn um den Preis des Untergangs der Menschheit.

                                                                                                                Anton Heinrich, Bad Langensalza

 

Lieber Frank, den Artikel über die EAL aus Nr. 13 habe ich als Kopie an eine Reihe interessierter Genossen gegeben, weil dieser m.E. die erste und umfassendste Darstellung der Rolle dieses Konstrukts ist. Das hat mit dazu beigetragen, dass unser Landesvorstand (der DKP, d.Red.) die Forderung an den Parteivorstand richtete, mit der EAL auf keinen Fall ein Wahlbündnis einzugehen. (...)                                                               

                                                                                Mit kommunistischem Gruß, Kurt Nobst, Blumberg

 

Hallo! Erstmal ein ganz großes Lob für die letzte Ausgabe (gemeint ist Stalins Beiträge zur marxistisch-leninistischen Militärtheorie und –politik 1941-1942/3 von Ulrich Huar), ich bin begeistert, habe zwar jetzt erst etwa ein Drittel durch, aber bin mir sicher, dass ich den Rest auch noch aufsaugen werde wie ein ausgetrockneter Schwamm.                                                                                                                         

                                                                                                                            Ronny Hirsch, Hermsdorf

 

Seminar der Antifaschistischen Aktion Hameln-Pyrmont

Seminar vom 09.-11. April 2004 in der Gedenkstätte KZ Buchenwald

Für die Überlebenden der Verfolgung durch den Nationalsozialismus war und ist der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung. Der 8. Mai besiegelte den militärischen und politischen Sieg über den deutschen Faschismus. Für die Deutschen, die den Nationalsozialismus getragen und unterstützt hatten, war der 8. Mai der Tag der Niederlage. Die meisten Täter wurden für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen. Anlass für uns, das Vermächtnis der ehemaligen Häftlinge wach zu halten und die neue Konzeption der Gedenkstättenarbeit kennen zu lernen.

"Erinnerung für die Zukunft" zum Jahrestag der Selbstbefreiung

Bitte bis zum 31.03.2004 anmelden: Antifaschistische Aktion Hameln-Pyrmont, POSTFACH 100801, 31758 Hameln. Das Seminar beginnt am Freitag um 18.00 Uhr in Weimar und endet am Sonntag gegen 14.00 Uhr. Für die Teilnahme ist eine vorherige schriftliche Anmeldung erforderlich. In den Teilnahme-Kosten von € 25,-- sind 2 Übernachtungen und 2 x Frühstück enthalten.

 


Fußnoten:

[1]  Leicht aktualisierter Vortrag, gehalten auf dem Symposium "Imperialismus und Antiimperialistische Solidarität heute" in Wien am 8.11.2003

[2]  Bertold Brecht: "Die Kapitalisten wollen keinen Krieg. Sie müssen ihn wollen."

[3]  vgl. Harpal Brar: "Imperialism in the Middle East" (Imperialismus im Nahen Osten), 2002, S. 245

[4]  Rüdiger Liedtke, "Wem gehört die Republik?", 2001, S. 153

[5]  "Nach dem Scheitern der EU-Verfassung Initiative der Gründerstaaten erwartet" untertitelte die Financial Times Deutschland bereits am nächsten Tag und zählte die Wunschkandidaten eines Kerneuropa auf: Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg (FTD, 15.12.2003). Die Störenfriede England und Spanien wären dann erst einmal draußen ...

[6]  Einzelheiten hierzu können dem Geschäftsbericht der EADS 2001 bzw. 2002 entnommen werden. Den Bericht für 2001 hatte ich für einen Artikel aufbereitet, der in der KAZ Nr. 304/2003 erschienen ist mit dem Titel "Die militärische Option der EU unter deutsch-französischer Führung".

[7]  vgl. Financial Times Deutschland, 31.10./1.11./2.11.2003

[8]  Im politischen tut es das ohnehin: So konnte Deutschland nach 14 Jahren zäher Verhandlungen eine EU-Übernahmerichtlinie verhindern, die Firmen Verteidigungsmaßnahmen gegen feindliche Übernahmen verbietet (ein Fall wie Vodafone-Mannesmann sollte nicht mehr vorkommen). Außerdem konnte Deutschland sich in der Stimmrechtsfrage maßgeblich durchsetzen: Mit seinem hohen Bevölkerungsanteil wird in Zukunft eine EU-Mehrheitsentscheidung gegen deutsche Interessen kaum noch möglich sein.

[9]  Dies Tagebuch, bzw. sein erster Teil, ist inzwischen unter dem Titel „Die Taubenfußchronik oder die Chruschtschowiade“, Bd. 1, veröffentlicht. Der zweite Band, in dem auch die Aufzeichnungen über die Schäffer-Mission enthalten sind, soll Anfang 2004 erscheinen. Die weiter unten folgenden Aufzeichnungen von mir stellen also einen Vorabdruck aus Band II der Taubenfußchronik dar.

[10]  Siehe zu den geschilderten Vorgängen die Informationen in: Dokumentation der Zeit, Hefte 180 – 183 aus dem Jahre 1958; „Neues Deutschland“ vom 15. – 17. November 1958, „Telegraf“ Berlin vom 16. November 1958, „Frankfurter Rundschau“ vom 22. Oktober 1958.

[11]  Laszlo Rajk und Komplizen vor dem Volksgericht, Berlin 1949, S. 156

[12]  „Berlin-Moskau-Sosswa - Stationen einer Emigration,  Pahl-Rugenstein, Bonn 2003. Das Buch endet mit Ruges Ankunft in der DDR 1956. Eine Einschätzung zu dem was und wie Ruge schreibt, erfordert, seinen weiteren politischen Werdegang einzubeziehen - in der DDR zum renommierten, auf marxistisch-leninistischen Positionen forschenden Historiker, und nach der Niederlage des Sozialismus zum Renegaten, der sofort als antisowjetischer Geschichtsfälscher auftritt. Seine nach der Niederlage vollzogene „Wende“ prägt die Schilderung seiner gesamten Zeit in der Sowjetunion ganz entscheidend.

[13]  Man beachte Ruges Stil. Die Menschen, unterhielten sich nicht, nein sie schwatzten, sie saßen nicht, sondern  hockten, die Kinder schauten nicht neugierig, sie klotzten. Diese  Vokabeln, denen  unzählige weitere folgen, sagen etwas darüber aus wie Ruge zu diesen einfachen Menschen  steht bzw. gestanden haben will. Wobei ich meine, er passt sich dem Geist der Zeit an, dem miefigen Stil antikommu-nistischer Ideologen, .zu dem gehört, alles was mit Sozialismus zu tun hat, verächtlich zu machen, herabzusetzen, zu diffamieren, zu verunglimpfen , zu verleumden usw.

[14]  Soll das in Deutschland wirklich nicht möglich gewesen sein? Oder hat Ruge nur die Elendsviertel Berlins u. a. deutscher Städte der 20er und 30er Jahre nie gesehen und weiß nicht unter welch erbärmlichen Verhältnissen deutsche Proletarier in diesen Jahren lebten?

[15]   Ohne Zweifel ein schweres Geschick. Aber kein Wort darüber, dass dieses Schicksal Millionen Sowjetbürger erlitten. Während der 900 Tage anhaltenden Belagerung  Leningrads verhungerten und erfroren unzählige Menschen in ihren Wohnungen, allein im Dezember 1941 starben 52.000 Menschen, im Januar 1942 täglich bis zu 4.000 Männer, Frauen und Kinder. Insgesamt fiel der faschistischen Aggression jeder dritte Einwohner der Drei-Millionen-Stadt an der Newa zum Opfer ( siehe den Beitrag von Christian Tegethoff, „Alle sind gestorben. Tanja ist allein“, ND 28. Jan. 2004).  Bei der Abwehr der faschistischen Aggression, der Vertreibung der Hitlerwehrmacht und der damit verbundenen Befreiung der Völker Ost- und Südosteuropas  fanden über 8,6 Millionen Soldaten der Rotem Armee den Tod ; insgesamt betrugen die Menschenopfer der UdSSR etwa 27 Millionen.

[16]  Die Schilderung des Abschlusses des Universitätsstudiums wirkt ziemlich konfus und steht im  merkwürdigen Kontrast zu dem sonst hervorgehobenen strengen Überwachungssystem.

[17]  Ruge vor seiner Ausreise in die DDR wörtlich: „der größte Kommunistenmörder aller Zeiten“ (S. 428).

[18]  Das räumt Ruge, wenn auch in tendenziöser Weise, mehrfach ein, so auf  S. 58 f.

[19]  Hans Heinz Holz ist in diesem Zusammenhang zuzustimmen, dass es „kaum vorstellbar (ist), dass mit den alternativen  Konzepten, sei es Trotzkis, Sinojews oder Bucharins, das gleiche Ergebnis erreicht worden und die Sowjetunion überlebensfähig geblieben wäre.“. (Quelle siehe Fußnote 14).

[20]  Dabei ist, von Ausnahmen abgesehene, die reaktionäre Rolle der Reichswehr als konservativer Wegbereiter des faschistischen Machtantritts zu sehen. Siehe u. a. Kurt Schützle, „Reichswehr wider die Nation. Zur Rolle der Reichswehr bei der Vorbereitung und Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland (1929-1933), Deutscher Militärverlag, Berlin (DDR) 1963.

[21]  Die Reichswehr wurde nach dem Machtantritt Hitler das militärische Machtinstrument der faschistischen Diktatur; aus der Reichswehr, die eine Kaderarmee war, ging 1935 die Wehrmacht hervor.

[22]  Zitiert in Olaf Gröhler, Selbstmörderische Allianz. Deutsch-Russische Militärbeziehungen 1920-1941, Vision Verlag, Berlin 1992. Das Buch des in der DDR bekannten Militärhistorikers ist in tendenziöser Weise geschrieben, aber von der Quellenlage her den Tatsachen entsprechend und informativ.

[23]  Es ist jedoch auch zu sehen, dass die Rote Armee aus dieser Zusammenarbeit vielseitige Vorteile zog, so für die Entwicklung ihrer Luftstreitkräfte, den Aufbau motorisierter und Panzerverbände, und Einblick in das militärstrategische Denken  hoher Militärs der späteren Hitlerwehrmacht, darunter des führenden Panzergeneral Guderian,  erhielt.

[24]  Ich selbst habe mich am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1963/64 mit reaktionären Eliteorganisationen in der Weimarer Republik befasst. Siehe u. a. Beiträge „Deutscher Herrenklub“ und „Juniklub“ in „Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945“, 2 Bände, Leipzig 1968. Meine Forschungen schlossen die Reichswehr und ihre Rolle als konservativer Wegbereiter des faschistischen Machtantritts ein. Dabei stieß natürlich auf die erwähnte Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee. Das Historische Institut der Jenenser Universität war übrigens Leitinstitut der Arbeitsgemeinschaft der Sektion Geschichte der Akademie der Wissenschaften, die dass Geschichtswerk herausgab, und so lernte ich auch Wolfgang Ruge als Mitglied des Autorenkollektivs kennen.

[25]  Erschienen in „Unsere Zeit“, 17. Dez. 1999. Abdruck in „RotFuchs“ Nr. 61, Febr. 2003.

[26]  Streng genommen ist Ruge kein deutscher Emigrant mehr, da er auf eigenen Wunsch sowjetischer Staatsbürger geworden ist.

[27]  Stefan Doernberg, Ein dunkles Datum der Geschichte, „antifa“, Nr.6/ 1996.

[28]  Für die Verbannungszeit ist Verständnis für eine bestimmte Anpassung (wenn sie nicht zum Denunziantentum führte, was Ruge von sich verneint) als einer Bedingung des Überlebens angebracht.. Ohne hier darauf ausführlich eingehen zu können, ist wohl anzunehmen, dass in dieser Verhaltensweise Wurzeln für Ruges weiteren Weg zum Opportunisten sowohl in der DDR als auch nach ihrem Untergang liegen. 

[29]  Gröhler legt an Hand von Dokumenten dar, dass Stalin mit äußerster Vorsicht vorging, und alles vermied, was den Eindruck von Gemeinsamkeiten oder gar von einem Bündnis mit Hitlerdeutschland erwecken konnte.

[30]  Wlassow ging im Mai 1945 mit seinen Truppen in amerikanische Gefangenschaft. Die Verräter wurden an die Sowjetunion ausgeliefert und zur Verantwortung gezogen; Wlassow zum Tode verurteilt und im August 1946 hingerichtet.

[31]  Bei allem Personenkult kann man Stalin nicht vorwerfen, dass er sich selbst hochleben ließ.

[32]  Da fragt man sich, auf welches Pferd Ruge denn dann setzen wollte? Auf das des westdeutschen Imperialismus und Militarismus, mit seinen Annexionsplänen gegen die DDR, die dieser dann 1990 umsetzte? Bereute er, sich nun nicht mit zu den „Siegern der Geschichte“ zählen zu können ? Seine Frau wollte schon 1956 „unter Umständen sogar ins kapitalistische Ausland übersiedeln“ (S. 423).

[33]  Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED.

[34]  Siehe dazu Beitrag des Autors „Über Anpasser und Steher“, in „RotFuchs“ Nr. 29, Juni 2000.

[35]  Einige Beispiele aus der “Weltbühne”: Faktoren der Geschichte, Heft 46/1990; Weltkrieg und Epoche, 17/1991; Von der Wissenschaft zur Utopie,  28/1992.

[36]  ND 22./23. April 1995.

[37]  ND 21. Jan.  1999.

[38]  ND, 7. Nov. 2002.

[39]   Siehe dazu u. a. die Beiträge des Autors Renegaten auf ausgetretenen Pfaden, in „RotFuchs“ Nr. 13, Febr. 1999 und Was Wolfgang Ruge heute predigt, in“Roter Brandenburger“ Nr. 12, Dez. 2002