"Zeitschrift für Sozialismus und Frieden"


 

 

Max Seydewitz

Stalin oder Trotzki

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VORWORT

 

 

Es ist notwendig, diesem Buche einige persönliche Bemerkungen vorauszuschicken. Seit meiner frühesten Jugend, fast dreißig jähre lang, habe ich aktiv in der Deutschen Sozialdemokratie gearbeitet, — als Funktionär, als Redakteur und als Reichstagsabgeordneter — und ich bin ihr auch heute aufs engste verbunden. Erschüttert von dem furchtbaren Zusammenbruch der einst so stolzen und starken deutschen Arbeiterbewegung, aufgeschlossen durch das Geschehen, habe ich versucht, die Ursachen der kampflosen Niederlage zu erforschen. Dabei bin ich ganz zwangsläufig auf das Studium der ersten siegreichen proletarischen Revolution gestoßen, deren gründliche Kenntnis notwendig ist, um den rechten Weg für die Überwindung der Hitler-Diktatur und die Verhinderung einer faschistischen Weltherrschaft zu finden.
Ein großes Versäumnis in der Vergangenheit war, daß man sich außerhalb der Sowjetunion viel zu wenig mit der Geschichte der russischen Revolution, mit den ihr zugrundeliegenden theoretischen Auseinandersetzungen und mit dem gewaltigen Ringen um den Aufbau des ersten sozialistischen Arbeiterstaates beschäftigt hat. Die im Kriege erfolgte Spaltung teilte die Internationale Arbeiterbewegung in zwei feindliche Lager. Sozialdemokraten und Kommunisten lebten getrennt voneinander wie in selbstgeschaffenen geistigen Ghettos, unfähig zum sachlichen, fruchtbaren Meinungsaustausch. Die Mauern, die das sozialdemokratische und kommunistische Lager trennten, waren so hoch, daß die einen die Probleme, um die die anderen rangen, überhaupt nicht sahen, geschweige denn sich mit ihnen ernsthaft auseinandergesetzt hätten. Nur zu viele Sozialdemokraten übersahen den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Sowjetunion und dem internationalen Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Sie sahen die Sowjetunion nur als eine Sache der Kommunisten, denen sie in ihrem Lande in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden. Sie waren — befangen in der Vorstellung, daß die Arbeiterklasse nur auf evolutionärem Wege, friedlich, in die Macht hineinwachsen werde — Gegner der von der Partei Lenins siegreich durchgeführten Revolution. Sie waren überzeugt davon, daß der in der Sowjetunion beschrittene Weg mit dem Siege der Konterrevolution enden müsse.
Die Folge dieser Einstellung war die Negation des gewaltigen Ringens im Osten. Die Sozialdemokratie war der Meinung, daß sie aus der Oktoberrevolution keine positiven Lehren für ihren Kampf ziehen könne; und sie hielt es darum für überflüssig, die Geschichte und die Probleme der russischen Revolution zu studieren. Ihr Interesse an den Vorgängen in der Sowjetunion war durchaus befriedigt, wenn sie diese oder jene Mängel agitatorisch gegen die kommunistische Bewegung ausspielen konnte. Viele Sozialdemokraten wurden in diesem Verhalten bestärkt, weil die kommunistischen Parteien die Sowjetunion viel zu wenig als eine Sache der gesamten Arbeiterklasse herausstellten.
Das Verhalten der deutschen Nachkriegssozialdemokratie in diesen Fragen wird treffend durch eine Äußerung Eduard Bernsteins charakterisiert. Im Jahre 1925 über seine Meinung zu den Vorgängen in der Sowjetunion befragt, antwortete er:
„Ich muß — um aufrichtig zu sein — gestehen, daß ich über die Lage in Rußland im allgemeinen und über den Fall Trotzki im besonderen nur in sehr unzureichendem Maße unterrichtet bin."
Eduard Bernstein war der bedeutendste Theoretiker des reformistischen Flügels der Sozialdemokratie. Es war eine besondere Wesensart dieses Mannes, aufrichtig seine Meinung auszusprechen. Diese Ehrlichkeit veranlaßte ihn, das zu sagen, was für beinah die gesamte sozialdemokratische Bewegung galt: sie hatte sich über die Lage in der Sowjetunion und über die Konflikte der Bolschewistischen Partei mit Trotzki sehr unzureichend unterrichtet. Was wußten Sozialdemokraten von den Differenzen zwischen Lenin und Trotzki? Von den Auseinandersetzungen um die Organisationsprinzipien der Partei, um die permanente Revolution? Was wußten sie von der Bedeutung des Kampfes um die Theorie des Sozialismus in einem Lande? War es da ein Wunder, daß — unter der Einwirkung der Schriften Trotzkis — in sozialistischen Kreisen mancherlei Legenden entstanden, unter anderen die, daß der „beste Kampfgenosse Lenins" durch persönliche Intrigen Stalins aus der Macht gedrängt worden sei.
Die Legendenbildung wurde noch erleichtert, weil es damals in deutscher Sprache keine plastischen Darstellungen der Geschichte und der Probleme der Oktoberrevolution gegeben hat.
Als Sozialdemokrat hatte ich in der Vergangenheit viele Auseinandersetzungen mit den Kommunisten, übte Kritik an ihrer Politik und auch an Vorgängen in der Sowjetunion. Wir sind auch jetzt nicht in allem gleicher Meinung, — aber kann man heute zur Sowjetunion Stellung nehmen, ohne sie im Zusammenhang mit dem weltgeschichtlichen Geschehen zu betrachten, als die stärkste Macht in der Friedensfront, als die entscheidende Kraft gegen die Weltherrschaftspläne des Faschismus!
Einer der Führer der Französischen Sozialistischen Partei, Jean Zyromski, schrieb anläßlich des XX. Jahrestages der russischen Revolution:
„Es ist mir nicht unbekannt, daß man in 'revolutionären Kreisen', die sich als die 'äußerste Linke' bezeichnen, ziemlich häufig auf die Meinung stößt, daß die russische Revolution in voller Entartung begriffen sei und daß sich das Sowjetrußland von 1937 inmitten einer bürokratischen Entartung befinde. Manche gehen sogar noch weiter und werfen den Faschismus und den 'Stalinismus' in einen Topf.
Eine geschickte Kampagne, die weitgehende Verzweigungen hat, wird zu dem Zweck betrieben, die Arbeiterklasse der Westländer davon zu überzeugen, daß Sowjetrußland nicht mehr das Rußland der Arbeiter- und Bauernrevolution sei.
Man muß sich energisch gegen derartige Manöver erheben und die schöpferische Bilanz der Sowjetunion auf den verschiedenen Gebieten ihrer Betätigung aufzeigen.
Man darf nicht blindlings die Unvollkommenheiten und die Fehler abstreiten; noch sind große Hindernisse da. Man muß sie aber sowohl vom Ausgangspunkt wie auch von den vorhanden gewesenen Schwierigkeiten aus einschätzen....
Die Sowjetunion ist eine neue Welt im Werden. Mehr denn je gehören ihre Verteidigung und ihre Beschützung zur internationalen Klassenpflicht des Weltproletariats."
Aber es handelt sich nicht allein um Interessen des Weltproletariats. Das Schicksal der Menschheit steht auf dem Spiel. Plutokratie und Faschismus — das bedeutet den furchtbarsten Krieg aller Zeiten, Vertiefung und Verewigung des geistigen und physischen Elends. Demokratie und Sozialismus — das bedeutet Frieden, Rettung vor dem Untergang in die Barbarei, Entfaltung aller wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte. Die Völker aller Erdteile stehen vor dieser gewaltigen geschichtlichen Alternative. Und alle Länder sind durch sie innerlich zerrissen und geschwächt. Nur die UdSSR nicht. Dort gibt es keinen Faschismus, ihre Völker sind eine geschlossene Einheit angesichts der drohenden Gefahren und im Kampf um den Aufstieg der Menschheit. Das Spuren mehr oder minder bewußt die freiheitsliebenden Kreise aller Schichten in allen Ländern: Arbeiter und Angestellte, Handwerker und Bauern, Intellektuelle und Gewerbetreibende — kurz, alle jene, die den großen Organismus der Gesellschaft lebendig erhalten. Aber viel zu wenige haben ein wirklich klares Bild vom Wesen und von den Lebensnotwendigkeiten der Sowjetunion. Schuld daran trägt nicht zuletzt der Trotzkismus, der, obwohl arm an Parteigängern, Verwirrung anzurichten vermag, weil bürgerliche und oft sogar sozialdemokratische Zeitungen ihm ihre Stimme leihen.
Um so notwendiger ist es, sich mit dem Trotzkismus auseinanderzusetzen. Diese Aufgabe soll das vorliegende Buch erleichtern. Ich habe mich bemüht, zum Trotzkismus mit sachlichen Argumenten Stellung zu nehmen, weil ich überzeugt davon bin, damit der Klärung am besten zu dienen.


Der Verfasser


 

 

Inhalt:

Erster Teil: DIE FRONTEN


DIE WELTGESCHICHTLICHE ALTERNATIVE

  1. Faschismus oder Sozialismus?
  2. Die Bedrohung der modernen Zivilisation
  3. Die veränderte weltpolitische Situation


FÜR ODER WIDER DIE SOWJETUNION

  1. Zwischen Kriegs- und Friedensfront
  2. Die schwankende Politik der demokratischen Großmächte
  3. Die Aufgaben der internationalen Arbeiterbewegung
  4. Die Sowjetunion und die Sozialdemokratie

 

Zweiter Teil: DER TROTZKISMUS


TROTZKISMUS UND BOLSCHEWISMUS

  1. Lenin und Trotzki
  2. Was ist Trotzkismus?
  3. Trotzkismus und leninistisches Organisationsprinzip
  4. Trotzki und die Aktionseinheit der Partei
  5. Trotzkismus und Bolschewismus im Kriege
  6. Die permanente Revolution


DER TROTZKISMUS NACH DER OKTOBERREVOLUTION

  1. Trotzki, die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg
  2. Die Gegensätze zwischen Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution
  3. Die Entwicklung des Trotzkismus nach Lenins Tode

 

Dritter Teil: DIE THEORIE DES SOZIALISMUS IN EINEM LANDE


DER ENTSCHEIDENDE GEGENSATZ

  1. Der Kampf um den Aufbau des Sozialismus in der SU
  2. Die leninistische Theorie des Sozialismus in einem Lande
  3. Trotzkis Theorie der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande


RÜCKMARSCH ODER AUFBAU?

  1. Was tun?
  2. Der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion und der endgültige Sieg des Sozialismuse
  3. Die Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion

 

Vierter Teil: VON DER THEORIE ZUR PRAXIS


HISTORISCHE ENTSCHLÜSSE

  1. Die Aufgabe
  2. Die Generallinie


DIE WIRTSCHAFTLICHE UMWANDLUNG DER SOWJETUNION

  1. Der industrielle Aufbau
  2. Das Verhältnis der Sowjetunion zu den anderen Ländern
  3. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Sowjetunion
  4. Die Erstarkung der Arbeiterklasse


DIE LÖSUNG DER WIDERSPRÜCHE ZWISCHEN ARBEITERN UND BAUERN

  1. Gegensätze und Übereinstimmungen
  2. Die Mechanisierung der Landwirtschaft
  3. Die Kollektivierung
  4. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion
  5. Die Einbeziehung der Bauern in den sozialistischen Aufbau


OPFER UND ERFOLGE DES SOZIALISTISCHEN AUFBAUS

  1. Die Anforderungen der Aufbauperiode
  2. Opfer für wen und für was?
  3. Die Erfolge
  4. Der Mensch steht im Mittelpunkt


SOZIALISMUS IN DER SOWJETUNION

  1. Die Liquidierung der kapitalistischen Einflüsse
  2. Die Grundlage der Sowjet-Gesellschaft
  3. Die verschiedenen Klassen in der Sowjetunion
  4. Auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft


DIE SOZIALISTISCHE DEMOKRATIE

  1. Die neue Verfassung
  2. Was ist Demokratie?
  3. Zur Demokratie - über die Diktatur des Proletariats
  4. Der Unterschied zwischen proletarischer und faschistischer Diktatur
  5. Die wahre Freiheit
  6. Das Recht auf Arbeit
  7. Einwände gegen die neue Verfassung
  8. Sozialistische Demokratie - unter der Diktatur der Arbeiterklasse

 

Fünfter Teil: DIE UdSSR UND DIE WELTREVOLUTION


DIE WELTREVOLUTION

  1. Sozialistischer Aufbau und Weltrevolution
  2. Das tragikomische Mißverständnis


DIE AUSSENPOLITIK DER SOWJETUNION

  1. Die Sicherung der Sowjetunion gegen Interventionen
  2. Der Kampf um die Verhinderung des Krieges
  3. Interessen der Weltarbeiterklasse und die Interessen der Sowjetunion

 

Sechster Teil: TROTZKIS KAMPF GEGEN DIE UdSSR


DAS PROBLEM DER BÜROKRATIE

  1. Gibt es in der Sowjetunion eine Diktatur der Bürokratie?
  2. Trotzkis Standpunkt
  3. Die Mängel der Bürokratie und ihre Überwindung


NEUE KLASSENBILDUNG?

  1. Karl Marx und die "neue Klassenbildung" in der Sowjetunion
  2. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität
  3. Die Heranbildung qualifizierter Kader
  4. Der sozialistische Ansporn als Mittel zur Steigerung der Arbeitsproduktivität


KONFORMISMUS UND MEINUNGSFREIHEIT

  1. Unterdrückung der Meinungsfreiheit?
  2. Wer entscheidet?
  3. Die Entwicklung der Demokratie in der Bolschewistischen Partei
  4. Der Konformismus und die junge Generation


REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION

  1. Trotzki und der Rückmarsch zum Kapitalismus
  2. Trotzkis Wahlspruch
  3. Der Weg der Sowjetunion




Um das Lesen zu erleichtern, sind Fußnoten weggelassen worden. Anmerkungen und Quellenangaben sind im Text selbst vermerkt.
Soweit bei den Zitaten nicht besondere Quellen angegeben sind, wurden sie Broschüren oder (bei Reden) autorisierten Berichten entnommen.
Hervorhebungen in den zitierten Äußerungen sind ausnahmslos vom Verfasser veranlaßt worden; was jedoch nicht ausschließt, daß die Hervorhebungen oft mit denen übereinstimmen, die von den Zitierten selbst veranlasst wurden.

 


 

DIE WELTGESCHICHTLICHE ALTERNATIVE

 

FASCHISMUS ODER SOZIALISMUS?

Die Menschheit steht an einem Wendepunkt. Krieg und Krise haben die Grundfesten der kapitalistischen Welt erschüttert. In der Periode des Niederganges der kapitalistischen Klassenherrschaft ist der Faschismus mobilisiert worden, um als direkt eingesetzte Gewaltherrschaft oder als drohende Gefahr die wirtschaftliche Diktatur der Trusts und des Monopolkapitals gegen alle Stürme zu sichern. Der Faschismus ist keine aus der sozialen Entwicklung zwangsläufig erwachsende neue Kraft, die zur Höherentwicklung der Menschheit notwendig wäre. Die bürgerliche Revolution, die die Herrschaft des Feudalismus zerbrach, hatte eine neue Epoche eingeleitet. Ebenso wird die proletarische Revolution eine neue höhere Form der menschlichen Gesellschaft schaffen. Der Faschismus Jedoch hat durch seinen Sieg in Italien und in Deutschland an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nichts geändert. Weder Mussolinis Schwarzhemdenmarsch auf Rom, noch Hitlers „nationale Revolution" haben die herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung beseitigt. Das faschistische Regime ist nur die letzte, die gewalttätigste Form zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Klassenherrschaft; seine Funktion ist, durch brutale Zerschlagung der Arbeiterbewegung und durch Unterbindung jeder freiheitlichen Regung den Fortbestand der vom Monopolkapital dirigierten kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu garantieren. Der Faschismus führt die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht eine Stufe hinauf, er wirft sie im Gegenteil weit zurück; er will eine zur Ablösung reife Gesellschaftsordnung gewaltsam aufrechterhalten.
Im Jahre 1907 hat Jack London in der „Eisernen Ferse" mit einem am Marxismus geschulten dichterischen Seherblick den Faschismus vorausgesagt. In diesem Buche schildert der Dichter die Herrschaft der Oligarchie, das blutige Gewaltregime der „Eisernen Ferse" bis in die Einzelheiten genau so, wie es der Faschismus uns heute praktisch vorführt. In Jack Londons visionärer Schilderung kann aber auch die „Eiserne Ferse" nicht auf die Dauer den Sieg des Sozialismus verhindern. Der Dichter schickt seinem heute nicht mehr wie eine Vision anmutenden Roman eine Betrachtung voraus, in der rückschauend von der hohen Warte der sozialistischen Gesellschaft Über die Periode der „Eisernen Ferse" gesagt wird:
„Die Erhebung der Oligarchie wird stets der Anlaß geheimer Verwunderung für Historiker und Philosophen bleiben. Andere große historische Ereignisse haben ihren Platz in der sozialen Entwicklung. Sie waren unvermeidlich, und ihr Kommen hätte mit derselben Sicherheit vorausgesagt werden können, wie Astronomen heute die Bewegung der Sterne voraussagen. Ohne diese anderen großen Ereignisse hätte die soziale Entwicklung sich auch nicht vollziehen können. Primitiver Kommunismus, Besitzsklaverei, Leibeigenschaft und Lohnsklaverei waren die notwendigen Meilensteine auf dem Wege der menschlichen Entwicklung. Es wäre jedoch lächerlich, zu behaupten, daß die Eiserne Ferse ein solcher notwendiger Meilenstein gewesen sei. Heute wird sie vielmehr als ein Fehltritt oder Rückschritt zu der gesellschaftlichen Tyrannei beurteilt, die die Erde früher zur Hölle machte, die aber für die Zeit ebenso notwendig, wie die 'Eiserne Ferse' unnötig war.
So schwarz der Feudalismus auch war, sein Kommen war doch unvermeidlich. Was sonst als Feudalismus konnte dem Zusammenbruch der großen zentralisierten Regierungsmaschine folgen, die man als Römisches Kaiserreich kennt? Nicht so jedoch die Eiserne Ferse. In dem ordnungsgemäßen Vorwärtsschreiten der sozialen Entwicklung war kein Platz für sie. Sie war weder notwendig, noch unvermeidlich. Sie wird immer die größte Merkwürdigkeit der Geschichte bleiben, eine Laune, eine Phantasie, eine Erscheinung, etwas Unerwartetes, Ungeahntes; und sie sollte den übereiligen politischen Theoretikern von heute, die mit Gewißheit von sozialen Prozessen sprechen, zur Warnung dienen.
Nach dem Urteil der Soziologen jener Zeit bedeutete der Kapitalismus den Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, die reife Frucht der bürgerlichen Revolution. Und wir können dieses Urteil nur unterschreiben. Selbst geistige Riesen und Kämpfer wie Herbert Spencer glaubten, daß auf dem Schutt des selbstsüchtigen Kapitalismus die Blume des Zeitalters, die Brüderlichkeit der Menschheit, erblühen werde. Statt dessen gebar der Kapitalismus, zum Entsetzen für uns, die wir heute auf jene Zeit zurückblicken, wie für die, die damals lebten, in seiner Überreife einen ungeheuren Sproß, die Oligarchie."
Die Herrschaft der Oligarchie, der „Eisernen Ferse", oder — wie wir heute sagen — des Faschismus, ist wahrlich keine geschichtliche Notwendigkeit. Sie kann verhindert werden. Aber sie ist nicht unmöglich, weil es in der Geschichte keine zwangsläufigen Lösungen gibt. Der Niedergang einer Gesellschaftsordnung führt nur dann zu Ihrem völligen Zusammenbruch, wenn die geschichtlich zu ihrer Ablösung berufenen Kräfte sich dieser Berufung würdig erweisen; wenn sie stark genug sind, in revolutionären Kämpfen die überholte Ordnung zu stürzen und die Bahn für eine neue, höhere Gesellschaftsform freizumachen. Der fatalistische Glaube von dem automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus, von der zwangsläufig erfolgenden unmittelbaren Ablösung der kapitalistischen Klassenherrschaft durch den Sozialismus ist durch die Siege des Faschismus in einzelnen Ländern widerlegt worden. Aber andererseits ist durch den Sieg der proletarischen Revolution in dem ehemaligen Zarenreich ebenso widerlegt, daß der Faschismus unvermeidlich, daß er geschichtlich notwendig sei. Der Beweis ist erbracht, daß der Faschismus verhindert, daß es dem Kapitalismus unmöglich gemacht werden kann, seine wankende Herrschaft in veränderter Form durch den Einsatz des Faschismus aufrechtzuerhalten. Wo die zum Bau einer neuen, höheren Gesellschaftsordnung berufene geschichtliche Kraft — die Arbeiterklasse — sich in entscheidenden Situationen als zielbewußt und stark genug erwies, hat sie das Aufkommen des Faschismus verhindert und die kapitalistische Klassenherrschaft gestürzt. In den Ländern jedoch, in denen die Arbeiterklasse in den für die kapitalistische Klassenherrschaft kritischen Situationen ihrer geschichtlichen Aufgabe nicht gewachsen war, hat der Faschismus gesiegt.
Die objektive Situation in unserer Zeit ist also: die Arbeiterklasse kann ebenso siegen wie der Faschismus. Beiden war es möglich, Teilsiege zu erringen. Der endgültige Ausgang der nächsten Phase des Kampfes wird von der Zielklarheit und der Stärke der miteinander ringenden entscheidenden Gegner abhängen. Nach den Teilsiegen der Arbeiterklasse auf der einen, und des Faschismus auf der anderen Seite spitzen sich die Gegensätze zwangsläufig immer mehr zu. Die Entwicklung drängt zu einer endgültigen, die Zukunft der ganzen Menschheit bestimmenden Entscheidung. Die Frage, die die Geschichte den Menschen unserer Epoche stellt, ist eindeutig: Soll die eiserne Ferse des Faschismus Freiheit und Fortschritt zerstampfen, um die Diktatur des Trust- und Monopolkapitals über entrechtete, in die Hölle der Barbarei gepferchte Sklavenherden gewaltsam aufrechtzuerhalten, — oder soll nach dem Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft die Bahn für den Sozialismus, für eine neue, höhere Gesellschaftsform, freigemacht werden, die die Menschheit befreit und zu Glück und Wohlstand führt.
In allen kapitalistischen Ländern wird darum gekämpft, ob die niedergehende kapitalistische Klassenherrschaft vom Faschismus oder vom Sozialismus abgelöst wird. Der historische Kampf zwischen Faschismus und Sozialismus wird aber nicht in einem Lande entschieden, die endgültige Entscheidung fällt in der Arena der Weltpolitik. Sie wird zugunsten des Sozialismus ausfallen, wenn die Arbeiterbewegung aller Länder in diesem Kampfe zusammenwirkt, wenn sie einig ist und zielbewußt handelt. Der Kampf für den Sozialismus ist nicht die Sache eines Landes und einer Partei, er ist vielmehr die Sache der gesamten internationalen Arbeiterbewegung, ohne Rücksicht auf ihre Partei- und Fraktionsunterschiede.

DIE BEDROHUNG DER MODERNEN ZIVILISATION

„Die moderne Zivilisation kann sich eine neue Depression so wenig leisten, wie einen neuen Krieg. Sie würde unter jener so sicher zusammenbrechen wie unter dieser!"
Anfang 1937 standen diese Sätze in der „Times", dem führenden konservativen Organ Englands. Trotz den furchtbaren Lehren, die der letzte „große Krieg" der Menschheit erteilte, sind die Ursachen der Kriege nicht beseitigt worden. Der Brand wurde nicht völlig gelöscht, der Brandherd nur zugedeckt. Die Glut schwelte weiter, breitete sich aus, und es bedarf nur eines scharfen Windstoßes, um aus der Glut ein loderndes, sengendes Flammenmeer zu entfachen, das die Welt verbrennt. „Europa gleicht einem Pulvermagazin, in dem die Diktatoren ununterbrochen Fackelzüge veranstalten." So hat Lloyd George die Situation unserer Zeit charakterisiert. Die faschistischen Diktatoren haben die Welt erst durch ihre wahnsinnige Aufrüstung in ein Pulvermagazin verwandelt.
Sie sind die aggresivsten subjektiven Faktoren, die durch ihr Handeln die objektiven Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß der Funke einer Fackel genügt, um ganz Europa in die Luft zu sprengen. Es wird unter dem Druck der akuten Kriegsgefahr in der Öffentlichkeit viel darüber orakelt, ob die faschistischen Diktaturen überhaupt Krieg führen können, ob sie für eine kriegerische Auseinandersetzung fertig sind. Alle diese Betrachtungen sind müßig. Kriegsfertig ist ein Land nur, wenn es allen seinen Gegnern militärisch absolut überlegen ist. Ob ein Land in diesem Sinne kriegsfertig ist, hängt jedoch nicht nur von seinem Tun, sondern auch von dem Handeln seiner eventuellen Kriegsgegner ab. Kriegsfertig sind die faschistischen Diktaturen nicht; aber das ist nicht die geringste Garantie für die Erhaltung des Friedens. Die Wahrheit ist, daß durch das Treiben der aggressivsten Kräfte die objektive Situation für den Kriegsausbruch so reif geworden ist, daß der Zeitpunkt des Losschlagens nicht einmal mehr von den subjektiven Faktoren bestimmt werden kann, die Europa in ein Pulvermagazin verwandelt haben. Wenn nicht stärkere Mächte die faschistischen Diktatoren endlich an der Fortführung ihrer Fackelzüge im Pulvermagazin hindern, dann wird ein Funke eines Tages zünden, und die Menschheit wird von dem furchtbarsten aller Kriege heimgesucht werden.
Nicht minder groß ist die Krisengefahr. Hinter einer glänzenden Fassade der Riesenprofite des Monopolkapitals lauert das Gespenst der neuen Krise. Der konjunkturelle Aufschwung, der der tiefsten wirtschaftlichen Krise des kapitalistischen Systems folgte, hat keine stabilen Verhältnisse geschaffen. Währungsexperimente, Aufrüstung und Warenaufspeicherung für den Krieg haben das Tempo der Konjunktur bestimmt oder beschleunigt. Die Steigerung der Produktion erwächst auf einer schwachen, kranken Grundlage. Obwohl die industrielle Produktion der kapitalistischen Länder im Jahre 1936 großer war als im letzten Konjunkturjahr vor der großen Krise, war der Welthandel 1936 noch um 14% niedriger als 1929. Auch die Zahl der Beschäftigten war 1936 noch erheblich geringer als im letzten Konjunkturjahre. 1936 gab es in den kapitalistischen Ländern, die Arbeitslose registrieren, schätzungsweise immer noch 18 Millionen Erwerbslose. Die Spekulation prosperiert mehr als die Produktion. Börsenkrachs inmitten der Konjunktur sind Symptome für die Unsicherheit des kapitalistischen Systems, das es seinen Anhängern immer schwerer macht, stabilen, garantierten Reichtum zu schaffen. Unter der Oberfläche gärt und brodelt es. Der Ausbruch des Vulkans kann über Nacht das ganze schöne Gebäude der Konjunktur verschütten, und die Welt in eine neue tiefe und nachhaltige Wirtschaftskrise stürzen.
Krieg oder neue Wirtschaftskrise — die nach dem Urteil eines der führenden Blätter des Kapitalismus den Untergang der modernen Zivilisation bringen würden — können täglich wie ein verheerendes Sturmgewitter über die Völker losbrechen. Der wachsende Druck der im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unlösbaren Widersprüche hat die Welt so in Unruhe und Unsicherheit versetzt, daß die Menschen nur mit Bangen an die Zukunft denken.
Die herrschenden kapitalistischen Klassen fürchten zwar die unvermeidlichen Auswirkungen ihrer einseitigen Klassenherrschaft, aber sie haben weder den Mut, noch den Willen, noch die Fähigkeit, die Ursachen, die Krieg und Krise heraufbeschwören, auszumerzen. Denn die beiden Übel, die die moderne Zivilisation bedrohen, können nur durch weitgehenden Umbau der bestehenden Gesellschaftsordnung beseitigt werden. Die Mächtigen dieser Erde aber wehren sich gegen alle Änderungen, die ihre Herrschaftsstellung bedrohen. Ihr Machtapparat, der zu schwach ist, Kriegs- und Krisengefahr zu bannen, ist aber noch stark genug, die für den ruhigen, friedlichen Aufstieg der Menschheit lebensnotwendigen Änderungen der bedrohten Gesellschaftsordnung zu verhindern. Das eben ist die besondere Zwiespältigkeit in unserer Epoche, die die Welt in eine stete Unruhe versetzt: der Kapitalismus kann sich nur an der Macht halten, wenn er die einzig wirksamen Mittel zur Beseitigung der beiden Übel unterbindet, deren Vorhandensein seine Herrschaftsstellung ständig in wachsendem Maße bedroht.

DIE VERÄNDERTE WELTPOLITISCHE SITUATION

Seit dem Jahre 1914 hat sich das Gesicht der Welt wesentlich verändert. Die Erschütterungen, die der letzte Krieg auslöste, waren gewaltig, aber doch nicht so tiefgehend, daß aus dem Chaos des Krieges in stürmischem Tempo eine neue bessere Welt herausgewachsen wäre. Die Periode der Nachkriegszeit bekräftigt die Richtigkeit der marxschen Lehre, daß es keine permanente Krise gibt, die automatisch zum Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen muß. Der Kapitalismus hat in allen seinen Krisen Auswegmöglichkeiten; sein Ende kann nur herbeigeführt werden, wenn die Arbeiterklasse stark genug ist, ihm die Auswege zu versperren und ihn im Kampfe zu überwinden. Die sozialistische Gesellschaft entsteht nicht wie ein Phönix aus der Asche; sie entwickelt sich nur mühselig, in harten, schweren Kämpfen aus dem Schoße der kapitalistischen Gesellschaft. Der Weg zum Sozialismus ist nicht gradlinig.
„Proletarische Revolutionen ...", schrieb Karl Marx im 18. Brumaire, „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge, und sich riesenhafter ihnen gegenüber wiederaufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: hie rhodus, hie salta!"
Die Nachkriegsperiode ist erfüllt von harten Kämpfen um den Weg in die Freiheit. Und wahrlich: in diesen Kämpfen gab es Siege und Niederlagen, gab es Aufstieg und Absturz, Vormarsch und Rückzug, — und allmählich erst bilden sich festere Fronten für die unausweichlichen entscheidenden Kämpfe. Die Teilsiege, die Arbeiterklasse und Faschismus an verschiedenen Frontstellen errangen, sind wichtige Ergebnisse, die den weiteren Verlauf der Kämpfe entscheidend beeinflussen.
In dem Teil der Welt, in dem die Arbeiterklasse zielbewußt die proletarische Revolution vorbereitete, in dem sie die Erschütterungen der kapitalistischen Klassenherrschaft durch den Krieg für ihren revolutionären Machtkampf auswertete, hat das Proletariat die politische Macht erobert und in harten Kämpfen gegen alle Widerstände und Interventionen gehalten. Der Sieg des russischen Proletariats ermöglichte den Aufbau des ersten Arbeiterstaates. Die Verwirklichung sozialistischer Prinzipien machte die Sowjetunion zu einem kräftigen, sich planmäßig aufwärts entwickelnden Land, das zu einem mächtigen Faktor in der Weltpolitik wurde.
Neben der gesunden UdSSR steht die kranke kapitalistische Welt. Die nach dem Kriege in den kapitalistischen Ländern einsetzende, trotz vorübergehenden Konjukturen sich immer mehr verschärfende Wirtschaftskrise hat die strukturellen Fehler des kapitalistischen Systems aufgezeigt. Voraussetzungen für die proletarische Revolution waren auch in anderen Ländern gegeben, aber die Uneinigkeit und Zerrissenheit der Weltarbeiterklasse, der erbitterte Kampf, den die einzelnen Gruppen gegeneinander führten, haben die proletarische Bewegung in den Nachkriegsjahren aktionsunfähig gemacht. Ihr fehlte in entscheidenden Situationen die Kraft, den herrschenden kapitalistischen Mächten den Ausweg aus der tiefsten und nachhaltigsten Krise ihres Systems zu versperren. So war es dem Kapitalismus — über alle seine Krisen hinweg — möglich, in wichtigen Ländern seine Herrschaftsstellung zu behaupten.
In einzelnen dieser Länder, in denen die Erschütterung der Nachkriegskrisen die tiefsten Wirkungen auslöste, in denen die objektive Situation für die soziale Revolution am reifsten war, versagte die Arbeiterklasse; dort waren aber auch die monopolkapitalistischen Mächte unfähig, ihre Herrschaft mit normalen Mitteln zu behaupten. Sie haben darum den Faschismus mobilisiert und zur Macht geführt, um mit Hilfe des faschistischen Terrorregimes den offenen Widerstand der Arbeiterklasse gewaltsam zu zerbrechen und den Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu sichern.
Die Stabilisierung eines wirtschaftlich und militärisch mächtigen sozialistischen Arbeiterstaates auf der einen, das Auftreten von rücksichtslos die Arbeiterklasse niederknüppelnden faschistischen Diktaturen auf der anderen Seite — das sind die neuen Fakten, die die weltpolitische Situation gegenüber 1914 wesentlich verändert haben.

 

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FÜR ODER WIDER DIE SOWJETUNION

 

ZWISCHEN KRIEGS- UND FRIEDENSFRONT

Die veränderte weltpolitische Situation bestimmt die Frontenbildung und die Haltung der verschiedenen Mächtegruppen. Der Sieg des Faschismus in einzelnen Ländern hat zwar keine Epoche einer neuen gesellschaftlichen Ordnung eingeleitet, aber er hat doch eine andere Note in die Weltpolitik gebracht. Er bedroht durch die Entfesselung hemmungsloser imperialistischer Tendenzen die nationalen Interessen aller nichtfaschistischen Staaten; er hat durch seine aggressive provokatorische Außenpolitik die Welt in eine Waffenfabrik verwandelt und die Menschheit an den Abgrund des Krieges geführt. Die nächsten Entscheidungen fallen darum im Kampfe um die Verhinderung des von den faschistischen Diktaturen systematisch vorbereiteten großen Krieges. Die endgültigen Fronten für diesen Kampf sind noch nicht formiert. Fest stehen jedoch bereits ihre tragenden Grundpfeiler: in der Friedensfront die UdSSR, in der Kriegsfront die faschistischen Diktaturen. Zwischen diesen beiden schwankt die Gruppe der demokratisch-kapitalistischen Staaten unsicher hin und her.
Fest und unerschütterlich wie ein Fels im tosenden Meer steht der Friedenswille der Sowjetunion in dieser von Kriegsgefahr umdrohten Zeit. Die Friedenspolitik der UdSSR ist ehrlich und eindeutig. Ihre Außenpolitik ist weder aggressiv, noch imperialistisch. Sie bedroht an keiner Stelle die nationalen Interessen anderer Völker. Die UdSSR verfügt in ihrem riesigen Gebiete über unerschöpfliche Rohstoffquellen. Sie produziert alles, was zur Befriedigung der Bedürfnisse aller Bürger ihres Landes notwendig ist. Der Sozialismus, dessen Beispiel die kapitalistischen Klassen in den anderen Ländern als eine Bedrohung ihrer Herrschaftsstellung empfinden, hat die Welt von dem Druck der im zaristischen Rußland stark vertretenen imperialistischen Tendenzen befreit. Die Vernichtung der ausbeutenden Klassen und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß alle in der Sowjetunion erzeugten Güter von den Erzeugern selbst verbraucht werden können. Die Produktionsüberschüsse, die der Kapitalismus in anderen Ländern um meines Profits willen nicht vom eigenen Volk verbrauchen laßt, und für die er Absatzmärkte in den kapitalistisch noch nicht völlig erschlossenen Ländern zu erzwingen versucht, werden in der Sowjetunion dem eigenen Volke zugänglich gemacht. Für die UdSSR entfällt der aus dem kapitalistischen System erwachsende Zwang, sich mit anderen Staaten um die Absatzmärkte zu raufen. Außerdem hat die Umwandlung des ehemals rückständigen Agrarlandes in ein fortgeschrittenes Industrieland mit einer hochmechanisierten Landwirtschaft es der Sowjetunion ermöglicht, die gewaltigen Rohstoffquellen ihres Riesengebietes auszuwerten, durch stete Steigerung der industriellen und agrarischen Produktion die Menge der Lebens- und Bedarfsgüter zu erhöhen. Die UdSSR kann aus eigener Kraft, nur mit den in ihrem Lande vorhandenen Mitteln, die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der innerhalb ihrer Grenzen lebenden Menschen in wachsendem Maße befriedigen. Das sozialistische Wirtschaftssystem, unter dem die kapitalistischen Profitinteressen völlig ausgeschaltet werden, ermöglicht zugleich mit der planmäßigen ungestörten Vermehrung der Güter auch die gerechte Verteilung derselben. Der Beweis ist erbracht, daß unter dem Sozialismus ein Volk glücklich und reich leben kann, ohne andere Völker zu bedrohen; der Beweis ist erbracht, daß unter der Herrschaft des Sozialismus der Imperialismus, der eine ständige Bedrohung für den Frieden der Welt ist, seine Lebensbasis verliert und sterben muß. Die sozialistische Sowjetunion ist frei von allen imperialistischen Interessen; sie braucht weder neuen Raum, noch Rohstoffquellen zu erobern, sie braucht keinen ihrer Nachbarn mit Krieg zu bedrohen. Die UdSSR kann den Wohlstand der auf ihrem Gebiet lebenden Völker ständig und am sichersten dann steigern, wenn der Frieden erhalten bleibt, wenn sie ihre friedliche sozialistische Aufbauarbeit ungestört fortsetzen kann. Der sozialistische Staat, der die kapitalistische Klassenherrschaft überwunden hat, kann im Frieden für sein Volk und die Menschheit viel größere Siege erringen als in dem erfolgreichsten Kriege. Die Sowjetunion ist darum aus ureigenem Interesse der stärkste Garant des Friedens; sie wirft ihre ganze Macht in die Wagschale, um der Welt den Frieden zu erhalten.
Nicht zuletzt darum betrachten die faschistischen Diktaturen die UdSSR als ihren gefährlichsten Gegner. Weil sie — gebunden an die kapitalistische Gesellschaftsordnung — unfähig sind, in friedlicher Aufbauarbeit die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Arbeiter, Bauern und Mittelständler ihrer Länder zu befriedigen, suchen sie die Unruhe und Unzufriedenheit der von ihnen beherrschten Volksmassen durch siegreiche Eroberungskriege zu Überwinden. Nach Hitlers Erzählungen ist die Ursache aller Leiden des deutschen Volkes der Mangel an Raum und an eigenen Rohstoffquellen. Die Wahrheit dagegen ist, daß auch Deutschland über genug Siedlungsland, über große Reichtümer verfügt, und daß ein friedfertiges Deutschland im friedlichen Güteraustausch mit anderen Völkern alle von ihm benötigten Rohstoffe bekommen kann. Das deutsche Volk leidet nicht darum Mangel, weil es in seinem Vaterlande an Lebens- und Bedarfsgütern fehlt, sondern weil unter der faschistischen Diktatur mit den brutalsten terroristischen Mitteln ganz einseitig nur die monopolkapitalistischen Klasseninteressen vertreten werden. In Deutschland fehlen nicht Raum und Güter, es fehlen nur die richtige Verteilung des Bodens und die gerechte Verteilung des Ertrages der von dem arbeitsamen deutschen Volke geleisteten Arbeit. Die Anwendung sozialistischer Wirtschaftsmethoden würde in dem wirtschaftlich und kulturell hochentwickelten Deutschland viel schneller noch und viel reichlicher als in dem ehemals so rückständigen Zarenreich ermöglichen, die Bedürfnisse Aller zu befriedigen. Nur die gewaltsame Verhinderung der gerechten Verteilung schafft den Mangel, den das faschistische Regime nicht durch Maßnahmen im Innern des Landes beseitigen kann und den es darum durch das Hinübergreifen über die Landesgrenzen, durch Eroberungen, beheben will.
Der Ruf nach Siedlungsland und nach Kolonien bedroht unmittelbar die nationalen und imperialistischen Interessen der anderen Staaten. So scharf auch der Gegensatz zwischen der kriegswütigen Hitlerdiktatur und der friedenswilligen Sowjetunion im Kampf um die Verhinderung des Krieges ist, Hitlers Eroberungspläne bedrohen viel unmittelbarer den Südosten und Westen Europas wie auch das englische Imperium. Die „Verständigungs"-reden an die Westmächte sind nichts als taktische Winkelzüge, die ebenso über die nächsten Absichten hinwegtäuschen sollen, wie die ständigen Aufrufe zum heiligen Krieg gegen den Bolschewismus. Könnte Hitler zuerst die ukrainische Kornkammer holen und die in „Mein Kampf" aufgezählten Eroberungsabsichten im Osten verwirklichen, so würde er angesichts seines abgrundtiefen Hasses gegen den sozialistischen Arbeiterstaat seine Zeit nicht mit Hetzreden gegen die Sowjetunion vergeuden; er hätte seinen Ritt gen Osten schon längst durchgeführt. Aber das heißt nicht, daß Hitler seinen imperialistischen Raubkrieg gegen die Sowjetunion aufgibt. Er hat ihn nur vertagt, weil die große militärische, wirtschaftliche und ideologische Macht der UdSSR ihm zunächst noch als ein zu großes Hindernis erscheint. Die Generale der Bendlerstraße wissen, daß ein nur auf die Kräfte des faschistischen Deutschland gestützter Überfall auf die Sowjetunion an dem gewaltigen Widerstand der Roten Armee und der sowjetischen Völker scheitern würde. Darum will Hitler vorerst die - Hegemonie in Europa erzwingen, um ganz Europa für seinen Kriegszug gegen den „Erbfeind" des Faschismus zu mobilisieren. Der Drang zur faschistischen Vormachtstellung in Europa aber bedroht unmittelbar alle anderen Länder.
Hitler und seine Paladine sehen in der Verwirklichung ihrer Eroberungspläne die Voraussetzung für die Stabilisierung ihrer Diktatur in Deutschland. Sie hoffen, vieles von ihren weitgehenden außenpolitischen Zielen durch Drohungen und Provokationen zu erreichen. Aber sie werden — wenn Drohungen allein nicht mehr genügen — losschlagen. Der Krieg ist ein unablösbares Kampfmittel der faschistischen Diktaturen; sie sind die aggressivsten Verfechter imperialistischer Eroberungspolitik, sie sind die Träger der Kriegsfront. Die Durchsetzung ihrer Absichten kann nur durch die Bildung eines übermächtigen Friedensblockes verhindert werden.

DIE SCHWANKENDE POLITIK DER DEMOKRATISCHEN GROSSMÄCHTE

Zwischen Kriegs- und Friedensfront schwanken die demokratischen Großmächte. Ihr Schwanken schafft eine unklare, völlig unberechenbare Situation in der internationalen Politik. So fest und zuverlässig — allerdings aus völlig entgegengesetzten ökonomischen, politischen und ethischen Interessen — die Sowjetunion in der Friedensfront und die faschistischen Diktaturen in der Kriegsfront stehen, so unsicher ist die Haltung der demokratischen Großmächte. Die Haltung aller demokratischen Staaten wird weitgehend von England beeinflußt, von dem Frankreich sich nicht trennen will, und von dem die kleineren Staaten die Garantie ihres Bestandes gegenüber faschistischen Vorstößen erwarten. Englands schwankende Politik wirkt gegen die Bildung eines festen Friedensblockes; es wird wahrscheinlich bis zum letzten Augenblick unklar bleiben, in welcher Front England kämpft, wenn es den für den Frieden wirkenden Kräften nicht gelingt, den Krieg zu verhindern.
Die demokratischen Staaten wollen in der gegenwärtigen Situation keinen Krieg; ihre schwache Haltung gegenüber den faschistischen Provokationen wird nicht unwesentlich auch von dem Wunsche bestimmt, den Frieden zu erhalten. Die demokratischen Großmächte haben für ihre kriegsgegnerische Haltung andere Gründe als die Sowjetunion. Das ist jedoch nicht entscheidend. Wichtiger ist die Tatsache, daß in der aktuellsten Frage der Weltpolitik, im Kampf um die Verhinderung des Krieges, ein übereinstimmender Wille als gemeinsame Grundlage für das Zusammengehen der demokratischen Großmächte mit der Sowjetunion gegeben ist. Die demokratischen Staaten wissen, daß die faschistischen Diktaturen den Weltkrieg vorbereiten, den sie vermeiden wollen, und den sie fürchten, weil er ihren Bestand und die in ihren Ländern herrschende Ordnung bedroht. Trotzdem sträuben sich die nichtfaschistischen Staaten, eindeutig an die Seite der Sowjetunion zu treten und sich in die Friedensfront gegen die faschistischen Kriegstreiber einzureihen; und so mußten sie Schritt um Schritt vor den außenpolitischen Provokationen der faschistischen Diktaturen zurückweichen; sie haben diese dadurch zu immer neuen Provokationen ermuntert.
Das schwächliche Verhalten der demokratischen Großmächte stärkt die Position der faschistischen Kriegstreiber, es vergrößert die Kriegsgefahr, die die moderne Zivilisation bedroht. Die Wirkung der schwankenden Politik Englands und Frankreichs ist der Welt bei dem imperialistischen Vorstoß Mussolinis gegen Abessinien und im Krieg um die Freiheit des spanischen Volkes plastisch demonstriert worden. Das aktive Eingreifen der faschistischen Mächte in den von ihnen entfachten spanischen Bürgerkrieg, die unverkennbaren imperialistischen Eroberungsabsichten des italienischen und deutschen Faschismus im Mittelmeer und in Marokko; der Versuch, sich durch den Sieg des Vasallen Franco Rohstoffe zu sichern, Spanien mit seinem afrikanischen Hinterland zu einer Kolonie und zu einer Aufmarschbasis der faschistischen Staaten für weitere imperialistische Vorstöße zu machen, — das alles bedroht nicht nur den Weltfrieden, sondern ist eindeutig gegen die nationalen Interessen Englands und Frankreichs gerichtet. Vor 1914 hätte eine so offenkundige Attacke zweifellos zu energischen Gegenmaßnahmen geführt, und, wenn diese nicht den gewünschten Erfolg gehabt hätten, zum Abwehrkrieg. 1937 aber haben England und Frankreich die früher selbstverständlich gewesene Energie vermissen lassen; sie haben alle Vorstöße gegen ihre Interessen ohne tatkräftige Gegenwehr hingenommen.
Was aber sind die Gründe dafür, daß die demokratischen Großmächte sich die faschistischen Vorstöße gefallen lassen, ohne sofort zu energischen Gegenaktionen zu greifen? Warum schwanken die demokratischen Staaten noch am Vorabend weltgeschichtlicher Entscheidungen unsicher hin und her?
Diese Fragen können nur dann zuverlässig beantwortet werden, wenn man den Dingen auf den Grund geht. wenn man die inneren Zusammenhänge der weltpolitischen Situation und der Herrschaftsverhältnisse in den demokratischen Ländern klarlegt. Über die Ursache der Schwankungen wird viel orakelt. Einmal soll die zeitweise Vernachlässigung der Rüstung und die dadurch bedingte militärische Schwäche Großbritanniens zum Ausweichen gezwungen haben. Natürlich ist die militärische Schlagkraft eines Landes nicht unwichtig für sein außenpolitisches Handeln, aber sie ist nicht die letzte entscheidende Ursache für Englands schwankende Haltung. Ein andermal sollen besonders raffinierte Versprechungen und geschickte taktische Schachzüge der faschistischen Diktatoren das Einschwenken der demokratischen Staaten in die Friedensfront verhindern. Jedoch alle diese spekulativen Betrachtungen über die endgültige Stellung der zwischen Kriegs- und Friedensfront hin- und herpendelnden Staaten sind müßig. Die Analyse der internationalen Situation ergibt, daß das Schwanken der demokratischen Staaten nicht nur taktischen Erwägungen entspringt, sondern tiefere, grundsätzliche Ursachen hat, die nicht durch taktische Winkelzüge aufgehoben werden können.
Das Entscheidende ist, daß sich seit dem letzten Kriege die weltpolitische Situation grundlegend geändert hat, und daß auf dieser neuen Basis die demokratischen Staaten, in denen der Kapitalismus noch herrscht, ihre außenpolitischen Entscheidungen nach neuen, der veränderten Situation angepaßten Prinzipien treffen. Vor 1914 war die Situation für die kapitalistischen Staaten wesentlich unkomplizierter als heute; sie ließen ihre Aussenpolitik eindeutig nur von ihren nationalen und imperialistischen Interessen bestimmen. Nach dem Auftreten zweier neuer Fakten in der Weltpolitik — der faschistischen Diktaturen auf der einen, und des sozialistischen Arbeiterstaates auf der anderen Seite — spielen andere, auch weltanschauliche Interessen eine größere Rolle; heute sind die kapitalistischen Machthaber in den demokratischen Staaten unsicher, ob sie die Entscheidung ihrer Aussenpolitik von ihrem nationalen und imperialistischen, oder von ihren engeren, besonderen kapitalistischen Klasseninteressen bestimmen lassen sollen. Die Konsequenz, die die kapitalistischen Machthaber in den demokratischen Staaten aus der veränderten weltpolitischen Situation gezogen haben, ist ihr Schwanken zwischen Kriegs- und Friedensfront. Die Konsequenz, die die Volker der demokratischen Staaten aus der veränderten weltpolitischen Situation ziehen müssen, ist ihr festes und einiges Auftreten für die Friedensfront, für das eindeutige Eintreten ihrer Vaterländer in die Kampffront gegen die faschistischen Kriegstreiber.
Vor dem letzten Weltkrieg herrschte in allen Ländern der Kapitalismus. Die verschiedenen Formen, unter denen er in den entscheidenden Staaten — in England, Deutschland, Frankreich, Rußland und den USA — seine Herrschaft ausübte, änderte nichts an der Tatsache, daß sich die wesentlichen Gegensätze der Großmächte aus dem Kampf der Kapitalisten um den Weltmarkt herausbildeten. Die Parolen, „Gegen den Zarismus", oder „Gegen den wilhelminischen Absolutismus" Krieg zu führen, entsprangen nicht weltanschaulichen Gegensätzen, sondern dem Bedürfnis, durch Vortäuschung weltanschaulicher Gegensätze die Arbeitermassen der verschiedenen Länder leichter für die gegenseitige Bekämpfung auf den Schlachtfeldern mobilisieren zu können. Die blutige Knute des Zarismus hat die deutschen Kapitalisten ebensowenig gestört, wie das undemokratische Regime des wilhelminischen Deutschland die Kapitalisten der westeuropäischen Demokratien störte. Die Entente gegen Deutschland war gewiß nicht aus weltanschaulichen Gründen zustande gekommen, den Anstoß zu ihrer Bildung gab die imperialistische Politik des wilhelminischen Deutschland, die — fast ebenso aggressiv wie Hitlers Außenpolitik — andere Großmächte bedrohte. Damals führte diese Bedrohung zum Zusammenschluß und schließlich zum Kriege. Der Feind wurde ganz eindeutig nur nach den nationalen und imperialistischen Interessen der kapitalistischen Länder bestimmt. Gegen das Land, das diese bedrohte, schlössen sich die anderen zusammen. Gleichgültig, welche Staatsform in den feindlichen und in den verbündeten Ländern herrschte. Da die Herrschaft der Regierenden in allen Ländern auf der gleichen ökonomischen Basis beruhte, war die verschiedene Staatsform kein Hindernis für die klare Bildung der Fronten nur nach den nationalen und imperialistischen Interessen. Darum war es gar nicht verwunderlich, daß das zaristische Rußland und das wilhelminische Deutschland sich im Kriege als Gegner gegenüber standen, während die Entente zwischen dem republikanischen Frankreich und dem zaristischen Rußland ohne große Schwierigkeiten wirksam werden konnte.
Die Geschichtsepoche, in der die kapitalistischen Staaten ihre außenpolitischen Entscheidungen ausschließlich nach ihren nationalen und imperialistischen Interessen bestimmten, ist mit dem endgültigen Siege der proletarischen Revolution in einem Lande abgeschlossen. Jetzt beruht die Herrschaft der Regierenden nicht mehr In allen Ländern auf der gleichen ökonomischen Basis. Auf einem Sechstel der Erde existiert die kapitalistische Klassenherrschaft nicht mehr. In einem riesigen Gebiet herrscht der Sozialismus, der aus dem alten morschen Zarenreich einen wirtschaftlich und militärisch starken Staat gemacht hat. Der erste Arbeiterstaat repräsentiert in der Weltpolitik eine gewaltige Macht, mit der die Großmächte in allen Kontinenten ernsthaft rechnen müssen. Der Sieg des Sozialismus in einem Lande hat aber nicht nur das Zarenreich umgestaltet, die Funktion Rußlands in der Weltpolitik und damit die weltpolitische Situation, er hat auch die Rolle der Arbeiterklasse in der Weltpolitik entscheidend verändert.
Die internationale Arbeiterbewegung war ohne Zweifel auch schon vor 1914 eine Macht, mit der die Kapitalisten bei den Klassenkämpfen in ihren Ländern ernsthaft rechnen mußten. Jedoch die Weltarbeiterklasse war noch nicht reif und stark genug, um selbständige internationale Politik zu betreiben und als handelnde Macht in die weltpolitischen Ereignisse unmittelbar einzugreifen. Der Zusammenbruch der sozialistischen Arbeiterinternationale im August 1914 bewies, daß es ihr damals noch an theoretischer Klarheit, an Zielbewußtheit und an Kraft fehlte, um die der Weltarbeiterklasse von der Geschichte gestellte Aufgabe zu erfüllen. Die Voraussetzungen für die Überwindung der 1914 hemmenden Mängel sind jetzt gegeben. Mit dem Auftreten eines mächtigen sozialistischen Arbeiterstaates in der Weltpolitik ist die Arbeiterklasse weit über ihre Bedeutung von 1914 hinausgeschritten. Erst jetzt wurde sie — zum ersten Male in der Geschichte — zu einer unmittelbar geschichtsbildenden Kraft, die ihre Macht auch in der internationalen Politik direkt einzusetzen vermag. Die Weltarbeiterklasse kann heute den weiteren Verlauf der Weltgeschichte entscheidend mitbestimmen. Die herrschenden kapitalistischen Mächte haben die neue geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse in der Weltpolitik viel besser begriffen als viele Sozialisten; sie lassen darum bei ihren außenpolitischen Entscheidungen neuerdings auch ihre unmittelbaren inneren Klasseninteressen und weltanschauliche Gründe mitsprechen. Die internationale Arbeiterbewegung muß aus den veränderten Verhältnissen ebenso Lehren ziehen wie ihr kapitalistischer Gegenspieler.
Es ist nicht zwangsläufig, daß die Arbeiterklasse den weiteren Verlauf der weltgeschichtlichen Entscheidung ausschlaggebend bestimmen muß; sie kann das nur. wenn sie einig und geschlossen ist und in unzertrennlicher Verbundenheit mit dem ersten sozialistischen Arbeiterstaat handelt. Nur dann wird sie ihre volle Kraft ausnützen und die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe erfüllen können: den Weltsieg des Faschismus zu verhindern, die niedergehende Klassenherrschaft des Kapitalismus direkt abzulösen und die Menschheit auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu führen.
Die kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten empfinden das Vorhandensein eines mächtigen Arbeiterstaates als eine Bedrohung ihrer Klasseninteressen. Sie wissen, daß die bedeutende Rolle, die die Sowjetunion als immer mächtiger werdender Staat in der Weltpolitik spielt, auch die ideologische Wirkung der UdSSR auf die Arbeitermassen in allen Ländern erhöht hat. Der gewaltige Aufstieg, der sich in der UdSSR inmitten der Weltwirtschaftskrise vollzog, bewies in der Praxis die Überlegenheit des sozialistischen Systems über das kapitalistische. Der erste Arbeiterstaat hat bewiesen, daß der Sozialismus die Krise überwinden und die Produktion steigern kann, ohne daß die Mehrproduktion zu neuen Krisen führt. Während in der kapitalistischen Welt die Aufspeicherung des unverbrauchten Verdienstes der Kapitalisten immer schwerere Wirtschaftskrisen erzeugte und so Millionen Menschen arbeitslos machte und zum Hungern verurteilte, konnte die UdSSR alle Hände beschäftigen und eine neue, bessere Wirtschaft aufbauen. Die Sowjetunion hat die Richtigkeit der marxschen Theorie bewiesen, daß erst die Befreiung der Produktionsmittel aus den Händen der Kapitalisten die gewaltigen Fortschritte der Technik und des Geistes dem ganzen Volke dienstbar macht. Darum wirken die Erfolge des sozialistischen Aufbaus in dem ersten Arbeiterstaat in steigendem Maße revolutionierend auf die Proletarier in der ganzen Welt. Die bange Sorge der Kapitalisten ist, daß die Arbeiter in ihren Ländern immer deutlicher das aus dem Osten kommende Licht wahrnehmen und die aus der erfolgreichen sozialistischen Wirklichkeit tönende Mahnung beherzigen: in ihrer Heimat ebenso wie in dem damaligen Zarenreich den Kapitalismus zu überwinden, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen und die Bahn frei zu machen für einen stabilen, zukunftssicheren wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg.
Der Sieg des Faschismus in Deutschland hat die Situation für die demokratisch-kapitalistischen Staaten noch mehr kompliziert. Während vor dem Auftreten Hitlers normale, gleichwertige imperialistische Interessen der imperialistischen Großmächte gegeneinander stießen, bedroht jetzt der gesteigerte Überimperialismus machtlüsterner Diktatoren auf Schritt und Tritt und in allen Ecken Europas die nationalen Interessen der demokratischen Staaten. Würde die außenpolitische Stellungnahme der demokratischen Staaten nicht auch noch von anderen als nationalen Interessen beeinflußt, so würden sie zusammen mit der Sowjetunion den übermächtigen Friedensblock bilden, der jeden Friedensstörer zur sicheren Niederlage verurteilt, der ihn zwingt, den Angriff zu unterlassen, und den Frieden zu wahren. Die viel verbreitete Meinung, daß die demokratischen Großmächte in den entscheidenden Situationen zwangsläufig im demokratischen Staatenblock gegen den faschistischen stehen werden, beruht auf trügerischen und darum gefährlichen Hoffnungen. Die demokratische Staatenfront ist eine fiktive. Die noch so ernst gemeinte demokratische Verfassung eines kapitalistischen Staates ist keine Garantie für die Stellungnahme der demokratischen Staaten gegen die faschistischen Diktaturen. Die Politik der kapitalistischen Klassen richtet sich nicht nach den in ihrem Vaterland publizierten, und von ihnen auch anerkannten politischen Ideen, sondern nach ihren materiellen Interessen.
Die demokratischen Staaten haben eine durchaus ehrliche Abneigung gegen die zum Krieg treibende Politik der faschistischen Diktaturen. Ihre nationalen Interessen verlangen ihre eindeutige Stellungnahme für die Friedensfront. Wäre die Sowjetunion der aggressive Kriegstreiber, und wären die faschistischen Diktaturen die Stützen der Friedensfront, so würden die kapitalistischen Machthaber der demokratischen Staaten hemmungslos die Friedensfront verstärken. Weil aber unzweifelhaft die faschistischen Diktaturen die Friedensstörer sind, muß die Friedensfront naturnotwendig antifaschistisch sein. Die Identität der Friedensfront mit der antifaschistischen Front erschwert den kapitalistischen Machthabern in den demokratischen Staaten die eindeutige Stellungnahme. In der antifaschistischen Front ist die Sowjetunion die stärkste Kraft. Die Staatsmänner — besonders Englands — fürchten, daß die Sowjetunion zusammen mit den ihr ideologisch oder (ohne Unterschied der Parteirichtung) gefühlsmäßig verbundenen Arbeitermassen in der antifaschistischen Friedensfront eine unüberwindbare Macht wird, die nach Niederwerfung der faschistischen Diktaturen — auf die sie zunächst alle Kraft konzentriert — nicht stehen bleibt. Sie fürchten, daß diese Macht nach der Erreichung des ersten entscheidenden Zieles weiter vorwärts schreiten wird, um auch die Ursache von Krieg und Faschismus — die kapitalistische Gesellschaftsordnung — zu überwinden.
Die kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten wollen um jeden Preis ihre herrschende Stellung behaupten. Aber sie wissen nicht, durch welche Entscheidung sie das am besten erreichen. Das eben ist der Zwiespalt, in den sie die veränderte weltpolitische Situation gebracht hat. Sie sind unsicher, ob sie ihre Herrschaftsstellung behaupten können, wenn sie in einer Front mit der Sowjetunion zunächst den imperialistischen Vorstoß der aggressiven faschistischen Diktaturen gegen ihre nationalen Interessen entscheidend zurückschlagen und dadurch den Sturz der faschistischen Diktaturen herbeiführen helfen — oder wenn sie in der Front mit Hitler und Mussolini den ersten Stoß gegen den ihre Machtstellung ideologisch bedrohenden sozialistischen Arbeiterstaat führen. Sie sind unsicher, wie sich bei der Entscheidung für die zweite Möglichkeit ihre Völker verhalten werden, ob deren Auftreten an der Seite der Sowjetunion nicht gleichfalls zum Sturz ihrer Herrschaft führt. Sie fürchten außerdem, daß die überspitzte Gewaltherrschaft des Faschismus nach einer kurzen Übergangszeit schneller und sicherer zum endgültigen Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft führt. Für welchen Weg sie sich auch entscheiden, sie fürchten, später von dem Bundesgenossen erdrückt zu werden, mit dem zusammen sie den gefährlichsten Gegner niedergeworfen haben.
Die Männer und Mächte, die zum Beispiel Englands Politik bestimmen, sind gewiß nicht für Hitlers machtlüsternes Diktaturregime, das die ganze Welt beunruhigt, — aber sie fürchten den Sieg der Arbeiterklasse. Sie möchten sich gern für das kleinere Übel entscheiden, aber sie sind im Zweifel, was im entscheidenden Augenblick das kleinere Übel sein wird. Sie wissen nicht, ob es ihnen nach der Niederwerfung der einen „ideologischen Front" gelingen wird, dem von ihnen ausgewählten kleineren Übel gegenüber die Entscheidung zugunsten ihrer nationalen kapitalistischen Interessen herbeizuführen.
England will sich — wie die englischen Regierungsmänner in allen außenpolitischen Reden erklären — weder in eine weltanschauliche Front einreihen, noch an einem Weltanschauungskrieg beteiligen. Diese Erklärungen richten sich ebenso gegen die Bildung einer demokratischen Friedensfront, wie gegen Hitlers antibolschewistische Staatenfront für den heiligen Krieg gegen die Sowjetunion. Hitler und Mussolini rechnen bei der Durchführung ihrer provokatorischen Außenpolitik mit der Angst der kapitalistischen Machthaber in den demokratischen Staaten vor der ideologischen Fernwirkung des ersten Arbeiterstaates. Hitler propagiert seine weltanschauliche Front nur, um die kapitalistischen Interessen in den demokratischen Ländern für die Erreichung seiner — die demokratischen Staaten bedrohenden — imperialistischen Ziele auszunützen. Es ist darum zweifellos notwendig. Hitlers Spekulationen zu stören und seinen Bemühungen, eine Front der kapitalistischen Staaten gegen die Sowjetunion zu bilden, entschieden entgegenzuwirken. Aber trotzdem ist kaum zu bezweifeln, daß bei den weltpolitischen Entscheidungen unserer Zeit, im Gegensatz zu 1914, weltanschauliche Interessen hineinspielen werden. Im gewissen Sinne entscheiden auch bei der Problemstellung Krieg oder Frieden, faschistische Diktatur oder Demokratie, weltanschauliche Gesichtspunkte mit. Die konsequente Verneinung dieser Tatsache durch die Staatsmänner der demokratischen Staaten führt zu ihrer unrealen, illusionären Politik, die letzten Endes nicht der Erhaltung des Friedens, sondern den Kriegstreibern dient.
Aus der Identität der antifaschistischen Front mit dem Friedensblock ergibt sich die widerspruchsvolle, schwankende Haltung der demokratischen Großmächte, die ihren Willen und ihre Aktionen zur Verhinderung des Krieges durch die Ablehnung der antifaschistischen Friedensfront selbst sabotieren. Die herrschenden kapitalistischen Mächte der demokratischen Staaten wollen die Quadratur des Kreises lösen: sie wollen den Frieden erhalten, aber die faschistischen Diktaturen nicht stürzen; sie wollen die aggressive, zum Krieg treibende Politik der faschistischen Diktaturen liquidieren, aber sich nicht für die antifaschistische Front entscheiden.
Das Lebensinteresse der Völker in den demokratischen Staaten erfordert Stellungnahme für die antifaschistische Friedensfront, das egoistische Sonderinteresse der kapitalistischen Klassen hindert die eindeutige Frontstellung der demokratischen Großmächte gegen die faschistischen Kriegstreiber.

DIE AUFGABEN DER INTERNATIONALEN ARBEITERBEWEGUNG

Wir stehen vor Entscheidungen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Wie diese Entscheidungen ausfallen, ob die Menschheit unter die „eiserne Ferse" des Faschismus gezwungen oder die Bahn für den Aufstieg zu einer höheren Gesellschaftsform freimachen wird, in der alle Menschen in Frieden und Wohlstand leben können, das hängt vor allem davon ab, ob die Weltarbeiterklasse als gewaltige Macht unmittelbar in die Weltpolitik einzugreifen vermag.
Alle Voraussetzungen für das Auftreten der Arbeiterklasse als machtvolle geschichtsbildende Kraft sind gegeben. Das ist das positive Ergebnis der veränderten weltpolitischen Situation. Die negative Nebenwirkung des Machtzuwachses der Arbeiterklasse ist die schwankende Haltung der demokratisch-kapitalistischen Staaten gegenüber der den Frieden bedrohenden Politik Hitlers und Mussolinis. Zwei Seelen wohnen doch, in der Brust der herrschenden Mächte dieser Staaten. Auf welche Seite sie sich endgültig stellen, das wird sich wahrscheinlich erst in der letzten Stunde entscheiden. Die konkrete Aufgabe der Arbeiterklasse in allen Ländern ist es, ihre Vaterländer zu einer eindeutigen Stellungnahme zu veranlassen: zum Beitritt in den dann übermächtig werdenden Friedensblock, der den faschistischen Diktaturen den Ausweg in den Krieg versperrt und den Untergang der modernen Zivilisation verhindert.
Wann und wie die endgültige Entscheidung der demokratischen Staaten fällt, wird im wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt werden:
Erstens davon, ob die faschistischen Diktaturen bei der fortgesetzten Steigerung ihrer aggressiven imperialistischen Politik die Grenze überschreiten, die die demokratischen Großmächte bei der Wahrnehmung ihrer nationalen Lebensinteressen ziehen müssen. Diese Grenze ist — wie die Geschehnisse in den letzten Jahren beweisen — sehr elastisch, sie ist immer weiter rückwärts verlegt worden. Aber sie wird den Punkt erreichen, an dem die Überschreitung durch faschistische Provokationen die demokratischen Großmächte zur Gegenwehr zwingt.
Zweitens davon, wie groß die Einsicht, der Wille und der Einfluß der Arbeiterklasse in den demokratischen Ländern ist, um diese zur eindeutigen Stellungnahme für die demokratische, antifaschistische Friedensfront zu bringen.
Die provokatorische Außenpolitik der faschistischen Diktaturen hat in allen von ihr bedrohten Ländern günstige Voraussetzungen für erfolgreiche Aktionen zur Stärkung der Friedensfront geschaffen. Der entscheidende subjektive Faktor, der diese günstige objektive Situation zielbewußt ausnutzen muß, ist die Arbeiterbewegung. Die Größe ihrer Macht und ihres Einflusses, die sie in den einzelnen Ländern für die Erfüllung ihrer nächsten Aufgabe einzusetzen vermag, wird nicht zuletzt von dem Grad ihrer Einigkeit und Geschlossenheit bestimmt. Die Bildung einer aktionsfähigen Einheits- und Volksfront ist darum sowohl im nationalen, wie im internationalen Rahmen eine unablösbare Pflicht. Wer heute noch die gemeinsame antifaschistische Kampffront als Parteimanöver behandelt oder betrachtet, verkennt die bedeutende geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse am Vorabend weltgeschichtlicher Entscheidungen. Die Volksfront und die Voraussetzung für diese, die Einheitsfront, dienen nicht egoistischen Interessen eines Teiles der Arbeiterbewegung, sie sind vielmehr Kampfmittel aller Werktätigen für ihren Kampf um Freiheit und Fortschritt, für den Aufstieg der Menschheit aus den Niederungen der steten Bedrückung und Bedrohung. Die Arbeiterparteien der verschiedenen Länder können die Frage der gemeinsamen antifaschistischen Kampffront nicht mehr nur nach innerpolitischen Gesichtspunkten entscheiden, sie müssen ihre Entscheidung nach den Bedürfnissen des umfassenden internationalen Befreiungskampfes des Proletariats treffen. Von dem Tempo, in dem die Einheits- und Volksfront in den einzelnen Ländern zustande kommt, von dem Tempo, in dem die Weltarbeiterklasse zu einem entscheidenden Machtfaktor in der internationalen Politik wächst, wird es abhängen, ob den Völkern der furchtbarste aller Kriege erspart werden kann, ob — wenn die Verhinderung des Krieges trotz aller Anstrengungen nicht gelingt — in diesem Kriege der Faschismus vernichtend geschlagen wird, und ob die Ursachen von Krieg und Faschismus beseitigt werden können. Die geschichtliche Entwicklung wird die Richtigkeit dieser Behauptung erweisen. Hoffentlich müssen Historiker nicht einmal feststellen, daß diese Erkenntnis sich erst zu spät in den einzelnen Arbeiterparteien durchgesetzt hat.
Die Einheits- und Volksfront, die in den demokratischen Ländern starken Einfluß besitzt, kann diese zur Entscheidung für die antifaschistische Friedensfront zwingen. Ist ihr Druck jedoch noch nicht stark genug, um ihr Land eindeutig in den Friedensblock zu führen, so kann sie — wenn sie im Volke fest verankert ist — doch das Einschwenken ihres Vaterlandes in die faschistische Front verhindern. Auf jeden Fall wird es von der Einheits- und Volksfront abhängen, ob die herrschenden kapitalistischen Mächte der einzelnen Länder vor dem Kriege an der Seite der faschistischen Diktaturen zurückschrecken werden. Wenn nicht für die Staatsmänner, so gewiß für die Völker der demokratischen Staaten, wird im Kriege die gesinnungsmäßige Frontenbildung davon bestimmt werden, daß auf der einen Seite die faschistische Diktatur, auf der anderen Seite der sozialistische Arbeiterstaat steht. Ebenso wie die Situation, ist auch die Stimmung der Volksmassen eine wesentlich andere als 1914. Die zielbewußte Ausnutzung dieser Tatsache ist die Pflicht der antifaschistischen Bewegung. Müssen die Herrschenden aller Länder damit rechnen, daß in einem Kriege, den sie an der Seite der faschistischen Diktaturen führen wollen, große Volksmassen gegen sie auftreten werden, so wird die Angst vor dem Risiko dieses Krieges ihre endgültige Entscheidung nicht unwesentlich beeinflussen. Eine mächtige, einig handelnde antifaschistische Kampffront kann unmittelbar oder mittelbar den Friedensblock so stark machen, daß die faschistischen Kriegstreiber den Überfallkrieg gegen einzelne Staaten nicht mehr wagen können.
Die nächsten großen Entscheidungen fallen auf dem Boden der internationalen Politik. Brennend wichtig ist darum die internationale Einheitsfront aller demokratischen Kräfte — ohne Unterschied der Parteirichtung — mit der Sowjetunion. Die neue internationale Situation fordert klare Frontenbildung; sie verlangt besonders von allen Teilen der internationalen Arbeiterbewegung eine eindeutige Stellungnahme. Das gemeinsame Interesse der Weltarbeiterklasse gebietet, daß in dem gewaltigen Ringen unserer Zeit alle Teile der internationalen Arbeiterbewegung Schulter an Schulter mit der Sowjetunion kämpfen. Nur dann wird die Arbeiterklasse das positive Ergebnis der veränderten weltpolitischen Situation, als geschichtsbildende Kraft die nächsten Entscheidungen zu bestimmen, auch positiv auswerten können.

DIE SOWJETUNION UND DIE SOZIALDEMOKRATIE

Von der Parteien Haß und Liebe gezeichnet, schwankt das Bild der Sowjetunion in den zeitgenossischen Betrachtungen. Kein Land hat in den letzten zwei Jahrzehnten die Aufmerksamkeit der Menschen aller Erdteile so auf sich gelenkt wie die UdSSR. Die Einen bejahen mit Begeisterung das neue Werden im Osten. Die Anderen verfluchen es als ein Teufelswerk der Hölle. Die Dritten schwanken zwischen diesen beiden Extremen hin und her, finden Fehler und Mängel, mit denen sie ihre unschlüssige Haltung begründen. Alle aber bekunden — durch positive oder negative Stellungnahme — die große Bedeutung der UdSSR in den Kämpfen unserer Zeit. Und in der Tat; künftige objektive Historiker werden feststellen, daß mit dem Siege der proletarischen Revolution in einem Lande und mit der Sicherung und Festigung dieses Sieges der Durchbruch in eine neue Epoche gelungen ist:
daß der Aufbau des ersten sozialistischen Arbeiterstaates die größte geschichtliche Leistung der Vergangenheit war, der erste entscheidende Schritt, der auf dem Wege zur Verwirklichung des Sozialismus, zu einer höheren, vollkommeneren menschlichen Gesellschaft vorwärts gemacht wurde.
Jedoch nicht nur der rückschauende Historiker, auch der in der Geschichte aktiv handelnde politische Mensch muß die Kräfte und Mächte in der Weltpolitik, die großen Ereignisse und Veränderungen in ihrem geschichtlichen Zusammenhange betrachten. Dann aber wird er erkennen, daß die Sowjetunion zu einem Machtfaktor in der Weltpolitik geworden ist, von dessen Bestand und Stärke es entscheidend mit abhängt, ob die Menschheit durch den Sieg des Faschismus weit zurückgeworfen wird, in einen Zustand tiefster Barbarei — der dem heutigen Stand der Entwicklung vollkommen widerspricht — oder ob die zum Sturz reife kapitalistische Klassenherrschaft durch den Sozialismus abgelöst wird. Das Große, für den Befreiungskampf der Menschheit Bedeutungsvolle jedoch ist: die auf den Trümmern des alten morschen Zarenreiches entstandene Sowjetunion ist nur darum zu einem entscheidenden Machtfaktor in der Weltpolitik geworden, weil die siegreiche proletarische Revolution die kapitalistische Klassenherrschaft rücksichtslos vernichtete, die Produktionsmittel vergesellschaftete, und mit sozialistischen Wirtschaftsmethoden in atemberaubendem Tempo einen gewaltigen ökonomischen Aufbau vollzog. Erst die Entfesselung der vom kapitalistischen Profitinteresse niedergehaltenen Produktivkräfte, erst die Befreiung der Menschen aus der kapitalistischen Sklavenfron hat die Sowjetunion befähigt, alle wirtschaftlichen und menschlichen Kräfte für den Aufstieg und für die Verteidigung der Heimat zu mobilisieren. Ohne den sozialistischen Aufbau wäre die UdSSR nie die große wirtschaftliche und militärische Macht in der Weltpolitik geworden, die auch die Waffen zu gebrauchen versteht, mit denen die kapitalistische Klassenherrschaft noch heute über fünf Sechstel der Erde aufrechterhalten wird, und vor denen allein die Herren der kapitalistischen Weltordnung Respekt haben.
Von manchen aus den Reihen der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Kritikern der Sowjetunion wird bestritten, daß die in harten Kämpfen unter großen Opfern aufgebaute Macht der UdSSR auch tatsächlich für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt wirkt. Die Geschichte der russischen Revolution, die objektive Analyse der Entwicklung und der Politik der Bolschewistischen Partei beweist, daß die Zweifel der Kritiker unberechtigt sind. Die endgültige Sicherung des ersten Arbeiterstaates ist eng verbunden mit dem sozialistischen Vormarsch in den anderen Ländern. Das ureigenste Interesse gebietet der Sowjetunion, für den Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt zu wirken. Aber der Weltsieg des Sozialismus kann nicht ohne den Machteinsatz der Weltarbeiterklasse erfochten werden. Die internationale Arbeiterbewegung ist der entscheidende Machtfaktor im Weltkampf um den Sozialismus; ihre Kraft und die Festigkeit ihres Bündnisses mit der Sowjetunion wird den Ausgang des Kampfes um eine neue Weltordnung bestimmen. Die internationale Arbeiterbewegung kann eine große, gewaltige Kampfkraft entfalten. Aber die ideologische Verwirrung in ihren Reihen, ihre Uneinigkeit und die gegenseitige Bekämpfung der verschiedenen Gruppen machen sie zeitweise aktionsunfähig, hindern nur zu oft in entscheidenden Situationen den vollen Einsatz ihrer Macht.
Es ist unbestreitbar, daß die Kampffront für den Sozialismus in den kapitalistischen Ländern heute noch nicht so stark ist wie die Sowjetunion. Jedoch auch die internationale Machtposition der UdSSR ist in weitgehendem Maße abhängig von der Stärke der internationalen Arbeiterbewegung. Ist diese aktionsunfähig, wird dadurch auch die Stoßkraft der Sowjetunion geschwächt. Gerade die durch Uneinigkeit verschuldete Schwäche der internationalen Arbeiterbewegung ist es, die oft den von ungeduldigen Kritikern geforderten Einsatz der Sowjetmacht an allen Kampffronten erschwert. Wie schicksalhaft die zwei entscheidenden Faktoren in der Kampffront für den Sozialismus miteinander verbunden sind, wird am deutlichsten dadurch charakterisiert, daß die Größe der Aktionsfähigkeit des einen von der des anderen bedingt wird, daß die Stoß- und Wirkungskraft beider von ihrem gegenseitigen Verhältnis abhängt. Steht die internationale Arbeiterbewegung einig und geschlossen in enger Kampfgemeinschaft, sieht sie in dem ersten Arbeiterstaat mehr noch als einen Verbündeten, so wird sie dadurch gewaltig erstarken und in der Wechselwirkung auch die Aktionskraft der Sowjetunion bedeutend steigern; andererseits wird durch die erhöhte Aktionskraft der Sowjetunion die Machtposition der Internationalen Arbeiterbewegung vergrößert. Außerdem wird der von einer mächtigen, einigen internationalen Arbeiterbewegung unterstützte Arbeiterstaat manche zeitweilig notwendigen Konzessionen und Kompromisse unterlassen können und damit vielen Kritikern die Möglichkeit zu ihrer verwirrenden Kritik nehmen. Die ideologische Klärung wird sich viel rascher vollziehen, und auch dadurch wird die internationale Arbeiterbewegung unvergleichlich stärker, mächtiger und einflußreicher werden, als sie heute ist. Der Ausgangspunkt für die Überwindung aller vorhandenen Schwierigkeiten und Schwächen ist jedoch die gemeinsame Kampffront der gesamten internationalen Arbeiterbewegung und ihre unerschütterliche Kampfgemeinschaft mit der Sowjetunion. Darum ist es eine unumgängliche Pflicht, alle proletarischen Kräfte zum einheitlichen Handeln zusammenzufassen und den festen Kampfblock der Weltarbeiterklasse mit der Sowjetunion zu schmieden. Das unerschütterliche Zusammenwirken der beiden entscheidenden geschichtlichen Kräfte in der Front gegen Krieg und Faschismus wird den Weltsieg des Sozialismus wesentlich beschleunigen.
Es geht um Sein oder Nichtsein. Wir stehen vor dem großen Kampf, dem keiner sich entziehen kann. Die herannahende Entscheidung verlangt gebieterisch die Geschlossenheit aller proletarischen Kräfte und deren klare, eindeutige Stellungnahme zur Sowjetunion. Die geschichtliche Situation duldet in dieser Frage kein Ausweichen mehr. Wer den Faschismus schlagen will, kann nicht mehr „Ja aber" oder „Ja und Nein", der muß eindeutig Ja zur Sowjetunion sagen. Wer dieses klare Ja verweigert oder abschwächt, gerät — wenn er nicht schon dort steht — auf die falsche Seite der Barrikade.
Die faschistischen Feinde der Arbeiterklasse haben die große geschichtliche Bedeutung der Sowjetunion in den Kämpfen unserer Epoche klarer erkannt als große Teile der Weltarbeiterklasse. Die Faschisten fürchten in dem von ihnen vorbereiteten Kriege nicht nur die gewaltige militärische und wirtschaftliche Macht der Sowjetunion, sondern auch die ideologische Fernwirkung des sozialistischen Arbeiterstaates auf ihre eigenen Volksgenossen. Darum betreiben sie eine ununterbrochene systematische Hetze gegen die Sowjetunion; sie wollen durch Lügen und Verleumdungen die Sympathien der freiheitlich gesinnten Massen ihrer Länder für die UdSSR zerstören. Endlos werden Märchen von dem verhungernden russischen Volke aufgetischt, entrüstet wird berichtet, daß in der Sowjetunion zehntausende edler Menschen in besonders fürchterlichen unterirdischen Gefängnissen schmachten, daß die Zahl der täglich zu Erschießenden generell auf 150 festgesetzt ist. Die Hetze gegen die Sowjetunion erfolgt nach dem in „Mein Kampf" von Hitler niedergeschriebenem Rezept, daß eine Lüge nur groß genug sein muß, um geglaubt zu werden. Die Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft fällt auf die faschistischen Hetzreden gegen die Sowjetunion nicht mehr herein. Aber es gibt trotzdem noch genug Arbeiter, und vor allem Angehörige anderer Klassen, die von den Lügen der Faschisten zumindest so weit beeindruckt werden, daß sie, auch wenn sie dem Faschismus gegenüber bereits eine negative Haltung einnehmen, zu keiner positiven Kampfstellung gelangen. Schon allein darum ist die Widerlegung dieser Märchen und die sachliche Aufklärung der Massen über die wirkliche Entwicklung in der Sowjetunion dringend notwendig. Mehr noch als durch die Lügen der Faschisten werden die Volksmassen in den kapitalistischen Ländern bei der Stellungnahme zum ersten Arbeiterstaat durch die oft unsachliche Kritik angeblicher Freunde der UdSSR verwirrt. Diese Kritik wird überall von den Faschisten als „wichtiges Material" für ihre Lügen aufgegriffen und aufgebauscht.
Die Kritik der angeblichen Freunde der Sowjetunion stützt sich auf Fehler oder Mängel, die sich zeitweise ergaben, und die — aufgebauscht — als Dauererscheinungen und als entscheidendes Charakteristikum der Sowjetgesellschaft dargestellt werden. Diese Kritiker haben die große geschichtliche Tat, die der Aufbau des ersten Arbeiterstaates inmitten der kapitalistischen Umwelt ist, nicht begriffen. Es gibt in der Geschichte keine epochemachende Leistung, die in ihrem Entfaltungsprozeß nicht mit Mängeln behaftet gewesen wäre. Niemand anders als Karl Marx hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die proletarische Revolution unvergleichlich schwierigere Aufgaben zu lösen hat als die bürgerlichen Revolutionen. Die größten Schwierigkeiten der proletarischen Revolution beginnen erst nach dem ersten siegreichen Vorstoß, nach der politischen Machteroberung, — wenn nach der Zerschlagung des kapitalistischen Machtapparates ein vollständig neuer Machtapparat aufgebaut und die grundlegende Umwälzung der ökonomischen Fundamente der Gesellschaft durchgeführt werden muß. Die bürgerlichen Revolutionen, die auf den für ihren Sieg herangereiften Verhältnissen nur weiter zu bauen brauchten, hatten es leichter, — und trotzdem weist ihre Geschichte unzählige Mängel und Fehler auf. Aber kein fortschrittlicher Mensch macht seine Stellung zu dem Ergebnis dieser Revolutionen, die eine neue Epoche in der Geschichte einleiteten, von den vielfältigen Fehlern abhängig. Wäre aber schon die Durchführung der proletarischen Revolution, wenn sie gleichzeitig in mehreren hochentwickelten Industrieländern gesiegt hätte, viel schwieriger als jede bürgerliche Revolution gewesen, so mußten die Schwierigkeiten unermeßlich sein, da der Sieg der proletarischen Revolution auf ein einziges rückständiges Agrarland beschränkt blieb.
Die siegreiche proletarische Revolution in dem rückständigen Zarenreich, die inmitten der kapitalistischen Umwelt den sozialistischen Aufbau beginnen mußte, hatte darum nach dem Ausbleiben der proletarischen Revolution in anderen Ländern unendlich viel größere Schwierigkeiten zu überwinden als jede andere geschichtliche Umwälzung in der Vergangenheit. Unter den gegebenen Umständen konnte es im Ringen um die Erhaltung der Oktoberrevolution nicht gradlinig aufwärts gehen. Es waren zeitweise Rückzüge, Konzessionen und Kompromisse ebenso notwendig wie harte Maßnahmen gegen diejenigen, die sich aus Feindschaft oder Kurzsichtigkeit, aus Verärgerung oder Ungeduld der planmäßigen Entwicklung zur neuen Gesellschaft entgegenstellten. Der Marxist weiß, daß die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische nicht über Nacht, durch einen alles bisherige Sein auf den Kopf stellenden einmaligen Akt, vollbracht werden kann. Selbst unter den günstigsten objektiven Voraussetzungen — bei gleichzeitigem Siege der proletarischen Revolution in mehreren fortgeschrittenen Ländern — entwickelt sich die neue sozialistische Gesellschaft nur in langwierigen, schweren Kämpfen aus dem Schöße der kapitalistischen Gesellschaft; und sowohl die Verhältnisse, wie die Menschen sind in den ersten Stadien der sozialistischen Gesellschaft noch mit den Muttermalen der kapitalistischen Gesellschaft behaftet.
Unter den besonders schwierigen und komplizierten Verhältnissen, unter denen nach der Oktoberrevolution der Aufbau des Sozialismus in einem Lande in Angriff genommen werden mußte, sind Fehler und Mängel unvermeidlich gewesen. Es ist begreiflich, daß der marxistisch ungeschulte Mensch in der Entwicklung der Sowjetunion unklare und verwirrende Bilder sah, seinen Blick an diesen haften ließ und darüber hinaus nicht die geschichtliche Leistung des Aufbaus des ersten sozialistischen Arbeiterstaates erkannte. Bis zum endgültigen Siege des Sozialismus in der ganzen Welt werden allen siegreichen proletarischen Revolutionen Mängel anhaften, werden aus der Situation inmitten der kapitalistischen Umwelt und im Zusammenhang mit den Aktionen der Gegner taktische Maßnahmen notwendig sein, die wie Rückzüge aussehen oder als Fehler erscheinen. Das Entscheidende jedoch ist, ob die Bewegung, die an der Spitze der siegreichen proletarischen Revolution steht, das revolutionäre Ziel immer vor Augen hat und unerschütterlich an ihm festhält. Das Entscheidende ist, daß sie die Macht und die Fähigkeit besitzt, notwendig gewesene Konzessionen aufzuheben — sobald sie im Zuge der Entwicklung nicht mehr notwendig sind oder dem revolutionären Ziel gefährlich werden könnten. Die zwanzigjährige Geschichte der Sowjetunion hat bewiesen, daß die leninsche Partei als Führerin der russischen Revolution in jeder Situation unverrückbar am revolutionären Ziel festgehalten hat, und daß sie mit dem Blick darauf — getreu der Lehre ihres Begründers — immer das nächste Kettenglied packte und alle zeitweisen Konzessionen rechtzeitig wieder zu liquidieren vermocht hat. Zwei Jahrzehnte nach dem Siege der Oktoberrevolution ist der Sozialismus das unbestritten herrschende Wirtschaftsprinzip in der Sowjetunion. Die Stabilisierung der siegreichen proletarischen Revolution und der erfolgreiche sozialistische Aufbau in einem Lande sind eine epochemachende Leistung, die kein objektiver Kritiker und Historiker mehr bestreiten kann. Im Vergleich zu diesem Ergebnis sind Notfehler, die weniger durch die siegreiche Partei in der Sowjetunion, als durch das Ausbleiben der proletarischen Revolution in den anderen Ländern verschuldet sind, belanglos.
Die Sozialdemokratie, die viel zu lange die Sowjetunion als die Sache einer gegnerischen Partei und nicht als die Sache der internationalen Arbeiterklasse betrachtete, hat die in den Jahren mühseligen Ringens um den sozialistischen Aufbau entstandenen Mängel und Fehler maßlos übertrieben und zur Propaganda gegen die in der Sowjetunion verwirklichte Lösung benutzt. Die kritische, die oft mehr als kritische, ablehnende Haltung der sozialdemokratischen Bewegung gegenüber dem heroischen Kampf der russischen Arbeiterklasse hat wesentlich die Haltung der sozialdemokratischen Arbeitermassen in den kapitalistischen Ländern beeindruckt und ihre positive Einstellung zum ersten Arbeiterstaat erschwert. Die gegen alle Widerstände durchgesetzten großen unbestreitbaren Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben entscheidende Teile der sozialdemokratischen Kritik an der UdSSR widerlegt. Noch mehr aber hat die krisenhafte Zuspitzung der weltpolitischen Situation, die durch das Auftreten der faschistischen Diktaturen erfolgte, die große Bedeutung der Sowjetunion klargemacht. Unter dem Druck der geschichtlichen Entwicklung haben die Argumente reformistischer Kritiker ihre Wirkung auf große Teile der sozialdemokratischen Anhängerschaft verloren. Tatsachen sprechen eine zu deutliche Sprache. Auch die sozialdemokratischen Arbeiter haben trotz oft sehr entstellenden Berichten ihrer Presse über die Sowjetunion allmählich die grundsätzliche Bedeutung des ersten Arbeiterstaates erkannt. Besonders nach dem Siege Hitlers haben sie begriffen, daß nur der konsequent revolutionäre Weg einer proletarischen Partei den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung ermöglichen und dem Volke die furchtbare Herrschaft des Faschismus ersparen kann. Trotzdem ist die offizielle sozialdemokratische Kritik nicht verstummt. Aber ihre Form und die Objekte ihres Angriffes sind andere geworden. Es scheint wie ein Witz, daß dieselben Reformisten, die früher die leninsche Partei wegen der radikalen, konsequenten Durchführung der sozialen Revolution und der sich daraus ergebenden Konsequenzen angriffen, heute derselben Bolschewistischen Partei Preisgabe der Weltrevolution, angeblichen Verrat der Oktoberrevolution und die Vernichtung der „alten bolschewistischen Garde" vorwerfen. Die offiziellen sozialdemokratischen Kritiker der Sowjetunion grenzen sich zwar mehr oder weniger scharf von Trotzki ab; aber sie gebrauchen die Argumente der Trotzkisten als angeblichen Beweis dafür, daß die UdSSR nicht den Wünschen und Vorstellungen der unter dem Druck des Kapitalismus leidenden Massen entspricht. Aus der Situation innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung, aus der Zuspitzung der weltpolitischen Gegensätze erhält der Trotzkismus eine — allerdings zeitlich bedingte und begrenzte — ideologische Wirkungsmöglichkeit über den engen Kreis seiner Anhänger hinaus. Er liefert allen halben und ganzen Gegnern, allen offenen und versteckten Feinden der Sowjetunion das Rüstzeug für den Kampf gegen den ersten Arbeiterstaat. Er trägt in der Zeit, in der nichts so notwendig ist wie die gemeinsame Kampffront des Proletariats, Verwirrung in die Reihen der nichtrussischen Arbeiterschaft; er erschwert deren allgemeine, vollständige, eindeutige Stellungnahme für die UdSSR.
Daß der Trotzkismus gerade in dieser Zeit west- und mitteleuropäische Sozialdemokraten ideologisch zu beeinflussen vermag, hat aus der Entwicklung erwachsene Ursachen. Hitlers Sieg hat eine starke Linksentwicklung in den sozialdemokratischen Parteien ausgelöst, die große Teile der sozialdemokratischen Anhängerschaft in ein besseres Verhältnis zur Sowjetunion brachte. Aber die Sozialisten, die sich innerlich vom Reformismus abgewandt hatten und für den revolutionären Weg entschieden, wußten wegen der Vernachlässigung der sowjetrussischen Probleme in ihren Parteien zu wenig von der Geschichte der russischen Revolution. Ihre mangelnde Kenntnis der Kämpfe um die Sicherung der siegreichen proletarischen Revolution und den sozialistischen Aufbau machten sie unsicher. Die trotzkistischen Angriffe gegen die Sowjetunion verwirrten diese Sozialisten, und es bedrückte sie, daß die Bolschewistische Partei angeblich von dem revolutionären Wege abweicht, zu dem sie sich endlich mühselig durchgerungen haben. Gerade die Menschen, die der plötzliche Zusammenbruch ihrer reformistischen Illusionen tief erschütterte, waren für die am radikalsten klingenden Losungen zunächst besonders empfänglich. Sie wollten nach ihrer ersten gefühlsmäßigen Wandlung nichts mehr vom Kampf um Reformen wissen und nichts mehr von der mißverstandenen, in Deutschland so kläglich zusammengebrochenen Demokratie hören. Die ruckartige Wandlung von rechts nach links erzeugte bei den vom Reformismus enttäuschten Sozialdemokraten zwangsläufig ultralinke Stimmungen, aus denen heraus sie — die früher die Sowjetunion von rechts kritisierten — nunmehr den „von links" kommenden Einwänden gegen den Arbeiterstaat zugänglicher wurden. In der ersten Entwicklungsphase des ideologischen Wandlungsprozesses der Sozialdemokraten sind sie bei der Beurteilung trotzkistischer Argumente manchmal schwankend; sie finden aber schnell das eindeutige Verhältnis zur Sowjetunion, wenn sie die Zusammenhänge der russischen Revolution und deren Probleme nicht mehr nur gefühlsmäßig, sondern sachlich beurteilen können.
Der Kampf gegen Krieg und Faschismus verlangt gebieterisch die Sammlung aller proletarischen Kräfte zu einer geschlossen handelnden Einheit. Die Trotzkisten bemühen sich, um jeden Preis schwache Punkte im Sowjetregime zu „entdecken", um Mißtrauen gegen den Arbeiterstaat zu säen. Der Trotzkismus hat sich zu einer negativen Kraft entwickelt, die die werdende gemeinsame Kampffront der internationalen Arbeiterbewegung stört, die Massen verwirrt, und sie von einer eindeutig positiven Stellungnahme für die Sowjetunion abzuhalten versucht. Welchen Motiven das Handeln der Trotzkisten entspringen mag, mit welchen Argumenten man es zu begründen versucht, es dient in der zugespitzten weltpolitischen Situation ausschließlich den Feinden des Sozialismus.
Wir stehen in der Epoche der Entscheidungskämpfe um den Sozialismus. Im Kampf um die Verhinderung des Krieges reift die Situation heran, in der über das weitere Schicksal der Welt entschieden wird. Gelingt es einer übermächtigen Friedensfront, den Krieg zu verhindern, so wird die Hitlerdiktatur am Frieden ersticken. Kann Hitler den kriegerischen Ausweg nicht beschreiten, so werden krisenhafte Erschütterungen objektive Voraussetzungen für den Sturz der faschistischen Diktatur schaffen. Aus den Trümmern der Hitlerdiktatur wird aber nicht nur ein neues Deutschland, sondern ein neues Europa erstehen, das Faschismus, Kriegs- und Krisengefahr verbannen und auch die Ursachen dieser Übel beseitigen wird. Läßt aber der Faschismus sich auch von der stärksten Friedensfront nicht vom Kriegsabenteuer abhalten, dann werden im Kriege und im Anschluß an diesen Entscheidungen fallen, die die Welt viel mehr verändern werden, als das der letzte Krieg getan hat. Wie die Entscheidungen ausfallen werden, das wird von der Einigkeit und Schlagkraft der internationalen Arbeiterbewegung abhängen.
Betrachtet man die Aufgaben der Arbeiterklasse aus der Perspektive der weltgeschichtlichen Situation, dann erscheinen all die Streitereien der Arbeiterparteien um tagespolitische Differenzen klein und töricht. Es ist wahrlich an der Zeit, daß alle Sozialisten über den Tag hinaus ihre große geschichtliche Aufgabe sehen. Der Untergang kann nur verhindert werden, wenn der Front der faschistischen Kriegstreiber die einige antifaschistische Front gegenübergestellt wird.
Sowjetunion und internationale Arbeiterbewegung — das sind die beiden ausschlaggebenden Pfeiler der antifaschistischen Friedensfront. Sie müssen über alle Schwierigkeiten und Hemmungen hinweg fest zusammenstehen. Nur dann wird die Weltarbeiterklasse in der Zeit der Entscheidungen ihrer geschichtlichen Aufgabe gewachsen sein, nur dann wird sie fähig sein, das in der sozialen Entwicklung unnötige, grausige Zwischenspiel der faschistischen Weltherrschaft zu verhindern, nur dann wird sie stark und mächtig genug sein, um die zum Sturz reife kapitalistische Klassenherrschaft zu überwinden, um die Bahn frei zu machen für den Sozialismus, die „Brüderlichkeit der Menschheit".
Wer die gemeinsame Kampffront der gesamten internationalen Arbeiterbewegung mit dem ersten Arbeiterstaat hindert oder stört, schädigt nicht nur die gemeinsamen Interessen der Arbeiterklasse, er wird zum indirekten oder direkten Helfer des Faschismus. Für oder wider die Sowjetunion! Ja oder Nein! Jede unklare Zwischenstellung stärkt die Position der faschistischen Kriegstreiber, die in der ganzen Welt Freiheit und Fortschritt in Blut ersäufen wollen. Die Proletarier aller Länder müssen sich eindeutig an die Seite der UdSSR stellen und gegen jene, die aus Kurzsichtigkeit oder blindem Haß zu unfreiwilligen oder freiwilligen Helfern der Feinde des Sozialismus werden.

 

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TROTZKISMUS UND BOLSCHEWISMUS

 

LENIN UND TROTZKI

Die Geschichte ist Lehrmeisterin für die Kampfe der Gegenwart. Kenntnis der Vergangenheit ist eine der Voraussetzungen für die richtige Stellungnahme zu den Tagesaufgaben. Die große Bedeutung der Sowjetunion für die entscheidende Auseinandersetzung in der Weltpolitik erfordert eine klare, sachliche Urteilsbildung über die Entwicklung und den Zustand des ersten Arbeiterstaates. Die fortgesetzten Angriffe des Trotzkismus auf die UdSSR zwingen allein schon im Interesse der notwendigen Sammlung der freiheitlichen Kräfte gegen den faschistischen Weltfeind zu einer gründlichen, sachlichen Auseinandersetzung. Der Kampf des Trotzkismus gegen den Bolschewismus, der schließlich in eine feindselige Hetze gegen die Sowjetunion ausartete und die Trotzkisten an die Seite der Feinde der Arbeiterklasse führte, hat seine Ursache in den alten, bereits um die Jahrhundertwende auftretenden prinzipiellen politischen und taktischen Gegensätzen zwischen Lenin und Trotzki. Das Auftreten des Trotzkismus in unserer Zeit kann nur verstanden werden, wenn man die historische Entwicklung der von Trotzki gegen Lenin und den Leninismus begründeten Fraktion kennt. Wer sich ein objektives Urteil über den Kampf Trotzkis gegen die Bolschewistiche Partei bilden will, muß sich mit der Geschichte des Trotzkismus von Anbeginn beschäftigen.
In dem Rotbuch, das die Trotzkisten zum Moskauer Prozeß gegen Sinowjew, Kamenew, Smirnow und Genossen herausgegeben haben, steht an der Spitze ein Bild von Lenin und Trotzki mit der Unterschrift „Die wahren Angeklagten". Die Trotzkisten behaupten, zwischen Lenin und Trotzki habe eine so innige Kampfgemeinschaft bestanden, daß derjenige, der heute Trotzki verurteile, zugleich auch Lenin verdamme. Denn Lenin und Trotzki seien immer eine unzertrennliche Einheit gewesen. Wer nichts anderes als Trotzkis Bücher über die russische Revolution kennt, muß glauben, daß Trotzki neben Lenin der erste und beste Repräsentant der Bolschewistischen Partei, der ruckgratfesteste Vertreter der alten bolschewistischen Garde sei. Diese Legende spukt im europäischen Proletariat, soweit es mit der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung nicht genügend vertraut ist.
Die geschichtliche Wahrheit, ist, daß Trotzki alles andere denn ein alter Bolschewik war. Er hat im Gegenteil in entscheidenden Situationen in scharfer Kampfstellung gegen die Bolschewiki und gegen Lenin gestanden. Trotzkis politische Tätigkeit beginnt um das Jahr 1900. Von 1901 bis Anfang 1903 stand er in Verbindung mit dem Kreise der alten „Iskra“, zu deren Redaktion neben Lenin auch die späteren Menschewiki Plechanow, Axelrod, Martow, Sassulitsch und Protessow gehörten. Als Trotzki Ende 1902 zum ersten Male ins Ausland ging, kam er in London zu Lenin, der ihn freundlich aufnahm und förderte, weil er seine journalistischen und rednerischen Fähigkeiten schätzte. Aber schon damals waren — nach der Darstellung Trotzkis — seine persönlichen Beziehungen zu Axelrod und Martow enger als zu Lenin. Im Juli 1903 fand in London der zweite Parteitag der russischen Sozialdemokratie statt, auf dem wegen Meinungsverschiedenheiten über das Organisationsprinzip und über die Zusammensetzung der Redaktion der „Iskra" die Partei sich in Bolschewiki und Menschewiki spaltete. In dem entscheidenden Konflikt dieses Parteitages trat Trotzki zum ersten Male gegen Lenin auf, ging mit Axelrod und Maitow und wurde Menschewik. Von 1903 ab machte Trotzki vielerlei Wandlungen durch, blieb aber bis 1917 ein offener Gegner Lenins. Trotzki hat in all diesen Jahren eine eigene politische Linie zwischen Menschewiki und Bolschewiki zu entwickeln versucht: den Trotzkismus, der in allen entscheidenden Fragen der russischen Arbeiterbewegung und der russischen Revolution im Gegensatz zu Lenin stand. Das erste Buch, das Trotzki über sein Verhältnis zu Lenin veröffentlichte, erschien im Jahre 1924. Obwohl dieses Buch den Titel „Über Lenin" trägt, berichtete Trotzki darin nur über zwei sehr kurze Perioden aus Lenins Leben. Über die Zeit der ersten „Iskra" (1902/03) und über den Oktober 1917. Die übrige Zeit, vor allem die anderthalb Jahrzehnte der Vorbereitung der Oktoberrevolution, überspringt Trotzki, weil er - damals noch in der Sowjetunion - keine Märchen Über seine unzertrennliche Einheit mit Lenin auftischen konnte. Erst nach seiner Ausweisung hat Trotzki versucht, sein Verhältnis zu Lenin von 1903 bis 1917 für den Legendengebrauch zurechtzubiegen.
Aus der Zeit von 1903 bis 1917 gibt es eine Fülle unzweideutiger Beweise gegen die von den Trotzkisten behauptete innige Kampfgemeinschaft zwischen Lenin und Trotzki. Bei der — in späteren Kapiteln folgenden — Untersuchung der organisatorischen, politischen und theoretischen Gegensätze zwischen Bolschewismus und Trotzkismus wird Lenins Stellung zusammenhängend dargestellt. Hier sollen vorweg nur einige Meinungsäußerungen Lenins herausgegriffen werden, die Aufschluß über Lenins Verhältnis zur Politik und Person Trotzkis geben. In einem im Mai 1911 veröffentlichten Artikel „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland" schrieb Lenin (Ausgewählte Werke, Band III, Seite 508 usf.):
„Trotzki... repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst nichts. 1903 war er Menschewik; 1904 rückte er vom Menschewismus ab und kehrte 1905 zu den Menschewiki zurück, nur mit ultrarevolutionären Phrasen prunkend; 1906 wandte er sich abermals vom Menschewismus ab; Ende 1906 verfocht er Wahlabmachungen mit den konstitutionellen Demokraten (d.h. er war faktisch wieder mit den Menschewiki), und im Frühjahr 1907 sprach er auf dem Londoner Parteitag davon, daß der Unterschied zwischen ihm und Rosa Luxemburg eher ,ein Unterschied individueller Schattierungen als politischer Richtungen' sei. Trotzki verübt ein Plagiat heute an dem geistigen Rüstzeug der einen, morgen an dem der anderen Fraktion und gibt sich daher als über den beiden Fraktionen stehend aus. Trotzki ist in der Theorie in nichts mit den Liquidatoren und den Otsowisten einverstanden, in der Praxis aber ist er in allem mit den Golos- und Wperjotleuten einverstanden. Wenn daher Trotzki den deutschen Genossen erzählt, er vertrete die ,allgemeine Parteitendenz', so muß ich erklären, daß Trotzki lediglich seine Fraktion vertritt und ausschließlich bei den Otsowisten und Liquidatoren ein gewisses Vertrauen genießt."
Sinowjew charakterisierte die Rolle seines späteren Kampfgefährten Trotzki in einem im Jahre 1924 veröffentlichten Artikel:
„Genosse Lenin hat mehr als einmal das „Gesetz“, nach dem die politischen Wandlungen des Genossen Trotzki sich vollziehen, formuliert. Geht's aufwärts, dann kommt Genosse Trotzki der bolschewistischen Linie ganz nahe. Tritt ein Stocken ein oder geht es abwärts, dann macht Genosse Trotzki eine Schwenkung nach rechts."
Angelica Balabanoff schrieb 1925 über Trotzkis Stellung in der russischen Arbeiterbewegung („Tragödie Trotzki", Seite 71):
„Es ist allgemein bekannt, daß Trotzki schon vor der ersten russischen Revolution vom Jahre 1905 Anti- und A-Bolschewist gewesen ist. Er nahm gegen das Vorgehen und die Methoden der bolschewistischen Fraktion Stellung." Die führenden Menschewiki beurteilten die Rolle Trotzkis ebenso wie Lenin. In dem 1925 in der Laubschen Verlagsbuchhandlung in Berlin erschienenen Sammelwerk über „Die Tragödie Trotzkis" schrieb (Seite 77 usf.) Paul Axelrod, einer der führenden Menschewiki, nach der Feststellung, daß ihn mit Trotzki enge Freundschaft verbunden habe:
„Meine jüngeren Parteifreunde haben indessen schon damals auf das viel zu starke Hervortreten seines Ich-Bewußtseins hingewiesen, und ich muß nun, nach den Erfahrungen, die er uns seither bereitet hat, sagen: meine Parteifreunde hatten Recht und Trotzki verdient sein Schicksal. All dies, obwohl ich ihn sehr gern hatte ... Nach dem Londoner Kongreß im Jahre 1903 ging Trotzki nach München (1904). Von da ab war er weder Menschewik noch Bolschewik. Man verstand einfach nicht, was er eigentlich wollte. Jetzt versteht man schon so manches: Er wollte eben über den Parteien stehen, er wollte es erreichen, daß beide Richtungen auf ihr eigenes Programm verzichten und sein Programm annehmen sollten. Es war dies, sein Egozentrismus, der ihn schon damals in seinen Handlungen geleitet hat. Eine Szene aus der Zeit um 1904: Man nahm eine Resolution, die er nicht gebilligt hatte, an. Trotzki erhob sich und schlug die Tür von außen heftig zu ... Im Jahre 1914 hatten wir einen bezeichnenden Briefwechsel... Zu dieser Zeit aber war er noch alles andere, nur nicht ein Bolschewik. Es kehrte eben wieder das alte Motiv zurück: einen Keil zu schlagen, eine besondere Rolle spielen zu wollen." Die Urteile Lenins und Axelrods über Trotzkis Politik stimmen weitgehend überein. Trotzkis Bemühungen, Bolschewiki und Menschewiki zu „seinem" Programm zu bekehren waren — wie die Geschichte gelehrt hat — sehr utopisch und illusionär, aber eben ein wesentlicher Bestandteil des Trotzkismus.
Nicht minder hart waren Lenins Urteile über die Person Trotzkis. In einem Brief vom 24. August 1909 schrieb Lenin (veröffentlicht in Leninski Sbornik) Nr. 25, Seite 38, russisch:
„Was die ,Prawda' (Trotzkis damals in Wien erschienenes Blatt. D. V.) betrifft, haben Sie den Brief Trotzkis an Inok gelesen? (Inok war das bolschewistische ZK-Mitglied Dubrovinski. D. V.). Ich hoffe, Sie haben sich überzeugt, wenn Sie ihn gelesen haben, daß Trotzki sich wie der niederträchtigste Karrierist und Fraktionsmacher vom Schlage der Rjasanow & Co. betragen hat. Entweder Parität der Redaktion, Unterordnung unter das ZK und niemanden nach Paris überführen außer Trotzki (er will auf unsere Kosten die ganze Sippschaft der ,Prawda' unterbringen, der Schuft! — oder mit diesem Lump brechen und ihn im Zentralorgan entlarven. Schwatzt von Partei, benimmt sich aber schlimmer als alle übrigen Fraktionisten." Dieser Brief zeigt, daß Lenin in seinen privaten Äußerungen noch viel härter über Trotzki urteilte als in seinen Artikeln. In dem im Februar 1914 veröffentlichten Artikel „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen" schrieb Lenin in einer Polemik gegen Trotzki (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 298 usf.): Der dienstfertige Trotzki ist gefährlicher als ein Feind!
Anderswoher als aus ,Privatgesprächen' (d.h. einfach aus Klatsch, von dem Trotzki immer lebt) konnte er seine Beweise nicht sammeln, daß die ,polnischen Marxisten' überhaupt mit jedem Artikel Rosa Luxemburgs übereinstimmen.
Trotzki hat die „polnischen Marxisten“ als Leute ohne Ehre und Gewissen hingestellt, die nicht einmal ihre Überzeugungen und das Programm ihrer Partei zu achten imstande sind. Der dienstfertige Trotzki!...
Warum hat Trotzki diese Tatsachen den Lesern seiner Zeitschrift verschwiegen? Nur deshalb, weil es für ihn vorteilhaft ist, auf die Entfachung von Differenzen zwischen den polnischen und den russischen Gegnern des Liquidatorentums zu spekulieren und die russischen Arbeiter in der Programm frage zu betrügen.
Noch niemals, in keiner einzigen ernsthaften Frage des Marxismus, hatte Trotzki feste Meinungen, immer ,kroch er in die Risse und Spalte' dieser oder Jener Meinungsdifferenzen und sprang dabei von einer Seite auf die andere..." Das Schwanken, die wechselnden Auffassungen Trotzkis, sein Versuch, immer über den Parteien zu stehen, oder (wie Axelrod sagte) einen Keil zu treiben, das hat Lenin als wesentliche Eigenschaften Trotzkis und als nicht unwichtige Merkmale des Trotzkismus bezeichnet. Leninismus, das war — in der idealen Vorstellung aller überzeugten Leninisten — ein auf Grund einer realen Analyse des wirklichen Rußland erarbeiteter fester Standpunkt, eindeutiges Handeln und zielklares Arbeiten für die Erreichung der gesteckten Ziele. Das Hinundherpendeln des Trotzkismus war das gerade Gegenteil der organisatorischen Eigenheiten des Leninismus. Es ist darum durchaus verständlich, daß beide in einen scharfen Gegensatz geraten mußten, der zeitweilig, in Zeiten des revolutionären Aufstiegs, in denen Trotzki auf Grund seiner Schwankungen sich mehr zu den Bolschewiki hingezogen fühlte, gemildert werden konnte, um nachher um so schroffer wieder in Erscheinung zu treten.
Auch noch zu Beginn der Revolution — am 17. Februar 1917 — äußerte Lenin seine persönliche Meinung über Trotzki sehr drastisch in einem aus Zürich geschriebenen Briefe an Alexandra Kollontai (Lenin, Sämtliche Werke, Band XXIX, Seite 290, russisch):
„Heute erhielten wir Ihren Brief und waren sehr erfreut über ihn. Wir wußten lange nicht von Ihrem Aufenthalt in Amerika ... So angenehm es war, von Ihnen über den Sieg Nikolai Iwanowitschs und Pawlows im ,Nowya Mir' zu erfahren .... so bedauerlich ist die Nachricht vom Block Trotzki mit den Rechten zum Kampfe gegen Nikolai Iwanowitsch. Ein solches Schwein, dieser Trotzki — linke Phrasen und Block mit den Rechten gegen das Ziel der Linken! Sie müßten ihn wenigstens in einem kurzen Brief an den ,Sozialdemokrat' entlarven."
Trotzki war zu jener Zeit gleichfalls in Amerika. In „Mein Leben" erwähnt er auch Lenins Briefe an die Kollontai - ohne ihren Inhalt mitzuteilen. Er schreibt dort, daß die Kollontai sehr konfus gewesen sei, und daß sie „Lenin mit amerikanischen Informationen, unter anderem auch über meine Tätigkeit" versorgte. Aus dem Briefe Lenins ist ersichtlich, daß er lange nichts von dem Aufenthalt der Kollontai in Amerika wußte. Daraus geht hervor, daß Lenin sein Urteil über das Verhalten Trotzkis in Amerika nicht nur auf Grund des Briefes der Kollontai gebildet hatte. Außerdem hatte Lenin ja in den Kämpfen der vergangenen Jahre viel zu sehr aus eigenen Anschauungen Trotzkis Bereitschaft, mit den rechten Gegnern der Bolschewiki zusammenzugehen, gesehen. Er hat in seinen publizistischen Äußerungen dem Sinne nach mehr als einmal dasselbe Urteil über Trotzki gefällt, wie in dem Briefe an die Kollontai. Trotzki behauptet, daß Lenin diese Urteile zurückgenommen habe; er sagt aber nicht, wo das geschehen sein soll. Jedenfalls ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß der Kampf zwischen Lenin und Trotzki oft sehr heftige Formen angenommen hat. Formen, die die von den Trotzkisten verbreitete Legende von der steten engen Kampfgemeinschaft Lenins mit Trotzki Lügen strafen.
Lenins persönliche Urteile hatten immer politische Ursachen. Bei der Darstellung der Gegensätze, die es nach der Oktoberrevolution noch zwischen Lenin und Trotzki gab (über die zusammenhängend in einem anderen Kapitel berichtet wird), schrieb Trotzki in „Mein Leben" (Seite 445):
„Wir waren beide zu ausgesprochene Revolutionäre und Politiker, um das Persönliche von dem Politischen trennen zu können oder trennen zu wollen."
Auf Lenin trifft das zweifellos zu. Wenn Lenin so scharfe persönliche Urteile über Trotzki fällte, so hatte das niemals persönliche, sondern politische Ursachen. Die Heftigkeit der persönlichen Urteile Lenins über einen Gegner war immer ein Gradmesser für die Größe seiner politischen Gegnerschaft zu diesem.
Aus der Schärfe der persönlichen Urteile Lenins über Trotzki ist zu ersehen, wie groß die politische Kluft zwischen den Beiden war. Das läßt sich auch durch die schönste Legendenerzählerei nicht aus der Welt schaffen.
Trotzki trat erst im Juli 1917 — also zwischen Februar- und Oktoberrevolution — der Bolschewistischen Partei bei. Unter dem starken Druck des großen geschichtlichen Geschehens vollzog Trotzki eine neue Wendung. Jedoch auch in jener Zeit der Umgruppierung hat Lenin Trotzki nicht gerufen, er hatte vielmehr auch damals noch starke Bedenken gegen ihn. Am 17. März 1917 schrieb Lenin in einem Briefe an die Kollontai (Lenin Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband, Seite 6):
„Meiner Ansicht nach ist jetzt die Hauptsache, daß man sich nicht auf dumme ,Einigungs'- Versuche mit den Sozialpatrioten (oder, was noch gefährlicher ist, mit schwankenden Elementen in der Art des Organisationskomitees oder Trotzkis u. Co.) einläßt und daß die Tätigkeit unserer Partei in einem folgerichtig internationalen Geiste fortgesetzt wird." Lenin warnte also noch nach Ausbruch der Revolution vor dem Zusammengehen mit Trotzki. Er rechnete ihn zu den gefährlichen schwankenden Elementen, mit denen man — wenn die revolutionäre Entwicklung nicht gehemmt werden soll — keine Kompromisse machen darf. Lenin sah weit über den Tag hinaus. Wichtiger als die mit Kompromissen erkaufte Einigung mit schwankenden Elementen erschien ihm die konsequente Fortführung der revolutionären Linie der Bolschewik. Wer in der Revolution mit den Bolschewiki zusammenarbeiten wollte, der mußte sich zuerst zu ihren Prinzipien, zu ihrer Politik bekennen. In den Aprilthesen hat Lenin den in der Revolution einzuschlagenden, später so erfolgreichen Kurs niedergelegt. Trotzki suchte erst nach seiner Anfang Mai 1917 erfolgten Rückkehr nach Rußland Anschluß bei den Bolschewiki. Er mußte, wenn er in dem revolutionären Geschehen eine Rolle spielen wollte, seine Zwischenstellung zwischen Bolschewiki und Menschewiki aufgeben und sich für die einen oder die anderen entscheiden. Hätte er sich für die Menschewiki entschieden, so wäre die Oktoberrevolution nicht andere verlaufen, nur Trotzki wäre schon damals mit Kerenski und anderen von der Bildfläche verschwunden. Denn nicht Trotzki, sondern die Bolschewistische Partei hat die Oktoberrevolution vorbereitet und durchgeführt. Lenin hat Trotzki durchaus nicht mit offenen Armen aufgenommen. Er schien ihm alles andere als der Mann, ohne den die Bolschewiki — wie die trotzkistische Legende behauptet — weder die Oktoberrevolution, noch den Bürgerkrieg siegreich beenden konnten. Trotzki selbst berichtet in seinem Buche „Über Lenin" (Seite 60), daß er Lenin in der Revolution zum ersten Male am 5. oder 6. Mai 1917 gesprochen habe:
„Ich sagte Lenin, daß mich nichts von seinen Aprilthesen und von dem ganzen Kurs, den die Partei nach seiner Ankunft eingeschlagen hatte, trenne, und daß ich vor der Alternative stünde, entweder sofort ,individuell' in die Parteiorganisation einzutreten, oder zu versuchen, den besten Teil der „Vereiniger“ mitzubringen ... Lenin sprach sich weder für das eine, noch für das andere kategorisch aus." Trotzkis Darstellung ist nicht klar und präzise. Aus ihr geht nur hervor, daß Lenin auf das Angebot Trotzkis, in die Bolschewistische Partei einzutreten, keine Antwort gab, obwohl Trotzki ausdrücklich beteuerte, daß er sich auf den Boden der leninschen Aprilthesen stelle und den Kurs der Bolschewiki anerkenne. In der zitierten Schrift „Die Tragödie Trotzkis" sagte der Herausgeber, ein Anhänger Trotzkis, zu dessen Darstellung über sein erstes Zusammentreffen mit Lenin (Seite 7):
„Die Fassung ist hier also ein wenig unsicher. Jedenfalls liegen Äußerungen noch aus dem Sommer 1917 vor, aus denen man den Schluß ziehen könnte, daß Lenin zumindest über die Motive Trotzkis in dieser Angelegenheit anderer Meinung war." Stalin warf in einer am 19. November 1924 gehaltenen Rede die Frage auf: „Warum hielt es Lenin am zweiten Tage nach seiner Heimkehr aus dem Auslande für notwendig, einen dicken Trennungsstrich zwischen sich und Trotzki zu ziehen?
Die Antwort hat Lenin selbst gegeben. In Notizen für den Bericht einer Konferenz sagte er: die Februarrevolution werde zusammenbrechen; „es sei darum notwendig, sich auf diesen Zusammenbruch und auf eine Revolution vorzubereiten, die 1000-mal stärker sei als die Februarrevolution. Um das zu erreichen, müsse man fest sein wie ein Stein in der proletarischen Linie gegen die kleinbürgerlichen Schwankungen". Zu den Gruppierungen mit kleinbürgerlichen Schwankungen rechnete Lenin in diesen Notizen aber auch Trotzki. Ihm gegenüber mußte man „fest sein wie ein Stein", wenn aus der zusammenbrechenden Februarrevolution sich die siegreiche Oktoberrevolution entwickeln sollte."
Trotzki ist 1917 — nach einer anderthalb Jahrzehnte währenden Feindschaft mit den Bolschewiki — vorübergehend in die Bolschewistische Partei eingetreten. Aber schon nach sehr kurzer Zeit hat er wieder seine eigene Linie, den Trotzkismus, zu vertreten versucht. Er ist dabei zwangsläufig mit Lenin in Konflikt gekommen. Trotzki ist in der Bolschewistischen Partei, deren Gegner er immer war, auch in seiner besten Zeit ein Fremdkörper geblieben. Der trotzkistische Herausgeber des schon erwähnten Buches „Die Tragödie Trotzki" schreibt über Trotzkis Verhältnis zu Lenin nach 1917 (Seite 7):
„Gleich nach Verwirklichung der bolschewistischen Revolution zeigten sich wieder die ersten Gegensätze zwischen Lenin und Trotzki. Trotzki sympathisierte mit der linken Gruppe Bucharin-Radek, die für den revolutionären Krieg eingetreten ist. Er ging eben immer mit denen, die die revolutionäre Tat wollten."
Die letzte Ursache der Konflikte ist Trotzkis Vergangenheit, der alte Gegensatz zwischen Bolschewismus und Trotzkismus. In „Mein Leben" erzählt Trotzki (Seite 319):
„Für Lenin war, als er die vergangene Entwicklung der Partei rückschauend betrachtete, der Trotzkismus weder eine feindliche, noch eine fremde, sondern im Gegenteil die dem Bolschewismus nächste Strömung des sozialistischen Gedankens."
Die Behauptung Trotzkis, daß Lenin im Trotzkismus keine feindliche Strömung gesehen habe, widerspricht den Tatsachen. Lenins Urteil über den Trotzkismus ist in allen Phasen der revolutionären Entwicklung so eindeutig und so hart, daß diese nach Lenins Tode erfolgte „Feststellung" Trotzkis wie eine grobe Beleidigung Lenins erscheint. Der Trotzkismus war — wie Trotzki in der vorstehend zitierten Äußerung zugibt — immer eine besondere Richtung in der russischen Arbeiterbewegung; ihr heftigster Gegner war zu allen Zeiten Lenin.
Trotzki zitiert in „Mein Leben" (Seite 537) als seine unerschütterliche Auffassung einen von ihm im Mai 1927 an Michael Okudschawa geschriebenen Brief, in dem es u.a. heißt:
„Soweit der neue Kurs Stalins sich Aufgaben stellt, bemüht sich Stalin zweifellos, an unsere Position heranzukommen. In der Politik entscheidet aber nicht nur was, sondern auch wer und wie..."
Trotzki hat sehr oft behauptet, Stalin habe die erst von ihm bekämpfte Politik Trotzkis durchgeführt. Das ist vollkommen falsch. Die politische Linie Stalins unterscheidet sich in allen entscheidenden Phasen sehr eindeutig vom Trotzkismus. Äußerlich gleich scheinende politische Handlungen sind nicht immer gleichwertig; ob sie richtig oder falsch sind, hängt oft in entscheidendem Maße von der Situation ab, in der sie durchgeführt werden. Ist die Situation reif für die Durchführung einer Aktion, wird mit ihr das nächste Kettenglied in der revolutionären Entwicklung gepackt, so führt die Aktion vorwärts zum revolutionären Ziele, so ist sie revolutionär. Wird dagegen die Aktion zur unrechten Zeit in Angriff genommen, so wird mit ihr der erfolglose Versuch gemacht, notwendige Etappen zu überspringen, so wirft sie die revolutionäre Bewegung zurück, so ist sie rückschrittlich.
Übrigens wird aus dem vorstehend zitierten Brief ein besonderer Wesenszug Trotzkis deutlich: Nur was er macht, ist richtig. Selbst wenn Stalin die von Trotzki als richtig bezeichnete Politik macht, handelt er falsch. Diesen Grundsatz hat Trotzki von 1903 an auch Lenin gegenüber angewandt. Das brachte ihn in den scharfen Gegensatz zur Bolschewistischen Partei. Denn in dieser ist nach der Lehre Lenins entscheidend, was einer, nicht wer es macht. In der Vergangenheit kämpfte Trotzki gegen Lenin, weil dieser, und nicht er, den richtigen Weg führte; nach Lenins Tode kämpfte er aus dem gleichen Grunde gegen die Repräsentanten der Bolschewistischen Partei.
In der späteren Entwicklung hat Trotzki sich stets bemüht, seine Konflikte mit der Bolschewistischen Partei als einen persönlichen Kampf Stalins gegen ihn darzustellen. Diese Taktik wandte er früher ebenso gegen Lenin an. Im Jahre 1911 nannte Lenin ihn einen Ignoranten, weil er bei den Differenzen um die Prager Konferenz und Trotzkis „Augustblock" die politischen Strömungen auf den Gegensatz von Personen zurückzuführen versuchte. Die späteren Auseinandersetzungen um das Schicksal der Sowjetunion sind wahrlich kein Personenstreit. Stalin wurde der „Erbfeind" Trotzkis, so wie es ehedem Lenin war. Beide aus dem gleichen Grunde: als Repräsentanten der Bolschewistischen Partei, die stets in unerbittlicher Gegnerschaft zum Trotzkismus stand.

WAS IST TROTZKISMUS?

Der Trotzkismus ist keine Erfindung Stalins. Er existiert seit dem Jahre 1903 als eine besondere Strömung in der russischen Arbeiterbewegung. So wie der Leninismus und die Bolschewistische Partei untrennbar mit der geistigen, politischen und organisatorischen Arbeit Lenins verbunden sind, so ist der Trotzkismus ohne das Wirken Trotzkis undenkbar.
In „Mein Leben" stellt Trotzki sein Verhältnis zu Lenin so dar, daß er nicht wie Stalin und die anderen Bolschewiki ein Schüler Lenins-, sondern ein Eigener neben Lenin war. Die Schüler Lenins haben — so behauptet Trotzki dort — nie selbständige Politik machen können, sie seien ohne die Direktiven des Meisters immer halt- und hilflos gewesen. Anscheinend ist es Trotzki bei der Herabsetzung der Schüler Lenins gar nicht zu Bewußtsein gekommen, daß seine Behauptung eine Beleidigung Lenins und der Bolschewistischen Partei, zugleich aber auch ein Ignorieren des Marxismus ist. Der ganze Kampf Lenins um eine zielklare, revolutionäre Partei wäre sinnlos gewesen, wenn diese Partei nicht imstande wäre, die Kräfte und Menschen hervorzubringen, die das Werk des Lehrers erfolgreich fortsetzen. Schon bei dieser Betrachtung tritt ein Wesenskern des Trotzkismus zutage, der im Widerspruch zum Marxismus die Gestaltung der Geschichte viel zu sehr von subjektiven Kräften und Personen erwartet. Gewiß spielen diese — wie ja die Person Lenins beweist — eine Rolle. Aber ohne die zielbewußte revolutionäre Partei, die das Heranreifen objektiv günstiger Situationen beschleunigen und diese auswerten kann. hätte auch Lenin nicht Führer einer siegreichen proletarischen Revolution werden können.
Trotzki war nach seiner Behauptung also kein Schüler Lenins, sondern ein Eigener, ein Meister neben dem anderen Meister. Er erzählt in „Mein Leben" weiter, daß er nur durch seine eigene Denkarbeit zu den Problemen der russischen Revolution Stellung nahm, das heißt, daß er nicht wie die anderen das von Lenin Vorgekaute einfach hinunterschluckte. Allerdings — so erzählt er — sei er ganz unabhängig von Lenin meist zu denselben Ergebnissen wie dieser gekommen. Das stimmt mit den Tatsachen und der geschichtlichen Wahrheit nicht überein. Richtig daran ist nur, daß Trotzki seine eigenen Wege ging. Die selbständige Linie Trotzkis, das ist der Trotzkismus, der in allen entscheidenden Fragen der russischen Revolution durch die geschichtliche Entwicklung widerlegt wurde. Lenin hat seine Stellung zum Trotzkismus nicht davon bestimmen lassen, daß er eine besondere Strömung in der russischen Arbeiterbewegung war, sondern nur von der Erkenntnis, daß der Trotzkismus Unrecht hatte und falsche Wege ging.
Der Trotzkismus war also — von Trotzki nicht bestritten — zu allen Zeiten eine eigene Richtung in der russischen Arbeiterbewegung. Er war in seinen Anfängen eine opportunistische Strömung, die im ewigen Zwiespalt zwischen Bolschewiki und Menschewiki hin und her schwankte, ihre unreale, mehr rechts orientierte Politik mit ultralinken Phrasen zu verdecken suchte, in einen schroffen Gegensatz zum Leninismus geriet und schließlich zum offenen Feind der Sowjetunion und der Arbeiterbewegung wurde. So wandelbar Trotzki in seiner Zwischenstellung war, so wandelbar sind auch die Inhalte des Trotzkismus.
Begonnen hat der Trotzkismus mit Trotzkis Auftreten gegen die von Lenin geforderte revolutionäre, unter einer straffen zentralen Leitung in allen Aktionen geschlossen handelnde Partei. In diesem Kampf entwickelte der Trotzkismus seine organisatorische Zwischenstellung und tiefgehende politische und theoretische Gegensätze zum Leninismus. So z.B. in der Frage der permanenten Revolution, in der Trotzki eine besondere Stellung bezog und eine vom Leninismus abweichende Auffassung von der Diktatur des Proletariats und von dem in Rußland ganz besonders wichtigen Verhältnis der Arbeiterklasse zur Bauernklasse vertrat. Aus der trotzkistischen Grundeinstellung zur permanenten Revolution erwuchs weiter der Gegensatz zu der leninistischen Theorie über die Entwicklung von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution und in der Konsequenz die Theorie der Verneinung des Sozialismus in einem Lande, die nach der siegreichen proletarischen Revolution zum markantesten Wesenszug des Trotzkismus wurde.
In diesem Abschnitt sind die organisatorischen, politischen und theoretischen Inhalte des Trotzkismus nur zusammengefaßt aufgezählt. In den nachfolgenden Abschnitten wird im Einzelnen zu den vom Leninismus abweichenden trotzkistischen Auffassungen Stellung genommen. Nur eine Äußerung des Führers der Menschewiki, Th. Dan, über den Trotzkismus soll hier vorausgenommen werden, weil sie eine mehr allgemeine Charakterisierung der zwiespältigen Position des Trotzkismus gibt. In der zusammen mit Martow geschriebenen „Geschichte der Russischen Sozialdemokratie" (1926 im Dietz-Verlag, Berlin, erschienen) schreibt Dan (Seite 239):
„Trotzki unterschied sich von Lenin auch dadurch, daß er an die Stelle der ,Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft' die Diktatur der Arbeiterklasse setzte, die sich auf die formlosen Bauernmassen stutzte. Trotzki, der in den taktischen Fragen den Bolschewisten näher stand, teilte in den Organisationsfragen, die damals im Mittelpunkt des Fraktionskampfes standen, im großen und ganzen die Auffassung des ,Golos Sozialdemokrata' (Menschewiki, d.V.). Diese Zwiespältigkeit seiner Position, die keine organische Verbindung zwischen seiner politischen und organisatorischen Anschauung schuf, beschränkte die Anhänger Trotzkis auf einen sehr kleinen Kreis von Personen."
Diese Zwiespältigkeit ist ein charakteristischer Wesenszug des Trotzkismus, der letzten Endes entstanden ist aus dem Wollen Trotzkis, über Bolschewiki und Menschewiki zu stehen, eine eigene Rolle zu spielen.
So schwankend Trotzkis Stellung in der Vergangenheit war, so wandelbar sind auch seine Bekenntnisse zum Trotzkismus. In manchen Zeiten jedenfalls bemühte er sich, den Trotzkismus zu verleugnen. In einem im Januar 1925, vor seinem Rücktritt, an das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei gerichteten Brief schreibt Trotzki:
„Es ist mir Jedoch unter keinen Umständen möglich, die Beschuldigung, ich verfolge eine besondere Linie und diejenige des ,Trotzkismus' und ich strebe eine Revision des Leninismus an, ohne Widerspruch zu lassen.
Ganz ungeheuerlich ist die Version, ich sei der Auffassung, nicht ich sei zum Bolschewismus, sondern der Bolschewismus sei zu mir gekommen ... Ich dachte im Laufe der letzten acht Jahre kein einziges Mal daran, an irgend ein Problem vom Gesichtspunkte des sogenannten ,Trotzkismus' aus heranzutreten. Der Trotzkismus war und ist für mich längst liquidiert."
In der Behauptung, daß für ihn nach dem Eintritt in die Bolschewistische Partei der Trotzkismus liquidiert wurde, liegt zugleich auch die Feststellung, daß er vorher bestanden hat. Aber sonst ist die Darstellung Trotzkis falsch. Trotzki hat bei seinem Eintritt in die Bolschewistische Partei dem Trotzkismus keineswegs abgeschworen. Noch kurz vorher, im Mai 1917, fand in Petersburg eine Konferenz mit der Gruppe der „Vereiniger", der auch Trotzki angehörte, statt. In dieser Konferenz vertrat Lenin die Stellungnahme der Bolschewiki zu der Vereinigung mit den auf dem Boden des Internationalismus stehenden Gruppen und Strömungen, die ein Zusammengehen mit den für die Vaterlandsverteidigung eintretenden Richtungen ablehnten. Nach Lenin sprach Trotzki. Über die Ausführungen Trotzkis machte Lenin folgende Notizen (Leninscher Sammelband Nr. IV, Seite 300, russisch):
„Mit den Resolutionen bin ich vollständig einverstanden — indessen bin ich insofern einverstanden, insoweit sich der russische Bolschewismus internationalisiert hat. Die Bolschewiki haben sich entbolschewisiert — und ich kann mich nicht als Bolschewik bezeichnen. Der Abstimmung kann und soll ihre Resolution zugrunde gelegt werden. Aber eine Anerkennung des Bolschewismus kann man von uns nicht verlangen."
Das stimmt mit der späteren Erklärung vom Januar 1925 durchaus nicht überein. Es gibt auch eine Reihe Äußerungen von Trotzkis Freunden, in denen behauptet wird, Trotzki sei nicht zum Bolschewismus, sondern der Bolschewismus sei zu Trotzki gekommen. Jedenfalls aber geht aus den Notizen Lenins hervor, daß Trotzki kurz vor seinem Eintritt in die Bolschewistische Partei Vorbehalte machte und die Absicht kundtat, mit der Fahne des Trotzkismus in die Bolschewistische Partei zu marschieren. Später erschien ihm das Heraushängen dieser Fahne nicht mehr zweckmäßig. Er versuchte, seine politische Sonderstellung in der Vergangenheit auszulöschen und die Legende von seiner völligen Einheit mit Lenin und dem Leninismus zu scharfen.
Im weiteren Verlaufe der politischen Auseinandersetzungen in der Bolschewistischen Partei hat die Opposition noch manchmal recht energisch ihren „Trotzkismus" bestritten. In der „Plattform der russischen Opposition", die dem XV. Parteitag vorgelegt wurde, heißt es u. a. (Seite 64):
„Aber eine besonders beliebte Beschuldigung gegen uns ist in letzter Zeit die Beschuldigung des ,Trotzkismus'. Vor dem Angesicht der ganzen Komintern ... haben wir mit den Unterschriften Sinowjews, Kamenews und Trotzkis erklärt: Es ist falsch, daß wir den Trotzkismus verteidigen. Trotzki hat vor dem Antlitz der ganzen Komintern erklärt: daß in allen einigermaßen prinzipiellen Fragen, über welche er mit Lenin stritt, Lenin recht hatte, insbesondere in der Frage der permanenten Revolution und der Bauernschaft." Betrachtet man diese Erklärungen rückschauend im geschichtlichen Zusammenhang, so wird die ganze Unehrlichkeit des Kampfes der trotzkistischen Opposition deutlich. In einer Kundgebung an den Parteitag wird gleich mehrmals pathetisch erklärt, daß Trotzki und die Trotzkisten mit dem Trotzkismus nichts zu tun haben, daß sie ihn nicht verteidigen, sondern ihn vielmehr abschwören. Eine wirklich zielbewußte revolutionäre Gruppe hätte das niemals getan, sie hätte vor dem Parteitag und vor der Komintern ihren Standpunkt vertreten. Die Trotzkisten waren aber schon damals ideologisch und in der Organisation so schwach, daß sie ihren Standpunkt verleugneten. Aber die weitere Entwicklung zeigte sehr bald, daß die trotzkistische Opposition mit voller Überlegung einen Meineid geschworen hat, daß die Verleugnung des Trotzkismus nicht ihrer Überzeugung entsprach, sondern von taktischen Interessen bestimmt wurde. Jedenfalls bekannte Trotzki sich in seinen späteren Schriften doch wieder zum Trotzkismus. Die zitierte Plattform der Opposition an den XV. Parteitag ist ein klassisches Beweisstück für die Unaufrichtigkeit Trotzkis. In dieser Plattform beteuert er feierlich vor dem Antlitz der ganzen Komintern daß er in allen prinzipiellen Fragen, so u.a. auch in der Frage der „permanenten Revolution" unrecht und Lenin recht hatte. Mit dieser Erklärung hat Trotzki die Komintern belogen. Der Beweis dafür wird von Trotzki selber erbracht. In „Mein Leben" (Seite 519) erzählt er:
„Besonders war Joffe (ein Freund Trotzkis, der Sowjetdiplomat war. d.V.) über die Kampagne gegen die permanente Revolution empört. Er konnte die niederträchtige Hetze nicht überwinden, die gegen jene, die den Verlauf und den Charakter der Revolution lange vorausgesehen hatten, betrieben wurde von solchen, die nur die Früchte der Revolution genossen. Joffe erzählte mir sein Gespräch, das er mit Lenin, ich glaube im Jahre 1919, über das Thema der permanenten Revolution geführt hatte. Lenin hatte ihm gesagt: ,Ja, Trotzki hat recht gehabt' Joffe wollte dieses Gespräch nun veröffentlichen. Ich hielt ihn mit allen Mitteln zurück." Joffe, der schwer krank war, hat sich bald darauf das Leben genommen, ohne diese Erzählung Trotzkis veröffentlicht zu haben. Sie ist von Trotzki frei erfunden. Trotzki kann keinerlei Beweise für ihre Echtheit anführen. Lenins theoretische Einstellung und alle seine öffentlichen und nachprüfbaren Äußerungen zu diesem Thema beweisen, daß der Führer der Bolschewiki jederzeit Trotzkis permanente Revolution abgelehnt hat. Jedoch Trotzki stellt in „Mein Leben" die Sache so dar, als ob er an Joffes Mitteilung glaubte. Danach ergibt sich folgendes Bild: Trotzki Ist überzeugt, daß sein Standpunkt in der Frage der permanenten Revolution gegenüber Lenin richtig war, was dieser selbst zugegeben haben soll. Trotzdem erklärt Trotzki einige Jahre später (im Dezember 1926) in einer Erklärung „vor dem Angesicht der Komintern", Lenin und nicht Trotzki hatte in der Frage der permanenten Revolution recht. Und in dem 1930 erschienenen Buche „Mein Leben" schreibt Trotzki dann wieder das Gegenteil von seiner feierlichen Erklärung. Je nach der Situation hat Trotzki nach der Oktoberrevolution den Trotzkismus abgeschworen, oder sich zu ihm bekannt. Solange Trotzki noch glaubte, an der Macht zu bleiben, hat er die trotzkistische Fahne eingezogen, um sie dann — als das Manöver nicht gelungen war — wieder heraus zu stecken.
Alle seine Loyalitätserklärungen waren unehrlich. In der Folgezeit erscheinen die neuen Bekenntnisse zum Trotzkismus allerdings in einer veränderten Form: Ausgehend von der Behauptung, daß — abgesehen von angeblich nebensächlichen Meinungsverschiedenheiten — zwischen Lenin und Trotzki weitgehende Übereinstimmung bestand, repräsentieren nunmehr Trotzkis Auffassungen den „verbesserten" Leninismus, den alle diejenigen „verraten", die den Trotzkismus bekämpfen.
Das aber ist eine Fälschung der Geschichte, begangen von denen, die der Bolschewistischen Partei Geschichtsfälschung vorwerfen, weil diese entsprechend der historischen Wahrheit den Gegensatz zwischen Lenin und Trotzki, zwischen Leninismus und Trotzkismus, klarstellt, weil sie nicht die von den Trotzkisten erfundene Legende von der überragenden Rolle Trotzkis in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg anerkennt.

DER TROTZKISMUS UND DAS LENINISTISCHE ORGANISATIONSPRINZIP

„Wir alle“ — schrieb Paul Levi in dem Vorwort zu Trotzkis „1917“ — „sind ja der russischen Arbeiterbewegung in früheren fahren nie recht nahe gekommen. Sie spielte sich in anderen Formen ab als die europäische.“
Rußland war unter dem Zarismus zweifellos das rückständigste Land in Europa. Die feudalistische Herrschaft hat die Entfaltung der Produktivkräfte des Landes gehemmt, das Riesenreich im Osten war in der Entwicklung weit hinter allen europäischen Ländern zurückgeblieben. Das Proletariat war zahlenmäßig schwach, der Bauernfrage kam bei der Sammlung und Entfaltung der revolutionären Kräfte eine viel größere Bedeutung zu als in den kapitalistisch hochentwickelten Ländern. Rußland war das Vorbild aller Despoten. Im Zarenreich gab es keine Meinungs- und Pressefreiheit, kein Vereinigungsrecht für die Kräfte, die freiheitliche Zustände erkämpfen wollten. Die Knute regierte. Unter diesem Regiment war die sozialistische Arbeiterbewegung in die Illegalität verbannt. Ihr Kampf vollzog sich unter unvergleichlich schwierigeren Bedingungen als der Kampf der europäischen Arbeiterbewegung. Im zaristischen Rußland konnte sich keine legale Arbeiterpartei bilden, sie war von Beginn an zur Illegalität gezwungen. Die ersten Ansätze zu einer klassenbewußten Arbeiterbewegung entstanden unterirdisch in den verschiedensten Gegenden des Reiches. Aus der Situation ergab sich, daß die ersten illegalen Kader ihren Kampf gegen den Zarismus auf eigene Faust, ohne zentrale Verbindung, ohne einheitliche zentrale Leitung führten. Der durch die zaristische Knute erzwungene Zustand erschwerte die Bildung einer einheitlichen Partei; die zwangsläufige Folge war das Entstehen unzähliger Zirkel und Gruppen, in denen wegen der fehlenden Verbindung untereinander und mit einer leitenden Zentrale lange Zeit organisatorische und ideologische Verwirrung herrschte.
Auf der Basis, auf der die russische sozialistische Bewegung entstand und sich entwickeln mußte, spielten die organisatorischen Probleme eine viel größere Rolle als in den europäischen Ländern. In Rußland war die Frage des Aufbaus der Organisation, der die Massen führenden revolutionären Partei ein entscheidendes politisches Problem. Deshalb gab es in der russischen sozialistischen Bewegung leidenschaftliche Auseinandersetzungen um organisatorische Fragen, die den Sozialisten in den anderen Ländern als sektiererische Rechthaberei erschienen. Die geschichtliche Entwicklung aber hat gelehrt, daß erst durch die richtige Lösung der eminent politischen Organisationsdifferenzen der Sieg der proletarischen Revolution möglich wurde.
Es ist das große historische Verdienst Lenins, daß er mit eiserner Konsequenz - die ihm in der Vergangenheit oft den Vorwurf eines dogmatischen Rechthabers und Spalters eingetragen hat — für den Aufbau einer organisatorisch und ideologisch geschlossenen zentralistischen Partei mit straffer zentraler Leitung wirkte. Im Kampfe um diese Partei erfolgte der erste Zusammenstoß Lenins mit Trotzki, der 1903 auf dem II. Parteitag gegen Lenins organisatorische Konzeption auftrat. Trotzki hat in dieser Frage all die Jahre einen heftigen Kampf gegen Lenin geführt.
Um die Bedeutung des organisatorischen Kampfes zwischen Leninismus und Trotzkismus zu verstehen, ist es notwendig, kurz den geschichtlichen Hintergrund dieses Kampfes zu skizzieren. Wegen der rückständigen ökonomischen Struktur Rußlands entwickelte sich erst sehr spät eine industrielle Produktion und die mit dieser wachsende Arbeiterschaft. Die ersten Arbeiterzirkel und Arbeiterverbände bildeten sich um das Jahr 1875; ihre Entfaltung wurde durch Verhaftungen und behördliche Verfolgungen immer wieder stark gehemmt. G.W. Plechanow hatte schon zu der Zeit, als er noch Anhänger der revolutionären Narodniki-Bewegung war, die ersten Verbindungen mit Arbeitern. Im Gegensatz zu den Narodniki, die in Rußland nur den Bauern sahen und nicht das mit dem Kapitalismus sich entwickelnde Proletariat, erkannte Plechanow frühzeitig die führende Rolle der Arbeiterklasse im revolutionären Kampf. Plechanow, der die 1878 erfolgte Gründung des ersten „ Nordrussischen Arbeiterbundes" unterstützte, wurde wegen seiner revolutionären Tätigkeit verfolgt und mußte ins Ausland flüchten. Dort wurde er mit der marxschen Lehre (die vorher in den russischen Arbeiterzirkeln nicht bekannt war) vertraut, ebenso auch mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung Europas. In Auseinandersetzungen mit den Narodniki vertrat er den Gedanken, die Elemente für die Schaffung einer zukünftigen sozialistischen Arbeiterpartei herauszuarbeiten. 1883 gründete er zusammen mit dem gleichfalls im Auslande lebenden Axelrod und der Sassulitsch die „Gruppe der Befreiung der Arbeit", die erste marxistische Gruppe der russischen Arbeiterbewegung, die sehr viel für die Verbreitung der marxistischen Gedanken in Rußland getan hat. Lenin, wesentlich jünger als Plechanow und Axelrod, war sehr bald einer der führenden Männer dieser Gruppe in Rußland. 1894 kam Lenin nach Petersburg. Dort wurde er der Führer des „Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse". In dieser marxistischen Gruppe gab es aber noch die verschiedensten Meinungen, in ihr entwickelte sich auch die unter dem Namen „Ökonomisten“ bekanntgewordene Strömung. Sie vertrat den Standpunkt, die Arbeiterbewegung habe nur den Kampf für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter zu führen, der Kampf für politische Forderungen gehöre nicht zum Aufgabenkreis einer Arbeiterpartei. Lenin trat in Übereinstimmung mit Plechanow und Axelrod den „Ökonomisten" sehr entschieden entgegen. Er vertrat die Auffassung, der ökonomische Kampf der Arbeiterklasse könne nicht vom politischen Kampf getrennt, jeder Zusammenstoß der Arbeiter mit den Unternehmern auf wirtschaftlichem Gebiete müsse für den politischen Befreiungskampf ausgenützt werden. Die Arbeiterpartei dürfe sich nicht damit begnügen, eine kleine Gruppe von Arbeitern in Zirkeln zu gebildeten Marxisten zu erziehen, sondern sie habe die Aufgabe, den Massenkampf der Arbeiter zu organisieren. Das Tun Lenins und seiner Gesinnungsgenossen im Petersburger Kampfbund entsprang dem Gedanken, eine einheitliche revolutionäre sozialdemokratische Arbeiterpartei zu schaffen, die zur Massenagitation in der Arbeiterklasse übergeht und diese für den wirtschaftlichen und politischen Befreiungskampf mobilisiert. Die Bolschewiki haben später festgestellt, daß die Wurzeln des Bolschewismus in diese Zeit, in die neunziger Jahre zurückreichen, in denen Lenin und die revolutionären Sozialdemokraten den Kampf mit den „Ökonomisten" ausfochten.
Am 1. März 1898 trat in Minsk der erste Parteitag zusammen, dessen Aufgabe die Zusammenfassung der sozialdemokratischen Zirkel und Gruppen zu einer einheitlichen Partei sein sollte. Wie schwach damals die Verbindungen waren, geht auch daraus hervor, daß zu diesem ersten Parteitag nur neun sozialdemokratische Organisationen Vertreter schickten. Der Parteitag wählte ein aus drei Personen bestehendes Zentralkomitee; er arbeitete ein Organisationsstatut aus und nahm ein Manifest der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands an. In dem Manifest wurde die Vereinigung aller lokalen Organisationen und Zirkel zu einer einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) gefordert.
„Die ersten Schritte der russischen Arbeiterbewegung und der russischen Sozialdemokratie — hieß es in dem Manifest — waren notgedrungen isoliert, bis zu einem gewissen Grade zufällig, ohne Einheit und Plan. Jetzt ist die Zeit gekommen, um die lokalen Gruppen und Organisationen der russischen Sozialdemokratie in einer einheitlichen ,Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands' zu vereinigen. In Erkenntnis dieser Notwendigkeit haben die Vertreter der ,Kampfverbände zur Befreiung der Arbeiterklasse' ... einen gemeinsamen Kongreß einberufen...
Die wichtigste und höchste Aufgabe der Partei, die den Weg einer Klassenbewegung der organisierten Arbeitermassen beschreitet, ist die Eroberung der politischen Freiheit. Aber diese notwendige politische Freiheit kann sich das russische Proletariat nur selbst erkämpfen." Den Gedanken, daß auch in Rußland der damals noch zahlenmäßig schwachen Arbeiterklasse die führende Rolle im revolutionären Befreiungskampf zukommt, sprach das Manifest mit den Worten aus:
„Sie (die Sozialdemokratie) ist fest davon überzeugt, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk dieser Klasse selbst sein kann.“
Aber dieser erste Parteitag hat wenig für die von ihm aufgezeigte Aufgabe, alle Kräfte zu einer einheitlichen Partei zusammenzufassen, gewirkt. Unmittelbar nach dem Parteitag wurden das Zentralkomitee und die meisten Teilnehmer verhaftet. Die Polizei vernichtete die in Minsk geschaffene Organisation. Das organisatorische Nebeneinander und Durcheinander war nach dem ersten Parteitag nicht geringer als vorher. Es trat eine Periode des Stillstandes ein, in der die „Ökonomisten" und andere Gruppen den ideologischen Wirrwarr noch vergrößerten. Als Lenin Anfang 1900 aus der sibirischen Verbannung zurückkehrte, organisierte er die Herausgabe einer allrussischen politischen Zeitung, die als geistige Führerin für die Überwindung des ideologischen Wirrwarrs und für die Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte in einer Partei wirken sollte. Bald nach seiner Rückkehr aus der Verbannung ging er ins Ausland, wo er sofort mit den Genossen der Gruppe „Befreiung der Arbeit" in Verbindung trat. Ende 1900 erschien die erste Nummer der „Iskra" („Der Funke"), in deren Redaktion Axelrod, Lenin, Plechanow, Potressow und die Sassulitsch zusammenarbeiteten, zu denen etwas später noch Martow kam. Die „Iskra" entwickelte sich sehr bald zu einem führenden geistigen und organisatorischen Zentrum; sie wirkte in Rußland für die Vereinigung der einzelnen Organisationen zu einer einheitlichen Partei, für die Herausarbeitung einer einheitlichen politischen Linie. Im Jahre 1902 erschien Lenins Buch „Was tun?", in dem er seine Gedanken über den Aufbau einer revolutionären Kampfpartei darlegte. Lenin wies, ausgehend von der Situation in Rußland, nach, daß die Partei zentralistisch aufgebaut und von einem führenden Zentrum aus geleitet werden müsse. Nur eine so aufgebaute Partei könne die organisatorische Zersplitterung und die ideologische Verwirrung überwinden, nur eine aktionsfähige, auf der Basis gemeinsamer theoretischer Erkenntnisse geschlossen handelnde Partei könne die Massen mobilisieren, sie in entscheidenden Situationen mitreißen und die Arbeiterklasse zum Siege führen.
Nach dem mißlungenen 1. Parteitag gab es auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer keine einheitliche Partei in Rußland. Die „Iskra", als das im Auslande arbeitende provisorische Zentrum, wirkte unter dem starken Einfluß Lenins für die Konstituierung der geschlossenen Partei. Die Redaktion der „Iskra" bereitete das Parteiprogramm vor; sie organisierte den II. Parteitag, auf dem das Organisationsstatut und das Parteiprogramm beschlossen wurden.
Im Jahre 1903 fand in London der II. Parteitag statt. Auf diesem Parteitag wurde in der Tat aus dem Wirrwarr der Gruppen und Zirkel die gemeinsame Partei konstituiert. Aber diese Partei war eben zunächst nur eine gemeinsame, noch keine einheitliche mit einer übereinstimmenden ideologischen Grundlage. Darum kam es auf dem II. Parteitag zu der ersten Spaltung, die die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands in Bolschewiki und Menschewiki teilte.
Differenzen zwischen Lenin und den späteren Menschewiki um organisatorische Fragen waren der äußere Anlaß zu der Spaltung auf dem II. Parteitag. Die weitere Entwicklung jedoch zeigte, daß für die russische Arbeiterbewegung organisatorische Fragen politische waren, und daß der Bruch tiefergehende ideologische Ursachen hatte. Der erste Zusammenstoß auf dem Parteitag erfolgte bei der Beratung des ersten Paragraphen des Organisationsstatuts, der über die Parteimitgliedschaft und das Wesen der Partei entscheiden sollte. Lenin wollte eine Organisation aus einem Guß, die sich aus Proletariern zusammensetzt, die trotz allen Gefahren der revolutionären Arbeit aktive Mitglieder werden. Nach dem leninschen Vorschlage sollten nur diejenigen als Parteimitglieder gelten, die persönlich in den Parteiorganisationen aktiv mitarbeiten. Martow schlug eine andere Form vor, die auch diejenigen, die wegen der Gefährdung nicht aktiv in einer der Parteiorganisationen mitarbeiten, sondern nur unter Leitung einer Organisation dieser regelmäßige Beihilfe leisten, als Parteimitglieder gelten läßt. Die leninsche Formel wollte eine wirkliche Arbeiterpartei schaffen, in der nicht Intellektuelle den Ausschlag geben. Bei der Entscheidung über den Paragraphen 1 des Organisationsstatuts erhielt die Martowsche Formulierung eine schwache Mehrheit. Der zweite Zusammenstoß auf dem II. Parteitag erfolgte bei der Entscheidung über die Zusammensetzung der Redaktion der „Iskra". Lenin forderte im Sinne seiner organisatorischen Konzeption, daß die Redaktion der „Iskra", die als führendes Zentrum in Frage kam, nur aus drei eine einheitliche Linie vertretenden Personen bestehen sollte. Und zwar aus Martow, Lenin und Plechanow, der in der damaligen Zeit in den entscheidenden Fragen mit Lenin übereinstimmte. Dieser Vorschlag bedeutete die Ausschaltung von Axelrod, Protessow und Sassulitsch; er löste bei diesen und deren Freunden starke Entrüstung aus. Martow erklärte sich mit den Ausgeschalteten solidarisch, er lehnte ab, in die Redaktion einzutreten, so daß schließlich mit einer geringen Stimmenmehrheit beschlossen wurde, daß nur Lenin und Plechanow die Redaktion der „Iskra" übernehmen. Diese Abstimmung führte zum Bruch. Die Nichtanerkennung des Beschlusses der Mehrheit durch die Minderheit spaltete die Partei in Bolschewiki und Menschewiki. Entstanden ist die Namensbezeichnung dadurch, daß die Mehrheit (im russischen Bolschestwo) für die von Lenin vorgeschlagene Redaktion, und die Minderheit (Menschestwo) dagegen stimmte. Bolschewiki waren die Mehrheitler, Menschewiki die Minderheitler.
Erst in der weiteren Entwicklung haben die Namen der beiden Fraktionen einen bestimmten ideologischen Inhalt bekommen. Von 1903 ab wirkten diese beiden Gruppen als selbständige Fraktionen in der Sozialdemokratischen Partei, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte zeitweise vereinigten und wieder spalteten, bis sich schließlich aus den zwei Fraktionen einer Partei zwei selbständige Parteien, die bolschewistische und die menschewistische, entwickelten. Der II. Parteitag kam erst nach der Spaltung zur Wahl des Zentralkomitees, in das nur Bolschewiki gewählt wurden. Die menschewistischen Delegierten wählten eine besondere Zentralstelle, die den Boykott gegen das auf dem Parteitag gewählte Zentralkomitee propagierte. Alle menschewistischen Mitarbeiter lehnten ab, in der nur von Lenin und Plechanow geleiteten „Iskra" zu schreiben. Schon nach einigen Monaten verlangte Plechanow, die boykottierenden ehemaligen Redakteure der „Iskra" in die Redaktion zu kooptieren. Das stand im Widerspruch zu dem Parteitagsbeschluß und zu Lenins Organisationskonzeption. Lenin lehnte den Vorschlag Plechanows ab, er trat aus der Redaktion der „Iskra" aus. Plechanow kooptierte daraufhin Axelrod, Martow, Protessow und Sassulitsch in die Redaktion der „Iskra", die von Ende 1903 ein menschewistisches Organ wurde. In der Parteigeschichte wird sie die „neue Iskra" genannt, im Gegensatz zu der „alten Iskra", die die Bolschewiki die „leninsche Iskra" nennen.
Trotzki war als Delegierter auf dem II. Parteitag. Er ist in den Auseinandersetzungen über das Organisationsstatut gegen Lenin aufgetreten. Er stellte sich in der Frage, die zum Bruch führte, auf die Seite der Menschewiki. Lenins unbeirrbare Entschlossenheit im Kampf um den Aufbau der revolutionären Partei ist oft mißdeutet worden. Aber die geschichtliche Entwicklung hat Lenin recht gegeben. Auf dem II. Parteitag sagte Lenin in einer Polemik gegen Trotzki, dem er vorwarf, er habe den Grundgedanken seiner Auffassung „absolut nicht begriffen" (Lenin, Gesammelte Werke, Band VI. Seite 34):
„Die Erhaltung der Festigkeit der Linie und der Reinheit der Parteigrundsätze wird gerade jetzt umsomehr zu einer dringenden Angelegenheit, als die in ihrer Einheit wiederhergestellte Partei sehr viele schwankende Elemente in ihre Reihen aufnehmen wird, deren Zahl mit dem Wachstum der Partei anwachsen wird. Genosse Trotzki hat den Grundgedanken meines Buches „Was tun?" sehr falsch verstanden, als er sagte, die Partei sei keine Verschwörerorganisation ... Er hat vergessen, daß ich in meinem Buche eine ganze Reihe verschiedener Organisationstypen vorschlage, von den konspirativsten und engsten bis zu verhältnismäßig breiten und ,losen'. Er hat vergessen, daß die Partei nur der Vortrupp, der Führer der gewaltigen Masse der Arbeiterklasse sein muß, die ganz (oder fast ganz) unter der Kontrolle und Führung der Parteiorganisationen arbeitet, die aber nicht in ihrer Gesamtheit der ,Partei' angehört und ihr auch nicht ganz angehören darf. Man sehe sich tatsächlich an, zu welchen Schlüssen Genosse Trotzki infolge seines Grundfehlers gelangt ... Ist die Beweisführung des Genossen Trotzki nicht merkwürdig? Er betrachtet das als betrüblich, was jeden einigermaßen erfahrenen Revolutionär nur freuen könnte. Wenn es sich herausstellte, daß Hunderte und Tausende von Arbeitern, die wegen Streiks und Demonstrationen verhaftet werden, nicht Mitglieder von Parteiorganisationen sind, so würde das nur beweisen, daß unsere Organisationen gut sind, daß wir unsere Aufgaben — einen mehr oder weniger engen Kreis von leitenden Genossen konspirativ wirken zu lassen und eine möglichst breite Masse zur Bewegung heranzuziehen — erfüllen."
Die deutschen Sozialisten, die inzwischen ihre Erfahrungen im illegalen Kampfe gegen die faschistische Diktatur gesammelt haben, verstehen heute sehr gut, wie richtig die Beweisführung und die Argumente Lenins sind, die er vor mehr als dreißig Jahren gegen Trotzki vorbrachte. Eine illegale Organisation ist erst dann gut und kampffähig, wenn sie bei ihren Aktionen breite Massen in Bewegung zu setzen vermag, die nicht Mitglieder der Partei sind. Eine illegale Organisation, die im Kampf nur ihre eigenen Parteimitglieder mobilisieren kann, ist eine Sekte. In der nach dem II. Parteitag veröffentlichten Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" setzte Lenin auseinander, daß der Parteitag einen Schritt vorwärts zur fester gefügten Parteiorganisation gemacht habe, aber die Bildung eines rechten Flügels mit eigenen organisatorischen Bindungen bringe die Partei zwei Schritte zurück. Gegen diese Schrift und gegen Lenins Auffassung, daß dem Proletariat eine viel größere Rolle in der Partei gesichert werden müsse, nahm Trotzki Stellung. In seiner von den Menschewiki (1904) herausgegebenen Broschüre „Unsere politischen Aufgaben", die er mit der Widmung „Dem treuen Lehrmeister Pawel Borissowitsch Axelrod" versah, schrieb Trotzki gegen Lenin:
„Welche Entrüstung erfaßt einen, wenn man diese unerhört skrupellosen, demagogischen Zeilen liest. Das Proletariat, dasselbe Proletariat, über das einem gestern noch gesagt wurde, daß es ,sich spontan dem Trade Unionismus hingibt' (Das richtet sich gegen Lenins .Was tun?'. D.V.), wird bereits heute aufgerufen, Lehrstunden politischer Disziplin zu geben. Und wem? Gerade jenen Intellektuellen, denen nach dem gestrigen Schema die Rolle zugesprochen wurde, von außen her in das Proletariat sein Klassenbewußtsein und sein politisches Bewußtsein hineinzutragen .... Und das nennt sich Marxismus. Das nennt sich sozialdemokratisches Denken. Wahrhaftig, man kann sich nicht mit größerem Zynismus dem besten ideellen Besitztum des Proletariats gegenüber verhalten, als das Lenin tut. Für ihn ist der Marxismus nicht eine Methode wissenschaftlicher Untersuchung, die große theoretische Verpflichtungen auferlegt, nein, er ist für ihn .... ein Scheuerlappen, wenn es notwendig ist, seine Spuren zu beseitigen, eine weiße Leinwand, wenn es notwendig ist, seine Größe zu demonstrieren, und ein zusammenlegbares Metermaß, wenn es erforderlich ist, sein Parteigewissen vorzuzeigen."
Diese Polemik Trotzkis gegen Lenin strotzt von persönlichen und politischen Beschimpfungen. Sie zeigt sehr deutlich, welcher scharfe Gegensatz nach 1903 zwischen Lenin und Trotzki bestand, wie verbissen und unsachlich Trotzki den Kampf gegen seinen „alten Kampfgenossen" führte. Der unsachliche Angriff charakterisiert sehr deutlich die scharfe Kampfstellung, die Trotzki gegen Lenin und die Bolschewiki bis zur Oktoberrevolution beibehielt. Im November 1904 schrieb Lenin in dem Artikel „Die Semstwokampagne und der Plan der Iskra" (Lenin, Gesammelte Werke, Band VII, Seite 20) gegen Trotzki:
„Das also sind die neuen taktischen Aufgaben, die neuen taktischen Ansichten der neuen „Iskra', die der ganzen Welt so feierlich durch den redaktionellen Balalaikin (gemeint ist damit Trotzki. D.V.) verkündet worden sind. In einer Hinsicht jedoch hat dieser Balalaikin ungewollt die Wahrheit gesagt: zwischen der alten und der neuen ,Iskra' klafft wirklich ein Abgrund. Die alte ,Iskra' hatte nur Worte der Verachtung und des Spottes übrig für Leute, die imstande sind, sich für eine theatralisch aufgemachte Klassenverständigung zu begeistern und darin einen „neuen Weg" zu sehen. Dieser neue Weg ist uns längst bekannt aus der Erfahrung jener französischen und deutschen ,Staatsmänner' des Sozialismus, die ebenfalls die alte revolutionäre Taktik für einen ,niederen Typus' halten und das ,planmäßige und unmittelbare Eingreifen in das öffentliche Leben' in Form von Vereinbarungen über ein friedliches und bescheidenes Auftreten der Arbeiterredner nach vorhergehenden Unterhandlungen mit dem linken Flügel der oppositionellen Bourgeoisie nicht genug preisen können."
In der Zeit nach dem II. Parteitag verschärfte sich auch der politische und ideologische Gegensatz zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Trotzki bezog nach seiner Trennung von den Menschewiki seine Sonderstellung neben noch anderen kleinen Gruppen und Grüppchen. Sein organisatorischer Standpunkt in der Folgezeit war die angebliche Fraktionslosigkeit und das Bemühen, als „Fraktionsloser" mit seiner kleinen trotzkistischen Fraktion die entscheidenden Teile der russischen Sozialdemokratie, Menschewiki und Bolschewiki, zu überwinden und „unter Ausschaltung der Extreme" eine im Kern prinzipienlose Einheitspartei zu bilden. Im Kampfe um diese Konzeption traten auch die theoretischen und politischen Gegensätze zwischen Trotzkismus und Bolschewismus sehr deutlich zutage.
Nach der Spaltung auf dem II. Parteitag beschäftigten sich die Parteiorganisationen in Rußland mit der Situation. Es fanden mehrere Gebietskonferenzen statt, die die sofortige Einberufung eines neuen Parteitages forderten. Auf diesen Konferenzen der Örtlichen Organisationen wurden Büros der „Komitees der Mehrheit" gebildet, die — als der Parteirat und das menschewistisch gewordene Zentralorgan, die „Iskra", die Einberufung eines neuen Parteitags ablehnten — von sich aus den III. Parteitag einberiefen, der Mitte 1905 in London stattfand. Die Menschewiki lehnten die Teilnahme an diesem Parteitag ab, sie hielten zu gleicher Zeit in Genf eine allrussische Konferenz ab. Der dritte rein bolschewistische Parteitag nahm das Organisationsstatut an, auch den ersten Punkt des Statuts, den die Menschewiki auf dem II. Parteitag abgelehnt hatten. Der III. Parteitag bestimmte die revolutionäre Taktik nach den Vorschlägen Lenins. Noch vor dem Stattfinden des III. Parteitages begann das Büro der „Komitees der Mehrheit" — seit Ende 1904 anstelle der „Iskra" die Zeitung „Wperjod" („Vorwärts") als Zentralorgan der Partei herauszugeben. Die Zeitung erschien in Genf, zu ihrer Redaktion gehörte Lenin.
Im Anschluß an die revolutionären Kämpfe des Jahres 1905 fand eine Annäherung zwischen Bolschewiki und Menschewiki und eine Vereinigung der beiden statt. Nach langen Verhandlungen wurde ein gemeinsames Zentralkomitee gebildet, das im Jahre 1906 den IV. den Vereinigungsparteitag, nach Stockholm zusammenberief. Auf dem Stockholmer Parteitag hatten die Menschewiki die Mehrheit; die Beschlüsse fielen im wesentlichen im Sinne der Menschewiki aus. Die Einigung war aber nur eine formale, die ideologischen und politischen Gegensätze zwischen den beiden Fraktionen wurden nicht überwunden. Es wurde zwar ein gemeinsames Zentralkomitee gewählt, aber die Bolschewiki schufen sich auf diesem Kongreß ein illegales Zentralkomitee. 1907 fand in London der V. Parteitag statt, auf dem die Bolschewiki ein kleines Übergewicht hatten, das aber nicht für ihre Linie voll ausgenutzt werden konnte, weil die auf diesem Parteitag vertretenen schwankenden Elemente — unter anderem auch Trotzki — eine klare Mehrheitsbildung verhinderten. Trotz den gemeinsamen Parteitagen bestanden schon in jener Zeit innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Rußlands zwei Parteien. Zwei Versuche, — die Parteikonferenz im Jahre 1908 in Paris und die Vereinigungsplenarsitzung des Zentralkomitees Anfang 1910 — eine völlige Einigung herbeizuführen, blieben ergebnislos.
Inzwischen hatten sich in der Reaktionsperiode nach der Revolution von 1905 im menschewistischen Lager Veränderungen vollzogen. Eine Reihe Führer der Menschewiki vertrat die Auffassung, daß man auf dem Wege des illegalen Kampfes nicht zum Ziele komme. Es sei darum notwendig, die illegale Organisation zu liquidieren und eine legale Arbeiterpartei auf breiter Basis zu bilden, die sich an die Gesetzlichkeit des zaristisch-stolypinischen Regimes anpaßt. In dieser Frage entstand ein entscheidender Gegensatz zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Die Bolschewiki nannten die Menschewiki, die die illegale Kampforganisation zugunsten einer Unrevolutionären, sich mit dem Zarismus versöhnenden legalen Partei aufgeben wollten, die Liquidatoren. Lenin nannte sie ironisch die stolypinsche Arbeiterpartei. Nach dem letzten Vereinigungsversuch beschlossen die Bolschewiki, mit den Liquidatoren nicht mehr zusammen zu arbeiten. In einer Betrachtung über die Einheit charakterisierte Lenin die Liquidatoren folgendermaßen (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 217):
„Wenn wir vom Liquidatorentum sprechen, so stellen wir eine bestimmte ideologische Strömung fest, die im Laufe von Jahren aufgekommen ist, in einer zwanzigjährigen Parteigeschichte mit dem ,Menschewismus' und ,Ökonomismus' verwurzelt und mit der Politik und Ideologie einer bestimmten Klasse, der liberalen Bourgeoisie, verknüpft ist." Nicht alle Menschewiki waren Liquidatoren; Martow ist gelegentlich gegen sie aufgetreten, und Plechanow führte einen heftigen Kampf gegen sie. Auch bei den Bolschewiki hatte die Entwicklung zu Differenzen und zu Abspaltungen geführt. Eine besondere Strömung, die Otsowisten, vertrat den Standpunkt, die Wahlen zur Duma zu boykottieren und jede legale Tätigkeit abzulehnen. Die Linie der Bolschewiki unter Lenins Führung dagegen war dafür, eine zielbewußte, geschlossene illegale Organisation aufzubauen, den illegalen Kampf verschärft fortzuführen, dabei aber alle legalen Möglichkeiten auszunützen. Von den Bolschewiki spalteten sich noch andere Grüppchen ab, so u.a. die Ultimatisten. die Gottesbildner, die zusammen mit den Otsowisten sich nach dem Ausschluß durch die Bolschewiki in der sogenannten „Wperjod"-Gruppe zusammenfanden. Sie führten den 1904 von den Bolschewiki begründeten „Wperjod" („Vorwärts") fort. nannten sich linke Bolschewiki. vertraten ultralinke Auffassungen und warfen Lenin und seinen Anhängern vor, sie hätten sich nach rechts entwickelt und den Bolschewismus verraten. Trotzki sympathisierte auch mit dieser ultralinken Gruppe, die damals mit ähnlichen Argumenten Lenin bekämpfte, wie später die Trotzkisten Stalin.
Die entscheidenden Kämpfe der nächsten Jahre spielten sich zwischen den Bolschewiki und den menschewistischen Liquidatoren ab. In diesem Kampfe stand Trotzki zwischen den beiden Fronten. Praktisch unterstützte er die Liquidatoren im Kampf gegen die Bolschewiki.
Von 1908 ab spitzte sich der organisatorische Kampf immer mehr zu. Es ging dabei um die Bildung einer selbständigen, von den Liquidatoren vollkommen getrennten Bolschewistischen Partei. Lenin und die Bolschewiki organisierten zusammen mit allen parteitreugebliebenen Kräften eine Konferenz, die mit den liquidatorischen Elementen endgültig Schluß machen sollte. Diese Absicht bekämpfte Trotzki besonders heftig, in diesem Zusammenhang nannte er Lenin einen engherzigen Spalter. Trotzki publizierte in der deutschen sozialdemokratischen Presse (in der „Neuen Zeit" und im „Vorwärts") entstellte Berichte über die russische Arbeiterbewegung, in denen er behauptete, daß in Rußland weder die Bolschewiki, noch die parteitreuen Menschewiki eine Rolle spielen. Im Mai 1911 veröffentlichte Lenin einen Artikel „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland" gegen Trotzkis irreführende Berichte (Ausgewählte Werke, Band III, Seite 492 usf.):
„Es sei eine „Illusion“, zu glauben", erklärte Trotzki, „der Menschewismus und der Bolschewismus hätten in den Tiefen des Proletariats feste Wurzeln gefaßt". Dies ist ein Muster jener klingenden, aber hohlen Phrasen, in denen unser Trotzki Meister ist. Nicht in den ,Tiefen des Proletariats', sondern in dem ökonomischen Inhalt der russischen Revolution liegen die Wurzeln der Differenzen zwischen Menschewiki und Bolschewiki ... Trotzki entstellt den Bolschewismus, denn niemals vermochte Trotzki, sich einigermaßen bestimmte Ansichten über die Rolle des Proletariats in der russischen bürgerlichen Revolution zu machen...
Trotzki, der für seine Fraktion die Reklametrommel rührt, geniert sich nicht, den Deutschen zu erzählen, daß die ,Partei' zerfalle, daß beide Fraktionen zerfallen, während er, Trotzki, allein alles rette. In Wirklichkeit sehen wir jetzt alle — und die jüngste Resolution der Trotzkisten (im Namen des Wiener Klubs, vom 26. November 1910) beweist dies besonders anschaulich —, daß Trotzki lediglich bei den Liquidatoren und den ,Wpenod'-Leuten Vertrauen genießt. Bis zu welcher Ungeniertheit sich Trotzki versteigt, wenn er die Partei herabsetzt und sich selbst in den Augen der Deutschen herausstreicht, zeigt z.B. der folgende Fall: Trotzki schreibt, daß die ,Arbeitermassen' in Rußland die sozialdemokratische Partei als außerhalb ihres Kreises stehend (hervorgehoben von Trotzki) betrachten, und spricht von ,Sozialdemokraten ohne Sozialdemokratie'. Wie sollen denn da Herr Potressow (Führer der Liquidatoren. D.V.) und seine Freunde Trotzki für solche Reden nicht ans Herz drücken? ..."
Der scharfe Ton, den Lenin gegen Trotzki anschlug, entspricht der Schärfe von Trotzkis Angriff gegen die Bolschewiki. Trotzki setzte vor der deutschen Parteiöffentlichkeit die beiden parteitreuen Fraktionen herab. Er verkündete den Zerfall der Partei. Die weitere Entwicklung hat sich nicht nach der Prophezeiung Trotzkis gerichtet, aber in der damaligen Zeit hat er mit seiner Stellungnahme genug Verwirrung angerichtet. Trotzkis Angriffe gegen die Bolschewiki und die parteitreuen Menschewiki — also gegen die russische Partei — spielten auch in der russischen Delegation auf dem Kopenhagener internationalen Sozialistenkongreß eine Rolle. In dem vorstehend zitierten Artikel schrieb Lenin weiter (Seite 509):
„In Kopenhagen erhob Plechanow als Vertreter der parteitreuen Menschewiki und Delegierter der Redaktion des Zentralorgans gemeinsam mit dem Schreiber dieser Zeilen als dem Vertreter der Bolschewiki und einem polnischen Genossen entschieden Protest dagegen, wie Trotzki in der deutschen Presse unsere Parteiangelegenheiten darstellt." In „Mein Leben" nimmt Trotzki zu dem Zusammenstoß in Kopenhagen Stellung. Er erzählt dort (Seite 208 usf.), wie er auf der Reise von Wien nach Kopenhagen unterwegs auf einem Bahnhof, in dem man umsteigen mußte, ganz unerwartet den aus Paris kommenden Lenin traf:
„Wir mußten eine Stunde warten und es entspann sich zwischen uns ein großes Gespräch, das sehr freundschaftlich in seinem ersten und weniger freundschaftlich in seinem zweiten Teile war.“
Mit dieser Darstellung der Unterhaltung will Trotzki den Eindruck erwecken, daß damals gar kein so schlechtes Verhältnis zwischen ihm und Lenin bestanden habe. Er erzählt darum, daß der erste Teil der Unterhaltung „freundschaftlich" verlaufen sei. Und wie kommt Trotzki zu dieser Behauptung? Nach seiner eigenen Darstellung hat er zuerst von der Abspaltung der tschechischen Gewerkschaften erzählt, und in diesem ersten Teil der „Unterhaltung" hat Lenin kein Wort gesagt, sondern nur zugehört. Jedenfalls lag Lenin absolut nichts daran, diese Frage mit Trotzki zu besprechen, wichtiger war ihm, seine Meinung über Trotzkis Artikel in der deutschen Presse zu sagen. Und da war es mit der „Freundschaftlichkeit" aus. Trotzki selbst erzählt darüber in „Mein Leben" weiter:
„Das Gespräch nahm aber einen völlig anderen Charakter an, als ich Lenin von meinem letzten Artikel im ,Vorwärts' über die russische Sozialdemokratie erzählte. Der Artikel war zum Kongreß geschrieben worden und unterwarf sowohl die Menschewiki, wie die Bolschewiki einer scharfen Kritik .... Haben Sie das wirklich so geschrieben? fragte Lenin vorwurfsvoll . . . Wäre es nicht möglich, den Druck des Aufsatzes telegraphisch zurückzuhalten? ,Nein', erwiderte ich, .der Artikel sollte heute morgen erscheinen, und weshalb auch aufhalten? Der Artikel ist richtig."
Im Anschluß daran fährt Trotzki aber fort:
„In Wirklichkeit war der Artikel nicht richtig, denn er rechnete damit, daß eine Partei entstehen würde, durch Verschmelzung der Bolschewiki mit den Menschewiki, untei Wegfall aller Extreme, wahrend in Wirklichkeit eine Partei entstanden ist im schonungslosen Kampf der Bolschewiki gegen die Menschewiki."
In seiner Geschichtsschreibung hat Trotzki in vielen Fragen in denen er früher Lenin heftig bekämpfte, lange hinterher zu gegeben, daß Lenin recht hatte. Der Zweck dieser Geschichtsschreibung ist, den tatsächlich bestehenden scharfen Gegensatz harmlos erscheinen zu lassen. Die Frage aber, auf welchem Weg die revolutionäre Partei entstehen sollte, die in Rußland zielklare Führerin der Revolution wird, war in jener Zeit die aktuellste politische Frage. Und dabei vertrat Trotzki „konsequent" den trotzkistischen Standpunkt, der dem leninschen diametral gegenüber stand. Hätte in der russischen Arbeiterbewegung nicht der Leninismus, sondern der Trotzkismus sich durchgesetzt, dann hätte der Zusammenbruch des Zarismus in Rußland wahrscheinlich zu dem gleichen Ergebnis geführt wie die Novemberrevolution in Deutschland.
In dem Kampfe um die revolutionäre Partei betrachtete Lenin Trotzki als einen Feind, der noch schlimmer und gefährlicher ist, als die Liquidatoren. In dem Artikel »Aus dem Lager der stolypinschen Arbeiterpartei" schrieb Lenin im September 1911 (Sämtliche Werke, Band XV, russisch, Seite 218):
„Hieraus ergibt sich klar, daß Trotzki und die ihm Geistesverwandten ,Trotzkisten und Kompromißler' schädlicher als der ärgste Liquidator sind, denn überzeugte Liquidatoren legen ihre Ansicht offen dar, und die Arbeiter können ihre Fehlerhaftigkeit leicht erkennen; die Herren Trotzki aber betrügen die Arbeiter, verschleiern das Übel, machen es unmöglich, es aufzudecken und zu heilen. Jeder, der das Gruppchen Trotzkis unterstützt, unterstützt die Politik der Lüge und des Betrugs an den Arbeitern, die Politik der Verschleierung des Liquidatorentums. Volle Handlungsfreiheit für die Herren Potressow und Co. in Rußland, Verschleierung ihrer Taten durch ,revolutionäre' Phrasen im Ausland — das ist das Wesen der Politik des Trotzkismus." Im Januar 1912 fand in Prag die von Lenin und den Bolschewiki organisierte Konferenz statt, die vielleicht als die eigentliche Gründungskonferenz der selbständigen Bolschewistischen Partei bezeichnet werden kann. Der offizielle Einberufer dieser „Gesamtrussischen Parteikonferenz" war das Russische Organisationskomitee, an dem auch parteitreue Menschewiki beteiligt waren. Plechanow, der in jener Zeit sehr konsequent gegen die Liquidatoren auftrat, unterstützte die Konferenz. An ihr nahmen außer einigen antiliquidatorischen parteitreuen Menschewiki, die den Standpunkt Plechanows vertraten, nur Bolschewiki teil. Nach der Prager Konferenz begann eine Belebung und ein neuer Aufschwung der russischen Arbeiterbewegung. Es ist nicht ohne tieferen Sinn, daß Trotzki das Zustandekommen dieser Konferenz mit allen Mitteln zu verhindern suchte, und daß er nach der erfolgreichen Durchführung der Konferenz seinen Kampf gegen Lenin verschärft fortsetzte. Aber Trotzki begnügte sich nicht damit, die Prager Konferenz der Bolschewiki zu bekämpfen, er stellte sich an die Spitze einer „Organisationskommission", die eine Gegenkonferenz organisierte. Er schuf damals zusammen mit allen nichtbolschewistischen Elementen den sogenannten Augustblock, der nach dem Wunsche seiner Autoren eine gemeinsame Organisation aller nichtbolschewistischen Kräfte gegen den Leninismus und die Bolschewiki schaffen sollte.
Gegen Trotzkis Bemühungen, den antileninistischen Augustblock und eine Gegenkonferenz zu organisieren, schrieb Lenin im Januar 1911 in einem Artikel „Über die Lage der Dinge in der Partei" (Sämtliche Werke, Band XV, russisch, Seite 60): „Trotzkis Resolution, die die lokalen Organisationen zur Vorbereitung seiner .Konferenz der Gesamtpartei über den Kopf des ZK hinweg und gegen das ZK aufruft, ist ein Ausdruck eben dessen, was das Ziel der Golos-Leute (Anhänger eines Organs der Menschewiki. D.V.) ist: Zerstörung der den Liquidatoren verhaßten zentralen Institutionen und mit ihnen auch der Partei als Organisation. Es genügt nicht, diese parteifeindlichen Handlungen der Golos-Leute und Trotzkis ans Licht zu bringen, man muß sie bekämpfen. Die Genossen, denen die Partei und ihre Wiedergeburt am Herzen liegt, müssen aufs entschiedenste Stellung nehmen gegen alle diejenigen, die aus rein fraktionellen und zirkelpolitischen Erwägungen und Interessen bestrebt sind, die Partei zu zerstören...
Wenn Trotzki sagt, das Plenum habe die Tätigkeit der ,Prawda' (Trotzkis Blatt in Wien. D.V.) als nützlich anerkannt, so verschweigt er zu Unrecht die Tatsache, daß das Plenum einen Vertreter des ZK in die Redaktion der ,Prawda' entsandt hat. Das Verschweigen dieser Tatsache bei der Erwähnung der Beschlüsse des Plenums bezüglich der ,Prawda' kann man nicht anders bezeichnen, denn als Betrug an den Arbeitern. Und dieser Betrug Trotzkis ist um so gemeiner, als Trotzki im August 1910 den Vertreter des ZK aus der ,Prawda' entfernt hatte ... Solange das ZK nicht erneut zusammengetreten ist, gibt es keinen anderen Richter über das Verhalten der ,Prawda' gegenüber dem ZK, als den vom Plenum ernannten Vertreter des ZK, der das Verhalten Trotzkis für parteifeindlich erklärt hat .... Und wir erklären daher im Namen der Gesamtpartei, daß Trotzki eine parteifeindliche Politik betreibt; daß er die Parteilegalität zerstört, daß er den Weg des Abenteuers und der Spaltung betritt, wenn er in seiner Resolution mit keinem Ton das ZK erwähnt .... und im Namen einer einzigen ausländischen Gruppe die ,Organisierung' eines Fonds für die Einberufung einer Konferenz der SDAPR kundgibt ... Trotzki schreibt in seiner Resolution, daß der Kampf, den die ,Leninisten und Plechanowleute' führen (durch diese Hervorkehrung von Personen an Stelle der Strömungen des Bolschewismus und des parteitreuen Menschewismus will Trotzki seine Mißachtung zum Ausdruck bringen, aber er bringt damit nur seine Ignoranz zum Ausdruck), daß dieser Kampf gegenwärtig jeder prinzipiellen Grundlage entbehrt." Besonders erbost war Lenin darüber, daß Trotzki bei seinem Kampf gegen die Prager Konferenz die Liquidatoren unterstützte. Im Dezember 1911 schrieb er in einem Artikel über eine Plattform der Parteitreuen (Sämtliche Werke, Band XV, russisch, Seite 302 usf.):
„Trotzki weiß ausgezeichnet, daß die Liquidatoren in den legalen Publikationen gerade die Losung der ,Koalitionsfreiheit' vereinigen mit der Losung: Nieder mit der illegalen Partei, nieder mit dem Kampf für die Republik. Die Aufgabe Trotzkis besteht denn auch darin, das Liquidatorentum zu decken, indem er den Arbeitern Sand in die Augen streut ....
Mit Trotzki kann man nicht sachlich diskutieren, denn er hat keinerlei Anschauungen. Man kann und muß mit den überzeugten Liquidatoren und Otsowisten diskutieren, mit einem Menschen aber, der das Spiel treibt, die Fehler sowohl der einen als auch der anderen zu decken, diskutiert man nicht: man entlarvt ihn als .... einen Diplomaten schlimmster Prägung..."
Später hat Lenin Trotzkis Stellung zu den Liquidatoren noch öfter behandelt. Gegenüber dem von Trotzki erhobenen Vorwurf der Spalterei sagte Lenin, daß auf dem Schauplatz der Arbeiterbewegung Rußlands außer dem Liquidatorentum und den der illegalen Partei treuen Fraktionen nichts vorhanden sei. Lenins Meinung war, daß die Partei nur lebensfähig sein könne, wenn sie sich von den die Partei verneinenden Liquidatoren befreie. Er fragte Trotzki, ob er diese Stellung zum Liquidatorentum als Spalterei betrachte. Trotzki wich dieser Frage aus:
„Über seine grundlegenden Ansichten — schrieb Lenin (Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 212 usf.) — suchte Trotzki in seiner neuen Zeitschrift möglichst wenig zu sagen. Die „Putl Prawda" (Nr. 37) hat bereits vermerkt, daß Trotzki weder über die Frage der Illegalität noch über die Losung des Kampfes für eine legale Partei usw. auch nur einen Ton geäußert hat. Eben deshalb sprachen wir unter anderem von schlimmstem Fraktionswesen in dem Falle, wenn eine abgesonderte Organisation ohne Jegliche ideologisch-politische Physiognomie entstehen will."
Die unklare Haltung, die Lenin Trotzki vorwarf, diente in der Praxis den Liquidatoren, sie entsprang der Absicht, auf jeden Fall einen opportunistischen, antileninistischen Block zustande zu bringen, unbeschadet seines ideologisch-politischen Inhalts. Trotzki erzählt in „Mein Leben", was ihn zu seinen Bemühungen um den opportunistischen Augustblock bewogen hat (Seite 215):
„Im Jahre 1912, als sich der neue politische Aufstieg klar zeigte, machte ich den Versuch, eine Vereinigungskonferenz von Vertretern aller sozialdemokratischen Fraktionen einzuberufen .... Unter den Bolschewiki selbst waren die versöhnlerischen Tendenzen in jener Periode sehr stark, und ich verlor die Hoffnung nicht, daß dieses auch Lenin veranlassen würde, sich an der Konferenz zu beteiligen. Lenin jedoch widersetzte sich der Vereinigung mit aller Kraft. Der ganze Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, daß Lenin recht hatte. Die Konferenz versammelte sich im August 1912 in Wien, ohne die Bolschewiki, und ich geriet formell in einen ,Block' mit den Menschewiki und einzelnen Gruppen der Bolschewiki-Dissidenten. Eine politische Basis hatte dieser Block nicht..."
Trotzki behauptet, er wollte eine Vereinigungskonferenz aller Gruppen organisieren. Das ist eine Unwahrheit, denn er wußte ganz genau, mit welcher Heftigkeit Lenin diese opportunistische Absicht bekämpfte. Er wußte ferner, daß die berufenen Organe der Partei eine allrussische Konferenz einberufen hatten, und daß seine „Vereinigungs"- Veranstaltung eine Gegenkonferenz gegen die Parteikonferenz war. Trotzki war auch nicht im unklaren darüber, daß die Bolschewiki unter Lenins Führung seine „Vereinigungskonferenz" mit Liquidatoren grundsätzlich ablehnten, daß die Bolschewiki mit den „versöhnlerischen Tendenzen" ausgeschlossen waren und nicht mehr als Bolschewiki gelten konnten. Die nachträgliche Darstellung Trotzkis über seine Haltung zur Augustkonferenz und zum Augustblock ist ein Musterbeispiel für seine Art der Geschichtsschreibung. Natürlich fehlt dabei auch nicht die Feststellung, daß „der Verlauf der Ereignisse" Lenin recht gegeben habe. Was ist das für ein vorausschauender Politiker, — und Trotzki gibt vor, ein solcher zu sein - der mit Verbissenheit in der jeweils aktuellsten politischen Frage einen Standpunkt vertritt, den er dann nach Jahrzehnten — wenn es ihm opportun erscheint — als falsch bezeichnet.
Der Versuch Trotzkis, im Jahre 1912 einen ideologisch uneinheitlichen Block der verschiedensten Elemente gegen den Bolschewismus zu bilden, war eben nicht nur eine Augenblicksverirrung Trotzkis, sondern er entsprang den Organisationsauffassungen und der falschen theoretischen und politischen Konzeption des Trotzkismus, die Lenin wegen ihrer Gefährlichkeit so erbittert bekämpfte. Wenn Trotzki belehrungsfähig wäre (eben nicht der eine Meister neben dem anderen), dann hätten ihn die ernsthaften Argumente Lenins von der Verkehrtheit seines Beginnens überzeugt. „Um die Partei aufzubauen, genügt es nicht, zu rufen: ,Einheit!'" — schrieb Lenin gegen Trotzki — „man muß auch ein politisches Programm, auch ein Programm politischer Aktionen haben." Das aber hatte der Augustblock nicht, er hatte — wie Trotzki 1930 zugibt — keine politische Basis. Und daran ist er gescheitert. Lenin hat dieses Ergebnis vorausgesagt; er bekämpfte den Augustblock, weil er mit dem leninistischen Organisationsprinzip unvereinbar war. Trotzkis Augustblock verband nur die gemeinsame Gegnerschaft gegen den Leninismus; er bestand aus den verschiedenartigsten Elementen, die weder über Ziel noch Weg klar und einig waren.
In den Auseinandersetzungen um den Augustblock und die Prager Konferenz zeigte sich sehr deutlich der große Unterschied zwischen Leninismus und Trotzkismus. Lenin verlangte unerschütterlich als Voraussetzung für die siegreiche Durchführung der Revolution eine zielklare, auf einer gemeinsamen ideologischen Basis stehende zentralistische Partei; die praktische Tätigkeit Trotzkis bewies, daß er glaubte, mit einer äußerlich zusammengeklebten Mischmaschpartei in die Revolution gehen zu können. Das erwies sich als illusionär. Der Augustblock fiel bald nach seiner Gründung wieder auseinander. Trotzkis letzte Aktion gegen eine schlagkräftige Bolschewistische Partei brach kläglich zusammen. Die Bolschewistische Partei hat sich gegen die von Trotzki aufgerichteten Hemmungen durchgesetzt, sie hat in der Revolution die entscheidende Rolle gespielt, die Trotzki zur vorübergehenden Liquidierung seiner Sonderstellung zwang.
Die Prager Konferenz fand trotz allen Sabotageversuchen im Januar 1912 statt. Sie ist für die Bolschewiki besonders bedeutungsvoll, weil sie faktisch die Umwandlung der bolschewistischen Fraktion in eine selbständige Partei vollzog. Auf dieser Konferenz wurde ein aktionsfähiges Parteizentrum, ein festerer organisatorischer Zusammenhalt auf einer einheitlichen ideologischen Grundlage geschaffen. Die liquidatorischen Organisationen und die linksopportunistischen Elemente wurden aus der Partei ausgeschlossen; außerdem beschloß die Konferenz, alle Beziehungen zu Trotzkis „Prawda" abzubrechen. In das Zentralkomitee wurden Lenin, Stalin, Sinowjew, Ordshonikidse, Goloschtschekin Schwarzmann und Malinowski gewählt. Der letztgenannte, der auch bolschewistischer Duma-Abgeordneter war, wurde nach der Öffnung der zaristischen Polizeiarchive als Spitzel entlarvt und 1916 von den Bolschewiki wegen seiner Verräterei erschossen. Als Kandidaten für das Zentralkomitee wurden auf der Prager Konferenz noch Kalinin und die Stassowa gewählt, die heute ebenso wie Litwinow, der gleichfalls zu der ältesten Garde der Bolschewiki gehört, in der Sowjetunion hervorragende Funktionen ausüben. Dieser Hinweis ist in diesem Zusammenhange zweckmäßig, weil die Trotzkisten in neuerer Zeit immer wieder behaupten, daß in der Sowjetunion die ganze alte bolschewistische Garde ausgerottet werde. Auch Molotow war bereits während des Bürgerkrieges Mitglied des Zentralkomitees der Partei, ebenso haben Woroschilow und Meschlauk schon in der Revolution hervorragende Funktionen in der Partei und der Armee inne gehabt. Die heutigen Führer der Sowjetunion sind also — so weit sie nicht zur jüngeren Generation zählen — im Gegensatz zu Trotzki alte Bolschewiki. Aber schließlich ist bei der Beurteilung jedes Einzelnen sein Tun in der Gegenwart wichtiger als sein Verhalten in der Vergangenheit. Um sein Tun in der Gegenwart zu rechtfertigen, beruft Trotzki sich auf seine angebliche enge Gemeinschaft mit Lenin in der Vergangenheit. Die Analyse dieser Vergangenheit jedoch ergibt, daß Trotzki dazu keinesfalls berechtigt ist.
Nach der Prager Konferenz wurden die Angriffe Trotzkis gegen Lenin und die Bolschewiki besonders heftig. Anfang 1912 schreibt Trotzki in seiner Wiener „Prawda":
„Im Januar dieses Jahres fand im Ausland eine Beratung einiger russischer Praktiker mit dem leninschen Literaturzirkel statt. In der Darstellung der Leninisten ist diese Beratung eine ,Allrussische Konferenz der Partei' genannt worden, in der Resolution der Gruppe ,Wperjod' wurde sie ein ,Überfall auf die Partei' genannt. Alle Tatsachen und Umstände dieser Beratung veranlassen uns, anzuerkennen, daß die letztere Bezeichnung den Wesensinhalt der Sache weit genauer zum Ausdruck bringt. Wir zweifeln nicht daran, daß die Beschlüsse der leninschen Konferenz keinen irgendwie nennenswerten Einfluß auch auf die Arbeit der Leninisten in Rußland selbst ausüben können, denn kein ernster Parteiarbeiter wird seine Kräfte für ein sichtlich hoffnungsloses Zirkelunternehmen hergeben wollen." Die leninistische revolutionäre Organisation bezeichnet Trotzki als einen in den Massen einflußlosen Zirkel, der sich nicht mit realen politischen Dingen, sondern eben nur mit Literatur beschäftigt, der eine Literatur produziert, die in Rußland niemand beachtet. Darüber hinaus behauptet Trotzki, daß selbst die Leninisten in Rußland es ablehnen werden, für Lenins „hoffnungsloses Zirkelunternehmen" zu arbeiten. Die Geschichte hat sehr schnell die von Trotzki 1912 aufgestellten Behauptungen widerlegt. Die Leninisten und sehr viele andere revolutionäre Arbeiter in Rußland haben ihre Arbeit in den Dienst des „leninschen Literaturzirkels" gestellt. Als der Zarismus zusammenbrach, war die leninsche Partei die Macht, die allein die Massen vom Februar zum siegreichen Oktober führen konnte.
Als die Bolschewiki bald nach der Prager Konferenz in Rußland selbst eine Arbeiterzeitung unter dem Namen „Prawda" herausgeben wollten, schrieb Trotzki in seiner Wiener „Prawda" einen wütenden Artikel gegen Lenin und die Bolschewiki:
„In der Petersburger Zeitung ,Swjesda' erschien eine Ankündigung über das bevorstehende Erscheinen einer Arbeiter-Tageszeitung ,Prawda'. Die die Presse verfolgenden Arbeiter wissen, daß gerade unter dieser Bezeichnung ... unsere Zeitung bereits seit vier Jahren erscheint. Was soll das bedeuten? Hat die Redaktion der neuen Zeitung nach unserem Einverständnis gefragt? Nein, sie hat nicht gefragt. In welchem Verhältnis steht die Petersburger Zeitung zu unserer Zeitung? In keinem...
Der leninsche Zirkel, diese Verkörperung der Fraktionsreaktion und der spalterischen Willkür, hat nicht nur versucht, uns durch Aneignung der allgemeinen Parteimittel des Feuers und des Wassers zu berauben, sondern hat im Verlauf der letzten beiden Jahre auch alles getan, was möglich war, um den Namen „Prawda“ in den Augen der russischen Arbeiter zu beschmutzen und verhaßt zu machen.
Und jetzt, nach einem zweijährigen Kampfe des leninschen Zirkels gegen uns entsteht in Petersburg eine Zeitung, die sich den völligen Titel unserer Zeitung ... aneignet. Mit welchem Recht? Ohne jedes Recht. Wozu? Darauf ist nicht schwer zu antworten: dazu, um auf dem Wege der Fälschung das zu erreichen, was nicht gelang, auf dem Wege einer wilden Hetze zu erzielen; dazu, um die spalterischen Tendenzen als Schmuggelware unter der Flagge einer Zeitung fraktionslosen Charakters, der für die breiten Arbeiterkreise unzweifelhaft ist, einzuschmuggeln. Und dazu, um alle Karten zu vermischen, ein volles Chaos hervorzurufen und die Verwirrung aller, noch lange nicht durch Beständigkeit gekennzeichneten Begriffe in den breiten Kreisen der Partei hervorzurufen."
Auch an dieser Äußerung ist der gehässige Ton beachtlich, den Trotzki damals in seinem Kampfe gegen den Leninismus anschlug. Er spricht immer nur von dem „leninschen Zirkel”, der der Ausdruck der Fraktionsreaktion sei, der nur spalte, und den Trotzki hier auch der Fälschung und des Betruges bezichtigt. Mit der Aneignung der allgemeinen Parteimittel, die Trotzki in diesem Artikel dem „leninschen Zirkel” vorwirft, hatte es eine besondere Bewandtnis. In der damaligen Zeit fehlte in der russischen sozialdemokratischen Partei noch die allgemein anerkannte Zentralstelle, der alle eingehenden Geldmittel zur Verteilung zugeleitet werden konnten. Darum gingen die für den illegalen Kampf eingehenden Gelder einer Gruppe von Treuhändern zu, die über die Verteilung entschied. Diese Treuhänder waren Karl Kautsky, Franz Mehring und Klara Zetkin, die nach gründlicher sachlicher Prüfung der tatsächlichen Lage in der russischen Sozialdemokratie zu dem Ergebnis kamen, daß die Bolschewiki als die stärkste und einflußreichste Kraft in Rußland den berechtigtsten Anspruch auf die Parteigelder hätten. In den Augen der Treuhänder waren eben die Bolschewiki nicht nur ein „leninscher Literaturzirkel”, sondern ein entscheidender Teil der illegalen Bewegung. Im Gegensatz zu den Trotzkisten, die wirklich nur ein Zirkel ohne wesentlichen Einfluß auf die russischen Arbeiterwaren, und denen darum die Treuhänder Parteigelder zu überweisen ablehnten. Gegen Trotzkis Hetze wegen der Gelder schrieb Lenin in einem Briefe „An alle sozialdemokratischen Parteiorganisationen, Gruppen und Zirkel”:
„Man braucht kein Wort darüber zu verlieren, daß es Trotzki für seine Pflicht hält, alle Ammenmärchen der ausländischen Liquidatoren über die angebliche Aneignung der Parteigelder ... zu wiederholen. Habt wenigstens ein bißchen Scham, Herrschaften! - sagen wir Trotzki und den mit ihm Gehenden. Unternehmt nicht eine schändliche, lügnerische und klägliche Kampagne um das Geld!”
Doch wegen dieses Geldes hat Trotzki noch einen heftigeren Angriff gegen Lenin unternommen. In einem Brief an den menschewistischen Führer Tscheidse schrieb er am 1. April 1913:
„Die schmutzige Intrige, die systematisch von dem Meister für solche Sachen, von Lenin, dem berufsmäßigen Ausbeuter jeglicher Rückständigkeit in der russischen Arbeiterbewegung, entfacht wird, erscheint als unsinniges Hirngespinst. Kein geistig intakter europäischer Sozialist glaubt, daß auf Grund jener Margarine-Meinungsverschiedenheiten, die von Lenin in Krakau formuliert wurden, eine Spaltung nötig ist. Mit den „dunklen Geldern“, die Kautsky und Zetkin entrissen wurden, hat Lenin ein Organ geschaffen und sich für dasselbe die Firma einer populären Zeitung angeeignet. Er hat die „Einheit“ und die „Fraktionslosigkeit“ zu ihrer Fahne gemacht und Arbeiterleser gewonnen, die in dem Erscheinen einer Arbeiter-Tageszeitung überhaupt, natürlicherweise ihre eigene gewaltige Errungenschaft sahen. Aber dann, als die Zeitung sich befestigte, machte sie Lenin zum Hebel für das zirkelmäßige Intrigantentum und die prinzipienlose Spalterei ...
Das ganze Gebäude des Leninismus in der gegenwärtigen Zeit ist auf Lüge und Falschheit aufgebaut und trägt die giftigen Bestandteile der eigenen Zersetzung in sich.”
Trotzki bestätigt in „Mein Leben” (Seite 500), daß er tatsächlich diesen Brief an Tscheidse, der unter Kerensky eine große Rolle spielte und in der Revolution einer der Gegenspieler Lenins war, geschrieben hat. Nach Trotzkis Angaben wurde dieser Brief vom zaristischen Polizeidepartement abgefangen. Er ist erst nach der Oktoberrevolution durch die Öffnung der Polizeiarchive bekannt geworden. Trotzki verteidigt den Brief damit, „daß in den Jahren der Emigration mancherlei Briefe geschrieben" wurden. Da Trotzki die Wirkung dieses Briefes unangenehm war, versuchte er mit großen Worten und mit einer Schimpfkanonade abzulenken. Er nennt die spätere Veröffentlichung dieses Briefes durch die Bolschewistische Partei eines der „größten Betrugsmanöver in der Weltgeschichte. Die gefälschten Dokumente der französischen Reaktion im Dreyfus-Prozeß sind nichts im Vergleich mit diesem politischen Betrug Stalins und seiner Komplizen." („Mein Leben" Seite 500).
Das ist der gleiche Ton gegen Stalin wie in dem Brief an Tscheidse gegen Lenin. Wenn Trotzki die Bekanntgabe eines von ihm als echt zugegebenen Briefes mit den gefälschten Dokumenten im Dreyfuß-Prozeß vergleicht, dann beweist das nur die Unfähigkeit Trotzkis, sachlich und objektiv zu urteilen. Wieso aber die Bekanntgabe eines echten Briefes eines der größten Betrugsmanöver der Weltgeschichte sein soll, wird kein objektiv urteilender Mensch verstehen. Die Feststellung, daß Trotzki in all den Jahren der intensiven Vorbereitung der russischen Revolution in schroffer Gegnerschaft gegen Lenin und den Leninismus stand, ist kein Betrug, sondern die geschichtliche Wahrheit. Wenn etwas Betrug ist, so Trotzkis Bemühen, den Kampf zwischen Lenin und Trotzki, zwischen Leninismus und Trotzkismus, nachträglich aus der Welt zu lügen. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Strömungen der russischen Arbeiterbewegung ist eine historische Wahrheit, und der Brief Trotzkis an Tscheidse ist nur ein Beweis dafür, wie tief dieser Gegensatz war, wie feindselig Trotzki noch am Vorabend der Revolution Lenin gegenüberstand. Es zeugt wahrlich nicht von freundlichen Gefühlen — die auch eine Voraussetzung für eine enge Kampfgemeinschaft sind — wenn Trotzki Lenin einen Meister schmutziger Intrigen nennt, einen Politiker, der sich nicht auf die fortschrittlichen Teile der Arbeiterschaft stützt, sondern ein „berufsmäßiger Ausbeuter jeder Rückständigkeit in der russischen Arbeiterbewegung" ist. Trotzkis völliges Mißverstehen der leninschen Organisationskonzeption kommt auch darin zum Ausdruck, daß er Lenin vorwirft, wegen „Margarine - Meinungsverschiedenheiten" zu spalten, nur aus Freude an der Spaltung. Die große Feindschaft Trotzkis aber gegen den Leninismus beweist die Behauptung, daß der ganze Leninismus auf Lüge und Falschheit aufgebaut sei.
Der in der Tat sehr aufschlußreiche Brief Trotzkis an Tscheidse war Lenin in den Auseinandersetzungen vor der Revolution nicht bekannt geworden. Lenin kannte nur die publizierten Äußerungen Trotzkis in dem Meinungsstreit, und die genügten ihm schon, harte und vernichtende Urteile über das Wirken Trotzkis und des Trotzkismus zu fällen. Im Mai 1914 schrieb Lenin in einer längeren Arbeit „Über die Verletzung der Einheit, bemäntelt durch Geschrei über die Einheit" gegen seinen „Kampfgenossen" Trotzki (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 201 usf.):
„Bei Trotzki dagegen gibt es keinerlei ideologisch-politische Bestimmtheit, denn das Patent auf die ,Fraktionslosigkeit' bedeutet lediglich ... das Patent auf die völlige Freiheit des Hinüberwechselns von einer Fraktion zur anderen und zurück. Das Fazit: 1. die historische Bedeutung der ideellen Differenzen zwischen den Richtungen und Fraktionen im Marxismus erklärt und versteht Trotzki nicht, obwohl diese Differenzen die zwanzigjährige Geschichte der Sozialdemokratie füllen und die Grundfragen der Gegenwart berühren, 2. die Hauptmerkmale des Fraktionswesens als einer Anerkennung der Einheit dem Namen nach und einer tatsächlichen Zersplitterung, hat Trotzki nicht verstanden, 3. unter der Fahne der ,Fraktionslosigkeit' vertritt Trotzki eine der besonders ideenlosen Fraktionen, denen der Boden in der Arbeiterbewegung Rußlands entzogen ist.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. In den Phrasen Trotzkis ist viel Glanz und Getue, aber Inhalt haben sie keinen..."
Wenn es bei euch „Prawda“-Anhängern (gemeint sind damit die Anhänger der Petersburger ,Prawda' der Bolschewiki. D.V.) kein Fraktionswesen gibt, d.h. keine Anerkennung der Einheit dem Namen nach bei tatsächlicher Zersplitterung, so gibt es bei euch etwas Schlimmeres - die „Spalterei". entgegnet man uns. So spricht nämlich Trotzki, der außerstande seine Gedanken zu durchdenken und seine Phrasen miteinander in Einklang zu bringen, bald gegen das Fraktionswesen lamentiert und bald schreit: ,Die Spaltung macht eine selbstmörderische Eroberung nach der anderen.' (Nr. 1, Seite 6.)
Der Sinn dieser Erklärung kann nur der eine sein: „die Anhänger der ,Prawda' machen eine Eroberung nach der anderen (das ist eine objektive, überprüfbare Tatsache, die durch das Studium der proletarischen Massenbewegung Rußlands, sagen wir in den Jahren 1912 und 1913, festgestellt werden kann), aber ich, Trotzki, verurteile die „Prawda“- Anhänger erstens als Spalter und zweitens als Selbstmordpolitiker."
Wollen wir das untersuchen. Vor allem danken wir Trotzki: vor kurzem (vom August 1912 bis zum Februar 1914) folgte er Dan, der bekanntlich drohte und aufforderte, das Antiliquidatorentum zu „erschlagen“. Jetzt droht Trotzki nicht mit dem ,Erschlagen' unserer Richtung (und unserer Partei — seien Sie nicht böse, Bürger Trotzki, das ist doch die Wahrheit!), sondern prophezeit nur, daß sie sich selbst umbringen werde! Das ist weit milder, nicht wahr? Das ist fast ,fraktionslos', nicht wahr? Aber Spaß beiseite (obwohl Spaß die einzige Methode ist, auf die unerträgliche Phrasendrescherei Trotzkis milde zu reagieren). Das mit dem ,Selbstmord' ist einfach eine Phrase, eine hohle Phrase, bloßer ,Trotzkismus' ... Zu der Behauptung Trotzkis, daß zahlreiche vorgeschrittene Arbeiter „im Zustand völliger Kopflosigkeit" Anhänger der Bolschewiki werden, schrieb Lenin in dem gleichen Artikel weiter:
„... Trotzki liebt es sehr, mit der gelehrten Miene eines Kenners, mit üppigen und klangvollen Phrasen die historischen Erscheinungen auf eine für Trotzki schmeichelhafte Art zu erklären. Wenn ,zahlreiche vorgeschrittene Arbeiter' zu ,eifrigen Agenten' einer politischen und Parteilinie werden, die mit der Linie Trotzkis nicht in Einklang steht, so löst Trotzki, ohne sich zu genieren, die Frage auf einen Hieb und schnurstracks: diese vorgeschrittenen Arbeiter befinden sich ,im Zustande völliger politischer Kopflosigkeit', er aber, Trotzki, offenbar ,im Zustande' einer politisch festen, klaren und richtigen Linie! ... (Genau so wie 1914 behauptet Trotzki 1936, — z.B. in „La revolution trahie" — daß die fortgeschrittenen Arbeiter in der Sowjetunion hinter ihm stehen, während Stalin sich auf die rückschrittlichen Elemente stütze, oder daß die fortgeschrittenen Arbeiter, wenn sie Stalin folgen, sich im Zustande der politischen Verwirrung befinden. D.V.) Und der nämliche Trotzki donnert, sich in die Brust werfend, gegen das Fraktionswesen, gegen das Zirkelwesen, dagegen, daß die Intellektuellen den Arbeitern ihren Willen aufzwingen wollen! ... Wirklich, wenn man derartige Dinge liest, fragt man sich unwillkürlich, ob solche Stimmen nicht aus einem Irrenhaus ertönen? ..."
In der Auseinandersetzung mit Trotzki kommt Lenin in dem Artikel „Über die Verletzung der Einheit" schließlich zu folgendem Schluß (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 216 usf.):
„Die alten Teilnehmer an der marxistischen Bewegung in Rußland kennen die Figur Trotzkis genau, und für sie lohnt es nicht, von ihr zu sprechen. Aber die junge Arbeitergeneration kennt sie nicht, und man muß von ihr sprechen, denn er ist eine Figur, die typisch ist für alle jene fünf Auslandsgrüppchen, die in Wirklichkeit ebenfalls zwischen dem Liquidatorentum und der Partei schwanken ... Trotzki war in den Jahren 1901—1903 ein rabiater „Iskra“- Anhänger und Rjasanow bezeichnete seine Rolle auf dem Parteitag von 1903 als die Rolle des ,leninschen Knüppels'. Ende 1903 war Trotzki rabiater Menschewik, d.h. er war von den „Iskra“- Anhängern zu den „Ökonomisten“ übergelaufen; er verkündete: ,zwischen der alten und der neuen ,Iskra' liegt ein Abgrund'. Im Jahre 1904/05 rückte er von den Menschewiki ab und nimmt eine schwankende Haltung ein, wobei er bald mit Martynow (dem ,Ökonomisten') zusammen arbeitet, bald die plump-linke (in anderen Übersetzungen heißt es „albern-linke" D.V.) „permanente Revolution” verkündet. 1906/07 nähert er sich den Bolschewiki und im Frühling 1907 erklärt er sich mit Rosa Luxemburg solidarisch. In der Periode des Zerfalls geht er, nach langen ,nichtfraktionellen' Schwankungen, wiederum nach rechts und im August 1912 geht er einen Block mit den Liquidatoren ein. Jetzt rückt er wiederum von ihnen ab, wobei er jedoch im Wesen der Sache ihre armseligen Gedanken wiederholt."
Die Stellung Lenins zu Trotzki war besonders im Kampfe um die revolutionäre Partei sehr eindeutig. Beim Kampf um die revolutionäre Partei, bei der Herausarbeitung der revolutionären Theorie und der erfolgreichen politischen Strategie stieß Lenin auf den Widerstand Trotzkis, begegnete ihm der Trotzkismus als erbitterter Feind. Im Kampfe gegen diesen Feind bildete sich die Bolschewistische Partei, die schon während des Krieges als selbständige Organisation auftrat. Jedoch erst nach der Revolution, auf dem VII. Kongreß im Jahre 1918, haben die Bolschewiki ihre frühere sozialdemokratische Parteibezeichnung geändert und sich nach dem Vorschlage Lenins „Kommunistische Partei" genannt. Während des Krieges hat Lenin sehr scharfe Polemiken gegen Trotzki geführt, und dabei bereits gegen Trotzkis These von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande Stellung genommen.

TROTZKI UND DIE AKTIONSEINHEIT DER PARTEI

Im Anschluß an die Darstellung des Gegensatzes zwischen Leninismus und Trotzkismus in der Organisationsfrage muß noch einiges über Trotzkis Stellung zur Parteidisziplin gesagt werden. Der heftige Kampf, den Trotzki in der Vergangenheit gegen den Leninismus führte, beweist, — wie Lenin in seinen Polemiken öfter sagte — daß Trotzki die leninsche Auffassung von der revolutionären Partei nicht begriffen oder sich nicht zu eigen gemacht hat. Unerbittlich vertrat Lenin den Standpunkt, daß die revolutionäre Bolschewistische Partei eine einheitliche ideologische Grundlage, eine — wie man später sagte — Generallinie brauche, die alle, die Parteimitglieder sein wollen, anerkennen müssen. Auf der Basis dieser gemeinsamen ideologischen Grundlage gibt es innerhalb der Partei Meinungsfreiheit und Meinungsaustausch, aber nach der Entscheidung der Parteiorganisation müssen deren Beschlüsse geschlossen durchgeführt werden, jede Verletzung der Aktionseinheit steht im Widerspruch mit dem leninschen Organisationsprinzip. Als 1917 nach dem Beschluß des Zentralkomitees über den Oktoberaufstand die in der Minderheit verbliebenen Sinowjew und Kamenew — die im Gegensatz zu Trotzki frühere Mitarbeiter Lenins waren — öffentlich gegen den Beschluß der Partei Stellung nahmen, hat Lenin diese Störung der Aktionseinheit in der schärfsten Weise gebrandmarkt. Er nannte die beiden rücksichtslos Streikbrecher und Verräter, die aus der Partei entfernt werden müssen. Um das geschlossene Auftreten der revolutionären Partei in allen Situationen zu sichern, darf es in ihr keine Fraktionen geben. Niemand hat so energisch wie Lenin die Bildung selbständiger Fraktionen in der Bolschewistischen Partei als einen Verrat an der Partei und an der Revolution gebrandmarkt. Kurz vor seinem Tode — auf dem X. Parteitag — hat Lenin Beschlüsse durchgesetzt, die jede Fraktionsbildung in der Partei unmöglich machen sollten und die später gegen die trotzkistische Fraktion wirksam wurden. Gegen diese Beschlüsse sind später die Trotzkisten Sturm gelaufen. Sie bezeichneten die überwiegende Mehrheit der Partei als eine Fraktion, deren „fraktionelle Diktatur" nur dadurch beseitigt werden könne, daß die Beschlüsse des X. Parteitages aufgehoben und fraktionelle Gruppierungen in der Partei zugelassen werden. Es ist also vollkommen unberechtigt, wenn die Trotzkisten sich nach Lenins Tode bei ihrem Kampf gegen die überwiegende Mehrheit der Partei gegen die Durchführung der Parteitagsbeschlüsse auf Lenin berufen.
Trotzki fehlte die Fähigkeit, sich in die leninsche Partei einzufügen, sich ihrer straffen Disziplin unterzuordnen. Aus dem Gegensatz zu dem leninistischen Organisationsprinzip erwuchs und verschärfte sich in der vorrevolutionären Zeit seine ideologisch-politische Gegnerschaft zum Bolschewismus. Aus der gleichen Ursache entstanden nach der Oktoberrevolution seine Konflikte mit der Bolschewistischen Partei. Trotzki stellte seine Person über die Partei. Schon bald nach dem ersten organisatorischen Konflikt auf dem II. Parteitag im Jahre 1903 hat Lenin die besondere Eigenschaft Trotzkis, Parteitagsbeschlüsse nicht zu achten und die Parteidisziplin zu brechen, angegriffen. In einem Artikel „Von schönen Worten wird man nicht satt" (Januar 1905) schrieb Lenin (Band VII, Seite 69/70):
„Welche Garantien kann es dagegen geben, daß Revolutionäre, die gemeinsam einen Parteitag abgehalten haben, nachher, beleidigt, weil der Parteitag sie nicht gewählt hat, zu schreien anfangen, daß der Parteitag ein reaktionärer Versuch gewesen sei, die „Iskra“- Auffassung durchzusetzen (Trotzki in einer Broschüre, die unter der Redaktion der ,neuen Iskra' herausgegeben wurde), daß die Beschlüsse des Parteitags kein Heiligtum, daß auf dem Parteitag keine Arbeiter aus der Masse gewesen seien? Welche Garantien kann es dagegen geben, daß ein gemeinsamer Beschluß über die Formen und Normen der Parteiorganisation, ein Beschluß, der sich Organisationsstatut der Partei nennt ... - nachträglich von charakterlosen Leuten, soweit er ihnen nicht in den Kram paßt, in Fetzen gerissen wird, unter dem Vorwand, daß solche Dinge, wie Statuten, bürokratisch und formalistisch seien?"
Nach dem II. Parteitag nannte Trotzki Mehrheitsbeschlüsse, die ihm nicht in den Kram paßten, reaktionär, und reaktionäre Beschlüsse erkannte er nicht als bindend an. Im Mai 1914 schrieb Lenin in einem Beitrag über die Einheit zu Trotzkis disziplinlosem Verhalten (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 217 usf.):
„Derartige Typen (Trotzki. D.V.) sind charakteristisch als Trümmer geschichtlicher Gestaltungen und Formationen von gestern, wo die proletarische Massenbewegung in Rußland noch schlief, und ein beliebiges Grüpplein genügend ,Platz hatte', um sich als Strömung, als Gruppe, als Fraktion, mit einem Wort als eine ,Macht' hinzustellen, die von Vereinigung mit anderen redet.
Es ist notwendig, daß die Junge Arbeitergeneration genau wisse, mit wem sie es zu tun hat, wenn mit unglaublichen Ansprüchen Leute auftreten, die weder mit den Parteibeschlüssen, die seit dem Jahre 1908 das Verhältnis zum Liquidatorentum bestimmt und festgesetzt haben, noch mit der Erfahrung der modernen Arbeiterbewegung Rußlands, welche die Einheit der Mehrheit in der Tat auf der Grundlage der restlosen Anerkennung der genannten Beschlüsse hergestellt hat, irgendwie rechnen wollen." Trotzki ist der von Lenin charakterisierten Eigenschaft, sich nicht nach den Beschlüssen der Partei zu richten, immer treu geblieben. Seine Verstöße gegen die Aktionseinheit und gegen die Parteidisziplin — deren strikte Innehaltung auch nach dem Tode Lenins das oberste Prinzip der Partei geblieben ist — waren die Ursache der scharfen Zusammenstöße zwischen Trotzki und der leninschen Organisation. In dem Bericht des Zentralkomitees, den Stalin im Januar 1924 auf der XIII. Parteikonferenz erstattete, referierte er über die Diskussion zur Frage der Demokratie in der Partei. In der ersten Periode habe die Opposition das Zentralkomitee heftig angegriffen, weil während der NEP-Periode dessen ganze Linie falsch gewesen sein soll. In der zweiten Periode schien eine gewisse Aussöhnung der Opposition mit der Linie des Zentralkomitees zustande zu kommen. Die Opposition legte Resolutionen vor, die sich nur wenig von der Resolution des Zentralkomitees unterschieden. Über die dritte Periode sagte Stalin in seinem Bericht:
„Diese Periode wurde eingeleitet durch den Vorstoß des Genossen Trotzki, durch sein Schreiben an die Rayons, ein Vorstoß, durch den im Nu die Versöhnungstendenzen liquidiert und alles auf den Kopf gestellt wurde. Mit diesem Vorstoß des Genossen Trotzki brach die Periode des schärfsten innerparteilichen Kampfes an, eines Kampfes, zu dem es nicht gekommen wäre, wenn Genosse Trotzki nicht, nachdem er für die Resolution des Politbüros gestimmt hatte, am nächsten Tage mit seinem Brief hervorgetreten wäre. Wie ihr wißt, folgte auf den ersten Vorstoß des Genossen Trotzki ein zweiter. Auf den zweiten ein dritter, und der Kampf spitzte sich im Zusammenhang damit noch mehr zu ....
Der erste Fehler des Genossen Trotzki bestand in der Tatsache des Hervortretens mit einem Artikel am Tage nach der Veröffentlichung der Resolution des Politbüros des ZK und der ZKK, mit einem Artikel, den man nicht anders einschätzen kann .... als neue Plattform, die der einstimmig angenommenen Resolution des ZK entgegengestellt wird. Bedenkt nur, Genossen: An dem und dem Tage kommt das Politbüro und das Präsidium der ZKK zusammen, die Frage der Resolution über die innerparteiliche Demokratie steht auf der Tagesordnung, die Resolution wird einstimmig angenommen und nach insgesamt einem Tage wird unabhängig vom ZK, ohne den Willen des ZK, über den Kopf des ZK hinweg an die Rayons ein Artikel des Genossen Trotzki gesandt — eine neue Plattform, die von neuem die Frage des Apparates und der Partei, der Kader und der Jugend, der Fraktionen und der Parteieinheit usw. aufrollt, eine Plattform, die von der ganzen Opposition aufgegriffen und der Resolution des ZK entgegengestellt wird .... Das heißt, daß Genosse Trotzki sich dem ganzen ZK offen und schroff entgegenstellt. Die Partei stand vor der Frage: Haben wir ein ZK als leitende Instanz oder haben wir keins mehr, gibt es ein ZK, dessen einstimmige Beschlüsse von den Mitgliedern dieses ZK respektiert werden, oder gibt es bloß einen Übermenschen, der über dem ZK steht, einen Übermenschen, für den keine Gesetze geschrieben sind, der sich erlauben kann, heute für die Resolution des ZK zu stimmen und morgen eine neue Plattform gegen diese Resolution zu veröffentlichen und aufzustellen? Genossen, man kann von den Arbeitern keine Unterwerfung unter die Parteidisziplin verlangen, wenn ein Mitglied des ZK offen, vor aller Augen das Zentralkomitee und seinen einstimmig gefaßten Beschluß ignoriert. Man kann nicht zwei Disziplinen, eine für die Arbeiter, die andere für große Herren einführen. Es kann nur eine Disziplin geben.
Der Fehler des Genossen Trotzki besteht eben darin, daß er sich dem ZK entgegenstellte und sich ein Übermensch dünkte, der über dem ZK, über seinen Gesetzen, über seinen Beschlüssen steht, womit er einem gewissen Teil der Partei Anlaß gegeben hat, in der Richtung einer Untergrabung des Vertrauens zu diesem ZK zu wirken ..." Im weiteren Verlauf der Parteidiskussion um den Disziplinbruch Trotzkis wurden in unzähligen Parteiorganisationen Resolutionen angenommen, die Trotzkis Verhalten verurteilten und die forderten, daß auf der im Januar 1925 stattfindenden Tagung des Plenums des Zentralkomitees das „Hervortreten des Genossen Trotzki" auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das ist dann auch geschehen. Trotzki jedoch ist seltsamerweise nicht zu dieser Tagung des Zentralkomitees gegangen, um sich persönlich zu verantworten. Er hat sich damit begnügt, in einem Briefe zu behaupten, daß er keine Sonderstellung in der Partei anstrebe und sich der Disziplin füge. Das Zentralkomitee beschloß:
1. Trotzki eine kategorische Verwarnung zu erteilen unter Hinweis darauf, daß die Einhaltung der Parteidisziplin nicht nur in Worten, sondern auch in Taten notwendig sei;
2. Trotzki seines Amtes zu entheben und seine weitere Arbeit im revolutionären Kriegsrat als unmöglich zu erklären;
3. die Entscheidung über die Frage der weiteren Arbeit Trotzkis im Zentralkomitee bis zum nächsten Parteitag zu vertagen, Trotzki aber mitzuteilen, daß, falls er den Versuch machen sollte, die Parteibeschlüsse zu verletzen oder nicht durchzuführen, das Zentralkomitee sich gezwungen sähe, ohne den Parteitag abzuwarten, sein weiteres Verbleiben im politischen Büro der Partei als unmöglich zu betrachten und Antrag auf Entfernung von der Arbeit im Zentralkomitee zu stellen.
Der Beschluß, der Trotzki zur Niederlegung seines Amtes zwang, ist vom Plenum des Zentralkomitees der Partei einstimmig — bei zwei Stimmenthaltungen — gefaßt worden. Der Initiator des Beschlusses war aber nicht Stalin, sondern Sinowjew mit Unterstützung Kamenews. Wer heute die aus den Jahren 1925/26 stammende Literatur über den Konflikt mit Trotzki nachliest, wird zu seinem Erstaunen feststellen, daß gerade in den Publikationen der Freunde Trotzkis Stalin kaum eine Rolle spielte. Nicht Stalin wurde darin als der Gegenspieler Trotzkis genannt, sondern Sinowjew, von dem in diesen Schriften behauptet wurde, daß er Trotzki erschießen lassen werde.
Man beließ Trotzki trotz seiner Disziplinbrüche zunächst weiter im politischen Büro der Partei. Im weiteren Verlauf des innerparteilichen Kampfes hat Trotzki jedoch in der Tat noch oft die Disziplin gebrochen, gegen Parteitagsbeschlüsse gehandelt, Fraktionen gebildet, alles das getan, was mit dem leninistischen Organisationsprinzip unvereinbar ist. An seiner Art, ihm nicht passende Mehrheitsbeschlüsse als reaktionär zu erklären und sich mit dieser Begründung das Recht zu ihrer Bekämpfung zu nehmen; an seiner Unfähigkeit, sich einzuordnen; an seinem Bestreben, eine Sonderstellung einzunehmen und über der Partei zu stehen, ist Trotzki nach seiner kurzen Gastrolle in der Bolschewistischen Partei gescheitert.

TROTZKISMUS UND BOLSCHEWISMUS IM KRIEGE

Auch während des imperialistischen Krieges standen Lenin und Trotzki in verschiedenen Lagern. In den Jahren 1914 bis 1917 wurden ebenso wie in anderen Ländern auch in Rußland viele Sozialdemokraten (z. B. Plechanow) Patrioten, die für den Sieg ihres Vaterlandes wirkten. Trotzki war kein offener Sozialpatriot, aber seine Haltung unterstützte die Opportunisten und Sozialpatrioten. Deshalb stand Lenin auch im Kriege in scharfer Kampfstellung gegen Trotzki. Lenin gab im Kriege die in der Schweiz erscheinende bolschewistische Zeitung „Sozialdemokrat" heraus, die eine konsequente internationalistische, revolutionäre Politik verfocht; Trotzki war zu gleicher Zeit mit dem Menschewiken Martow und anderen zusammen in der Redaktion des in Paris erscheinenden „Nasche Slowo", in dem verschiedene Strömungen zu Worte kamen.
Die Bolschewiki unter Lenins Führung haben von Kriegsbeginn an gegen den imperialistischen Krieg und gegen die zaristisch-kapitalistischen Machthaber ihres Landes Stellung genommen und die Umwandlung des Krieges in den die zaristische Herrschaft stürzenden Bürgerkrieg propagiert. Die Dumafraktion der Bolschewiki wurde wegen dieser konsequenten Haltung gleich zu Beginn des Krieges verhaftet und eingekerkert, während die menschewistische Fraktion zunächst unbehelligt blieb. In dem Manifest, das das Zentralkomitee der Partei im September 1914 über den imperialistischen Krieg veröffentlichte, wird die Stellung der Bolschewiki formuliert:
„Der Sozialdemokratie fällt vor allem die Pflicht zu, diese wahre Bedeutung des Krieges aufzudecken und schonungslos die Lügen, die Sophismen und die ,patriotischen' Phrasen zu entlarven, die von den herrschenden Klassen, den Gutsbesitzern und der Bourgeoisie zugunsten des Krieges verbreitet werden... Man kann den Aufgaben des Sozialismus nicht gerecht werden, man kann den wirklichen internationalen Zusammenschluß der Arbeiter nicht verwirklichen, ohne entschlossen mit dem Opportunismus zu brechen, ohne den Massen die Unvermeidlichkeit seines Fiaskos klar zu machen ...
Die Oberleitung des jetzigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist die einzige richtige proletarische Lösung, die von den Erfahrungen der Kommune diktiert wird, die in der Basler Resolution (1912) vorgezeichnet ist, und die sich aus den ganzen Verhältnissen des imperialistischen Krieges zwischen den hochentwickelten bürgerlichen Ländern ergibt. So groß auch in diesem oder jenem Moment die Schwierigkeiten einer solchen Überleitung erscheinen mögen, die Sozialisten werden niemals auf die systematische, beharrliche, unentwegte Vorbereitungsarbeit in dieser Richtung verzichten, sobald der Krieg zur vollendeten Tatsache geworden ist ...“
In diesen Sätzen des Manifestes werden die Fragen angeschnitten, in denen sich im Kriege der Bolschewismus vom Trotzkismus unterschied. Politisch in der Frage der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, taktisch und organisatorisch in der Frage der eindeutigen Scheidung von allen Strömungen des Opportunismus.
Den ideologisch-politischen Gegensatz, der zwischen Leninismus und Trotzkismus in der Kriegsfrage bestand, hat Lenin sehr klar in dem im Juli 1915 im „Sozialdemokrat" erschienenen Aufsatz „Über die Niederlage der eigenen Regierung im imperialistischen Kriege" dargestellt („Gegen den Strom", Seite 105 usf.):
„In einem reaktionären Kriege kann die revolutionäre Klasse nicht umhin, die Niederlage ihrer eigenen Regierung herbeizuwünschen.
Das ist ein Axiom. Und es wird nur von den bewußten Anhängern oder hilflosen Helfershelfern der Sozialchauvinisten bestritten. Zu den ersteren gehört z.B. Semkowski von der Organisationskommission. Zu den letzteren Trotzki und Bukwojed in Rußland, oder Kautsky in Deutschland. Der Wunsch nach der Niederlage Rußlands, schreibt Trotzki, ist ,ein durch nichts hervorgerufenes und durch nichts gerechtfertigtes Zugeständnis an die politische Methodologie des Sozialpatriotismus, der an Stelle des revolutionären Kampfes gegen den Krieg und die von ihm erzeugten Verhältnisse eine unter den gegebenen Verhältnissen höchst willkürliche Orientierung in der Richtung des kleinsten Übels setzt" (Nr. 105 von „Nasche Slowo").
Das ist ein Muster der aufgeblasenen Phrasen, mit denen Trotzki den Opportunismus stets rechtfertigte. ,Der revolutionäre Kampf gegen den Krieg' ist eine leere und inhaltlose Exklamation, auf die sich die Helfer der II. Internationale so meisterhaft verstehen, wenn man darunter nicht die revolutionären Aktionen gegen die eigene Regierung und während des Krieges versteht. Es genügt, ein Weilchen nachzudenken, um das einzusehen. Und revolutionäre Aktionen während des Krieges gegen die eigene Regierung bedeuten sicherlich und unzweifelhaft nicht nur den Wunsch nach ihrer Niederlage, sondern auch eine tatsächliche Förderung einer solchen Niederlage (für den ,scharfsinnigen' Leser: das bedeutet keineswegs, daß man ,Brücken sprengen', mißlungene militärische Streiks inszenieren und überhaupt der Regierung helfen soll, den Revolutionären eine Niederlage beizubringen).
Trotzki beschränkt sich auf Phrasen, aber verheddert sich dabei furchtbar. Er glaubt, eine Niederlage Rußlands wünschen, heißt, einen Sieg Deutschlands wünschen (Bukwojed und Semkowski drücken diesen ,Gedanken' oder richtiger: die Gedankenlosigkeit, die sie mit Trotzki gemeinsam haben, direkter aus). Und darin erblickt Trotzki die ,Methodologie des Sozialpatriotismus'! Um Leuten entgegenzukommen, die nicht denken können, hat die Berner Resolution erklärt: ,In allen imperialistischen Ländern muß das Proletariat eine Niederlage ihrer Regierung wünschen'. Bukwojed und Trotzki haben es vorgezogen, diese Wahrheit zu übergehen, und Semkowski (ein Opportunist, der der Arbeiterklasse am meisten dient durch eine offenherzig naive Wiederholung der bürgerlichen Weisheit), Semkowski sagte ,lieblich': ,Das ist Unsinn, siegen kann entweder Deutschland oder Rußland.“
Nehmen wir z.B. die Kommune. Deutschland hat Frankreich besiegt, und Bismarck besiegte mit Thiers die Arbeiter! Wenn Bukwojed und Trotzki nachgedacht hätten, so hätten sie gesehen, daß sie auf dem Standpunkt des Krieges der Regierungen und der Bourgeoisie stehen, d.h. daß sie vor der ,politischen Methodologie des Sozialpatriotismus' kriechen, — um mit Trotzkis gewählter Sprache zu sprechen: Die Revolution während des Krieges ist Bürgerkrieg, und die Überleitung des Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg wird einerseits durch die militärischen Mißerfolge (,die Niederlage') der Regierungen erleichtert; andererseits ist es unmöglich, in der Tat eine solche Überleitung anzustreben, ohne damit die Niederlage zu fördern.
Die Chauvinisten (mit der Organisationskommission und der Fraktion Tscheidse) wollen deshalb von der ,Losung' der Niederlage nichts wissen, weil diese Losung allein einen konsequenten Appell zu revolutionären Aktionen gegen die eigene Regierung während des Krieges bedeutet. Ohne solche Aktionen sind Millionen der allerrevolutionärsten Phrasen über den ,Krieg dem Kriege' usw. keinen Heller wert...
Die Gegner der Losung der Niederlage fürchten sich einfach vor sich selber und wollen nicht die offensichtliche Tatsache des unzweifelhaften Zusammenhanges zwischen der revolutionären Agitation gegen die Regierung mit dem Herbeirufen der Niederlage einsehen ... Das Übereinkommen über revolutionäre Aktionen, selbst in einem Lande, ganz zu schweigen von einer Reihe von Ländern, ist nur zu verwirklichen durch die Kraft des Beispiels ernsthafter revolutionärer Aktionen, ihrer Inangriffnahme und ihrer Fortentwicklung. Und eine solche Inangriffnahme ist wiederum unmöglich ohne den Wunsch der Niederlage und Förderung der Niederlage. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg kann nicht ,gemacht' werden, wie man nicht Revolutionen ,machen' kann, — sie erwächst aus einer ganzen Reihe vielgestaltiger Erscheinungen, Seiten, Züge, Eigentümlichkeiten und Folgen des imperialistischen Krieges. Und dieses Erwachsen ist unmöglich ohne eine Reihe militärischer Mißerfolge und Niederlagen derjenigen Regierungen, denen ihre eigenen unterdrückten Klassen Schläge versetzen.
Auf den Geist der Niederlage verzichten, heißt, den revolutionären Geist in eine leere Phrase oder bloße Heuchelei ausarten zu lassen.
Was wird uns an Stelle der ,Losung' der Niederlage vorgeschlagen? Eine Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' (Semkowski in Nr. 2 der „Iswestja". Ebenso die ganze Organisationskommission in Nr. 1). Aber das ist ja nichts anderes als eine Paraphrase der Losung der Vaterlandsverteidigung! Das ist ja eine Übertragung der Frage auf die Ebene des Krieges zwischen den Regierungen (die nach dem Inhalt der Losung in der alten Lage verbleiben, ,ihre Positionen beibehalten' sollen), aber nicht des Kampfes der unterdrückten Klassen gegen ihre Regierungen! Das ist eine Rechtfertigung des Chauvinismus aller imperialistischen Nationen, deren Bourgeoisien stets bereit sind, zu behaupten, — und es auch dem Volke sagen — daß sie ,bloß' gegen die Niederlage kämpfen... Der Sinn unserer Abstimmung vom 4. August ist: ,Nicht für den Krieg, sondern gegen die Niederlage', schreibt der Führer der deutschen Opportunisten, Eduard David, in seinem Buch. Die russischen Anhänger der ,Organisationskommission' zusammen mit Bukwojed und Trotzki stellen sich durchaus auf den Boden Davids, indem sie die Losung verfechten: Weder Sieg noch Niederlage! — Bei näherer Betrachtung bedeutet diese Losung den Burgfrieden und den Verzicht auf den Klassenkampf der unterdrückten Klasse in allen kriegführenden Ländern, denn der Klassenkampf ist unmöglich ohne Verletzung der eigenen Bourgeoisie und der eigenen Regierung, und eine Verletzung der eigenen Bourgeoisie im Kriege ist Hochverrat, ist Förderung der Niederlage des eigenen Landes. Wer die Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' anerkennt, der kann nur heuchlerisch für den Klassenkampf, den ,Bruch des Burgfriedens' eintreten, der verzichtet in der Tat auf eine selbständige proletarische Politik und unterwirft das Proletariat aller kriegführender Länder einer durchaus bürgerlichen Aufgabe, nämlich: die betreffenden imperialistischen Regierungen vor Niederlagen zu bewahren. Die einzige Politik eines wirklichen, nicht phrasenhaften Bruches des ,Burgfriedens' und der Anerkennung des Klassenkampfes ist die Politik der Ausnutzung der Schwierigkeiten der Regierung und der Bourgeoisie durch das Proletariat zum Zwecke deren Sturzes. Und das kann nicht erreicht werden, das kann nicht angestrebt werden, wenn man die Niederlage der eigenen Regierung nicht wünscht und diese Niederlage nicht fördert...
Wer für die Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' eintritt, der ist, bewußt oder unbewußt, ein Chauvinist, der ist bestenfalls ein versöhnlicher Kleinbürger, aber doch ein Feind der proletarischen Politik, ein Anhänger der jetzigen Regierungen und der jetzigen herrschenden Klassen...
Die Anhänger der Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' stehen faktisch auf Seiten der Bourgeoisie und der Opportunisten, ,glauben nicht' an die Möglichkeit internationaler revolutionärer Aktionen der Arbeiterklasse gegen ihre Regierungen und wünschen solche nicht: eine unzweifelhaft schwierige Aufgabe, aber die einzige sozialistische Aufgabe, die des Proletariats würdig ist..."
Lenins Artikel über die Niederlage der eigenen imperialistischen Regierung wurde ausführlicher zitiert, weil in ihm sehr klar der Standpunkt Lenins im Kriege und auch der Gegensatz zu Trotzki zum Ausdruck kommt. Den deutschen Sozialisten wird — nach dem Siege des Hitler-Faschismus — die 1914 von Lenin vorgeschlagene Losung, im Kriege der herrschenden Diktatur des eigenen Landes Schläge zu versetzen und den Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, als ganz selbstverständlich erscheinen. Jedoch als Lenin diese Losung mitten im Kriege propagierte, war ihre Richtigkeit noch nicht so klar erkennbar; sie war sehr umstritten und sie wurde von den meisten Sozialisten, auch von Trotzki, heftig bekämpft. Trotzki lehnte die leninistische Losung der Niederlage des eigenen Vaterlandes ab und er war gegen die von Lenin geforderte scharfe Abgrenzung von den Opportunisten, die während des Krieges direkt oder indirekt ihr zaristisches Vaterland unterstützten. Trotzki hat seinen Standpunkt in der Ende Oktober 1914 erschienenen Broschüre „Der Krieg und die Internationale" niedergelegt. Auf Seite 7 dieser Schrift sagt Trotzki, daß er die Befreiung Rußlands nicht durch den Sieg Deutschlands, das heißt nicht durch die Niederlage der zaristischen Regierung im Kriege erlangen wolle. Darum fordert er (auf Seite 83/84 der gleichen Schrift) einen sofortigen Frieden ohne Sieg und Niederlage. Seine Losung ist der sofortige Abbruch des Krieges und ein Frieden, in dem es „keine Kontributionen" gibt, „das Recht Jeder Nation auf Selbstbestimmung! Die Vereinigten Staaten Europas — ohne Monarchien, ohne ständige Heere, ohne regierende Feudalkasten, ohne Geheimdiplomatien!"
Lenin nannte die trotzkistische Losung, gegen den imperialistischen Krieg aufzutreten, ohne die Niederlage der eigenen Regierung zu fordern, eine leere Phrase. Seiner Meinung nach kann der revolutionäre Kampf gegen die herrschenden Klassen eines Landes im imperialistischen Kriege überhaupt nur dann geführt werden, wenn er auf die Untergrabung der militärischen Kampfkraft und die Herbeiführung der Niederlage abzielt. Auch in der Stellung zum Kriege offenbarte sich bereits der tiefe Gegensatz zwischen Leninismus und Trotzkismus in der Frage der Theorie des Sozialismus in einem Lande. Schon bei der Begründung seiner Auffassung, daß die Befreiung Rußlands nicht durch den Sieg Deutschlands herbeigeführt werden dürfe, ging Trotzki davon aus, daß „das Schicksal der russischen Revolution untrennbar mit dem Schicksal des europäischen Sozialismus verbunden ist." („Der Krieg und die Internationale", Seite 7). Wenn der Sturz des Zarismus aus der Niederlage Rußlands erwächst, so sei das kein Gewinn, denn es würde die Befreiung Rußlands mit der sicheren Zerstörung der Freiheit Belgiens und Frankreichs erkauft werden, „und — was noch wichtiger ist — die imperialistische Vergiftung in das deutsche und österreichische Proletariat tragen." (Trotzki ebenda.) Nach Trotzki sollte also — um Gefahren für die weitere Entwicklung zu verhindern — der Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft in allen Ländern gleichzeitig erfolgen. Da aber die Niederlage im Kriege — die in dem besiegten Lande Voraussetzungen für den Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft schaffen würde — nicht in allen am Kriege beteiligten Ländern erfolgen kann, darf kein Land besiegt werden, und der Krieg muß ohne Sieg und Niederlage enden. Diese trotzkistische Konzeption führte aber in der Konsequenz zu dem „Recht" der sozialistischen Parteien aller Länder, im Kriege ihre herrschenden Klassen zu unterstützen, um die Niederlage zu vermeiden. Trotzki sagte, wenn nicht alle gleichzeitig die Niederlage ihrer Machthaber und deren Sturz herbeiführen können, dürfen wir auch in unserem Lande nicht für die Niederlage wirken; Lenin dagegen sagte: unbeschadet dessen, ob in allen Ländern gleichzeitig der Sturz der herrschenden Klassen herbeigeführt werden kann, müssen wir (weil es die gleichzeitige Verpflichtung aller Sozialisten in ihren Ländern ist) für die Niederlage unserer Regierung arbeiten und durch unsere erfolgreiche revolutionäre Aktion die Proletarier der anderen Länder zur Nachahmung antreiben. Trotzki sagte, wir können nur voranmarschieren im Chor mit den anderen; Lenin dagegen sagte, wir müssen marschieren, auch wenn die anderen nicht gleich mitkommen; diejenigen, die am ehesten vorankommen, müssen die noch Stillestehenden mitreißen und nachziehen durch das Beispiel.
Nicht weniger scharf als der politische Gegensatz in der Kriegsfrage war in den Jahren von 1914 bis 1917 auch die organisatorische Meinungsverschiedenheit zwischen Lenin und Trotzki. In dem Manifest des Zentralkomitees zur Kriegsfrage wurde gesagt, daß der internationale Zusammenschluß der Arbeiter nur verwirklicht werden kann, wenn entschlossen mit dem Opportunismus gebrochen und dessen unvermeidliches Fiasko den Massen klar gemacht wird. Die Bolschewiki führten den schärfsten Kampf gegen alle Sozialisten, die während des Krieges Patrioten wurden und gegen alle schwankenden Elemente, die direkt oder indirekt die sozialchauvinistische Strömung unterstützten. Trotzki dagegen setzte seine alte organisatorische Linie des „Augustblock" fort. Er arbeitete auch im Kriege mit der auf der Augustkonferenz 1912 gewählten Organisationskommission, die bis zu der 1917 erfolgten Wahl eines Zentralkomitees der Menschewistischen Partei die dem bolschewistischen Zentralkomitee der Partei entgegengestellte Organisationsleitung der Menschewiki war. Trotzki wollte nach wie vor „einigen": Im Kriege die Bolschewiki und die internationalen Strömungen im Menschewismus, die zusammen mit den Liquidatoren und Sozialchauvinisten in der Organisationskommission saßen. Die Bolschewiki warfen Trotzki vor, er marschiere immer mit der Organisationskommission; er habe innerhalb der Fraktion der Liquidatoren seine eigene Unterfraktion, die „Fraktion der Nichtfraktionellen", die im Kriege „zwischen Internationalisten und Sozialchauvinisten balanciert, wie sie früher zwischen den Bolschewiki und den Liquidatoren balanciert hat". Der Trotzkismus bemühte sich auch im Kriege erfolglos, „die berühmte mittlere Linie durchzuführen"; er wurde in jener Zeit als ein Irrlicht bezeichnet, das in der russischen Arbeiterbewegung umhergeistert. Der „versöhnlerische" trotzkistische Standpunkt kam in fast allen Artikeln Trotzkis in „Nasche Slowo" zum Ausdruck. In Nr. 42 schrieb Trotzki:
„Wenn wir mit dem Opportunismus kämpfen, betrachten wir ihn als organischen Fehler der Arbeiterklasse selbst und nicht als etwas außerhalb stehendes ... Es ist nicht schwer, etwas in Stücke zu schlagen, aber man muß zuerst wissen, was abgeschlagen werden soll, damit nicht Teile des Organismus absterben."
Für Trotzki waren die Opportunisten ein Teil der Arbeiterklasse, den man nicht abschneiden dürfe, mit dem man irgendwie doch zusammenarbeiten müsse; Lenin dagegen betrachtete den unerbittlichen Kampf gegen den Opportunismus und dessen Überwindung als eine Voraussetzung für eine schlagfertige revolutionäre Partei. In einem Artikel „Über die Sachlage in der russischen Sozialdemokratie" schreibt Lenin am 26. Juli 1915 („Gegen den Strom", Seite 111 usf.): „Vor Publikum sind drei Teile des „Nasche Slowo" getreten, die erfolglos sieben oder acht Monate sich vereinigten: 1. zwei Unke Redaktionsmitglieder, die aufrichtig mit dem Internationalismus sympathisierten und zu dem ,Sozialdemokrat' tendieren. 2. Martow und die Leute von der OK (reichlich die Hälfte). 3. Trotzki, der wie immer prinzipiell in nichts mit den Sozialchauvinisten übereinstimmt, in der Praxis aber in allem mit ihnen übereinstimmt (nebenbei bemerkt, dank ,der glücklichen Vermittlung' — heißt das nicht so in der Sprache der Diplomaten? — der Fraktion Tscheidse) ...
Es ist nebenbei interessant, daß diese offenherzigen Sozialchauvinisten durchaus zufrieden sind, sowohl mit Tscheidse wie mit seiner ganzen Fraktion. Mit dieser Fraktion zufrieden sind auch die OK, Trotzki wie auch Plechanow, Alexinski und Konsorten — eine ganz natürliche Sache, denn die Fraktion Tscheidse hat durch Jahre hindurch ihre Fähigkeit bewiesen, die Opportunisten zu decken und ihnen zu dienen." Lenin verweist in dieser Charakterisierung auf das enge Verhältnis Trotzkis mit Tscheidse, über den das Band zu den Sozialchauvinisten läuft. Am 19. Februar 1916 schreibt Lenin in dem Artikel „Haben die OK und die Fraktion Tscheidse eine eigene Richtung?" („Gegen den Strom", Seite 320):
„Martow mag anstellen, was er will. Trotzki mag gegen unsere ,Fraktionalität' zetern und mit diesem Zetern die Tatsache bemänteln (das alte Rezept des Turgenewschen ... Phraseurs!), daß der und der aus der Fraktion Tscheidse mit Trotzki ,einverstanden' sei und auf die Linksorientierung, Internationalismus schwören. Tatsachen bleiben Tatsachen."
Lenin rechnete Trotzki im Kriege (wie er das in einem Brief an die Kollontai ausdrückte) zu den „schädlichsten ,Kautskianern' in dem Sinne, daß sie alle in verschiedenen Formen für die Einheit mit den Opportunisten sind, ... den Opportunismus beschönigen, daß sie alle ... den revolutionären Marxismus durch den Eklektizismus ersetzen ..." Und darum sagte Lenin im Oktober 1916 in dem Artikel „Ergebnisse der Diskussionen über das Selbstbestimmungsrecht" („Gegen den Strom", Seite 415) gewissermaßen zusammenfassend über die Hakung Trotzkis im Kriege:
„Was auch die subjektiven ,guten' Absichten Trotzkis und Martows sein mögen, objektiv unterstützen sie durch ihre Nachgiebigkeit den russischen Sozialimperialismus." Weil Trotzki objektiv den Sozialimperialismus unterstützte, hat Lenin auch im Kriege nicht weniger scharf gegen den Trotzkismus Stellung genommen als in den Kämpfen gegen den Augustblock und um die Bolschewistische Partei.

DIE PERMANENTE REVOLUTION

Der wesentlichste Bestandteil des Trotzkismus ist die Theorie der permanenten Revolution. Sie entstand 1905, begründet von Trotzki und Parvus, den Trotzki in seinem Buch die „Oktoberrevolution" folgendermaßen kennzeichnet: „Während des Krieges Haupttheoretiker des deutschen Sozialchauvinismus und Kriegslieferant." Als solcher hat Parvus von 1914 an zusammen mit dem später zu Stinnes übergegangenen Paul Lensch die Notwendigkeit des deutschen Sieges propagiert.
Trotzki und Parvus behaupteten, die Revolution von 1905 habe eine Ära von Revolutionen eingeleitet, die erst nach dem endgültigen Siege des Weltproletariats abgeschlossen werde. Die nicht erfolgreich ausgegangene Revolution von 1905 sei nicht beendet, sondern nur abgebrochen worden. Die russische Revolution sei nur ein Teil der Weltrevolution, ihr vollständiger Sieg werde darum nur im Zusammenhang mit dem Siege der internationalen Revolution erreicht werden. Im Vorwort zu dem Buche „1905" (im Verlag „Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten", Berlin, Seite 5 usf.) formulierte Trotzki seine Gedanken über die permanente Revolution folgendermaßen:
„Gerade in der Zeitspanne zwischen dem 22. Januar und dem Oktoberstreik 1905 haben sich beim Verfasser die Ansichten über den Charakter der revolutionären Entwicklung Rußlands gebildet, die die Bezeichnung der Theorie der ,permanenten Revolution' erhielten. Diese gelehrte Bezeichnung drückte den Gedanken aus, daß die russische Revolution, vor der unmittelbar bürgerliche Ziele stehen, in keinem Fall bei ihnen stehen bleiben kann. Die Revolution kann ihre nächsten bürgerlichen Aufgaben nicht anders lösen, als durch die Besitzergreifung der Macht durch das Proletariat. Hat es aber die Macht in seine Hand genommen, so kann es sich nicht auf den bürgerlichen Rahmen der Revolution beschränken. Im Gegenteil, gerade zur Sicherung ihres Sieges muß die proletarische Avantgarde schon in der ersten Zeit ihrer Herrschaft die tiefsten Eingriffe nicht nur in das feudale, sondern auch in das bürgerliche Eigentum machen. Hierbei wird das Proletariat zusammenstoßen nicht nur mit allen Gruppierungen der Bourgeoisie, die es am Anfang seines revolutionären Kampfes unterstützt hatte, sondern auch mit den breiten Massen des Bauerntums, mit dessen Hilfe es zur Macht gekommen war. Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem rückständigen Lande, mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können nur im internationalen Maßstabe gelöst werden, in der Arena der proletarischen Weltrevolution." Nach dieser Darstellung hat Trotzkis Theorie der permanenten Revolution zwei Seiten. Die eine ist die Forderung, im direkten Kampf des Proletariats die sozialistische Revolution durchzuführen. Die zweite jedoch ist die Behauptung, daß angesichts der zahlenmäßigen Schwäche der Arbeiterklasse und der angeblich zwangsläufigen Feindschaft der Bauernmassen gegen das Proletariat die sozialistische Revolution in Rußland nur zusammen mit der Weltrevolution siegreich sein kann. Aus dieser Theorie der permanenten Revolution hat Trotzki zwangsläufig seine Theorie von der Verneinung des sozialistischen Aufbaus in einem Lande entwickelt. Die positive Seite der permanenten Revolution stammt von Karl Marx. Trotzki hat aber dessen richtige Idee zu einer falschen (trotzkistischen) Theorie umgeformt. In einer 1850 gehaltenen Ansprache an den „Bund der Kommunisten" entwickelte Marx erstmalig die Idee der ununterbrochenen Revolution:
„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschluß bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, solange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind." Der Grundgedanke der marxschen permanenten Revolution ist demnach: die absolutistische Herrschaft wird durch die bürgerliche Revolution gestürzt, das Proletariat darf sich nach dem Siege der bürgerlichen Revolution nicht mit dem erreichten Ergebnis zufrieden geben (wie z.B. nach der Umwälzung in Deutschland 1918), sondern es muß weiter drängen, „bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind". Die revolutionäre Entwicklung muß ununterbrochen vorwärtsgetrieben werden bis zum Siege der proletarischen Revolution. Aber Karl Marx hat nicht den von Trotzki hinzugefügten Gedanken entwickelt — daß die ununterbrochene Fortentwicklung von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution im nationalen Rahmen eines Landes nicht möglich sei und nur durch die gleichzeitige proletarische Revolution in allen Ländern erfolgreich sein könne. Im Gegenteil. Im „Kommunistischen Manifest" erklären Marx und Engels:
„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler, Das Proletariat eines Jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden .... Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“ Das ist ganz eindeutig: das Proletariat muß den Kampf um die Fortentwicklung von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution zunächst im nationalen Rahmen führen, unbeschadet darum, ob diese Revolution gleichzeitig in allen Ländern durchgeführt werden kann. Lenin und die Bolschewiki haben den marxschen Gedanken der permanenten Revolution stets konsequent vertreten, sie haben dabei den Sieg der proletarischen Revolution in einem Lande als stärksten Antrieb für die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern betrachtet. Darum auch hat Lenin die „albern-linke permanente Revolution" Trotzkis (so nannte sie der Führer der Bolschewiki), die im schärfsten Gegensatz zu der revolutionären Theorie der Bolschewiki stand, zu allen Zeiten heftig bekämpft. Erstens, weil sie entgegen der marxschen Lehre den Sieg der sozialistischen Revolution in Rußland abhängig machte von dem Siege der proletarischen Revolution in allen Ländern; zweitens weil sie in dem Agrarland Rußland — in dem Sieg und Festigung der proletarischen Revolution von dem Bündnis der Arbeiter- mit der Bauernklasse abhängig ist — die Möglichkeit dieses Bündnisses verneinte und behauptete, daß das Proletariat „feindlich zusammenstoßen" müsse „mit den breiten Massen des Bauerntums". Und drittens, weil Trotzki im Widerspruch zu Marx permanenter Revolution in Rußland direkt von der zaristischen Selbstherrschaft zur proletarischen Diktatur springen wollte. Marx hat in seiner Ansprache an den „Bund der Kommunisten" keineswegs vorgeschlagen, mit der proletarischen Machtergreifung zu beginnen; der Sieg des Proletariats sollte der Schlußstein der ununterbrochen fortgeführten bürgerlichen Revolution sein. Der Trotzkismus dagegen vertrat den Standpunkt, daß in Rußland keine bürgerliche Demokratie vorhanden sei, daß die Bauern keine revolutionäre Rolle spielen können, und daß darum der Sturz des Zarismus nicht durch eine bürgerliche, sondern unmittelbar durch die proletarische Revolution herbeigeführt werden müsse. Da aber das russische Proletariat keine Bundesgenossen im eigenen Lande habe, sei es zu schwach, die proletarische Revolution — ohne die Hilfe der gleichzeitigen proletarischen Revolution in den anderen Ländern — siegreich durchzuführen.
Im Gegensatz zum Trotzkismus sah Lenin in Rußland revolutionäre Kräfte auch im bürgerlichen und bäuerlichen Lager. Lenin bekämpfte Trotzkis radikaler scheinende These vom Überspringen der bürgerlichen Revolution, weil sie der realen Situation nicht entsprach. Lenin unterstützte die demokratische Revolution, weil er durch sie — in der Arbeiter, Bauern und demokratische Bürger zusammen kämpften — am schnellsten und sichersten den Sturz des Zarismus erwartete. Aber im Kampf um die demokratische Revolution bereitete er zielbewußt die ununterbrochene Fortentwicklung zur sozialistischen Revolution vor, deren Sieg im nationalen Rahmen Rußlands er durchaus für möglich hielt. Vor allem darum, weil er fest davon überzeugt war, daß die Arbeiterklasse mit der revolutionären Bauernschaft ein festes Bündnis schließen könne, und daß die Bauernschaft unter Führung des Proletariats marschieren werde. Über Trotzkis permanente Revolution und die verschiedene Beurteilung der Triebkräfte der russischen Revolution durch Lenin und Trotzki schrieb Martow, der Führer der Menschewiki, in seiner „Geschichte der russischen Sozialdemokratie" (Seite 11 6/117):
„Für Trotzki gab es in Rußland keine sozialen Kräfte, die stark genug waren, die Ereignisse anders als in der radikalsten Weise zu lösen: die Bauernschaft sei zersplittert, unfähig zu einer selbständigen Organisation und spiele nur die Rolle des zerstörenden Faktors; die fortschrittlichen Elemente der städtischen Bourgeoisie seien gezwungen, entweder dem Proletariat zu folgen, oder den bürgerlichen Liberalismus zu unterstützen, der seinem Wesen nach konterrevolutionär sei .... Unter diesen Umständen müsse ein entscheidender Sieg des Volkes über das alte Regime zum Übergang der politischen Macht in die Hände des Proletariats führen. ..."
Im Gegensatz zu Parvus und Trotzki betrachten Lenin und andere bolschewistische Autoren diese Bewegung der nichtproletarischen Massen nicht nur als einen elementar zerstörenden Faktor, der von dem klassenbewußten Proletariat einfach für seine Zwecke ausgenutzt werden konnte. Vielmehr sahen Lenin und seine Gesinnungsgenossen, unter weit richtigerer Einschätzung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Jahre 1905, das Erscheinen einer ihrem Wesen nach kleinbürgerlichen, ungeheuer starken demokratischen Macht auf der politischen Bühne voraus, die die revolutionären, nicht proletarischen Elemente der Stadt mit den bäuerlichen Massen vereinigen und sich infolgedessen nicht, wie Parvus und Trotzki annahmen, in ein einfaches Anhängsel der proletarischen Bewegung verwandeln, sondern ein selbständiger politischer Faktor werden würde, der der ganzen gesellschaftlichen Umwelt seinen Stempel aufprägen mußte.
Dieses Schema unterschied sich von dem Schema Parvus-Trotzkis durch einen weit größeren Realismus und ein tieferes Eindringen in das Wesen des historischen Prozesses. Es berücksichtigte jene schnelle Herausbildung der Bauernbewegung und ihre Durchsetzung mit demokratisch-intellektuellen Kräften, die in den Jahren 1905/1907 vor sich ging und die ihren Ausdruck fand in der schnellen Entwicklung des Bauernbundes ....."
Martow weist in dem vorstehenden Zitat auf einige wesentliche Unterscheidungen zwischen Leninismus und Trotzkismus hin, ohne dabei jedoch die Auffassungen Lenins richtig darzustellen. Die reale Einschätzung der geschichtlichen Situation und der revolutionären Kräfte bestärkte nach 1905 die Bolschewiki in der Auffassung, daß die nächste Revolution eine bürgerlich-demokratische sein werde, die die Leibeigenschaft völlig liquidiert, die Bahn für die mächtige Entwicklung der unter dem Zarismus gefesselten kapitalistischen Verhältnisse frei macht und den günstigsten Kampfboden für die sozialistische Revolution schafft. Nach Lenins revolutionärer Theorie trat das Proletariat jedoch schon in der demokratischen Revolution nicht nur als selbständige Organisation auf, sondern als die entscheidende Antriebskraft. Das Proletariat marschierte darum nicht als Anhängsel der bürgerlichen revolutionären Bewegung, es war die leitende Kraft der Revolution. Sein Einfluß wurde um so größer, je fester sein Bündnis mit der revolutionären Bauernschaft war, je stärker die Bauern das Proletariat in der Fortentwicklung der demokratischen Revolution zur sozialistischen unterstützten. Die Bolschewiki betrachteten die demokratische Revolution nie als die Aktion, die die Befreiung bringt, sondern als die Einleitung der erst die Freiheit schaffenden sozialistischen Revolution. Allerdings als eine Einleitung, die nicht — wie es Trotzki in ultralinker Verkennung der realen Situation wollte — übersprungen werden kann, in der aber die klassenbewußten proletarischen Kräfte schon eine so führende Rolle spielen, daß sich aus der demokratischen Revolution die sozialistische entwickeln muß. Lenin forderte die Beteiligung des revolutionären Proletariats an der revolutionär-demokratischen Regierung, die nach dem Sturz des Zarismus durch die revolutionäre bewaffnete Macht die zaristische Herrschaft ablöst. Eine solche Regierung würde dann — so sagte Lenin — in ihrem Wesen nichts anderes sein als die Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft. Lenin bekämpfte die von Parvus und Trotzki aufgestellte unreale und darum in der Wirkung konterrevolutionäre Losung: „Keinen Zaren, her mit der Arbeiterregierung!" Lenins Arbeiter- und Bauernregierung war der der realen Situation entsprechende Ausdruck für die Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft.
Die Menschewiki wandten sich damals ebenso wie die Bolschewiki gegen das von Trotzki propagierte Überspringen der demokratischen Revolution. Aber in der Grundeinstellung unterschieden sich die beiden Fraktionen der russischen Sozialdemokratie sehr voneinander. Die Menschewiki unterschätzten die führende Rolle des Proletariats in der Revolution.
Sie unterschätzten ferner die revolutionäre Kraft der Bauernschaft, betrachteten diese als ein Anhängsel der bürgerlichen revolutionären Intelligenz und verneinten die Möglichkeit eines festen Bündnisses der Arbeiter- und Bauernklasse. Aus allen diesen Gründen betrachteten die Menschewiki die Bourgeoisie als die Haupttriebkraft, als die Führerin in der nicht zu überspringenden demokratischen Revolution, in der die Arbeiterklasse lediglich eine Hilfstruppe der gegen den Zarismus auftretenden bürgerlichen Demokraten sein könne. Die Vollendung der demokratischen Revolution erwarteten die Menschewiki von einer von der Bourgeoisie geführten demokratischen Regierung, die durch die stützende Opposition der Arbeiterklasse auf demokratischem Wege zur Erfüllung ihrer Aufgabe vorwärtsgedrängt wird. Die Bolschewiki dagegen waren der Meinung, daß die bürgerlichen Demokraten sehr schnell ihre Revolution verraten werden, daß darum die Arbeiterklasse bereits in der demokratischen Revolution die führende Kraft sein müsse, deren Aufgabe es sei, die demokratische Revolution zu vollenden und sie unmittelbar vorwärts zu treiben zur sozialistischen Revolution. In der Einschätzung der Rolle der Arbeiterklasse in der demokratischen Revolution und in der Frage der unmittelbaren Fortführung derselben zur sozialistischen unterschied sich Lenin also von den Menschewiki, mit denen er nur darin übereinstimmte, daß die demokratische Revolution in Rußland historisch notwendig sei. Die leninschen Gedanken sind in dem am 20. November 1915 im „Sozialdemokrat" veröffentlichten Artikel „Über zwei Richtlinien der Revolution" enthalten, in dem Lenin sich rückschauend mit den seit 1905 geführten Auseinandersetzungen und auch mit Trotzkis permanenter Revolution beschäftigt („Gegen den Strom", Seite 294 usf.):
„Die Erfahrung der russischen Revolution 1905 und der darauf folgenden konterrevolutionären Epoche sagen uns, daß bei uns zwei Richtlinien der Revolution wahrgenommen wurden im Sinne des Kampfes zweier Klassen, des Proletariats und der liberalen Bourgeoisie, um den leitenden Einfluß auf die Massen. Das Proletariat trat revolutionär auf und leitete das demokratische Bauerntum zum Sturz der Monarchie und der Gutsbesitzer. Daß das Bauerntum revolutionäre Bestrebungen im demokratischen Sinne offenbart hat, das haben in Massendimensionen alle großen politischen Ereignisse gezeigt: wo die Bauern sich nicht nur ,linker als die Kadetten' benahmen, sondern auch revolutionärer als die Intellektuellen, nämlich die Sozialrevolutionäre und Trudowiki ...
Die erste Linie der russischen bürgerlich-demokratischen Revolution, die den Tatsachen und nicht einem „strategischen“ Geschwätz entsprungen ist, bestand darin, daß das Proletariat entschlossen kämpfte, das Bauerntum aber ihm zaghaft folgte. Diese beiden Klassen kämpften gegen die Monarchie und gegen die Gutsbesitzer. Durch den Mangel an Kraft und die ungenügende Entschlossenheit dieser Klassen wurde die Niederlage hervorgerufen (obwohl teilweise eine Bresche im Absolutismus dennoch geschlagen wurde).
Die zweite Linie war das Verhalten der liberalen Bourgeoisie. Wir Bolschewiki behaupteten stets, besonders seit dem Frühling 1906, daß sie von den Kadetten und Oktobristen als einer einheitlichen Kraft dargestellt wird. Das Jahrzehnt 1905/1915 hat unsere Auffassung bestätigt. In den entscheidenden Momenten des Kampfes gaben die Kadetten zusammen mit den Oktobristen die Demokratie preis und leisteten dem Zaren und den Gutsbesitzern Hilfe. Die ,liberale' Linie der russischen Revolution bestand in der ,Beruhigung' und Zerbröckelung des Massenkampfes im Namen der Versöhnung der Bourgeoisie mit der Monarchie. Sowohl die internationale Situation der russischen Revolution wie die Kraft des russischen Proletariats machten ein solches Verhalten der Liberalen unvermeidlich.
Die Bolschewiki halfen bewußt dem Proletariat, die erste Linie zu verfolgen, mit selbstlosem Mut zu kämpfen und der Bauernschaft voranzuschreiten. Die Menschewiki rutschten beständig auf die zweite Linie hinab und korrumpierten das Proletariat durch die Anpassung der Arbeiterbewegung an die Liberalen..."
Nach der Feststellung, daß nur die bolschewistische und die menschewistische Strömung sich in der Politik der Massen offenbarte, fährt Lenin fort:
„Jetzt gehen wir wieder der Revolution entgegen. Das sehen alle, Chwostow selbst spricht von einer Stimmung der Bauern, die an die Jahre 1905/1906 erinnert. Und wieder haben wir es mit denselben zwei Linien der Revolution und demselben Wechsel der zwei Klassen zu tun, nur verändert durch die veränderte internationale Situation .... Aus dieser faktischen Sachlage ergibt sich die Aufgabe des Proletariats augenfällig. Restlos kühner revolutionärer Kampf gegen die Monarchie (die Losung der Konferenz vom Januar 1912, die drei Grundforderungen), ein Kampf, der alle demokratischen Massen, d.h. hauptsächlich die Bauernschaft mit sich risse...
Das Wechselverhältnis der Klassen in der kommenden Revolution festzustellen, darin besteht die Hauptaufgabe der revolutionären Partei. Dieser Aufgabe entzieht sich die OK, die in Rußland eine treue Verbündete des ,Nasche Djelo' bleibt und im Auslande mit ,linken' Phrasen herumwirft. Diese Aufgabe wird in „Nasche Slowo“ von Trotzki unrichtig gelöst, der seine ,originelle' Theorie von 1905 wiederholt und sich keine Gedanken darüber machen will, infolge welcher Ursachen das Leben ganze zehn Jahre an dieser großartigen Theorie vorbeiging.
Diese originelle Theorie Trotzkis nimmt von den Bolschewiki den Appell zum entschlossenen revolutionären Kampf des Proletariats und zur Eroberung der politischen Macht des Proletariats; und von den Menschewiki die ,Negation' der Rolle des Bauerntums. Das Bauerntum hätte sich geschichtet, differenziert; seine eventuelle revolutionäre Rolle habe immer mehr abgenommen; in Rußland sei eine „nationale“ Revolution unmöglich: ,Wir leben im Zeitalter des Imperialismus, und ,der Imperialismus stellt nicht die bürgerliche Nation dem alten Regime gegenüber, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation'.
Da haben wir ein kurioses Beispiel für das Spiel mit dem Wörtchen Imperialismus. Wenn in Rußland das Proletariat schon ,der bürgerlichen Nation' gegenübersteht, dann steht also Rußland direkt vor der sozialistischen Revolution! Dann ist die Losung .,Beschlagnahme des Großgrundbesitzes' (die von der Januarkonferenz 1912 aufgestellt und von Trotzki 1915 wiederholt wurde) unrichtig, dann muß man nicht von einer ,revolutionären Arbeiterregierung' reden, sondern von einer ,sozialistischen Arbeiterregierung'! Welche Grenzen der Wirrwarr bei Trotzki erreicht, sieht man aus seinem Satze, daß das Proletariat durch Entschlossenheit auch die ,nichtproletarischen(!) Volksmassen' mit sich reißen würde! Trotzki dachte nicht daran, daß, wenn das Proletariat die nichtproletarischen Dorfmassen zur Beschlagnahme des Großgrundbesitzes mit sich reißen und die Monarchie stürzen würde, dies eben die Vollendung der ,nationalen bürgerlichen Revolution' in Rußland bedeuten würde, dies eben die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und des Bauerntums bedeuten würde.
Das ganze Jahrzehnt — das große Jahrzehnt — 1905-1915 hat das Vorhandensein von zwei, und nur von zwei Klassenlinien der russischen Revolution erwiesen. Die Schichtung des Bauerntums hat den Klassenkampf innerhalb des Bauerntums verstärkt, hat sehr viele politisch schlafende Elemente geweckt und das ländliche Proletariat dem städtischen nahegebracht (auf einer besonderen Organisation des Landproletariats bestanden die Bolschewiki seit 1906 und setzten diese Forderung in die Resolution des Stockholmer menschewistischen Kongresses). Aber der Antagonismus zwischen dem Bauerntum und den Regierungskliquen hat sich verstärkt, zugespitzt, ist gewachsen. Das ist eine so offensichtliche Wahrheit, daß sogar Tausende von Phrasen in Dutzenden von Pariser Artikeln Trotzkis sie nicht widerlegen werden. In Wirklichkeit kommt Trotzki den liberalen Arbeiterpolitikern Rußlands entgegen, die unter der ,Negation' der Rolle des Bauerntums die Unlust verstehen, die Bauern aufzurütteln!
Und das ist jetzt der ganze Haken. Das Proletariat kämpft und wird restlos kämpfen für die Eroberung der Staatsgewalt, für die Republik, für die Konfiskation der Güter, das heißt, für die Heranziehung des Bauerntums, für die Ausschöpfung seiner revolutionären Kräfte, für die Beteiligung der ,nichtproletarischen Volksmassen' an der Befreiung des bürgerlichen Rußland vom militärisch-feudalen Imperialismus (Zarismus). Und diese Befreiung des bürgerlichen Rußland vom Zarismus, von der .... Herrschaft der Gutsbesitzer, wird das Proletariat unverzüglich ausnützen, nicht um den wohlhabenden Bauern in ihrem Kampf mit den Landarbeitern zu helfen, sondern — um die sozialistische Revolution zu vollziehen im Bunde mit den Proletariern Europas."
In diesem Artikel ist Lenins Theorie für das Handeln in der heranreifenden Revolution skizziert. Er widerlegt die falschen Elemente der trotzkistischen ,permanenten Revolution'; er weist nach, wie unter dem Druck der Verhältnisse die Bauern revolutioniert und für ein festes Bündnis mit der Arbeiterklasse reif werden. Er weist nach, daß — weil die Voraussetzungen für das Bündnis der führenden Arbeiterklasse mit den revolutionären Bauernmassen gegeben sind — die demokratische Revolution im nationalen Rahmen Rußlands möglich ist und zur sozialistischen Revolution fortentwickelt werden kann, auch wenn die proletarische Revolution nicht gleichzeitig in anderen Ländern siegt.
In einem im April 1909 veröffentlichten Artikel über „Das Kampfziel des Proletariats in unserer Revolution" schrieb Lenin:
„Der Hauptfehler des Genossen Trotzki ist das Ignorieren des bürgerlichen Charakters der Revolution, das Fehlen einer klaren Vorstellung von dem Übergang von dieser Revolution zur sozialistischen Revolution." Lenin betont im Anschluß daran wiederum, daß die Bauern, auch wenn sie keine festgefügte Partei haben wie die Arbeiterklasse, eine revolutionäre Kraft sind, und daß zwischen den Bauern als Klasse und der Arbeiterklasse feste Koalitionen zur Durchführung der demokratischen Revolution möglich sind. Auch in diesem Artikel setzt Lenin auseinander, daß aus der demokratischen Revolution um so schneller die sozialistische entwickelt werden kann, je fester das Kampfbündnis zwischen Arbeiter und Bauernklasse ist. Trotzkis „albern linke" permanente Revolution schien manchem vielleicht gerade darum — ebenso wie spätere ultralinke Forderungen von ihm — radikal, weil sie die These vom Überspringen der demokratischen Revolution enthielt. Aber diese Forderung war, wie Lenin nachwies, nicht radikal, sondern unreal und schädlich; auch dann, wenn mit ihr nicht die These, daß die proletarische Revolution in Rußland nur zusammen mit der proletarischen Revolution in den anderen Ländern siegen könne, verbunden gewesen wäre. Ein wesentlicher Bestandteil der revolutionären Theorie Lenins war: Immer das zu tun, was in der jeweiligen Situation notwendig und möglich ist und sicher zur Erreichung des sozialistischen Endzieles vorwärts führt. Der Subjektivist Trotzki dagegen orientierte seine Forderungen nicht nach den gegebenen objektiven Voraussetzungen. Sind unter der Herrschaft des Absolutismus die Voraussetzungen für die sozialistische Revolution noch nicht gegeben, wohl aber für die demokratische Revolution, so ist die revolutionäre Tagesaufgabe die Vorbereitung der demokratischen Revolution, deren siegreiche Durchführung erst den nächsten Schritt, die sozialistische Revolution, ermöglicht. Proklamiert man dagegen in der Situation, in der allein die demokratische Revolution Erfolgsaussichten hat, die sofortige Durchführung der nicht möglichen sozialistischen Revolution, dann sabotiert man damit nicht nur den nächsten revolutionären Schritt, sondern man verzögert die mit radikalem Pathos verkündete sozialistische Revolution oder macht sie ganz unmöglich. Lenin hat immer sehr fein unterschieden zwischen leeren revolutionären Phrasen und wirklichem Radikalismus. Darum vor allem hat er die dem oberflächlichen Beobachter vielleicht radikaler scheinende „permanente Revolution" Trotzkis als rückschrittlich und schädlich bekämpft, er hat ihr seine in der Wirkung tatsächlich revolutionäre Theorie gegenübergestellt, die über die demokratische Revolution zur siegreichen sozialistischen Revolution führte.
Trotzki hat in seiner späteren Geschichtsschreibung behauptet, Lenin und die Bolschewiki seien — ebenso wie die Menschewiki — nur für die Durchführung der bürgerlich-demokratischen Revolution gewesen, sie seien erst im Jahre 1917 jäh umgeschwenkt und haben nach der Februarrevolution plötzlich eine ideologische Umrüstung vorgenommen. Nach Trotzkis Erzählungen sollen die Bolschewiki ohne richtige revolutionäre Theorie in die Revolution geraten sein; was sie als ihre Theorie ausgaben, habe sich im Sturme der Revolution nicht bewährt, darum haben sie sich — gewissermaßen über Nacht — die trotzkistische Theorie der permanenten Revolution zu eigen gemacht, haben sich plötzlich für die sofortige Durchführung der sozialistischen Revolution entschieden, ohne vorher die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende zu führen. Die Behauptung, daß Lenin die Bolschewistische Partei im Jahre 1917 auf Trotzkis permanente Revolution „umgerüstet" habe, will Trotzki auch mit der an anderer Stelle wiedergegebenen Erzählung über seinen Freund Joffe beweisen. (Siehe Seite 71.) Auch in einem Briefe an Olminski, den Trotzki im Jahre 1921 geschrieben und im Jahre 1925 veröffentlicht hat, kommt er zu der gleichen Behauptung. Nach seiner Darstellung hat die Entwicklung ihm in der Einschätzung der menschewistischen Fraktion und in der Organisationsfrage unrecht gegeben, recht aber habe er mit seiner Theorie der permanenten Revolution behalten. Er schreibt in diesem Briefe: „Ich glaube, daß meine Einschätzung der treibenden Kräfte unbedingt richtig war ...“ Und weiter sagt er dann dem Sinne nach, daß die Stellung der Bolschewistischen Partei seit 1917 mit seiner Theorie der permanenten Revolution völlig übereinstimmte. Das heißt also wiederum, in dieser Frage nahmen die Bolschewiki 1917 einen Stellungswechsel vor und bekehrten sich zu dem vorher von Lenin so heftig bekämpften Standpunkt Trotzkis.
Mit Trotzkis Behauptung, daß die Bolschewistische Partei 1917 auf seine permanente Revolution „umgerüstet" habe, beschäftigte sich Stalin in seinem Schlußwort auf der XV. Parteikonferenz (1926):
„Wie konnte die Theorie der permanenten Revolution mit der Stellung unserer Partei übereinstimmen, wenn es feststeht, daß unsere Partei in Person Lenins eben diese Theorie die ganze Zeit hindurch bekämpft hat? Eins von beiden: entweder hat unsere Partei keine eigene Theorie und wurde dann, durch den Gang der Dinge gezwungen, die Theorie des Genossen Trotzki von der permanenten Revolution anzunehmen, oder sie hatte ihre eigene Theorie, diese aber wurde von der Theorie des Genossen Trotzki ,von 1917 an' auf unmerkliche Weise verdrängt.
Über diese „Bedenken“ klärte uns dann Genosse Trotzki in seinem im Jahre 1922 geschriebenen „Vorwort zum Buche“ ,1905 auf. Nach Darstellung des Wesens der Theorie der permanenten Revolution und einer Analyse der Einschätzung unserer Revolution vom Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution gelangt Trotzki zu folgendem Schluß:
,Diese Einschätzung hat, wenn auch mit einer Unterbrechung von zwölf Jahren, ihre volle Bestätigung gefunden.'
.... Wie aber konnte sie ihre Bestätigung finden? Und die Bolschewiki, wo blieben denn die? Gingen sie denn wirklich ohne jegliche eigene Theorie in die Revolution? Waren sie denn wirklich bloß imstande, die revolutionäre Intelligenz, die revolutionären Arbeiter zusammenzuschließen? Und dann, auf welchem Boden, auf Grund welcher Prinzipien schlössen sie die Arbeiter zusammen? Hatten denn die Bolschewiki nicht irgendeine Theorie, eine Einschätzung der Revolution, eine Einschätzung ihrer treibenden Kräfte? Hatte denn unsere Partei wirklich keine andere Theorie als die Theorie der permanenten Revolution? ....
Über diese ,Bedenken' klärt uns Genosse Trotzki in der ,Anmerkung' zum Artikel ,Unsere Meinungsverschiedenheiten' auf. Man höre:
,Das trat bekanntlich nicht ein (Trotzki behauptete in diesem Artikel, die Bolschewiki hatten antirevolutionäre Züge, die in der Revolution zutage treten werden. D.V.), da der Bolschewismus unter der Führung des Genossen Lenin (nicht ohne inneren Kampf) seine ideologische Umrüstung in dieser höchst wichtigen Frage im Frühjahr 1917, d.h. vor der Eroberung der Macht, vollzog.“
Also: eine ,Umrüstung' der Bolschewiki ,von 1917 an' auf Grund der Theorie der permanenten Revolution, dadurch Rettung der Bolschewiki von den ,antirevolutionären Zügen des Bolschewismus', und endlich die Tatsache, daß die Theorie der permanenten Revolution auf diese Weise ihre ,volle Bestätigung gefunden hat' — das ist die Schlußfolgerung des Genossen Trotzki.
Wo aber ist der Leninismus geblieben, wo die Theorie des Bolschewismus, die bolschewistische Einschätzung unserer Revolution, ihrer treibenden Kräfte usw.? Sie haben entweder nicht ,ihre volle Bestätigung gefunden' oder haben überhaupt keine ,Bestätigung gefunden' oder sie haben sich verflüchtigt und zwecks ,Umrüstung' der Partei der Theorie der permanenten Revolution Platz gemacht.
Also, es waren einmal Bolschewiki, sie ,schlössen' ,von 1903 an' die Partei irgendwie ,zusammen', hatten aber keine revolutionäre Theorie, irrten ,von 1903 an' herum und erreichten irgendwie das Jahr 1917. Dann, als sie Trotzki mit der Theorie der permanenten Revolution in der Hand bemerkten, beschlossen sie ,umzurüsten' und als sie ,umgerüstet' hatten, verloren sie nach und nach die letzten Überreste des Leninismus, der leninschen Theorie der Revolution, wodurch sie eine ,vollständige Übereinstimmung' der Theorie der permanenten Revolution mit der ,Stellung' unserer Partei zustandebrachten. Das ist eine interessante Mär ....
Es ist .... so, daß nach Lenin die Theorie der permanenten Revolution eine halbmenschewistische Theorie ist, die die revolutionäre Rolle der Bauernschaft in der russischen Revolution ignoriert.
Unbegreiflich ist nur, wie diese halbmenschewistische Theorie mit der Stellung unserer Partei, wenn auch nur ,von 1917 an', ,völlig übereinstimmen' konnte .... Unbegreiflich ist nur, wie eine solche Theorie unsere Bolschewistische Partei ,umrüsten' konnte..."
Über die besonderen Punkte, deretwegen Lenin Trotzkis Theorie bekämpfte, sagt Stalin in „Die Grundlagen des Leninismus" (siehe „Probleme des Leninismus". Seite 96):
„Lenin bekämpfte also die Anhänger der ,permanenten' Revolution nicht wegen der Frage der Permanenz, denn Lenin selbst stand auch auf dem Standpunkt der ununterbrochenen Revolution, sondern wegen ihrer Unterschätzung der Rolle der Bauernschaft, die eine gewaltige Reserve des Proletariats bildet, wegen ihres Nichtbegreifens der Idee der Hegemonie des Proletariats.“
Wer nicht die von Trotzki mitgeteilten angeblichen, aber unkontrollierbaren Privatgespräche, sondern die nachprüfbaren Tatsachen und Öffentlichen Äußerungen Lenins zur Grundlage der Urteilsbildung über dessen Stellung zu Trotzkis permanenter Revolution nimmt, der kommt zu dem Ergebnis, daß sich Lenin in keiner Situation Trotzkis These zu eigen gemacht hat, sondern gerade 1917 nach seiner eigenen revolutionären Theorie handelte.
In dem in diesem Kapitel ausführlich zitierten Artikel über die zwei Richtlinien der Revolution sagt Lenin am Schlusse, daß das Proletariat die Befreiung des bürgerlichen Rußland vom Zarismus (die bürgerliche Revolution) „unverzüglich" ausnutzen muß, um die sozialistische Revolution zu vollziehen. Und so geschah es 1917. Die zaristische Macht wurde nicht unmittelbar abgelöst durch die sozialistische Revolution, sondern durch die demokratische, in der (entsprechend der theoretischen Forderung der Bolschewiki) die Arbeiterklasse allerdings schon in so weitgehendem Maße die entscheidende Macht war, daß sie in kurzer Zeit die Oktoberrevolution durchführen konnte. Bald nach der Februarrevolution — in den Aprilthesen — hat Lenin im Sinne seiner revolutionären Theorie die unverzügliche Fortführung der demokratischen Revolution zur sozialistischen als Tagesaufgabe bezeichnet. Die demokratische Revolution, die der Bourgeoisie die Macht gab, werde sehr schnell abgeschlossen, sie müsse — wenn sie nicht zum Stillstand und zur Konterrevolution führen solle — ohne Unterbrechung in die sozialistische Revolution übergeleitet werden, die alle Macht den Sowjets, das heißt den revolutionären Arbeitern und Bauern gibt. Lenin sagte in den Aprilthesen ohne Umschweife, daß die Februarrevolution zusammenbrechen werde, darum müsse ohne Konzessionen an schwankende Elemente eine Revolution vorbereitet und durchgeführt werden, die „1000mal stärker sei als die Februarrevolution." Im April 1917 charakterisiert Lenin in einem Artikel „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution" die inzwischen erreichte Übergangsperiode (Lenin, Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband, Seite 149/150):
„Dieser äußerst eigenartige, in dieser Form in der Geschichte noch nie dagewesene Umstand hat zwei Diktaturen miteinander zu einem Ganzen verflochten: die Diktatur der Bourgeoisie (denn die Regierung Lwow & Co. ist eine Diktatur, d.h. eine Regierung, die sich nicht auf das Gesetz und den vom Volk vorher kundgegebenen Willen stützt, sondern auf die gewaltsame Machtergreifung, und zwar durch eine bestimmte Klasse, durch die Bourgeoisie) und die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft (Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten).
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß eine derartige ,Verflechtung' auf die Dauer nicht bestehen kann. Zwei Staatsgewalten können in einem Staate nicht bestehen. Eine von ihnen muß abtreten, und die ganze russische Bourgeoisie ist bereits mit aller Kraft am Werke, die Arbeiter und Soldatendeputierten mit allen erdenklichen Mitteln überall beiseite zu drängen, zu schwächen, zu einem Nichts herabzudrucken und die Alleinherrschaft der Bourgeoisie aufzurichten.
Die Doppelherrschaft ist nur ein Übergangsmoment in der Entwicklung der Revolution, wo sie zwar über die gewöhnliche bürgerlich-demokratische Revolution hinausgegangen, aber noch nicht bis zur reinen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft gelangt ist."
In Deutschland bestand nach dem November 1918 zwar nicht die hier charakterisierte Doppelherrschaft. Aber trotzdem waren nach dem Zusammenbruch der Monarchie die objektiven Voraussetzungen für die Machteroberung durch das Proletariat gegeben. Die Macht lag gewissermaßen auf der Straße, leider fehlte es der deutschen sozialistischen Bewegung an der Erkenntnis der Situation, am revolutionären Willen und an der notwendigen Zielbewußtheit, um die gegebene Chance ausnützen zu können und die Macht zu ergreifen. Wegen des Versagens der deutschen sozialistischen Bewegung gelang es den Feinden der Revolution sehr bald, die unklare Situation zugunsten der Herrschaft der Bourgeoisie zu liquidieren. Zur Sicherung ihrer Machtstellung mobilisierte die Bourgeoisie die konterrevolutionären Kräfte, deren Vorherrschaft allmählich in die faschistische Diktatur überleitete. In Rußland ist die Entwicklung anders verlaufen, weil die führende revolutionäre Partei eine klare revolutionäre Theorie hatte, für deren praktische Durchführung Lenin in den entscheidenden Monaten des Jahres 1917 konsequent eintrat. Die Bourgeoisie herrschte in der demokratischen russischen Revolution nicht unumschränkt, sie mußte die Herrschaft mit dem Proletariat teilen. Die Doppelherrschaft war jedoch nur erreicht worden durch die von den Bolschewiki immer geforderte und vorbereitete selbständige starke Stellung der im Bunde mit den revolutionären Bauern stehenden Arbeiterklasse. Da außerdem die Bolschewiki in all den Jahren der Vorbereitung der demokratischen Revolution ihre unverzügliche Fortentwicklung zur sozialistischen Revolution als unverrückbares Ziel vor Augen hatten, konzentrierten sie 1917 zielbewußt alle Kräfte auf die Liquidierung der Doppelherrschaft zugunsten der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. In seinen „Briefen über Taktik" (April 1917) schrieb Lenin über den Kampf für die Liquidierung der Doppelherrschaft zugunsten der revolutionären Vorwärtsentwicklung (Lenin, Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband, Seite 136/137):
„Lauren wir aber nicht Gefahr, in Subjektivismus zu verfallen, in den Wunsch, ,hinüberzuspringen' (das richtete sich gegen die alte trotzkistische Auffassung in dieser Frage. D.V.) über die unvollendete Revolution bürgerlich-demokratischen Charakters, die die Bauernbewegung noch nicht zum Abschluß gebracht hat, in die sozialistische Revolution?
Hätte ich gesagt: ,Keinen Zaren, her mit der Arbeiterregierung!' so würde mir diese Gefahr drohen. Doch ich habe das nicht gesagt, ich habe etwas anderes gesagt. Ich habe gesagt, daß es eine Regierung in Rußland (von der bürgerlichen abgesehen) außer den Räten der Arbeiter-, Landarbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten nicht geben kann. Ich habe gesagt, daß die Macht in Rußland jetzt von Gutschkow und Lwow nur auf diese Sowjets übergehen kann. In diesen aber überwiegt gerade die Bauernschaft, überwiegen die Soldaten, überwiegt — um einen wissenschaftlichen marxistischen Terminus zu gebrauchen und statt der gewöhnlichen Berufsbezeichnungen des Alltagslebens den Klassencharakter zu betonen — das Kleinbürgertum.
Ich habe mich in meinen Thesen absolut gesichert gegen jedes Überspringen der noch nicht überwundenen bäuerlichen oder überhaupt kleinbürgerlichen Bewegung, gegen jedes Spiel mit der ,Machtergreifung' durch eine Arbeiterregierung, gegen jedes blanquistische Abenteuer, denn ich habe direkt auf die Erfahrung der Pariser Kommune hingewiesen. Diese Erfahrung aber hat, wie allgemein bekannt ist und wie Marx 1870 und Engels 1891 ausführlich nachgewiesen haben, gezeigte daß für den Blanquismus kein Platz da war, daß die direkte, unmittelbare, unbedingte Herrschaft der Mehrheit und die Aktivität der Massen nur in dem Maße gesichert war, wie die Mehrheit selbstbewußt auftrat.
Ich habe in den Thesen mit vollster Eindeutigkeit alles zugespitzt auf den Kampf um den Einfluß innerhalb der Räte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten. Um auch nicht den kleinsten Zweifel in dieser Beziehung zuzulassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der geduldigen, beharrlichen, ,sich den praktischen Bedürfnissen der Massen anpassenden' „Aufklärungsarbeit“ betont ..."
Lenins „Briefe über Taktik" beweisen, wie peinlich Lenin 1917 darauf bedacht war, nicht mißverstanden zu werden, wie scharf er auch da noch eine Trennungslinie gegenüber der trotzkistischen These zog.
Lenins Aprilthesen und sein Handeln im Jahre 1917 sind nur die konsequente Durchführung der von den Bolschewiki seit 1905 vertretenen Linie. 1905 bereits — in der ersten russischen Revolution — bezeichnet Lenin in seiner Broschüre „Zwei Taktiken" die bürgerlich-demokratische und die sozialistische Revolution als zwei Glieder einer Kette, als einen einheitlichen Prozeß, in dem unmittelbar von der ersten Station zur zweiten übergegangen werden muß (Lenin, Sämtliche Werke, Band VIII, Seite 129):
„Das Proletariat muß die demokratische Umwälzung zu Ende fuhren, indem es die Masse der Bauernschaft zu sich heranzieht, um vereint den Widerstand des Absolutismus gewaltsam zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren. Das Proletariat muß die sozialistische Umwälzung vollziehen, indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung zu sich heranzieht, um vereint den Widerstand der Bourgeoisie gewaltsam zu brechen und die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu paralysieren." Die geschichtliche Wahrheit also ist: die Bolschewiki haben sich 1917 nicht Trotzkis „permanente Revolution" zu eigen gemacht, sie haben in der entscheidenden Zeit genau nach der klaren revolutionären Theorie Lenins gehandelt. Lenin hat diese Theorie seit 1903 zu der unerschütterlichen ideologischen Grundlage entwickelt, auf der die festgefügte revolutionäre Partei erwuchs, die allein in der Lage war, in der revolutionären Situation das Proletariat zum Siege zu führen.
Trotzki hat natürlich des öfteren versucht, die „Umrüstung" der Bolschewiki und ihr von 1917 an erfolgtes Einschwenken in die Linie der trotzkistischen permanenten Revolution zu „beweisen". Zu diesem Zwecke wird in Trotzkis Geschichtsschreibung den Bolschewiki ein Standpunkt angedichtet, den sie nie vertreten haben. In der „Oktoberrevolution" (1932 erschienen) schrieb Trotzki (Seite 678):
„Die Bolschewistische Partei war seit dem Tag ihrer Entstehung eine Partei des revolutionären Sozialismus. Doch die nächste historische Aufgabe erblickte sie, notgedrungen, im Sturze des Zarismus und in der Errichtung des demokratischen Regimes. Hauptinhalt der Umwälzung sollte die demokratische Losung der Agrarfrage sein. Die sozialistische Revolution wurde in eine recht ferne, jedenfalls unbestimmte Zukunft gerückt. Es galt als unbestreitbar, daß sie praktisch auf die Tagesordnung gestellt werden könnte erst nach dem Siege des Proletariats im Westen. Diese Grundsätze, geschmiedet vom russischen Marxismus im Kampfe gegen Narodnitschestwo und Anarchismus, bildeten das eherne Inventar der Partei. Weiter folgen hypothetische Erwägungen: sollte die demokratische Revolution in Rußland machtvollen Schwung erreichen, dann könnte sie unmittelbaren Anstoß zur sozialistischen Revolution im Westen geben, und das wieder würde dann dem russischen Proletariat erlauben, in beschleunigtem Marsch zur Macht zu kommen.“ Richtig ist — wie sich aus der vorher erfolgten Darstellung der leninschen Theorie der Revolution ergibt — daß die Bolschewiki den Zarismus durch eine demokratische Revolution ablösen wollten. Falsch an der Schilderung Trotzkis jedoch ist, daß die Bolschewiki „die sozialistische Revolution ... in eine recht ferne, jedenfalls unbestimmte Zukunft" rückten. Alles was in diesem Kapitel zu diesem Thema zitiert wurde, beweist, wie unrichtig Trotzkis Erzählungen sind. Trotzki zitiert in der „Oktober-Revolution" (Seite 780) eine Äußerung Lenins aus dem Jahre 1905, mit der er selbst seine Behauptung widerlegt:
„Das Proletariat kämpfte bereits um die Erhaltung der demokratischen Errungenschaften namens der sozialistischen Umwälzung."
Trotzki hätte — wenn er objektiv sein könnte — noch sehr viele Zitate in Lenins seit 1905 geschriebenen Artikeln gefunden, die seine Erzählungen widerlegen, und die beweisen, daß die Bolschewiki mit einer klaren Theorie in die Revolution gegangen sind. In einem dieser Artikel „Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung" (1905) schrieb Lenin am Schlusse zusammenfassend (Lenin, Sämtliche Werke, Band VII, Seite 268):
„Wenn der hohle Deklamator Trotzki jetzt schreibt, daß ein ,Priester Gapon nur einmal auftauchen konnte', daß es für einen zweiten Gapon keinen Platz gibt, so lediglich deshalb, weil er eben ein hohler Deklamator ist. Gäbe es in Rußland keinen Platz für einen zweiten Gapon, so würde es bei uns auch keinen Platz für eine wirklich „große“ bis ans Ende gehende demokratische Revolution geben ...
Sie (die Massen, d.V.) können nicht gleich, ohne eine Reihe revolutionärer Prüfungen durchgemacht zu haben, Sozialdemokraten werden, nicht nur infolge ihrer Unwissenheit (die Revolution klärt, wir wiederholen es, mit märchenhafter Geschwindigkeit auf), sondern deshalb, weil ihre Klassenlage keine proletarische ist, weil die objektive Logik der historischen Entwicklung sie im gegenwärtigen Augenblick vor die Aufgabe eines demokratischen und keineswegs eines sozialistischen Umsturzes stellt.
Und an diesem Umsturz wird das revolutionäre Proletariat mit aller Energie teilnehmen, den jämmerlichen Chwostismus der einen, wie die revolutionären Phrasen der anderen von sich weisend, klassenmäßige Bestimmtheit und Bewußtsein in den schwindelerregenden Wirbel der Geschehnisse hineintragend, unentwegt und mutig vorwärtsschreitend, die revolutionär-demokratische Diktatur nicht fürchtend, sondern sie vielmehr leidenschaftlich herbeisehnend, für die Republik und die volle republikanische Freiheit, für ernste ökonomische Reformen kämpfend, damit eine wirklich weite und des 20. Jahrhunderts wirklich würdige Arena geschaffen werde für den Kampf um den Sozialismus."
Danach war die nächste Aufgabe die Durchführung der demokratischen Revolution, an der sich das revolutionäre Proletariat führend beteiligen muß, um die „bessere Arena für den Kampf um den Sozialismus" zu schaffen. Aber nirgendwo ist die Rede davon, daß die Fortentwicklung der demokratischen Revolution „in eine ferne, unbestimmte Zukunft gerückt" wird. In dem vorstehend zitierten Artikel legt Lenin dar, daß die Massen ohne revolutionäre Prüfungen durchgemacht zu haben — noch nicht Sozialdemokraten sind, daß sie darum nicht sofort für eine sozialistische Revolution mobilisiert werden können. Aber er fügt hinzu, daß die Revolution mit märchenhafter Geschwindigkeit aufklart, das heißt, daß die durch die demokratische Revolution in Bewegung gesetzten Massen mit märchenhafter Geschwindigkeit über die Mängel der demokratischen Revolution und über die Notwendigkeit, diese zur sozialistischen fortzuführen, aufgeklärt werden. Rechnete Lenin schon 1905 mit einer so schnellen Aufklärung der Massen in der demokratischen Revolution, dann hat er eben die sozialistische Revolution nicht auf eine unbestimmte Zukunft vertagt, sondern ihre Durchführung als die ununterbrochene Folge der demokratischen Revolution betrachtet. Wie recht Lenin mit seiner Theorie und seiner Einschätzung der revolutionären Entwicklung hatte, bewies der Februar 1917. Die Februarrevolution hat die Massen in der Tat „mit märchenhafter Geschwindigkeit" aufgeklärt und die sofortige Fortentwicklung zur sozialistischen Revolution ermöglicht. Aber nur, weil die leninsche Theorie weit vorausschauend der Partei den revolutionären Weg von der demokratischen zur sozialistischen Revolution vorgezeichnet und die revolutionäre Partei geschaffen hat, die die Massen auf diesen Weg führen konnte.
Lenin hat aber nicht nur die ununterbrochene Weiterentwicklung der demokratischen zur sozialistischen Revolution propagiert, sondern zugleich die Mobilisierung der Kampfmittel gefordert, die erst die Erfüllung dieser Aufgabe möglich machen. Lenin, der zur Durchführung der demokratischen Revolution die Kampfbündnisse mit nichtproletarischen Kräften für notwendig hielt, hat dabei stets betont, daß es bei diesen Kampfbündnissen nicht auf schriftlich formulierte Bedingungen ankomme, sondern auf die praktische Verwirklichung des gemeinsamen Kampfes gegen den Zarismus. Vor allem aber darauf, daß die Arbeiterklasse stark genug sei und genügend Machtmittel in der Hand habe, um sich selbst gegen den Betrug seiner vorübergehenden Kampfgefährten zu schützen. Die wirksamste Sicherung gegen Betrugsversuche ist die Bewaffnung des Volkes, die der Arbeiterklasse die Möglichkeit gibt, nach der Eroberung der politischen Freiheiten die „bessere Arena" auch für den Kampf um den Sozialismus auswerten zu können. Dabei hat Lenin nie einen Zweifel darüber gelassen, daß die bürgerlichen Demokraten auch im Kampf um die Demokratie sehr unsichere Bundesgenossen seien. Am 24. Januar 1905 schrieb er in „Proletarische und bürgerliche Demokratie" (Lenin, Sämtliche Werke, Band VII, Seite 94):
„Nein, das Proletariat wird sich auf dieses Spiel mit Versprechungen, Erklärungen und Vereinbarungen nicht einlassen. Das Proletariat wird niemals vergessen, daß die bürgerlichen Demokraten keine verläßlichen Demokraten sein können. Das Proletariat wird die bürgerliche Demokratie unterstützen, nicht auf Grund irgendwelcher Abmachungen mit ihr, keinen panischen Schrecken hervorzurufen, nicht auf Grund des Glaubens an ihre Verläßlichkeit, sondern es wird sie dann und in dem Maße unterstützen, wenn und soweit sie tatsächlich gegen den Absolutismus kämpft. Eine solche Unterstützung ist im Interesse der Erreichung der selbständigen sozialen und revolutionären Ziele des Proletariats notwendig."
Also Unterstützung der bürgerlichen Demokratie, soweit sie wirklich kämpft, jedoch nicht nur um der demokratischen Revolution, sondern um der Erreichung der sozialistischen Revolution willen. Und weil diese nur von dem revolutionären Proletariat durchgeführt werden kann, hat Lenin als besondere Voraussetzung für die Unterstützung der demokratischen Revolution die selbständige marxistische Partei verlangt. Diese muß, ihren Weg gehend, bei allen Kampfbündnissen mit bürgerlich-demokratischen Kräften um die Hegemonie des Proletariats auch in der demokratischen Revolution kämpfen. Am 21. Februar 1905 schrieb Lenin in „Über ein Kampfbündnis für den Aufstand" (Lenin, Sämtliche Werke, Band VI I.Seite 166):
„Die Geschichte der revolutionären Epoche liefert viele, all zu viele Beispiele der ungeheuren Schädlichkeit übereilter und unreifer Experimente einer „Kampfeseinigung", die die ungleichartigsten Elemente in den Komitees des revolutionären Volkes zusammenleimte und nur zu gegenseitigen Reibereien und bitteren Enttäuschungen führte.
Wir wollen uns die Lehre dieser Geschichte zunutze machen. Wir sehen im Marxismus, der euch als ein enges Dogma erscheint, gerade die Quintessenz dieser geschichtlichen Lehre und Anleitung. Wir sehen in der selbständigen, unversöhnlich marxistischen Partei des revolutionären Proletariats die einzige Gewähr für den Sieg des Sozialismus und den von Schwankungen denkbar freiesten Weg zum Siege. Wir werden daher niemals, auch nicht in den revolutionärsten Augenblicken, auf die völlige Selbständigkeit der Sozialdemokratischen Partei, auf die völlige Unversöhnlichkeit unserer Ideologie verzichten.
... Wir glauben, daß wir der Sache künftiger Kampfbündnisse besser dienen, wenn wir, statt bittere, vorwurfsvolle Phrasen zu dreschen, die Bedingungen ihrer Möglichkeit und ihrer mutmaßlichen Grenzen, ihrer, wenn man so sagen darf, ,Kompetenzen' nüchtern und kühl wägen." Das selbständige Auftreten der unversöhnlich marxistischen Partei auch bei allen Kampfbündnissen im Kampf gegen den Zarismus erschien Lenin als unbedingte Notwendigkeit, um die demokratische Revolution im geeigneten Zeitpunkt zur sozialistischen Revolution fortzuführen. Es wäre ein geschichtliches Versäumnis schlimmster Art gewesen, wenn das russische Proletariat den Stoß für die sozialistische Umwälzung dogmatisch-mechanisch erst für die Zeit nach dem endgültigen Siege der demokratischen Revolution vertagt hätte, obwohl die Situation für die Durchführung der sozialistischen Revolution schon früher reif geworden war. Da das russische Proletariat „um die Erhaltung der demokratischen Errungenschaften" bereits „namens der sozialistischen Umwälzung" kämpfte, mußte es nach der Veränderung der Verhältnisse, nachdem die bessere „Arena für den Kampf um den Sozialismus" erreicht war, auch seine Kampfziele verändern.
Trotzki sagt in der „Oktoberrevolution" (Seite 677), daß sich die Bolschewistische Partei auf der Aprilkonferenz des Jahres 1917 „unter dem Druck der restlos enthüllten Situation" zum ersten Mal zu dem Ziel der „Machteroberung" bekannt habe. Die zitierten Äußerungen Lenins aus dem Jahre 1905 beweisen, daß diese Behauptung Trotzkis falsch ist, daß die Bolschewistische Partei schon vor 1905 die Frage der Machteroberung durch das Proletariat auch in der Zeit bejaht hat, in der sie angesichts der Verhältnisse die demokratische Revolution als die nächstliegende Aufgabe betrachtete. Der konzentrierte Kampf um die Erfüllung der nächsten Aufgabe schließt die Mobilisierung der Kräfte für die weiter gesteckten Ziele nicht aus. Die Machteroberung durch das Proletariat wurde nicht 1917 zum ersten Male als das Ziel proklamiert, sie trat nur damals in der inzwischen erreichten demokratischen Revolution als das nächste Kampfziel ganz deutlich in Erscheinung.
Trotzki bejahte das seiner Meinung nach 1917 zum ersten Mal erfolgte Bekenntnis zur proletarischen Revolution, weil „die restlos enthüllte Situation" es verlangte. Er war allerdings der Meinung, daß diese veränderte Stellungnahme nicht das Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion enthalten habe. Die veränderte Situation, das Versagen der bürgerlich-demokratischen Kräfte in Rußland und das Ausbleiben der proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen europäischen Ländern, stellte dem russischen Proletariat, als dem ersten in der Welt, die Aufgabe, den sozialistischen Aufbau in der Praxis zu beginnen. Das russische Proletariat war 1917 in der Zwangslage, entweder vor dem Versagen der demokratischen Revolution zu kapitulieren und der Konterrevolution die Bahn frei zu geben, oder für die sofortige Ablösung der demokratischen Revolution durch die sozialistische zu kämpfen. Nach schweren opfervollen Kämpfen eroberte das russische Proletariat als das erste in der Welt die politische Macht. Die Hoffnung war, daß dieser Sieg unverzüglich proletarische Revolutionen in den anderen Ländern auslösen und den sozialistischen Aufbau erleichtern würde. Das Ausbleiben der Revolution in Europa „enthüllte" wiederum „restlos eine neue Situation" und zwang zu Entscheidungen. Die siegreiche russische Revolution hatte nunmehr die Wahl, entweder (wie Stalin das formulierte) „auf dem Halm zu verfaulen" oder die eroberte politische Macht auszunützen und den sozialistischen Aufbau in dei Sowjetunion zu versuchen. Die aus dem Siege der sozialistischen Revolution sich konsequent ergebende Entscheidung für die Durchführung des sozialistischen Aufbaus in dem Lande der siegreichen. proletarischen Revolution bezeichnet Trotzki als Verrat an der Idee des internationalen Sozialismus.
So zeigte sich auch in der weiteren Entwicklung der russischen Revolution der grundlegende Gegensatz zwischen Trotzkis permanenter Revolution und Lenins revolutionärer Theorie. Trotzkis Theorie verschiebt den Aufbau des Sozialismus bis zum Siege der proletarischen Revolution in der ganzen Welt. Lenins revolutionäre Theorie verlangt die permanente, ununterbrochene Fortführung der revolutionären Entwicklung und die Ausnützung der siegreichen proletarischen Revolution zum sozialistischen Aufbau — weil die Erfolge des sozialistischen Aufbaus in einem Lande zum wirksamen Hebel für die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern, für die Weltrevolution werden. Trotzkis permanente Revolution verneint den Aufbau des Sozialismus in einem Lande, der von der leninschen revolutionären Theorie eindeutig bejaht wird.

 

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DER TROTZKISMUS NACH DER OKTOBERREVOLUTION

 

TROTZKI, DIE OKTOBERREVOLUTION UND DER BÜRGERKRIEG

Das Verhalten Trotzkis in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg spielt in der trotzkistischen Geschichtsschreibung eine entscheidende Rolle. Mit dem Hinweis auf diese Zeit wird hauptsächlich die angeblich so enge Kampfgemeinschaft Trotzkis mit Lenin begründet. Die Legende berichtet, daß Trotzki der entscheidende Führer des Oktoberaufstandes gewesen sei, daß ohne ihn die Oktoberrevolution nicht erfolgreich ausgegangen und der Bürgerkrieg nicht gewonnen worden wäre. Trotzki selbst erzählt in seinen Büchern, vor allem in der „Februarrevolution", der „Oktoberrevolution", in „Mein Leben", und auch in „Über Lenin", daß er von 1917 an die alles überragende treibende Kraft gewesen sei. Wer diese Darstellung anzweifelt, wer eine marxistische Analyse des Geschehens dieser Zeit zu geben versucht und dabei Trotzkis wirkliche Rolle in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg feststellt, wird von den Trotzkisten als Geschichtsfälscher bezeichnet.
Trotzki war eine nicht unwichtige Persönlichkeit in der Oktoberrevolution — Stalin hat das in den früheren Parteidiskussionen um Trotzki und den Trotzkismus mehrmals festgestellt — aber Trotzki hat dabei nicht die überragende Rolle gespielt, von der die trotzkistische Geschichtsschreibung berichtet. Die Version, daß ohne Trotzki die proletarische Revolution in Rußland nicht gesiegt hätte, daß es ohne Trotzki keine Sowjetunion gäbe, ist eine törichte Geschichtsfälschung. Sie steht im schroffen Widerspruch zur materialistischen Geschichtsbetrachtung und zum Marxismus, sie ist der Ausfluß des Subjektivismus, der zum politischen und persönlichen Charakterbild Trotzkis gehört. Um seine angeblich überragende Rolle in der Oktoberrevolution glaubhaft zu machen, braucht Trotzki die Legende von der grundlegenden geistigen Umrüstung der Bolschewistischen Partei zwischen dem Februar und Oktober. Er behauptet darum, daß die Bolschewiki keine revolutionäre Theorie hatten. Nach Trotzkis Darstellung war die Bolschewistische Partei ein zielloser, direktionsloser Haufen, der von den revolutionären Ereignissen überrascht wurde und ihnen hilflos gegenüberstand. Wäre es so gewesen — dann allerdings hätte Trotzki den Bolschewiki als der Messias erscheinen können, dann hätte der bisher einsame Trotzki „der alles überragende Führer" werden müssen, dem die Bolschewistische Partei in ihrer Hilflosigkeit sich unterwarf.
Trotzkis „Februarrevolution" enthalt ein ganzes Kapitel über die „Umbewaffnung der Partei". Er schreibt dort u. a. (Seite 148):
„Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd waren damals drei Männer. Die ehemaligen Arbeiter Schlapnikow und Saluzki und der ehemalige Student Molotow. (Der also damals schon eine führende Rolle in der Bolschewistischen Partei hatte, d.V.) ... Doch das Trio war den Ereignissen nicht gewachsen. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um einen bewaffneten Aufstand."
Petrograd war 1917 die Hauptstadt Rußlands und das entscheidende Zentrum, in dem die wichtigsten revolutionären Entscheidungen fielen. In Petrograd hatten die Bolschewiki — wie überall in Rußland — zwar eine Organisation, aber diese war nach Trotzkis „Erzählungen" der Situation nicht gewachsen und ihre Führer waren unfähig. Die bolschewistische Organisation hatte keine Ahnung von dem Werden der Revolution, sie ist darum natürlich auch ohne Einfluß auf die revolutionäre Entwicklung gewesen. Das ist das Bild nach Trotzkis Darstellungen. Alle Bolschewiki erscheinen als halbe oder ganze Trottel, nur mit einem macht Trotzki eine Ausnahme — mit Lenin. Den streicht er gegenüber den anderen heraus, weil er die enge Kampfgemeinschaft mit Lenin für seine Legende braucht. Nach der Revolutionsgeschichte Trotzkis ist das Durcheinander in der bolschewistischen Organisation erst nach der Ankunft Lenins in Rußland überwunden worden. Diese Version hat Trotzki — mit der Spitze, gegen die Alten Bolschewiki in der Führung der Partei — auch schon versteckt, in seinen in Rußland veröffentlichten Schriften vertreten. In dem Buche „Über Lenin" (1924) schreibt er, daß ihn von dem Kurs, den die Partei „nach seiner (Lenins) Ankunft eingeschlagen hatte, nichts mehr trenne". Bis zu Lenins Ankunft war Trotzki nicht für den Kurs der Bolschewiki. Erst nach der nach Lenins Ankunft erfolgten geistigen „Umrüstung" war über Nacht eine revolutionäre Partei entstanden, mit der Trotzki nunmehr einverstanden sein konnte und der er sich anschließen wollte. Nach Trotzkis Angaben wurde die aktionsfähige revolutionäre Partei von Lenin nicht in langer, planmäßiger Arbeit seit 1903 aufgebaut, sondern erst mit Hilfe Trotzkis in einigen Wochen aus der Erde gestampft.
An unzähligen anderen Beispielen ließe sich noch beweisen, daß Trotzkis Geschichtsschreibung ganz und gar darauf eingestellt ist, die revolutionäre Unzulänglichkeit der Bolschewistischen Partei zu beweisen. In dem Kapitel über „Die Umbewaffnung der Partei" („Februarrevolution") behauptet Trotzki, daß die Bolschewiki sich im April plötzlich für die sofortige Durchführung der sozialistischen Revolution entschieden, die entgegen ihrer Einschätzung der Lage und entgegen ihren Vorstellungen und Vorbereitungen herangereift war. Trotzki erweckt den Eindruck, daß Lenin sich nunmehr ausdrücklich für das Überspringen der demokratischen Revolution entschlossen habe. Er bekehrte sich in dieser entscheidenden Frage angeblich vom Leninismus zum Trotzkismus, der demnach nunmehr der Wesensinhalt der Bolschewistischen Partei geworden war. Um dieses falsche Bild zu erzeugen, hat Trotzki absichtlich ignoriert, daß Lenin bei der Diskussion über seine Aprilthesen (siehe die Zitate in dem Kapitel „Die permanente Revolution") eindringlich nachwies, daß diese These über die unmittelbare Fortentwicklung der demokratischen zur sozialistischen Revolution nichts mit Trotzkismus zu tun haben Lenin stellte vielmehr ausdrücklich fest, daß er keinesfalls notwendige Zwischenetappen überspringen, sondern nur die bolschewistische Theorie verwirklichen wolle, die konsequent die schnellste Steigerung der revolutionären Entwicklung von der Februar- zur Oktoberrevolution verlange. An dieser Tatsache ändert auch nichts daß einige Bolschewisten — wie Trotzki schildert — z.B Sinowjew und Kamenew, Lenins Aprilthesen mit der Begründung bekämpften, daß sie im Widerspruch zum Leninismus ständen. Wenn die beiden späteren Freunde Trotzkis gegen den Oktoberaufstand auftraten, so ist das kein Beweis dafür, daß Lenin 1917 die Bolschewistische Partei geistig „umbewaffnete", es beweist vielmehr nur, daß Sinowjew und Kamenew die Konsequenzen des Leninismus scheuten und in entscheidenden Situationen zeigten, daß sie den Leninismus mißverstanden.
Trotzkis Erzählungen über die Umrüstung der Bolschewistischen Partei sind nichts als Zwecklegenden. Die historische Wahrheit ist, daß die Bolschewistische Partei — organisiert, geschult nach dem leninistischen Organisationsprinzip — unter Lenins Führung als aktionsfähige zielbewußte revolutionäre Kampftruppe in die Revolution ging. Die Bolschewistische Partei hat sich in der entscheidenden Situation durchaus den revolutionären Aufgaben gewachsen gezeigt. Sie hat nicht auf Trotzki warten müssen; im Gegenteil, Trotzki mußte im Juli 1917 sich ihr unterordnen, wenn er als einer neben den anderen seinen Teil an den revolutionären Kämpfen beitragen wollte.
Die Oktoberrevolution ist nicht das Verdienst Trotzkis oder einer anderen einzelnen Person, sondern der leninschen Partei, die von 1903 an im harten Kampfe gegen den Trotzkismus aufgebaut, eine ideologisch gefestigte, straff organisierte Kampforganisation mit einer klaren revolutionären Zielsetzung war, und die nur darum die Oktoberrevolution so erfolgreich organisieren und zu einem guten Ende führen konnte. Hätte sich Trotzki 1917 gegen die Bolschewistische Partei gestellt, dann hätte er später nicht einmal die Gelegenheit gehabt. Legenden über seine überragende Führerrolle in der Oktoberrevolution zu erzählen. Die Geschichtsschreibung Trotzkis über seine Rolle in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg ist nicht nur ein Beweis für seinen Subjektivismus, sondern vor allem auch ein Beweis, daß Trotzki auch während seiner Mitgliedschaft in der Bolschewistischen Partei kein Bolschewik war. Er stand der leninschen Partei und der leninschen Theorie immer feindlich gegenüber, und auch in seiner besten Zeit ist er dem von Lenin so heftig bekämpften Trotzkismus treu geblieben. Trotzki will Lenin im Gegensatz zu den Alten Bolschewiki und der Bolschewistischen Partei herausstreichen.
Sein starker Subjektivismus hindert ihn schließlich sogar, seine eigene Absicht zu verwirklichen und Lenins führende Rolle in der Revolution zu würdigen. In allen Büchern, in denen Trotzki von der russischen Revolution erzählt, erscheint nicht Lenin, sondern Trotzki als der entscheidende Kopf, der alles dirigiert und gemacht hat. Trotzki schreibt immer wieder, wie er Lenin (von dem man den Eindruck bekommen soll, daß er wegen seiner Illegalität von Juli bis Oktober 1917 weit vom Schuß war) über seine Handlungen berichtete oder ihm Vorschläge machte, und wie Lenin stets freudig und begeistert zustimmte. Gewissermaßen wie einer, der froh ist, diesen Trotzki zu haben, der ihm das Denken und das Handeln abnimmt. Nur ein paar kleine Beispiele. In „Über Lenin" erzählt Trotzki (Seite 108), wie die Bezeichnung „Volkskommissare" entstanden ist. Lenin habe sich vergeblich den Kopf zerbrochen, wie man die revolutionäre Regierung nennen solle. Trotzki hat es sofort gewußt. Er hat vorgeschlagen, sie „Volkskommissare" zu nennen, und Lenin hat begeistert zugestimmt. Auf Seite 114 der gleichen Schrift schildert Trotzki, daß auf dieselbe Weise auch die Rote Armee zu ihren politischen Kommissaren gekommen sei. Aber wichtiger als diese „Leistungen" Trotzkis sind seine Schilderungen des Oktoberaufstandes. Wer darüber nur Trotzkis Schriften gelesen hat, muß glauben, daß die wesentlichen Handlungen unter Leitung Trotzkis und gegen den Willen Lenins durchgeführt wurden, und daß Lenin nur immer nachträglich erleichtert die Zustimmung zu Trotzkis Leistungen gab. In dem Buche „Über Lenin" erzählt Trotzki (diese Erzählung kehrt auch in „Mein Leben" und in der „Oktoberrevolution" wieder), daß er den Aufstand mit der Parole „Alle Macht den Räten" durchführen wollte, während Lenin angeblich hinter dem Rücken der Sowjets loszuschlagen beabsichtigt habe.
„Immerhin" — sagt Trotzki in „Über Lenin", Seite 78 — war aber die Partei nicht imstande, auf eigene Faust unabhängig vom Rätekongreß und hinter seinem Rücken die Macht zu ergreifen. Es wäre ein Fehler gewesen, der sogar auf die Haltung der Arbeiter nicht ohne Folgen geblieben wäre und hinsichtlich der Garnison außerordentlich schwerwiegend hätte werden können.
Aus Trotzkis weiterer Schilderung entsteht dann der Eindruck, daß der Oktoberaufstand glücklicherweise nicht nach dem Willen und Vorschlag Lenins, sondern nach den Direktiven Trotzkis gemacht wurde und nur darum gelungen sei. Auf Seite 82 der gleichen Schrift erzählt Trotzki, wie Lenin sich mit dem gegen seinen Willen glücklich durchgeführten Oktoberaufstand Trotzkis abgefunden habe:
„Nun gut, es geht auch so. Es handelt sich nur darum ,die Macht zu ergreifen'. Ich verstand, daß er sich in diesem Augenblick endgültig mit unserem Verzicht, die Macht durch eine konspirative Verschwörung zu ergreifen, ausgesöhnt hatte. Bis zur letzten Stunde hatte er befürchtet, der Feind möchte unsere Pläne durchkreuzen und uns überrumpeln. Erst jetzt, am Abend des 25. Oktober, beruhigte er sich und sanktionierte endgültig den Weg, den die Ereignisse eingeschlagen hatten."
Trotzki behauptet in dieser Erzählung, — um seine überragende Rolle in der Oktoberrevolution herauszustreichen — daß ausgerechnet Lenin die Macht „durch eine konspirative Verschwörung" ergreifen wollte, und nicht durch die Mobilisierung der Massen. Trotzki ließ zwar Lenin die Marotte von der „konspirativen Verschwörung", handelte aber nach seinem Kopfe, so daß Lenin schließlich nichts weiter zu tun übrig blieb, als die von Trotzki „gemachte" siegreiche Revolution zu „sanktionieren". So sieht in der Geschichtsschreibung Trotzkis Lenins Rolle bei dem entscheidenden Oktoberaufstand aus. In Wirklichkeit dachte Lenin nie an eine konspirative Verschwörung; er hat im Gegenteil jedes blanquistische Abenteuer abgelehnt und den revolutionären Aufstand immer als eine Aktion der Massen betrachtet. Die Behauptung Trotzkis, daß Lenin den Aufstand hinter dem Rücken der Sowjets durchführen wollte, ist schon darum vollkommen unsinnig, weil gerade Lenin es war, der als erster die Parole „Alle Macht den Arbeiter- und Bauernsowjets" aufgestellt und in allen seinen Publikationen seit Anfang 1900 vertreten hat. Unter dieser Parole wurde die Oktoberrevolution von der Bolschewistischen Partei unter Führung Lenins vorbereitet und durchgeführt. Richtig an der Darstellung Trotzkis ist überhaupt nur, daß auch in der Frage der Organisierung des Aufstandes zwischen ihm und Lenin Meinungsverschiedenheiten bestanden, daß also selbst bei der Durchführung der Oktoberrevolution keinesfalls eine enge Kampfgemeinschaft zwischen den beiden war. Wie scharf Lenin gerade am Vorabend der Oktoberrevolution Trotzki angegriffen hat, schildert dieser selbst in „Über Lenin" (Seite 77):
„,Wir dürfen nicht warten, wir dürfen nicht aufschieben', wiederholte Lenin immer wieder. Unter diesen Umständen fand Ende September oder Anfang Oktober die berühmte Nachtsitzung des Zentralkomitees in der Wohnung der Suchanows statt. Lenin kam dorthin, fest entschlossen, diesmal einen Beschluß durchzusetzen, in dem es für Zweifel, Schwanken, Hinausschieben, Passivität und Abwarten keinen Platz mehr gab. Jedoch, noch bevor er die Gegner des bewaffneten Aufstandes angriff, begann er auf die zu wettern, die den Aufstand mit dem Zweiten Rätekongreß in Verbindung brachten. Irgend jemand hatte ihm meine Worte berichtet: ,Wir haben bereits den Aufstand auf den 25. Oktober festgesetzt'."
In der Tat, Lenin hat am Vorabend des Oktober sehr heftig gegen Trotzki „gewettert". Am 29. September 1917 sagte Lenin in „Die Krise ist herangereift" (Sämtliche Werke, Band XXI, Seite 306 usf.):
„Was ist also zu tun? Man muß aussprechen, was ist, die Wahrheit zugeben, daß bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Richtung oder Meinung existiert, die für das Abwarten des Rätekongresses, gegen die sofortige Machtergreifung, gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Richtung muß niedergekämpft werden. Sonst würden sich die Bolschewiki mit Schmach bedecken und als Partei erledigt sein.
Denn einen solchen Augenblick zu verpassen und den Sowjetkongreß ,abzuwarten' wäre eine vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat.
Ein vollendeter Verrat an den deutschen Arbeitern. Wir können doch nicht den Anfang ihrer Revolution abwarten!! Dann werden auch die Liber-Dan (Menschewiki, d.V.) für ihre Unterstützung sein. Sie kann aber nicht beginnen, solange Kerenski, Kirschkin und Co. an der Macht sind.
Ein vollendeter Verrat an der Bauernschaft. Die Niederwerfung des Bauernaufstandes dulden, obwohl wir beide hauptsächlichen Räte in Händen haben, heißt jedes Vertrauen der Bauern verlieren und verdient verlieren, heißt in den Augen der Bauern mit den Liber-Dan und übrigen Schuften auf einer Stufe stehen.
Den Räte-Kongreß ,abzuwarten' ist vollendete Idiotie, denn das heißt Wochen verlieren, Wochen und sogar Tage entscheiden aber jetzt alles. Das heißt feige der Machtergreifung entsagen, denn am 1.—2. November wird sie unmöglich sein (sowohl politisch als auch technisch: man wird für den Tag des einfältig ,angesetzten' Aufstandes Kosaken bereithalten.) Anmerkung Lenins: Den Sowjetkongreß zum 20. Oktober ,einzuberufen', damit er die Machtergreifung beschließe — wodurch unterscheidet sich das von der einfältigen ,Festsetzung' des Aufstandes?? Jetzt können wir die Macht nehmen, am 20.—29. Oktober wird man das nicht mehr zulassen.
Den Rätekongreß ,abzuwarten', ist Idiotie, denn dieser Kongreß wird nichts ergeben, kann nichts ergeben!
Die ,moralische' Bedeutung? Erstaunlich!! Die ,Bedeutung' von Resolutionen und von Unterhaltungen mit den Liber-Dan, wo wir doch wissen, daß die Räte für die Bauern sind und daß man den Bauernaufstand niederschlägt!! Dadurch degradieren wir diese Räte zu erbärmlichen Schwatzbuden. Schlagt erst Kerenski, dann beruft den Kongreß ein...
Der Sieg des Aufstandes ist den Bolschewiki jetzt sicher: 1. wir können (wenn wir nicht auf den Rätekongreß ,warten') plötzlich und von drei Stellen aus, in Petrograd, Moskau und der Baltischen Flotte, losschlagen; 2. wir haben Losungen, die uns Unterstützung gewährleisten: Nieder mit der Regierung, die den Aufstand der Bauern gegen die Gutsbesitzer unterdrückt!; 3. wir haben die Mehrheit im Lande; 4. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind in voller Zersetzung; 5. wir haben die technische Möglichkeit, die Macht in Moskau zu ergreifen (Moskau könnte sogar anfangen, um den Feind durch Überraschung zu überrumpeln); 6. wir haben in Petrograd tausende bewaffnete Arbeiter und Soldaten, die mit einem Schlage den Winterpalast, den Generalstab, die Telefonzentrale und alle großen Druckereien besetzen können: wir sind dann nicht mehr zu vertreiben und in der Armee wird eine solche Agitation einsetzen, daß es nicht möglich sein wird, gegen diese Regierung des Friedens, des Landes für die Bauern usw. zu kämpfen.
Wenn wir auf einmal plötzlich von drei Stellen aus losschlagen, in Petrograd, Moskau und der Baltischen Flotte, so sind 99 von Hundert Chancen dafür, daß wir mit geringeren Opfern, als der 3.—4. Juli gekostet hat, siegen werden, denn die Truppen werden nicht gegen die Regierung des Friedens marschieren. Auch wenn Kerenski jetzt schon ,zuverlässige' Kavallerie usw. in Petrograd hat, wird er gezwungen sein, sich zu ergeben, wenn wir von zwei Seiten den Schlag führen und wenn die Armee mit uns sympathisiert. Wenn wir auch bei so günstigen Aussichten, wie sie jetzt bestehen, die Macht nicht ergreifen, so ist alles Reden über die Macht den Räten eine Lüge.
Jetzt die Macht nicht übernehmen, ,warten', im Z E K schwatzen, sich auf den ,Kampf um ein Organ' (des Rates), sich auf den Kampf für den Kongreß beschränken, heißt die Revolution zugrunde richten ...
... Es ist meine tiefste Überzeugung, daß wir die Revolution zugrunde richten, wenn wir den Rätekongreß ,abwarten' wollen und den Augenblick verpassen."
Lenins Angriffe gegen diejenigen, die den sofortigen Aufstand ablehnten, die gegen unverzügliche Machtergreifung und für das Abwarten des Sowjetkongresses waren, richteten sich einerseits gegen Trotzki und andererseits gegen Sinowjew und Kamenew. Die beiden Letzteren waren gegen den Aufstand und Trotzki war für die unbedingte Verbindung des Aufstandes mit dem Sowjetkongreß. Über die Differenzen, die zwischen Lenin und Trotzki in der Frage des Oktoberaufstandes bestanden, äußerte sich Stalin in einer Rede auf dem Plenum der Fraktion des Zentralrates der Gewerkschaften (am 19. November 1924):
„... Noch schlimmer ist es um den Genossen Trotzki bestellt, wenn er von Lenins Position in der Frage der Form des Aufstandes spricht. Bei Genossen Trotzki ist es so, daß nach Lenin die Partei im Oktober die Macht unabhängig von dem Sowjet und hinter seinem Rücken ergreifen sollte; hierauf kritisiert Genosse Trotzki diesen Unsinn, den er Lenin zuschreibt, und läßt hierbei ,alle seine Künste spielen, um schließlich zu dem nachsichtigen Urteil zu kommen: ,Das wäre ein Fehler gewesen.' Genosse Trotzki sagt hier die Unwahrheit über Lenin, er entstellt die Ansichten Lenins über die Rolle der Sowjets im Aufstand. Man könnte einen ganzen Haufen von Dokumenten anführen, die davon sprechen, daß Lenin vorschlug, die Macht durch die Sowjets, den Leningrader oder den Moskauer, nicht aber hinter dem Rücken der Sowjets zu ergreifen. Zu welchem Zwecke brauchte Genosse Trotzki diese mehr als seltsame Legende über Lenin?
Nicht besser ist es um Genossen Trotzki bestellt, wenn er die Position des ZK und Lenins in der Frage des Termins des Aufstandes ,untersucht'. Über diese berühmte Sitzung des ZK vom 10. Oktober behauptet Genosse Trotzki, in dieser Sitzung sei ,eine Resolution in dem Sinne gefaßt worden, daß der Aufstand spätestens am 15. Oktober zu erfolgen habe' (siehe ,Über Lenin', S. 72). Es ist demnach so, daß das ZK den Termin des Aufstandes auf den 15. Oktober festgesetzt und dann selbst diesen Beschluß durchbrochen habe, indem es den Termin des Aufstandes auf den 25. Oktober hinausschob. Ist das richtig? Nein, das ist nicht richtig ...
... Genosse Trotzki ist, was den Termin des Aufstandes und die Resolution des ZK über den Aufstand betrifft, von seinem Gedächtnis im Stich gelassen worden.
Genosse Trotzki ist völlig im Unrecht, wenn er behauptet, Lenin habe die Sowjetlegalität unterschätzt, Lenin habe die ernste Bedeutung der Machtergreifung durch den Gesamtrussischen Sowjetkongreß am 25. Oktober nicht verstanden und habe gerade aus diesem Grunde die Machtergreifung vor dem 25. Oktober gefordert. Das ist nicht richtig. Lenin schlug aus zwei Gründen vor, die Macht vor dem 25. Oktober zu ergreifen. Erstens, weil die Konterrevolutionäre Leningrad in jedem beliebigen Augenblick ausliefern konnten, was den anwachsenden Aufstand hatte verbluten lassen, und weil angesichts dessen jeder Tag teuer war. Zweitens, weil der Fehler des Leningrader Sowjets, der den Tag des Aufstandes offen angegeben und veröffentlicht hatte (25. Oktober), nicht anders korrigiert werden konnte als durch den faktischen Aufstand vor diesem legalen Aufstandstermin. Lenin betrachtete nämlich den Aufstand als eine Kunst, und deshalb mußte er wissen, daß der (durch die Unvorsichtigkeit des Leningrader Sowjets) über den Tag des Aufstandes unterrichtete Feind sich unbedingt Mühe geben würde, sich auf diesen Tag vorzubereiten, so daß es notwendig war, dem Feind zuvorzukommen, d.h. den Aufstand unbehelligt vor dem legalen Termin zu beginnen. Dadurch erklärt sich auch hauptsächlich die Leidenschaftlichkeit, mit der Lenin in seinen Briefen die Fetischisten des Datums des 25. Oktobers geißelte. Die Ereignisse haben bewiesen, daß Lenin völlig im Recht war. Bekanntlich wurde der Aufstand vor dem Gesamtrussischen Sowjetkongreß begonnen. Bekanntlich wurde die Macht faktisch vor der Eröffnung des Gesamtrussischen Sowjetkongresses ergriffen, und zwar nicht vom Sowjetkongreß, sondern vom Leningrader Sowjet, vom revolutionären Militärkomitee. Der Sowjetkongreß hat die Macht lediglich aus den Händen des Leningrader Sowjets empfangen. Deshalb sind die langatmigen Betrachtungen des Genossen Trotzki über die Bedeutung der Sowjetlegalität völlig überflüssig.
Eine lebendige und mächtige Partei an der Spitze der revolutionären Massen, die die bürgerliche Staatsmacht stürmen und stürzen — das war der Zustand unserer Partei in dieser Periode."
In der gleichen Rede beschäftigte sich Stalin auch sehr eingehend mit den Legenden von der überragenden Rolle Trotzkis im Oktoberaufstand:
„Die Trotzkisten verbreiten eifrig Gerüchte, daß der Inspirator und alleinige Führer des Oktoberaufstandes Genosse Trotzki gewesen sei. Diese Gerüchte werden besonders eifrig von dem sogenannten Redakteur der Werke des Genossen Trotzki, dem Genossen Lenzner, verbreitet. Genosse Trotzki selbst fördert mit oder ohne Absicht die Verbreitung der Gerüchte über die besondere Rolle des Genossen Trotzki im Aufstand, indem er systematisch die Partei, das ZK der Partei und das Leningrader Parteikomitee übergeht, die führende Rolle dieser Organisation beim Aufstand verschweigt und eifrig sich selbst als die zentrale Figur des Oktoberaufstandes in den Vordergrund stellt. Es liegt mir fern, die unzweifelhaft wichtige Rolle des Genossen Trotzki im Aufstand zu leugnen. Doch muß ich sagen, daß Genosse Trotzki keinerlei besondere Rolle im Oktoberaufstand gespielt hat und sie auch nicht spielen konnte, da er, als Vorsitzender des Petrograder Sowjets, lediglich den Willen der entsprechenden Parteiinstanzen ausführte, die jeden Schritt des Genossen Trotzki leiteten .....
Nehmen wir die Protokolle der Sitzung des ZK vom 16. Oktober 1917. Anwesend sind die Mitglieder des ZK plus Vertreter des Leningrader Komitees plus Vertreter der Militärorganisation, der Betriebsräte, der Gewerkschaften, der Eisenbahner. Unter den Anwesenden befinden sich außer den Mitgliedern des ZK die Genossen Krylenko, Schotman, Kalinin, Wolodarski, Schljapnikow, Lazis u.a.; insgesamt 25 Mann. Es wird die Frage des Aufstandes von der rein praktisch-organisatorischen Seite besprochen. Die Resolution Lenins über den Aufstand wird mit einer Stimmenmehrheit von 20 gegen 2, bei drei Stimmenthaltungen, angenommen. Man wählt ein praktisches Zentrum für die organisatorische Leitung des Aufstandes. Wer kommt nun in dieses Zentrum? In dieses Zentrum werden fünf Mann gewählt: Swerdlow, Stalin, Dsershinski, Bubnow, Uritzki. Die Aufgaben des praktischen Zentrums bestehen in der Leitung aller praktischen Organe des Aufstandes gemäß den Direktiven des Zentralkomitees. Wie man sieht, ist also in dieser Sitzung des ZK etwas ,Schreckliches' vorgefallen, nämlich der ,Inspirator', die ,Hauptfigur', der „alleinige Führer“ des Aufstandes, Genosse Trotzki, ist ,seltsamerweise' nicht in das praktische Zentrum gekommen, das berufen war, den Aufstand zu leiten. Wie läßt sich das mit der landläufigen Meinung von der besonderen Rolle des Genossen Trotzki vereinbaren? Ist das alles nicht etwas ,seltsam', wie Suchanow oder die Trotzkisten sagen würden? Indessen ist daran eigentlich nichts Seltsames, denn Genosse Trotzki, ein in der Periode des Oktober für unsere Partei verhältnismäßig neuer Mensch, hat irgendeine besondere Rolle weder in der Partei noch im Oktoberaufstand gespielt und konnte sie auch gar nicht spielen. Er war so wie alle verantwortlichen Funktionäre lediglich ein Vollstrecker des Willens des ZK und seiner Organe. Wer mit der Mechanik der Parteileitung der Bolschewiki vertraut ist, wird ohne besondere Mühe verstehen, daß es anders auch gar nicht sein konnte: Genosse Trotzki brauchte nur gegen den Willen des ZK zu handeln, um jeden Einfluß auf den Verlauf der Ereignisse einzubüßen. Das Gerede von der besonderen Rolle des Genossen Trotzki ist eine Legende, die von dienstbeflissenen Partei-Klatschbasen verbreitet wird.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß der Oktoberaufstand nicht seinen Inspirator gehabt hat. Ja, er hatte seinen Inspirator und Führer. Doch das war Lenin und kein anderer, derselbe Lenin, dessen Resolution vom ZK bei der Entscheidung über die Frage des Aufstandes angenommen wurde, derselbe Lenin, den die Illegalität nicht daran hinderte, entgegen der Behauptung des Genossen Trotzki, der wirkliche Inspirator des Aufstandes zu sein. Es ist dumm und lächerlich, heute durch Geschwätz über die Illegalität die unzweifelhafte Tatsache verwischen zu wollen, daß der Inspirator des Aufstandes der Führer der Partei, W. I. Lenin, war.
Das sind Tatsachen.
Zugegeben, sagt man uns, man könne aber nicht leugnen, daß Genosse Trotzki in der Periode des Oktober gut gekämpft habe. Ja, das stimmt. Genosse Trotzki hat im Oktober wirklich gut gekämpft. Doch in der Periode des Oktober hat nicht nur Genosse Trotzki gut gekämpft, nicht übel haben sogar solche Leute gekämpft, wie die linken Sozialrevolutionäre, die damals Schulter an Schulter mit den Bolschewiki standen. Überhaupt muß ich sagen, daß es in der Periode des siegreichen Aufstandes, wenn der Feind isoliert ist und der Aufstand anwächst, nicht schwer ist, gut zu kämpfen. In solchen Augenblicken werden sogar Rückständige zu Helden. Aber der Kampf des Proletariats ist nicht eine einzige Offensive, eine ununterbrochene Kette von Erfolgen. Der Kampf des Proletariats macht auch seine Prüfungen, seine Niederlagen durch. Ein wirklicher Revolutionär ist .... derjenige, .... der bei der siegreichen Offensive der Revolution gut zu kämpfen versteht, zugleich aber auch versteht, in der Periode des Rückzugs der Revolution, in der Periode der Niederlage des Proletariats Mut zu beweisen, der den Kopf nicht verliert .... Es ist äußerst traurig, aber eine unzweifelhafte Tatsache, daß es dem Genossen Trotzki, der in der Periode des Oktober gut gekämpft hat, in der Periode von Brest-Litowsk, in der Periode der zeitweiligen Mißerfolge der Revolution an dem nötigen Mut gebrach, in diesem schwierigen Augenblick genügend Standhaftigkeit zu beweisen und nicht in die Fußtapfen der linken Sozialrevolutionäre zu treten ....
.... Die Revolution erschöpft sich nicht mit dem Oktober. Der Oktober ist nur der Beginn der proletarischen Revolution. Schlimm, wenn man beim beginnenden Aufstand kneift. Noch schlimmer, wenn man bei schweren Prüfungen der Revolution nach der Machtergreifung kneift. Die Macht am Tage nach der Revolution zu behaupten, ist nicht minder wichtig als die Ergreifung der Macht ... Trotzki hat in der Oktoberrevolution seine Pflicht erfüllt, aber er war weder der Inspirator, noch der Führer der Oktoberrevolution. Er hat als Vorsitzender des Petrograder Sowjets im Auftrage der Partei gehandelt und deren Direktiven ausgeführt. Hätte er das abgelehnt, so hätte die Partei an die Spitze des Petrograder Sowjets einen anderen Mann gestellt und die Oktoberrevolution wäre nicht anders verlaufen." Genau so war es im Bürgerkrieg. Trotzki hat auch da keinesfalls die Überragende Rolle gespielt, wie von der die trotzkistische Legende berichtet. Er selbst berichtet in „Mein Leben" in einem besonderen Kapitel „Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie" (Seite 434 usf.) über die Differenzen, die er während des Bürgerkrieges mit dem Zentralkomitee der Partei, also auch mit Lenin hatte. In der vorher zitierten Rede vor den Gewerkschaftlern beschäftigt sich Stalin auch mit Trotzkis Rolle im Bürgerkrieg. Zu diesem Thema sagt er:
„Auch die sehr verbreitete Version, Genosse Trotzki sei der ,einzige' oder der ,Hauptorganisator' der Siege auf den Fronten des Bürgerkrieges gewesen, gehört zu diesen Legenden. Im Interesse der Wahrheit erkläre ich, daß diese Version durchaus nicht der Wahrheit entspricht. Einige Beispiele: Es ist bekannt, daß Koltschak und Denikin als die Hauptfeinde der Sowjetrepublik galten und daß unser Land erst nach der Niederlage dieser Feinde aufatmen konnte. Und jetzt berichtet die Geschichte, daß unsere Truppen diese beiden Feinde, sowohl Koltschak wie Denikin, dem Plan des Genossen Trotzki entgegen, niedergeworfen haben.
1. Angriff im Sommer 1919 gegen Koltschak. Unsere Truppen greifen Koltschak an und operieren vor Ufa. Sitzung des Zentralkomitees. Genosse Trotzki schlägt vor, den Angriff an der Linie des Flusses Bjalaja (vor Ufa) aufzuhalten, den Ural Koltschak zu überlassen, einen Teil unserer Truppen von der Ostfront wegzukommandieren und sie auf die Südfront zu werfen. Heiße Debatten finden statt. Das Zentralkomitee lehnt diesen Trotzki-Plan ab und erklärt, daß man Koltschak unmöglich den Ural mit seinen Werken, seinem Eisenbahnnetz überlassen kann, da er sich dort organisieren, Großbauern um sich sammeln würde, um wieder an die Wolga vorzustoßen; man müsse vor allem Koltschak über den Kamm des Ural in die sibirischen Steppen treiben und erst dann die Überführung der Truppen nach der Südfront in Erwägung ziehen. Das Zentralkomitee bleibt fest. Genosse Trotzki gibt seine Demission, das Zentralkomitee lehnt diese ab. Der Oberkommandant Vazetis, der für den Plan des Genossen Trotzki ist, tritt zurück. Genosse Kamenew (General S. Kamenew. D.V.) tritt an seine Stelle. Von diesem Augenblick an nimmt Genosse Trotzki an den Handlungen an der Ostfront nicht mehr direkt teil.
2. Die Kämpfe mit Denikin im Herbst 1919. Der Angriff gegen Denikin scheitert. Denikin nimmt Kurek, stößt dann auf Orel vor. Genosse Trotzki wird von der Südfront zur Sitzung des Zentralkomitees gerufen; das Zentralkomitee erklärt, die Lage sei beunruhigend, beschließt, Trotzki abzuberufen und an die Südfront neue Militärfunktionäre zu senden. Diese verlangen, Genosse Trotzki solle von jeder Aktivität an der Südfront ferngehalten werden, worauf Genosse Trotzki zurücktritt. Die Operationen an der Südfront bis zur Einnahme von Rostow am Don und Odessa erfolgen durch unsere Truppen, ohne Beteiligung des Genossen Trotzki."
In „Mein Leben" (Seite 435) bestätigt Trotzki im Wesentlichen die Darstellungen Stalins über die Differenzen um den Kampf gegen Koltschak. Er schreibt dort:
„Das Zentralkomitee nahm einen Beschluß gegen das Oberkommando und damit auch gegen mich an, da ich Vazetis unterstützte, geleitet von der Erwägung, daß die strategische Gleichung mehrere Unbekannte enthalte, unter denen die noch zu junge Autorität des Oberbefehlshabers eine wichtige Größe bilde. Der Beschluß des Zentralkomitees erwies sich als richtig. Die Ostfront machte einen Teil der Kräfte für die Südfront frei und rückte gleichzeitig siegreich nach Sibirien vor, Koltschak auf den Fersen folgend. Dieser Konflikt führte zum Wechsel des Kommandos. Vazetis wurde abgesetzt, seinen Platz nahm Kamenew ein." Das Wesentliche, was sich sowohl aus der Darstellung Stalins, wie auch aus Trotzkis Schilderung in dem ganzen Kapitel die „Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie" ergibt, ist die Tatsache, daß Trotzki auch im Bürgerkrieg nur die Direktiven des Zentralkomitees ausführte. Gab es Differenzen — und es gab solche auch in jener Zeit genug — so entschied nicht Trotzki, sondern das Zentralkomitee. Trotzki war nur das ausführende Organ der auch im Bürgerkrieg führenden Bolschewistischen Partei. Hätte er damals gegen diese zu handeln versucht, so wäre der Bürgerkrieg auch ohne die Mitwirkung Trotzkis siegreich beendet worden.

DIE GEGENSÄTZE ZWISCHEN LENIN UND TROTZKI NACH DER OKTOBERREVOLUTION

Trotzki war nur sehr kurze Zeit in der Bolschewistischen Partei. Obwohl von der Oktoberrevolution bis zum Tode Lenins — Januar 1924 — alle Kräfte stark auf die Niederwerfung der konterrevolutionären Gefahren konzentriert waren, ist Lenin in dieser kurzen Zeitspanne mehrmals sehr heftig mit Trotzki zusammengestoßen. Auch bei der Darstellung dieses Zeitabschnittes ist Trotzki seiner Methode der Geschichtsschreibung treu geblieben. So weit er Differenzen erwähnt, stellt er sie als verhältnismäßig harmlos hin. Im allgemeinen sei Lenin immer mit ihm und seinem Tun einverstanden gewesen, und wo Meinungsverschiedenheiten waren, hat sich in vielen Fällen — wie z.B. in der Stellungnahme zum polnischen Krieg und zur NEP — nachträglich herausgestellt, daß nicht Lenin, sondern Trotzki recht hatte. Der Eindruck, der nach Trotzkis Geschichtsschreibung über diese Zeit entstehen kann, ist ungefähr: Waren Lenin und Trotzki einer Meinung, so hatte Lenin recht, waren sie verschiedener Meinung, dann hatte Trotzki recht. Die Legende von der überragenden Führerrolle Trotzkis wird auch in seinem Bericht über diese Periode fortgesponnen.
Der erste Zusammenstoß zwischen Lenin und Trotzki erfolgte unmittelbar nach der Oktoberrevolution — Anfang 1918 — bei der Entscheidung über den Brest-Litowsker Frieden. In dieser Frage wurde über das Schicksal der eben erst siegreichen proletarischen Revolution entschieden. Die linken Sozialrevolutionäre, die damals noch neben den Bolschewiki marschierten und ein ultralinker Flügel der Bolschewiki, zu dem Bucharin und Radek gehörten, verlangten die Ablehnung der demütigenden Friedensvorschläge der deutschen Militaristen und die Organisierung des revolutionären Krieges gegen das eroberungslüsterne Deutschland. Trotzki vertrat auch in dieser Frage eine Sonderstellung. Er sympathisierte mit dem revolutionären Krieg der Ultralinken und schlug vor, den revolutionären Krieg zwar nicht offen zu erklären, aber das Brest-Litowsker Friedensdiktat nicht zu unterschreiben. Weder Krieg noch Frieden war seine Parole. Dies bezeichnete er als die beste Losung, weil er glaubte, daß die Deutschen nicht mehr marschieren können. Darum sei — so argumentierte er — die Nichtunterzeichnung des Friedensdiktats einerseits gefahrlos für die russische Revolution, andererseits aber beweise sie den Proletariern in den anderen Ländern, daß das proletarische Rußland in erbitterter Feindschaft dem deutschen Imperialismus gegenüberstehe.
Lenin trat den Auffassungen Trotzkis und der Ultralinken ganz entschieden entgegen. Nicht etwa, weil er prinzipiell gegen einen revolutionären Krieg war, sondern weil er in der gegebenen Situation nach dem Erlebnis und den Opfern des Krieges das russische Volk für unfähig hielt, einen revolutionären Krieg zu führen. Es fehlten alle materiellen Voraussetzungen für den erfolgreichen Widerstand gegen den noch ungeschlagenen deutschen Militarismus. Ohne diese materiellen Voraussetzungen war die Parole des revolutionären Krieges — nach Lenin — nichts als eine hohle, aber gefährliche Phrase.
Trotzki, die Ultralinken und die Sozialrevolutionäre, die brüske Ablehnung des Brester Friedensdiktates empfahlen, gingen — so argumentierte Lenin — von einer vollkommen falschen, illusionären Einschätzung der militärischen Lage aus. Die deutschen Generale könnten noch marschieren — und sie würden marschieren. Ihnen wäre die Ablehnung des Brester Friedensdiktates die willkommene Gelegenheit, Petrograd und Moskau zu besetzen und erfolgreich die imperialistische, konterrevolutionäre Intervention durchzuführen, die der proletarischen Revolution das Genick brechen sollte. Lenin vertrat darum den Standpunkt, daß Rußland unter den gegebenen Umständen auch den schlechtesten Frieden mit Deutschland unterzeichnen müsse, um den Sieg der proletarischen Revolution zu erhalten, um eine Atempause zu gewinnen, in der das Kräfteverhältnis geändert werden könne. Lenin hat dabei nie damit gerechnet, daß der Brest-Litowsker Vertrag ein unabänderliches, endgültiges Ergebnis schaffe. Seine reale Einschätzung der internationalen Situation und der Lage in Deutschland gab ihm die Überzeugung, daß die Mittelmächte früher oder später zusammenbrechen müßten und daß mit diesem Zusammenbruch auch der schlechte Brest-Litowsker Friede ausgelöscht würde. Die Entwicklung hat Lenin hundertprozentig recht gegeben. Hatte er jedoch vor Brest-Litowsk den Ultralinken und Trotzki nicht so heftigen Widerstand geleistet, hätte er seine richtige Auffassung nicht allmählich gegen alle Widerstände durchgesetzt, dann wäre noch vor dem Zusammenbruch des deutschen Militarismus von diesem die siegreiche proletarische Revolution in Rußland niedergeschlagen worden und die Sowjetunion, der erste machtvoile Arbeiterstaat, wäre nicht entstanden. In seinem Buche „Über Lenin" (Seite 88) berichtet Trotzki Über Lenins damalige Stellungnahme:
„Im Augenblick ist unsere Revolution wichtiger als alles andere; wir müssen sie sichern, koste es, was es wolle." In der Geschichtsschreibung Trotzkis wird natürlich auch seine Differenz mit Lenin in der Brest-Litowsker Frage als harmlos hingestellt. Jedoch selbst aus seinen Darstellungen geht hervor, daß er in der entscheidenden Situation Lenin offenen Widerstand leistete. In „Mein Leben" (Seite 373) erzählt Trotzki:
„In der Sitzung des Zentralkomitees vom 17. Februar stellte Lenin zur vorläufigen Abstimmung die Frage: ,Wenn der deutsche Angriff für uns zur Tatsache werden wird und kein revolutionärer Aufstand in Deutschland erfolgt, schließen wir dann Frieden?'"
Die Mehrheit des Zentralkomitees war für diese Formulierung. Aber Trotzki handelte in der entscheidenden Stunde nach eigenem Ermessen. Er selbst berichtet über sein Verhalten im Anschluß an das obige Zitat weiter:
„Am nächsten Morgen lehnte ich das sofortige Absenden des von Lenin vorgeschlagenen Telegramms über unsere Bereitschaft, den Frieden zu unterzeichnen, ab." Trotzki war zu jener Zeit Volkskommissar des Äußern, dessen Aufgabe die Durchführung der in das Gebiet der Außenpolitik fallenden Beschlüsse war. Das Telegramm an die Deutschen, das im Sinne des Beschlusses des Zentralkomitees die Bereitschaft zur Unterzeichnung des Friedensvertrages übermitteln sollte, mußte vom Volkskommissar des Äußern abgeschickt werden. Dieser jedoch verhinderte die rechtzeitige Absendung des Telegramms. Der entscheidende Augenblick wurde dadurch verpaßt, den eroberungslüsternen deutschen Generalen wurde die Möglichkeit zu der von ihnen gewollten Aktion gegeben. Die Deutschen marschierten, und sie konnten noch sehr gut marschieren. Sie besetzten u.a. auch die Ukraine und Finnland, von denen das Letztere dadurch endgültig aus dem Verband der Sozialistischen Sowjetrepubliken ausschied. Trotzki erzählt dann weiter, daß er sich am Abend des gleichen Tages, als einwandfrei feststand, wie gut die deutsche Kriegsmaschine noch funktionierte, zur Absendung des Telegramms bereit erklärte. Jetzt aber waren die deutschen Heere schon in Bewegung, sie marschierten unaufhaltsam vorwärts, sie scherten sich nicht mehr um die zu spät gekommene Unterzeichnungsbereitschaft. Die deutschen Generale diktierten nun neue, wesentlich schlechtere Bedingungen, die die russische Delegation dann erst am 3. März unterschreiben durfte, und — wie Trotzki berichtet — ungelesen unterschrieb. Es zeigte sich inzwischen ganz deutlich, wie sehr die materielle Lage des proletarischen Rußland durch Trotzkis Weigerung, die von Lenin verlangte Unterzeichnung des Friedens rechtzeitig durchzuführen, verschlechtert wurde. Im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedensvertrages mußte Trotzki von seinem Posten als Volkskommissar des Äußern zurücktreten.
In den entscheidenden Stunden, als es um das Schicksal der russischen Revolution ging, ist Trotzki gegen Lenin aufgestanden. Die drohende Gefahr ist nur darum beseitigt worden, weil Lenin unbeugsam die richtige Linie gegen alle Widerstände durchsetzte. Später hat Trotzki zugeben müssen, daß im Kampf um den Brester Frieden nicht er, sondern Lenin recht hatte. In „Mein Leben" (Seite 379) schreibt er:
„Am 3. Oktober 1918 sagte ich auf der außerordentlichen Tagung der obersten Organe der Sowjetmacht: ,Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als eine Pflicht, zu erklären, daß in jener Stunde, als viele von uns, darunter auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, daß wir durch dieses Joch hindurchgehen müßten .... Und jetzt müssen wir anerkennen, daß nicht wir recht gehabt hatten.'" Lenin selbst hat die Differenzen, die er mit Trotzki wegen des Brest-Litowsker Friedens hatte, nicht so harmlos angesehen, wie das später von Trotzki dargestellt wurde. In einer Rede über „Krieg und Frieden", die Lenin am 7. März 1918 auf dem VII. Parteitag hielt (also nach der am 3. März erfolgten „unbesehenen" Unterzeichnung des Friedensdiktats) legte er der Partei seinen Standpunkt dar. Er sagte dabei u.a. (Ausgewählte Werke, Band VII, Seite 296 usf.):
„Wir sagten, daß es eine leichtfertige Illusion sei, zu glauben, daß man die Armee zusammenhalten könne, die Gesundung des gesamten gesellschaftlichen Organismus um so schneller einsetzen werde, je schneller wir die Armee demobilisieren. Deshalb war es ein so schwerer Fehler, eine so bittere Überschätzung der Ereignisse, die revolutionäre Phrase zu prägen: ,Der Deutsche kann nicht angreifen', woraus sich eine zweite Phrase ergab: ,Wir können die Einstellung des Kriegszustandes erklären. Weder Krieg noch Unterzeichnung des Friedens!' Aber wenn der Deutsche doch angreifen wird? ,Nein, der Deutsche kann nicht angreifen.' Und ihr habt kein Recht, die internationale Revolution aufs Spiel zu setzen, ihr müßt euch vielmehr die konkrete Frage stellen, ob ihr euch nicht als Helfershelfer des deutschen Imperialismus erweisen werdet, wenn dieser Moment eintritt?" Diese Polemik richtet sich ausdrücklich gegen Trotzki, der die phrasenhafte Parole ausgegeben hatte: „Weder Krieg noch Unterzeichnung des Friedens!" In seinem Schlußwort zum Referat über „Krieg und Frieden", das Lenin auf dem gleichen Parteitag am Tage danach, am 8. März, hielt, griff er Trotzki nochmals an (Ausgewählte Werke, Band VII, Seite 313 usf.):
„... Ferner muß ich auf den Standpunkt des Genossen Trotzki eingehen. In seiner Tätigkeit muß man zwei Seiten unterscheiden. Als er die Verhandlungen in Brest-Litowsk aufnahm und sie ausgezeichnet zu Agitationszwecken ausnutzte, waren wir alle mit Genossen Trotzki einverstanden. Er hat einen Teil der Unterredung mit mir zitiert, aber ich muß hinzufügen, wir hatten ausgemacht, daß wir uns bis zum Ultimatum der Deutschen halten, dann nachgeben. Der Deutsche hat uns übers Ohr gehauen: von sieben Tagen hat er uns fünf gestohlen. Die Taktik Trotzkis war, insofern sie darauf ausging, die Dinge in die Länge zu ziehen, richtig; sie wurde unrichtig, als der Kriegszustand für beendet erklärt und der Frieden nicht unterzeichnet wurde. Ich schlug in der bestimmtesten Form vor, den Frieden zu unterzeichnen. Einen besseren Frieden als den von Brest-Litowsk konnten wir nicht bekommen. Es ist allen klar, daß wir dann eine Atempause von einem Monat gehabt, daß wir dabei nichts verloren hätten....
...Wenn Genosse Trotzki die neue Forderung aufstellt: ,Versprecht, daß ihr keinen Frieden mit Winnitschenko unterzeichnen werdet', so sage ich, daß ich eine solche Verpflichtung auf keinen Fall übernehme. Wenn der Parteitag diese Verpflichtung übernähme, so würden weder ich noch irgendeiner meiner Gesinnungsfreunde die Verantwortung dafür auf sich nehmen. Das würde bedeuten, daß man, anstatt eine klare Linie des Manövrierens zu verfolgen, ... sich abermals durch einen formalen Beschluß bindet. In einem Kriege darf man sich niemals durch formale Erwägungen binden. Es ist lächerlich, daß man die Kriegsgeschichte nicht kennt, nicht weiß, daß ein Vertrag ein Mittel ist, um Kräfte zu sammeln...
....Genosse Trotzki sagt, daß das Verrat im vollen Sinne des Wortes wäre. Ich behaupte, daß das ein ganz falscher Standpunkt ist. Um das konkret zu zeigen, will ich ein Beispiel anführen. Zwei Menschen gehen ihres Weges. Sie werden von zehn Menschen überfallen. Der eine kämpft, der andere flieht. Das ist Verrat. Aber nehmen wir an, zwei Armeen zu je Hunderttausend stehen fünf Armeen gegenüber. Die eine Armee ist von zweihunderttausend Mann umzingelt worden. Die andere Armee soll ihr zu Hilfe eilen, weiß aber, daß dreihunderttausend Mann so aufgestellt sind. daß das einer Falle gleichkommt. Kann man da zu Hilfe eilen? Nein, das kann man nicht. Das ist kein Verrat, keine Feigheit. Die einfache Vergrößerung der Zahl hat alle Begriffe verändert. Jeder Militär weiß das. Es handelt sich hier nicht um die eigene Person: indem ich so handle, erhalte ich meine Armee; mag auch die andere gefangen genommen werden, ich werde meine erneuern, ich habe Verbündete ich werde abwarten, die Verbündeten werden mir zu Hilfe kommen. Nur so darf man die Frage stellen. Wenn man aber die militärischen Erwägungen mit anderen vermengt, dann kommen dabei nichts als Phrasen heraus. So darf man nicht Politik treiben. Alles, was möglich war, haben wir getan. Durch Unterzeichnung des Vertrages haben wir Petrograd erhalten, wenn auch nur für einige wenige Tage..."
Trotzki hatte zu Lenins Resolution über Krieg und Frieden einige Abänderungsanträge eingebracht: Er beantragte:
a) das Wort „notwendig" am Anfang der Resolution durch das Wort „zulässig" zu ersetzen („der Parteitag erkennt die Unterzeichnung des überaus schweren, erniedrigenden Friedensvertrages mit Deutschland durch die Sowjetmacht als zulässig an!);
b) dort, wo von der Atempause bis zur Offensive der Imperialisten gegen Sowjetrußland die Rede ist, hinzuzufügen: „unvermeidlichen und nahen" Offensive, und weiter: „in jenen Teilen der russischen Föderation, wo diese Offensive gegenwärtig unterbrochen ist";
c) einen neuen Punkt hinzuzufügen: „Der Parteitag erachtet die Unterzeichnung eines Friedens mit der Kiewer Rada und mit der Regierung der finnischen Bourgeoisie als für die Sowjetmacht unzulässig."
Lenin ergriff in der Parteitagssitzung vom 8. März schließlich noch einmal das Wort zu Trotzkis Abänderungsanträgen (Lenin, Sämtliche Werke, Band XXII, Seite 377):
„Ich habe in meiner Rede bereits gesagt, daß weder ich noch meine Anhänger die Annahme dieses Abänderungsantrages für möglich halten. Wir dürfen bei keinem einzigen strategischen Manöver uns irgendwie die Hände binden...
Die Vollmacht zur Zerreißung der Verträge in jedem Augenblick müssen wir dem ZK erteilen, aber das bedeutet keineswegs, daß wir sofort, in der jetzigen Situation, die Verträge zerreißen .... Die Worte, deren Einfügung Genösse Trotzki beantragt, werden die Stimmen derjenigen auf sich vereinigen, die gegen die Ratifizierung überhaupt sind, die Stimmen für eine mittlere Linie, die wiederum eine Situation schafft, wo kein einziger Arbeiter, kein einziger Soldat, etwas von unserer Resolution verstehen wird...
Ich habe doch gesagt: Nein, das ist für mich nicht annehmbar. Dieser Abänderungsantrag bedeutet eine Anspielung, drückt das aus, was Genosse Trotzki sagen will: Anspielungen soll man nicht in Resolutionen hineinbringen ..." Aus den Reden Lenins auf dem VII. Parteitag ist ersichtlich, daß der Gegensatz zwischen Lenin und Trotzki in der Frage des Brest-Litowsker Friedensvertrages sehr schroff war. Lenin mußte sich gegen den von Trotzki erhobenen Vorwurf des Verrats zur Wehr setzen. Sein Vorstoß gegen Trotzki ist nicht minder scharf; er wirft ihm vor, daß er mit seinem Tun die internationale Revolution aufs Spiel gesetzt habe und Helfershelfer des deutschen Imperialismus wurde.
Eine weitere erhebliche Differenz zwischen Lenin und Trotzki gab es Ende 1920 über den Aufbau der Gewerkschaften. Über den Kampf, den Lenin in dieser Frage gegen Trotzki führen mußte, wird in einem anderen Zusammenhang — in dem Kapitel „Das Problem der Bürokratie" (Siehe Teil VI) — ausführlich berichtet. Es genügt darum hier die kurze Feststellung, daß Lenin in dieser Diskussion die ganze Art, wie Trotzki an diese Frage herangegangen ist, „politisch .... eine einzige Taktlosigkeit" nannte.
„Die .Thesen' des Genossen Trotzki — fuhr Lenin fort — sind eine politisch schädliche Sache. Seine Politik ist alles in allem eine Politik des bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften.“ Trotzki selbst schreibt über diesen Konflikt in „Mein Leben" (Seite 445):
„Zweifellos hat die sogenannte Diskussion über die Gewerkschaften unsere Beziehungen für einige Zeit getrübt. Wir waren beide zu ausgesprochene Revolutionäre und Politiker, um das Persönliche von dem Politischen trennen zu können oder trennen zu wollen. Während dieser Diskussion erhielten Stalin und Sinowjew sozusagen die legale Möglichkeit, den Kampf, den sie gegen mich hinter den Kulissen betrieben hatten, an die Öffentlichkeit zu tragen. Sie bemühten sich aus allen Kräften, die Konjunktur auszunützen." Trotzki erzählt dann weiter, daß er mit Lenin wegen der NEP in Differenzen gekommen sei. Er habe viel früher als Lenin auf die Umstellung zur NEP gedrängt, aber Lenin habe die Richtigkeit seines Wollens nicht eingesehen. Über diese Differenzen schreibt Trotzki in „Mein Leben" (Seite 447/448):
„Anfang 1920 trat Lenin entschieden gegen meine Vorschläge auf. Sie wurden im Zentralkomitee mit elf Stimmen gegen vier abgelehnt. Wie der weitere Gang der Ereignisse bewies, war der Beschluß des Zentralkomitees falsch. Ich brachte die Frage nicht vor das Forum des Parteitages, der vollständig im Zeichen des Kriegskommunismus verlief. Die Wirtschaft rang danach noch ein Jahr lang in einer Sackgasse mit dem Tode. Aus dieser Sackgasse heraus erwuchsen meine Differenzen mit Lenin." Und an anderer Stelle („Mein Leben", Seite 449):
„Am Vorabend des zehnten Parteitages gingen unsere Linien noch scharf auseinander. In der Partei entbrannte die Diskussion...
Lenin formulierte die ersten, sehr behutsamen Thesen für den Übergang zur neuen ökonomischen Politik. Ich schloß mich ihnen sofort an. Für mich waren sie nur die Wiederaufnahme jener Vorschläge, die ich vor einem Jahr eingebracht hatte."
Es gab also nach der Oktoberrevolution fast ununterbrochen Differenzen zwischen Lenin und Trotzki. Daß Lenin in dieser Zeit nicht von den freundschaftlichsten Gefühlen für Trotzki beseelt war — wie dieser später berichtete — beweisen eine Reihe Tatsachen. So sind zum Beispiel während dieser Zelt (in deutscher Sprache im Jahre 1921) die gesammelten Aufsätze Lenins und Sinowjews zur Kriegsfrage unter dem Titel „ Gegen den Strom" herausgegeben worden. In diesem Buche sind alle die scharfen Angriffe enthalten, die Lenin während des Krieges gegen Trotzki erhob und die diesen als einen Feind des Leninismus charakterisieren. Das Buch enthält außerdem ein nach der Oktoberrevolution geschriebenes Vorwort von Lenin. Hätte dieser nach dem Oktober seine Meinung über Trotzki geändert, dann hätte er sicher die scharfen Angriffe gegen Trotzki ausgemerzt, oder er hätte in seinem Vorwort zum Ausdruck gebracht, daß sie durch die grundsätzliche Wandlung Trotzkis ihren Sinn verloren hätten. Aber das hat Lenin nicht getan. Er konnte es nicht tun. weil er auf Grund der Erfahrungen nach der Oktoberrevolution sein Urteil über Trotzki kaum wesentlich geändert hat. Jedenfalls ist auch die mit einem Vorwort Lenins versehene Herausgabe des Buches „Gegen den Strom" ein Beweis gegen Trotzkis Behauptung, Lenin habe nach der Oktoberrevolution „in Wort und Tat" seine frühere Stellung zu Trotzki und dem Trotzkismus korrigiert.
Trotzki schildert in „Mein Leben" seine besondere Übereinstimmung mit Lenin in einer Frage, die nach der Ermordung Kirows und den Terrorakten in der Sowjetunion sehr aktuell wurde. Er schreibt dort, im Anschluß an die Terrorakte der Sozialrevolutionäre, bei denen auch Lenin schwer verwundet wurde, auf Seite 457 usf.:
„Sie hatten Wolodarski ermordet, Uritzki ermordet, Lenin schwer verwundet, zweimal ein Attentat auf meinen Zug geplant. Wir durften das nicht leicht nehmen ... Wir konnten die Augen nicht davor verschließen, welche Gefahr der Revolution drohte, ließen wir es zu, daß der Feind unsere gesamte Spitze abschoß?
Unsere humanen Freunde von der Art derer, die weder heiß noch kalt sind, erklärten uns wiederholt, sie könnten die Unvermeidlichkeit von Repressalien im allgemeinen begreifen; aber den gefangenen Feind zu erschießen, bedeute, die Grenzen der notwendigen Selbstverteidigung zu überschreiten. Sie forderten von uns Großmut! ... Sie schlugen uns vor, es bei Gefängnisstrafen zu belassen. Das schien das Einfachste zu sein. Aber die Frage der persönlichen Repressalien erhält in einer revolutionären Epoche einen ganz besonderen Charakter, an dem alle humanitären Gemeinplätze ohnmächtig abprallen. Der Kampf geht unmittelbar um die Macht, ein Kampf auf Leben und Tod — darin besteht eben die Revolution. Welche Bedeutung kann unter solchen Umständen Gefängnishaft haben für Menschen, die hoffen, in den nächsten Wochen die Macht zu erobern und dann jene ins Gefängnis zu setzen oder zu vernichten, die heute am Ruder stehen? Vom Standpunkt des sozusagen absoluten Wertes der menschlichen Persönlichkeit unterliegt die Revolution genau so der ,Verurteilung' wie der Krieg, wie übrigens die ganze Geschichte der Menschheit...
Im Sommer 1922 nahm die Frage der Repressalien eine um so schärfere Form an, als es sich diesmal um die Führer der Partei handelte, die seinerzeit neben uns den revolutionären Kampf gegen den Zarismus geführt und nach der Oktoberrevolution ihre Waffe des Terrors gegen uns umgekehrt hatten. Überläufer aus dem Lager der Sozialrevolutionäre hatten uns eröffnet, daß die wichtigsten terroristischen Akte nicht, wie wir anfangs zu glauben geneigt blieben, von einzelnen organisiert worden waren, sondern von der Partei, obwohl sie sich nicht entschließen konnte, die Verantwortung für die von ihr begangenen Morde offiziell zu übernehmen." Alles das, was Trotzki als unumgänglich notwendige scharfe Repressalie gegen die Führer der Sozialrevolutonäre „die seinerzeit neben uns den revolutionären Kampf gegen den Zarismus geführt ... hatten", vorschlug, gilt zu allen Zeiten im Kampf um die Macht gegen diejenigen, die auf die andere Seite der Barrikade übergegangen sind, und die immer die offizielle Verantwortung für ihre konterrevolutionären Handlungen ablehnen werden.
Ein ganz besonderes Kapitel in allen Erzählungen Trotzkis bildet die Frage, warum er, der überragende Führer, der in einem so engen Freundschafts- und Kampfgemeinschaftsverhältnis zu Lenin gestanden haben will, nicht dessen unbestrittener Nachfolger wurde. Warum hat Lenin — wenn er Trotzki so hoch schätzte — diesen nie zu seiner Stellvertretung herangezogen? Warum hat er in den Jahren vor seinem Tode die Position Trotzkis nicht so gestaltet, daß die Partei diesen als seinen selbstverständlichen Nachfolger anerkannte? Lenin hat das nicht getan, und er hatte seine guten Gründe. Trotzki gibt in „Mein Leben" zwar zu, daß ihn Lenin nie zu seiner Stellvertretung herangezogen habe. Er begründet das damit, daß Lenin sich aus Bequemlichkeit willigere Stellvertreter ausgesucht habe.
Der Subjektivist stellt alles so dar, wie er es braucht. Gewiß, Lenin stützte sich immer und viel lieber auf andere. Aber nicht — wie Trotzki „erklärt" — aus Bequemlichkeit, sondern weil er mit Trotzki zu viel Differenzen hatte, weil er wußte, daß Trotzki immer Schwierigkeiten machte und eben auf jeden Fall ein „Eigner", ein überragender Führer sein wollte, der sich nicht einordnen konnte. Die Alten Bolschewiki mit Parteitradition und Disziplin waren nicht nur „bequemer", sondern zuverlässiger. Darum stützte sich Lenin auf sie und nicht auf Trotzki.
In den Monaten vor Lenins Tode, während der Krankheit Lenins, habe es dann — nach dem Bericht von Trotzki — keine Meinungsverschiedenheiten mehr zwischen ihm und Trotzki gegeben. In dieser Zeit habe Lenin plötzlich seinen früheren Standpunkt über Bord geworfen und habe nur daran gedacht, wie er Trotzki zu seinem Stellvertreter und Nachfolger machen könne. Jetzt — wo er es doch am nötigsten hatte — habe er auf die „Bequemlichkeit" keine Rücksicht mehr genommen, jetzt wollte er sich unbedingt nur noch auf den unbequemen Trotzki stützen. In dieser Zeit beabsichtigte Lenin — wie Trotzki erzählt — einen „Block Trotzki-Lenin" zu bilden. Aber das „war damals nur Lenin und mir bekannt". („Mein Leben", Seite 465). Auch nur ihm und Lenin war bekannt, daß „die von Lenin begonnene Kampagne das unmittelbare Ziel hatte, die günstigsten Bedingungen für meine leitende Arbeit zu schaffen, entweder neben ihm, wenn er sich erholt haben würde, oder an seiner Stelle, wenn die Krankheit ihn überwinden sollte." („Mein Leben", Seite 472.) Aber all diese Pläne konnten nicht realisiert werden, denn Lenin war krank und Trotzki „war für einige Wochen durch einen Hexenschuß an das Bett gefesselt... Weder Lenin noch ich konnten ans Telephon gehen" („Mein Leben", Seite 466.) Die ganze Erzählung Trotzkis über sein Verhältnis zu Lenin in der letzten Zeit ist typisch kleinbürgerlich. Da ist keine Spur mehr von einer marxistischen Geschichtsbetrachtung. Trotzki kann keine Belege für die Behauptungen beibringen, die außer dem Erzähler niemandem sonst bekannt geworden sind. Das Ganze trägt deutlich den Stempel der Unwahrhaftigkeit auf der Stirn.
Nur die allerdümmsten zufälligen kleinen Umstände haben es verhindert, daß Lenin Stalin nicht mehr abgesetzt und Trotzki zu seinem Nachfolger ernannt hat. Wie töricht die von Trotzki vorgebrachten Gründe sind, wird sofort klar, wenn man sich vorstellt, daß der nach seinen eigenen Angaben sonst immer so aktive Trotzki plötzlich in der seiner Meinung nach entscheidenden Situation wegen eines Hexenschusses nicht zum Telephon gehen und nicht ermöglichen konnte, daß ihm als Volkskommissar in dieser Zeit das Telephon zum Bett gelegt wurde. Lenin wäre nicht Lenin gewesen, wenn er nicht trotz seiner Krankheit die Gelegenheit gefunden hätte, seinen Willen auszusprechen und öffentlich bekannt zu machen. Da er nichts dergleichen tat, da er die Gedanken und Absichten, die ihm Trotzki andichtet und um die niemand anders sonst als dieser wußte, keinem Dritten mitteilte, hat Lenin auch während seiner Krankheit nicht daran gedacht, Trotzki als seinen Stellvertreter oder Nachfolger in seine Partei- und Amtsfunktionen einzusetzen.
Was sind das überhaupt für Betrachtungen? Der Kleinbürger mag sich vorstellen, daß der Führer der proletarischen Revolution seinen Nachfolger ernennt, daß das Amt eines proletarischen Führers erblich ist. Der Marxist weiß, daß die Auslese der Führer in einer revolutionären Partei nach anderen Gesichtspunkten erfolgt. Trotzkis Erzählungen über das „Malheur", das ihn verhindert hat, Lenins Nachfolger zu werden, decken sich mit den Vorstellungen, die sonst höchstens Unpolitische von der Führerauswahl unter der Diktatur des Proletariats haben mögen. Trotzki negiert bei seiner „Geschichtsbetrachtung" vollkommen die realen Zustände, die Strömungen in den Massen, die treibenden sozialen Kräfte in der Geschichte, er negiert vor allem die organisatorische Struktur der leninschen Partei, in der Leitung und Führung nicht von einem Führer, sondern nach dem leninschen Organisationsprinzip bestimmt werden. Hätte Lenin noch lesen können, wie nach Trotzkis Erzählungen sein angeblicher Wille, Trotzki zu seinem Nachfolger zu machen, verhindert wurde, dann hätte er sicher dasselbe Urteil wie 1914 gefällt:
„Anderswoher als aus ,Privatgesprächen', d.h. einfach aus Klatsch, von dem Trotzki immer lebt, konnte er nicht Beweise ... sammeln."
Nicht auf Grund einer marxistischen Analyse, nicht auf Grund Öffentlicher Publikationen Lenins, sondern nur auf Grund angeblicher — nur ihm bekannter — unkontrollierbarer Privatgespräche hat Trotzki das geschichtliche Bild seines Verhältnisses zu Lenin „gestaltet".

DIE ENTWICKLUNG DES TROTZKISMUS NACH LENINS TODE

Der alte Gegensatz zwischen Bolschewismus und Trotzkismus ist noch vor Lenins Tode schärfer in Erscheinung getreten. Er wurde ganz besonders akut, als nach der siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges die Frage des sozialistischen Aufbaus auf die Tagesordnung gestellt werden mußte. Die Konsequenz der trotzkistischen permanenten Revolution, die den Sieg des Sozialismus von dem Siege des Proletariats in den anderen Ländern abhängig machte, war die Verneinung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion. Dagegen war die von Lenin begründete revolutionäre Theorie des Bolschewismus für die Ausnützung aller Möglichkeiten in dem Lande, in dem die proletarische Revolution — wenn auch zunächst nur allein — gesiegt hatte. Die leninistische revolutionäre Theorie forderte in einem ganz anderen Sinne als der Trotzkismus die ununterbrochene Fortführung der Revolution bis zum Siege des Proletariats in allen Ländern. In der Periode nach Lenins Tode wurde die Verneinung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion zum hervorstechendsten sachlichen Wesenskern des Trotzkismus. Darum stieß der Bolschewismus in der Diskussion um die Theorie des Sozialismus in einem Lande besonders heftig mit dem Trotzkismus zusammen. Aus dem alten, in der neuen Situation in veränderter Form auftretenden prinzipiellen Gegensatz entwickelte sich der entscheidende Konflikt Trotzkis mit der Partei. Die große Bedeutung dieses Konfliktes zwingt darum zu einer besonderen Würdigung des ganzen Problems, zur Klarsteilung seines sachlich-praktischen Inhaltes und zu einer ausführlichen Darlegung der entgegengesetzten Standpunkte. Im III. Teil dieses Buches wird das für die weitere Entwicklung der Sowjetunion und für den Befreiungskampf der Weltarbeiterklasse entscheidend wichtige Problem erschöpfend behandelt, so daß in diesem Abschnitt der kurze Hinweis auf die entscheidende Bedeutung und den Ausgang des Kampfes zwischen Trotzkismus und Bolschewismus genügt.
Im Kampf um den sozialistischen Aufbau ist Trotzki allmählich zur permanenten Störung der Aktionseinheit übergegangen. Es hat sehr lange gedauert, bis die Partei schärfere Maßnahmen gegen Trotzki ergriff und seine Disziplinbrüche mit dem Ausschluß aus der Partei beantwortete. Trotzki hat gleich nach Lenins Tode in verstärktem Maße seine führende Sonderstellung in der Partei angestrebt. Er betrachtete sich als den berechtigten Nachfolger Lenins, und er schob es nur den verschiedenen angeblichen Intrigen und Schicksalsfügungen zu, daß er die „Erbfolge" nicht antreten konnte. In „Mein Leben" erzählt er darüber sehr seltsame Geschichten. Das Schicksal wollte es, daß er ausgerechnet auch in der entscheidenden Zeit nach Lenins Tode krank war.
„Die Ärzte verboten mir" — schreibt Trotzki in „Mein Leben", Seite 482 — „das Bett zu verlassen. So lag ich den Rest des Herbstes und des Winters. Das heißt, daß ich während der ganzen Diskussion 1923 gegen den ,Trotzkismus' krank lag. Man kann Krieg und Revolution voraussehen, man kann aber die Folgen einer herbstlichen Jagd auf Enten nicht voraussehen."
Dieser Mangel hat Trotzki um die Chance gebracht, die Nachfolge Lenins anzutreten. In der vorstehenden Darstellung aber gibt Trotzki zu, daß die Diskussion gegen den Trotzkismus schon 1923, also noch zu Lebzeiten Lenins, geführt wurde. Das böse Schicksal wollte es, daß Trotzki im Frühherbst 1923 bei einer Entenjagd in einen Sumpf geriet und sich erkältete. Wäre das Malheur mit dem Sumpf nicht gewesen, wäre die ganze Entwicklung in der Sowjetunion wahrscheinlich anders verlaufen. Doch es kam noch schlimmer. Trotzki ging, nachdem er das Bett verlassen konnte, zur Erholung nach dem Süden, nach Suchum. Die Nachricht von Lenins Tode erhielt er in Tiflis, unterwegs auf der Fahrt nach Suchum. Und nun kommt zu dem bösen Schicksal die böse „Intrige". Man „belog" Trotzki in einem Telefongespräch über den Tag der Beisetzung Lenins, so daß er nicht nach Moskau zurückfuhr und dadurch von der Leichenfeier „ausgeschaltet" wurde. Aus der Darstellung Trotzkis entsteht der Eindruck, daß seine Teilnahme an der Leichenfeier politisch von allergrößter Wichtigkeit war, und daß die Dinge irgendwie eine andere Wendung genommen hätten, wenn er bei der Leichenfeier zugegen gewesen wäre. In Suchum kam ihm dann die große Inspiration für die unabwendbare Notwendigkeit seines Kampfes gegen die Partei:
„In Suchum" — schreibt Trotzki in „Mein Leben", Seite 493 — „lag ich lange Tage auf dem Balkon mit dem Gesicht zum Meere. Trotz dem Januar brannte die Sonne hell und heiß am Himmel ... Mit dem Einatmen der Meeresluft sog ich mit meinem ganzen Wesen die Gewißheit ein, daß im Kampf gegen die Epigonen das historische Recht auf meiner Seite steht..."
Die Meeresluft hat Trotzki die nötige Klarheit gebracht. Sie wurde für den Marxisten ein untrügliches Zeichen. Nun wußte er ganz genau, daß er, und nur er recht habe, und daß er darum den Kampf gegen die „Epigonen", das heißt gegen die Parteibeschlüsse und damit gegen die Partei, auf alle Konsequenzen hin führen müsse. Der Inspiration durch die Meeresluft ist er auch getreu gefolgt; er hat den Kampf für seinen angeblich richtigen Standpunkt gegen die Entscheidungen der Partei so geführt, daß dieser schließlich gar keine andere Wahl blieb, als gegen ihn vorzugehen. In der Diskussion, die der Vorstoß Trotzkis 1924 auslöste, veröffentlichte auch G. Sokolnikow — der im Prozeß gegen Pjatakow, Radek und Genossen mit vor Gericht stand — einen Artikel. In diesem wies er darauf hin, daß Trotzki konsequent seine permanente Revolution vertrete und damit den Konflikt mit der Partei provoziere, Sokolnikow fuhr dann fort:
„Warum schwieg sich das Zentralkomitee bisher über diese wesentlichen Gegensätze aus? ... Das Zentralkomitee wollte die politische und parteiliche Autorität des Genossen Trotzki unter allen Umständen schonen. Das Zentralkomitee hatte die Überzeugung, daß die Aufrollung der Gegensätze, die Restaurierung der Geschichte der früheren Kämpfe nicht allein Genossen Trotzki, sondern auch der Partei selbst geschadet hätte. Das Zentralkomitee wollte ... die Initiative nicht ergreifen ..."
Das Zentralkomitee wollte den Konflikt immer noch beilegen, aber Trotzki ergriff die Initiative. Sinowjew und Kamenew waren es, die damals ihren späteren Bundesgenossen am schärfsten angriffen. Nicht Stalin, sondern Sinowjew und Kamenew forderten Repressalien gegen den Disziplinbrecher. Sinowjew schrieb Ende 1924 in einem Artikel über Trotzki:
„Reinigen wir die Angriffe des Genossen Trotzki von alldem, was ihnen an Persönlichem, Zufälligem oder Oberflächlichem anhaftet, und stellen wir uns selbst diesen Angriffen gegenüber auf den Boden der strengsten Objektivität, so wird der Sinn der Attacke im folgenden klar vor uns liegen: Genosse Trotzki war in unserer Partei alle diese Jahre hindurch für dasjenige, was nicht im reinsten Sinne des Wortes bolschewistisch war. Ihn, den Vertreter dieser nichtbolschewistischen Abweichungen, hat der Rahmen der alten leninschen Taktik beengt."
Sinowjew kam in diesem Artikel zu folgendem Schluß: „Genosse Trotzki kämpft in Wirklichkeit gegen die Fundamente des Bolschewismus. Er erweist ... dem Klassenfeinde unschätzbare Dienste" Im Januar 1925 beschäftigte sich auf Antrag vieler Parteiorganisationen das Plenum des Zentralkomitees mit Trotzkis Hervortreten. In dem Beschluß des Zentralkomitees wurde Trotzki ermahnt, künftig die Parteibeschlüsse einzuhalten und durchzuführen. Trotzki hat diese Ermahnung nicht befolgt. In einer im Februar 1925 in Leningrad gehaltenen Rede sagte Sinowjew:
„Sämtliche Mitglieder des Zentralkomitees haben Trotzkis Brief (den Trotzki, der nicht persönlich zur Sitzung erschien, zu seiner Rechtfertigung an das Zentralkomitee geschickt hatte. D.V.) sehr abfällig charakterisiert. Der Inhalt des Briefes ist: ,Ich habe Recht, ihr habt nicht Recht'. Aus einem Nichtbolschewik ist Trotzki ein gewöhnlicher Antibolschewik geworden. Die Maßnahmen des Zentralkomitees enthalten nur das Mindestmaß dessen, was getan werden mußte. Das letzte Wort wird in dieser Sache der Parteikongreß noch zu sagen haben. Wer jetzt noch kommunistische Politik zusammen mit Trotzki machen will, der wendet sich absichtlich gegen den Leninismus."
Sinowjew und Kamenew haben später zwar Politik mit Trotzki gemacht und sich damit selbst „absichtlich gegen den Leninismus" gewandt, aber 1925 haben sie mit aller Schärfe den Ausschluß Trotzkis aus der Partei gefordert. Stalin hat sich damals gegen diesen Vorstoß gewandt und Trotzki zu halten versucht. In dem von ihm erstatteten Tätigkeitsbericht des ZK an den XIV. Parteitag sagte Stalin (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 412 usf.):
„Womit begannen unsere Differenzen? Sie begannen mit der Frage: ,Was mit dem Genossen Trotzki geschehen soll?' Das war Ende 1924. Die Gruppe der Leningrader (unter Führung Sinowjews. D.V.) schlug anfangs vor, Genossen Trotzki aus der Partei auszuschließen ... Das Leningrader Gouvernementskomitee nahm eine Resolution an, die den Ausschluß des Genossen Trotzki aus der Partei forderte. Wir, d.h. die Mehrheit des ZK waren damit nicht einverstanden ... und wir haben nach einem Kampfe die Leningrader Genossen davon überzeugt, daß sie in ihrer Resolution den Absatz über den Ausschluß streichen müssen. Nach einiger Zeit, als das Plenum des ZK tagte, haben die Leningrader mit Unterstützung des Genossen Kamenew den Antrag auf sofortigen Ausschluß aus dem Politbüro gestellt. Wir waren auch mit diesem Vorschlag der Opposition nicht einverstanden, wir erhielten die Mehrheit im ZK und beschränkten uns darauf, den Genossen Trotzki von seinem Posten als Volkskommissar für Kriegswesen zu entfernen. Wir waren mit den Genossen Kamenew und Sinowjew nicht einverstanden..."
Und bei anderer Gelegenheit hat Stalin, der sich gegen die von Sinowjew und Kamenew geforderte Absägung Trotzkis wandte, sehr deutlich gesagt, daß die Partei stark und kräftig genug sei, die Vorstöße des Trotzkismus zurückzuschlagen und eine Parteispaltung zu verhindern. „Was Repressalien betrifft, so bin ich entschieden gegen sie", sagte Stalin. „Wir brauchen jetzt keine Repressalien, sondern einen entfalteten Ideenkampf gegen den wiedererstehenden Trotzkismus."
Der Trotzkismus hat den Ideenkampf in der Bolschewistischen Partei heraufbeschworen. In der von Trotzki provozierten Diskussion hat sich die Partei so gut wie einmütig gegen ihn gestellt. Er war in allen seinen Phasen ein Kampf der leninistischen Partei gegen den Trotzkismus. Trotzki hat ihn zu einem Personenkampf umzudichten versucht. Erst waren Sinowjew und Kamenew die bösen persönlichen Feinde — und später Stalin. Wie Trotzki Stalin erkannt hat, schildert er in „Mein Leben" (Seite 496) in einer sehr kuriosen Art. Er erzählt dort, wie Skijanski, einer seiner militärischen Mitarbeiter im Bürgerkrieg, im Jahre 1925 bei ihm war.
„Sagen Sie mir", fragte Skijanski, „was stellt denn Stalin dar?" ... Ich dachte nach.
„Stalin“, sagte ich, „ist die hervorragendste Mittelmäßigkeit unserer Partei. Diese Bezeichnung erstand vor mir während unserer Unterhaltung zum erstenmal, nicht nur in ihrer psychologischen, sondern auch in ihrer sozialen Bedeutung. Nach dem Gesichtsausdruck Skijanskis erriet ich gleich, daß ich ihm geholfen hatte, etwas Wichtiges zu erkennen. Das ist die Reaktion nach der großen sozialen und psychologischen Anspannung der ersten Jahre der Revolution. Die siegreiche Konterrevolution kann ihre großen Männer haben. Aber ihre erste Stufe, der Thermidor, braucht Mittelmäßigkeiten, die nicht über ihre Nase hinaussehen können. Ihre Macht ist ihre politische Blindheit, es ist wie beim Mühlenpferd, dem es scheint, es gehe bergauf, während es in Wirklichkeit nur das sich drehende Triebrad hinunterstößt. Ein sehendes Pferd Ist für solche Arbeit ungeeignet." Plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, war ihm die Erkenntnis über Stalin gekommen. Von da an begann der persönliche Kampf des „hervorragenden Führers" gegen Stalin. Obwohl Trotzki „mit der Meeresluft" die Gewißheit eingeatmet hatte, daß er bei seinem Kampf gegen die Partei unbedingt „im Recht" war, mußte in diesem Kampfe zunächst Stalin siegen. Denn unweigerlich kam die Zeit des „Thermidor".
Inzwischen setzte Trotzki seinen Kampf gegen die Partei fort. Es wurde innerhalb der Partei eine eigene oppositionelle Organisation mit eigenen Veranstaltungen und Mitgliedsbeiträgen zu schaffen gesucht. Die Opposition organisierte ferner illegale Druckereien, und am 10. Jahrestag der Revolution — am 25. Oktober 1927 — versuchte sie in Leningrad und in Moskau — allerdings mißlungene — Gegendemonstrationen zu veranstalten. Das waren alles Dinge, die im schroffsten Widerspruch zu dem leninistischen Organisationsprinzip standen und die im entscheidenden Kampfe um den sozialistischen Aufbau die Aktionseinheit störten. Den Kampf Trotzkis gegen die Partei schildert Stalin zusammenhängend in einer Rede in der gemeinsamen Sitzung des ZK-Präsidiums und des ZKK am 27. September 1927:
„Genosse Trotzki versteht unsere Partei nicht. Er hat keine richtige Vorstellung von unserer Partei. Er betrachtet unsere Partei wie ein Junker den Pöbel oder wie ein Bürokrat seine Untergebenen. Sonst wurde er nicht behaupten, daß in einer Millionenpartei, in der KPdSU, einzelne Personen, einzelne Führer „die Macht an sich reißen", die Macht „usurpieren" können. Die Macht an sich reißen in einer Millionenpartei, die drei Revolutionen durchgemacht hat und jetzt die Grundlagen des Weltimperialismus erschüttert — bis zu dieser Dummheit hat sich Genosse Trotzki verstiegen! Kann man überhaupt in einer von revolutionären Traditionen erfüllten Millionenpartei die Macht ,an sich reißen'? Warum ist es dann Trotzki nicht gelungen, die Macht in der Partei ,an sich zu reißen', zur Führung in der Partei vorzudringen? ... Ist etwa der Genosse Trotzki dümmer ... als Bucharin oder Stalin? Hat etwa Genosse Trotzki nicht den Willen, den Wunsch zur Führung? Ist es etwa nicht Tatsache, daß nun schon Über zwei Jahrzehnte Genosse Trotzki gegen die Bolschewiki um die Führung in der Partei kämpft? Ist er etwa ein weniger hervorragender Redner als die gegenwärtigen Führer unserer Partei? Trifft es nicht vielmehr zu, daß Trotzki als Redner höher steht als viele gegenwärtige Führer unserer Partei? Wodurch ist es dann zu erklären, daß Genosse Trotzki trotz seiner Rednerkunst, trotz seines Willens zur Führung, trotz seiner Fähigkeiten von der Führung der großen Partei ... fortgeschleudert wurde? Genosse Trotzki ist geneigt, dies damit zu erklären, daß unsere Partei seiner Meinung nach eine Stimmherde ist, die blindlings Stalin und Bucharin folgt, so können aber über unsere Partei nur Leute sprechen, die sie verachten und als Pöbel ansehen. ...Wodurch ist es zu erklären, daß die KP volles Mißtrauen gegenüber der Opposition äußert? Das erklärt sich dadurch, daß die Opposition danach trachtete, den Leninismus durch den Trotzkismus zu ergänzen, ... zu „verbessern". Die Partei will aber dem Leninismus treu bleiben, trotz aller Schliche der heruntergekommenen Aristokraten in der Partei. Das also ist der Grund, weshalb die Partei ... es für nötig hielt, sich von Trotzki und von der Opposition überhaupt abzuwenden. Und die Partei wird in gleicher Weise mit jeglichen ,Rednern' und ,Führern' verfahren, die beabsichtigen werden, den Leninismus mit dem Trotzkismus zu übertünchen. Indem er unsere Partei als Stimmherde hinstellt, bringt Genosse Trotzki seine Verachtung gegenüber den Parteimassen der KPdSU zum Ausdruck. Ist es da noch verwunderlich, wenn die Partei ihrerseits darauf mit Verachtung und mit dem Ausdruck ihres vollen Mißtrauens gegenüber dem Genossen Trotzki antwortet?
Ebenso schlecht liegen die Dinge bei der Opposition in der Frage des Regimes in unserer Partei. Genosse Trotzki stellt die Sache so dar, daß das gegenwärtige Regime in der Partei, das der ganzen Opposition zuwider ist, sich irgendwie prinzipiell von dem Regime in der Partei unterscheide, das zur Zeit Lenins festgelegt wurde. Er will die Sache so darstellen, daß er gegen das Regime, das von Lenin nach dem X. Parteitag festgelegt wurde, nichts einzuwenden habe, und daß er im Grunde genommen einen Kampf gegen das gegenwärtige Regime in der Partei führe, das seiner Meinung nach nichts mit dem Regime gemein hat, das von Lenin festgelegt wurde. Ich erkläre, ... daß Genosse Trotzki hier die direkte Unwahrheit sagt. Ich erkläre, daß das gegenwärtige Regime in der Partei der genaue Ausdruck eben jenes Regimes ist, das in der Partei zur Zeit Lenins, zur Zeit des X. und XI. Parteitages unserer Partei festgelegt wurde. Ich behaupte, daß Genosse Trotzki einen Kampf gegen das leninsche Regime in der Partei führt, das zur Zeit Lenins und unter Führung Lenins festgelegt wurde. Ich behaupte, daß der Kampf der Trotzkisten gegen das leninsche Regime in der Partei bereits zu Lebzeiten Lenins begonnen hat, daß der gegenwärtige Kampf der Trotzkisten eine Fortsetzung jenes Kampfes ist ... Worin bestehen die Grundlagen dieses Regimes? Darin, daß bei der Durchführung der innerpolitischen, Demokratie und bei Zulassung einer sachlichen Kritik die Mängel und Fehler in der Partei gleichzeitig keinerlei Fraktionswesen zugelassen und jegliches Fraktionswesen unter Androhung des Ausschlusses aus der Partei vernichtet wird. Wann wurde dieses Regime in der Partei eingeführt? Auf dem X. und XI. Parteitag unserer Partei ... Wir haben ein solches Dokument wie die „Erklärung der 46", die von solchen Trotzkisten unterschrieben ist wie Pjatakow, Preobraschenski, Serebrjakow und andere und in der direkt davon gesprochen wird, daß das Regime, das in der Partei nach dem X. Parteitag festgelegt wurde, sich überlebt habe und für die Partei unerträglich geworden sei. Sie forderten die Zulassung von fraktionellen Gruppierungen in der Partei und die Aufhebung des entsprechenden Beschlusses des X Parteitages ... Ich behaupte, daß der gegenwärtige Kampf des Genossen Trotzki gegen das Regime in unserer Parte: eine Fortsetzung jenes antileninistischen Kampfes ist, von dem ich eben sprach...
Was bedeutet es denn, das Bestehen illegaler Druckereien aller und jeglicher Gruppierungen in der Partei zuzulassend Das bedeutet, das Bestehen einiger Zentren in der Partei zuzulassen, die ihre „Programme", ihre „Plattform", ihre „Linien" haben. Was bleibt dann übrig von der eisernen Disziplin in unserer Partei, die Lenin als die Grundlage der Diktatur des Proletariats betrachtete? Ist eine solche Disziplin möglich ohne ein einheitliches und einziges leitendes Zentrum? Versteht Genosse Trotzki, in welchen Sumpf er gerät, wenn er das Recht der oppositionellen Gruppierungen auf Organisierung illegaler parteifeindlicher Druckereien verteidigt?"
Obwohl Trotzki nur sehr kurze Zeit Mitglied der Bolschewistischen Partei war, hat er in seinem Tun zum Ausdruck gebracht: „Ich bin die Partei!" Und wenn die Partei nicht nach seinen Wünschen handelte, griff er sie und vor allem die Repräsentanten der Partei an. Früher Lenin, später Stalin. Fielen die Beschlüsse der Partei gegen ihn aus, nannte er diese Beschlüsse reaktionär, Und als „echter Revolutionär" nahm er sich das selbstverständliche Recht, die „reaktionären" Mehrheitsbeschlüsse abzulehnen und nach seiner eigenen persönlichen Erkenntnis zu handeln (die er mit der Meeresluft eingeatmet hatte). War in demokratischen Parteientscheidungen die Parteimitgliedschaft ganz eindeutig gegen seine Politik, so waren die Parteimitglieder willenloses Stimmvieh, das nach Belieben kommandiert werden konnte. In seinem Schlußwort auf dem Plenum des ZK am 5. März 1937 erinnerte Stalin an das Kräfteverhältnis, das bei einer Abstimmung innerhalb der Partei im Jahre 1927 festgestellt wurde:
„An und für sich waren die Trotzkisten in unserer Partei niemals eine große Kraft. Erinnert Euch der letzten Diskussionen in unserer Partei im Jahre 1927. Das war ein richtiges Parteireferendum. Von 854.000 Parteimitgliedern stimmten damals 730.000 Parteimitglieder ab. Davon stimmten für die Bolschewiki, für das Zentralkomitee der Partei, gegen die Trotzkisten 724.000 Parteimitglieder, für die Trotzkisten 4000, das heißt ungefähr ein halbes Prozent, und 2600 haben sich der Stimme enthalten. An der Abstimmung nicht teilgenommen haben 123.000 Parteimitglieder. Sie haben entweder deshalb nicht teilgenommen, weil sie auf Reisen waren oder deshalb, weil sie Schicht arbeiteten. Wenn man zu den 4000, die für die Trotzkisten gestimmt haben, alle jene hinzuzählt, die sich der Stimme enthalten haben — in der Annahme, daß sie gleichfalls mit den Trotzkisten sympathisierten — und wenn man zu dieser Summe nicht ein halbes Prozent derjenigen hinzuzählt, die an der Abstimmung nicht teilgenommen haben, wie man das richtigerweise tun müßte, sondern fünf Prozent derjenigen, die an den Wahlen nicht teilgenommen haben, — d.h. ungefähr 6000 Parteimitglieder — so ergeben sich ungefähr 12.000 Parteimitglieder, die so oder anders mit den Trotzkisten sympathisiert haben. Da habt Ihr die ganze Kraft der Herren Trotzkisten. Fügt den Umstand hinzu, daß viele davon vom Trotzkismus enttäuscht und sich von ihm abgewandt haben, und Ihr bekommt eine Vorstellung von der Geringfügigkeit der trotzkistischen Kräfte. Und wenn die trotzkistischen Schädlinge trotzdem unweit unserer Partei noch irgendwo Reserven haben, so deshalb, weil die unrichtige Politik einiger unserer Genossen in der Frage des Ausschlusses aus der Partei und der Wiederherstellung der Ausgeschlossenen, das seelenlose Verhalten einiger unserer Genossen gegenüber dem Schicksal der einzelnen Parteimitglieder und der einzelnen Funktionäre künstlich eine Anzahl Unzufriedener und Erbitterter züchtet und den Trotzkisten auf diese Weise Reserven schafft." Die These von der Entartung der Partei hat Trotzki schon in der ersten Zeit seiner Opposition in der Sowjetunion vertreten. Stalin hat ihm bereits damals (in einem Referat auf dem 7. Plenum des ZKs im Dezember 1926) entgegengehalten, „die Verneinung der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus führt zur Perspektive der Entartung der Partei, die Perspektive der Entartung der Partei aber führt ihrerseits zum Aufgeben der Macht und zur Frage der Bildung einer neuen Partei ...", und eine neue Partei wird „den Weg für den sich restaurierenden Kapitalismus frei machen."
Trotzki ist folgerichtig diesen Weg gegangen. Von der Opposition innerhalb der Partei, zur Bekämpfung der „entarteten" Partei, von dort zur Gründung einer neuen Partei, die im Lande der Diktatur des Proletariats zwangsläufig eine konterrevolutionäre werden mußte. Der Weg, den der Trotzkismus nach Trotzkis offener Kriegserklärung gegen die leninistische Partei ging, wird ausführlich in all seinen Etappen im VI. Teil dieses Buches dargelegt. Als schon einmal in der Geschichte Ultralinke die Absicht hatten, in der Sowjetunion eine neue Partei, eine IV. Internationale zu gründen, schrieb Trotzki (damals noch in der Führung der Bolschewistischen Partei) in einer 1921 erschienenen Schrift „Die neue Etappe" (Seite 80):
„Wenn aber diese sektiererische Spaltung eintreten sollte, werden wir in der nächsten Zeit nicht nur zur rechten Hand eine Internationale 2 ½ haben, sondern auch von links eine Internationale Nr. 4, wo Subjektivismus, Hysterie, Abenteuerlust und revolutionäre Phrase in vollendeter Gestalt vertreten sein werden.“
Trotzki selbst hat dann diese IV. Internationale begründet, und sie hat in der Tat alle Eigenschaften, die er ihr vorausgesagt hat. Diese Eigenschaften, Subjektivismus, Hysterie und Abenteuerlust, haben Trotzkis IV. Internationale zum offenen Feind der Sowjetunion, zum Feind der geschlossenen Aktion der Weltarbeiterklasse und zum Helfershelfer der Konterrevolution und des Faschismus gemacht.

 

Zum Inhaltsverzeichnis

 


 

DER ENTSCHEIDENDE GEGENSATZ

 

DER KAMPF UM DEN AUFBAU DES SOZIALISMUS IN DER SOWJETUNION

Der Kampf um die Theorie des Sozialismus in einem Lande hat zum endgültigen Bruch Trotzkis mit der Bolschewistischen Partei geführt. Der entscheidende Konflikt erwuchs aus den seit dem Jahre 1903 ununterbrochen fortwirkenden theoretischen, organisatorischen und politischen Gegensätzen zwischen Lenin und Trotzki, insbesondere aus dem alten Streit zwischen Leninismus und Trotzkismus über Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Die theoretischen und politischen Prinzipien Trotzkis standen in unlösbarem Widerspruch zum Leninismus. Sie mußten — wenn sie von Trotzki nach dem Siege der proletarischen Revolution konsequent weiter vertreten wurden — unvermeidlich zu den schärfsten Zusammenstößen mit der Bolschewistischen Partei führen. Nachdem im harten Bürgerkrieg die alten Gewalten vernichtend geschlagen waren, wurde Lenins Theorie von der ununterbrochenen Fortführung der siegreichen Revolution in einem Lande bis zum Siege des sozialistischen Aufbaus aus einem abstrakten theoretischen Problem zu der aktuellen, realen Tagesaufgabe. Jetzt mußte entschieden werden: wird die eroberte politische Macht planmäßig und mächtig eingesetzt, um die Fundamente der Klassengesellschaft restlos zu zerschlagen und eine neue sozialistische Ordnung aufzubauen, oder muß die Erfüllung dieser schwierigen Aufgabe bis zum Siege der Weltrevolution zurückgestellt werden. Soll die Sowjetunion in der Hoffnung auf den baldigen Sieg der Weltrevolution untätig warten, bis die proletarische Revolution in den anderen Ländern gesiegt hat, oder soll sie nicht vielmehr versuchen, durch den Sieg des sozialistischen Aufbaus in ihrem Lande günstigere Voraussetzungen für die proletarische Revolution in den anderen Ländern und für den endgültigen Sieg des Sozialismus zu schaffen?
Da es bei dieser Entscheidung um die praktische Durchführung einer Aufgabe ging, von deren Lösung das Schicksal der Sowjetunion abhing, hatten die Auseinandersetzungen um den einzuschlagenden Weg zwangsläufig eine viel größere Bedeutung als die früher nur theoretischen Diskussionen. Die logische Folge davon war, daß gegen die Opposition, die in der viel schwierigeren Situation die Aktionseinheit der herrschenden Partei zu stören versuchte, zu schärferen Maßnahmen gegriffen werden mußte.
Im Kampf um den sozialistischen Aufbau im Lande der siegreichen proletarischen Revolution wurde das Schicksal der Sowjetunion und darüber hinaus die weitere Entwicklung des Sozialismus in der ganzen Welt entschieden. Die Entscheidung fiel nicht durch das Diktat eines Mannes, sie wurde nach einem gründlichen demokratischen Meinungsaustausch durch eindeutige Beschlüsse der überwiegenden Mehrheit der Bolschewistischen Partei herbeigeführt. Ausgelöst wurde der innerparteiliche Kampf durch das Auftreten Trotzkis. Dieser vertrat in der Situation, in der die Fortführung der russischen Revolution zum Sozialismus die aktuellste Tagesaufgabe geworden war, mit besonderer Energie seinen alten theoretischen Standpunkt von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande. Über seine These wurde in der russischen Arbeiterbewegung wahrlich nicht nur kurze Zeit, sondern viele Jahre sehr ausführlich diskutiert. Den Höhepunkt erreichte diese Diskussion in den Jahren 1924 und 1925; einen gewissen Abschluß fand sie durch den Beschluß des XIV. Parteitages (Ende 1925), in dem es u. a. heißt:
„Der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus ist die Tagesaufgabe der Partei. Eine der unerläßlichsten Bedingungen zur Lösung dieser Aufgabe ist die Bekämpfung des Unglaubens an den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande."
Vor der Entscheidung auf dem XIV. Parteitag haben die Vernemer der Theorie des Sozialismus in einem Lande in ausgiebiger Weise ihren Standpunkt vertreten können. Das Für und Wider ist auf breitester Grundlage diskutiert worden. Dem Parteitag selbst lag eine ausführliche schriftliche Plattform der Opposition vor, die vor den Parteitagsdelegierten in einem Korreferat Sinowjews begründet wurde. Eine Diskussion kann nur dann fruchtbar sein und zu praktischen Ergebnissen führen, wenn sie nach einer gewissen Zeit durch Mehrheitsbeschluß beendet wird. Demokratie heißt nicht, endlos zu diskutieren, sondern nach der Mehrheitsentscheidung zu handeln. Demokratische Beschlüsse jedoch können nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn die Minderheit die gefaßten Beschlüsse anerkennt und positiv an ihrer Verwirklichung mitwirkt. Trotzki aber hat nach den ganz eindeutigen Beschlüssen des XIV. Parteitages weiter seine These von der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion vertreten. Er hat die Aktionseinheit der Partei in der schwierigsten Situation gestört, hat dadurch die Verschärfung des Konfliktes heraufbeschworen und schließlich den Bruch erzwungen.
Angesichts der gewaltigen Aufgabe, die nach dem Mehrheitsbeschluß des XIV. Parteitages in Angriff genommen werden sollte, war es das Recht und die Pflicht der Bolschewistischen Partei und der Staatsmacht in der UdSSR, jeden Störungsversuch zu verhindern. Aufbau des Sozialismus in dem rückständigen Rußland inmitten der kapitalistischen Umwelt: das erschien 1925 noch als eine unlösbare Aufgabe. Sollte sie trotzdem bewältigt werden, dann mußte der geschlossene Einsatz aller Kräfte erreicht, mußten alle Hindernisse, gleichgültig von wem und aus welchen Motiven sie errichtet wurden, beseitigt werden. Aus der Größe der in Angriff genommenen Aufgabe ergab sich die Schärfe der Meinungsverschiedenheiten und die Härte gegen diejenigen, die nach der Entscheidung des Parteitages sich dem Mehrheitsbeschluß nicht fügten und die Aktionseinheit störten. In seinem Kampf gegen die Bolschewistische Partei ist Trotzki unterlegen. Im demokratischen Meinungsaustausch war die überwiegende Mehrheit der Partei gegen seinen Standpunkt, und die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus haben später eindeutig die Richtigkeit der Entscheidung des XIV. Parteitages bestätigt. Formal und in der Sache war Trotzki im Unrecht und die Bolschewistische Partei im Recht. Wie war die internationale Situation Ende 1925, als der XIV. Parteitag der Bolschewiki den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion zur Tagesaufgabe der Partei erklärte?
Die Hoffnung des russischen Proletariats auf die unmittelbare Unterstützung durch die Weltrevolution war nicht in Erfüllung gegangen. Die proletarische Revolution hatte in keinem anderen Lande der Welt gesiegt. In den kapitalistischen Ländern, und selbst in Deutschland, wo nach der militärischen Niederlage das Kaiserreich zusammenbrach, war die revolutionäre Bewegung zurückgeschlagen und die kapitalistischen und konterrevolutionären Kräfte stabilisierten sich. Die mittel- und westeuropäische Arbeiterbewegung, die schon vor 1914 zahlenmäßig stark war und die viel mächtiger erschien, als die unter dem Zarismus illegal wirkende russische revolutionäre Bewegung, vermochte die nach der Kriegskatastrophe vorhandene revolutionäre Situation nicht auszunützen. Ihr fehlten Zielklarheit, Festigkeit, Geschlossenheit und der revolutionäre Wille zum Umsturz. Der Reformismus hemmte ihre Kraftentfaltung.
Es mußte mit einer längeren Spanne Zeit bis zum Siege des Proletariats in den anderen Ländern gerechnet werden. Wenn die siegreiche russische Revolution in dieser Zeit nicht untätig, passiv sein und absterben wollte, mußte sie den sozialistischen Aufbau beginnen. Der Kampf um den Sozialismus in einem Lande. wurde durch das Ausbleiben der Weltrevolution erzwungen.

DIE LENINISTISCHE THEORIE DES SOZIALISMUS IN EINEM LANDE

Lenin ist die unbestrittene Autorität aller Kommunisten in der Welt. Bei allen Meinungsverschiedenheiten im kommunistischen Lager versuchen die streitenden Parteien Lenin als Kronzeugen für die Richtigkeit ihrer Auffassung ins Feld zu führen. Es ist darum kein Wunder, daß Trotzki immer wieder zu beweisen versucht, daß er in all seinen Konflikten mit der Bolschewistischen Partei allein den einzig wahren leninistischen Standpunkt vertrete. Trotzki behauptet, daß die Theorie des Sozialismus in einem Lande erst von Stalin nach Lenins Tode erfunden wurde, Trotzki sei in der entscheidenden Streitfrage der einzige wahre Verfechter des Leninismus. In der „Oktoberrevolution" (Seite 708) schrieb er:
„...Mochten wir noch einmal daran erinnern, daß in den Jahren 1904/1905 keiner von den russischen Marxisten den Gedanken an die Möglichkeit des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande überhaupt, und in Rußland im besonderen, verteidigte und aufstellte. Diese Konzeption wurde zum ersten Male in der Presse vertreten, etwa zwanzig Jahre später, im Herbst 1924." Trotzki behauptet also, daß in der russischen Arbeiterbewegung früher niemals von der Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande gesprochen wurde, daß dieses Problem bis zum Herbst 1924 überhaupt nicht existierte. Dieselbe Behauptung ist auch in anderen Schriften und Reden Trotzkis des öfteren anzutreffen. Trotzkis Absicht ist klar. Er will den Eindruck erwecken, daß Lenin nichts mit der Theorie des Sozialismus in einem Lande zu tun gehabt, daß dieser universelle Geist sich mit der „völlig abwegigen“ Frage überhaupt nicht beschäftigt habe.
Diese Darstellung Trotzkis ist unwahr. Lenin war der erste russische Marxist, der ganz klar und eindeutig die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande bejahte, und niemand anders als Trotzki selbst hat damals gegen Lenins Auffassung polemisiert. Das war im Jahre 1915. Am 23. August dieses Jahres veröffentlichte Lenin im „Sozialdemokrat" — dem damals in der Schweiz erscheinenden Zentralorgan der Bolschewiki — einen gegen Trotzki gerichteten Artikel „Über die Losung der Vereinigten Staaten Europas". Darin schrieb Lenin (Siehe „Gegen den Strom", Seite 126):
„Als selbständige Losung wäre jedoch die Losung: Vereinigte Staaten der Welt kaum richtig; denn 1. verschmilzt sie mit dem Sozialismus und 2. deshalb, weil sie eine irrtümliche Auffassung über die Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und über das Verhältnis eines solchen Landes zu den übrigen Ländern hervorrufen würde. Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unleugbares Gesetz des Kapitalismus.
Daraus folgt, daß ein Sieg des Sozialismus zuerst in wenigen oder sogar in einem einzigen Lande möglich Ist." Lenin erklärt aus der Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung der einzelnen Länder die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande. Als die Aufgabe des Proletariats in dem Lande, in dem es die politische Macht erobert hat, bezeichnet Lenin die Expropriierung der Kapitalisten und die Organisierung der sozialistischen Produktion. Lenin vertrat also schon 1915 unzweideutig die Theorie des Sozialismus in einem Lande, er bezeichnet es als ganz selbstverständlich, daß die eroberte politische Macht in einem Lande für die Organisierung der sozialistischen Produktion, für den Aufbau des Sozialismus eingesetzt werden muß. Nur dadurch — sagte Lenin — könne die revolutionäre Entwicklung und auch der Sieg des Sozialismus in den anderen Ländern wirksam unterstützt werden. Stalin schlußfolgerte in den „Problemen des Leninismus" aus dem vorstehend angeführten Zitat Lenins, daß „das Land der proletarischen Diktatur, von kapitalistischen Ländern umgeben, demnach nicht nur imstande ist, die inneren Widersprüche zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft aus eigenen Kräften aufzuheben, sondern es kann und soll auch den Sozialismus aufbauen, eine sozialistische Wirtschaft bei sich organisieren und eine bewaffnete Macht aufstellen..."
Stalin bezeichnet das als die Hauptthese des Leninismus über den Sieg des Sozialismus in einem Lande. Derselbe Trotzki, der später behauptet, daß vor dem Herbst 1924 niemand in der russischen Arbeiterbewegung die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande diskutiert habe, polemisierte schon 1915 gegen Lenins Artikel in „Nasch Golos":
„Die einzige einigermaßen konkrete Erwägung gegen die Losung der Vereinigten Staaten wurde im schweizerischen ,Sozialdemokrat' in folgendem Satz formuliert: ,Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus'. Daraus zog der ,Sozialdemokrat' den Schluß, daß der Sieg des Sozialismus auch in einem einzigen Lande möglich sei und daß es deshalb nicht notwendig sei, die Diktatur des Proletariats in jedem einzelnen Staate von der Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa abhängig zu machen. Daß die kapitalistische Entwicklung der verschiedenen Länder ungleichmäßig ist, ist unbestreitbar. Aber diese Ungleichmäßigkeit selbst ist sehr ungleichmäßig. Das kapitalistische Niveau Englands, Österreichs, Deutschlands oder Frankreichs ist nicht dasselbe. Aber im Vergleich zu Afrika und Asien stellen alle diese Länder das kapitalistische ,Europa' dar, das für die soziale Revolution reif ist. Daß kein anderes Land in seinem Kampfe auf die anderen ,warten' soll, ist ein elementarer Gedanke, den zu wiederholen nützlich und notwendig ist, damit nicht anstelle der Idee der parallelen internationalen Aktion die Idee der abwartenden internationalen Untätigkeit unterschoben wird. Ohne auf die anderen zu warten, beginnen und setzen wir den Kampf auf nationalem Boden fort, in der vollen Überzeugung, daß unsere Initiative dem Kampf in den anderen Ländern einen Anstoß geben wird; wenn das aber nicht geschehen sollte, dann wäre es hoffnungslos, zu glauben — dafür zeugen sowohl die geschichtliche Erfahrung wie theoretische Erwägungen — daß z.B. das revolutionäre Rußland einem konservativen Europa gegenüber sich behaupten oder ein sozialistisches Deutschland Isoliert in der kapitalistischen Welt bestehen könnte."
Diese Gegenüberstellung der Artikel Lenins und Trotzkis aus dem Jahre 1915 beweist, daß die Theorie des Sozialismus in einem Lande nicht erst nach Lenins Tode von Stalin „erfunden" wurde. Aus dieser Gegenüberstellung wird aber auch der sachliche Gegensatz klar, der zwischen Lenin und Trotzki in dieser entscheidenden Frage bestand. Es gibt außerdem noch viele Äußerungen Lenins, die Trotzkis Behauptung widerlegen. Trotzki selbst berichtet an anderer Stelle noch viel deutlicher, wie intensiv Lenin sich 1918 für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion einsetzte („Über Lenin", Seite 119, 120):
„In den Thesen Lenins über den Frieden, die Anfang Januar 1918 geschrieben wurden, heißt es: ,Für den Erfolg des Sozialismus in Rußland ist eine gewisse Zwischenfrist von mindestens einigen Monaten' erforderlich. Jetzt muten einen diese Worte ganz unverständlich an: ist es nicht ein Schreibfehler, sind hier nicht einige Jahre oder Jahrzehnte gemeint? Aber nein, es ist kein Schreibfehler. Man könnte wahrscheinlich eine Reihe anderer Aussprüche Lenins in der gleichen Art finden. Ich erinnere mich sehr gut, wie Iljitsch in der ersten Periode auf den Sitzungen des Rats der Volkskommissare im Smolnij ständig wiederholte, binnen einem halben Jahre würde bei uns der Sozialismus herrschen und wir seien dann der mächtigste Staat überhaupt. Die linken Sozialrevolutionäre, und nicht nur sie allein, hoben fragend und befremdet den Kopf, schauten einander an, aber schwiegen. Es war dies ein System des Eintrichterns. Lenin wollte allen beibringen, von nun an sämtliche Fragen im Rahmen des sozialistischen Aufbaus zu behandeln, und zwar nicht in der Perspektive des ,Endziels', sondern des heutigen und morgigen Tages. Er griff bei dieser schroffen Umstellung zu der ihm so eigentümlichen Methode, das Extrem zu betonen: gestern sagten wir, der Sozialismus ist das ,Endziel'; aber heute heißt es so denken, daß die Herrschaft des Sozialismus binnen wenigen Monaten gewährleistet wird. Das heißt also, es wäre nur eine pädagogische Methode gewesen? Nein, nicht nur. Zu der pädagogischen Energie muß man noch etwas hinzufügen: den mächtigen Idealismus Lenins, seine angespannte Willenskraft, die bei dem jähen Umschwung zweier Epochen die Etappen verkürzte und die Termine zusammenrückte. Er glaubte an das, was er sagte. Und diese phantastische Halbjahrsfrist zur Verwirklichung des Sozialismus stellt ebenso eine Funktion des Leninschen Geistes dar, als sein realistisches Herantreten an jede Aufgabe des heutigen Tages. Die tiefe und unbeugsame Überzeugung an die gewaltigen Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung, für die man jeden beliebigen Preis an Opfern und Leiden bezahlen könne und müsse, bildete stets die Hauptsprungfeder in Lenins geistiger Struktur." Trotzki erklärt, warum Lenin absichtlich eine „phantastische" kurze Zeit für den Sieg des Sozialismus in Rußland wählte. Das Entscheidende dabei aber ist: Trotzki gibt hier zu, daß Lenin unmittelbar nach der Oktoberrevolution — im Frühjahr 1918 - die sofortige Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus propagierte, damals schon den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion als die Tagesaufgabe der Partei bezeichnete.
Im Sinne der Auffassungen, die Lenin unmittelbar nach der Oktoberrevolution bei jeder Gelegenheit entschieden vertrat, wird schließlich ja auch in der ersten leninschen Verfassung, die Mitte 1918 vom V. Rätekongreß der RSFSR beschlossen wurde, gesagt, daß die grundlegende Aufgabe der Verfassung:
„in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats sowie der Armbauernschaft in der Form einer kraftvollen allrussischen Sowjetmacht besteht, zwecks restloser Unterdrückung der Bourgeoisie, Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Einführung des Sozialismus, unter welchem es weder eine Scheidung in Klassen noch eine Staatsgewalt geben wird. Das ist ein deutliches Bekenntnis für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in dem Lande, in dem die proletarische Revolution eben den ersten entscheidenden Sieg errungen hat. Später (im April 1921) hat Lenin (in „Die Vorbedingungen und die Bedeutung der neuen Politik Sowjetrußlands") die Verfassung folgendermaßen kommentiert:
„Kein Kommunist hat, glaube ich, ferner bestritten, daß der Ausdruck ,Sozialistische Räterepublik' die Entschlossenheit der Rätemacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen.“
Am 14. Mai 1918 sagte Lenin in einer Rede über die internationale Lage:
„Ich weiß, daß es spitzfindige Leute gibt, die sich für sehr klug halten und die sich sogar Sozialisten nennen, die behaupten, daß man die Macht nicht hätte ergreifen sollen, solange die Revolution in allen Ländern nicht ausgebrochen ist. Sie ahnen es nicht, daß sie durch solche Reden von der Revolution abrücken und auf die Seite der Bourgeoisie übergehen. Warten, bis die werktätigen Massen die Revolution im internationalen Maßstabe vollbringen, heißt, daß alle in Erwartung erstarren sollen. Das ist Unsinn." Lenins Äußerung richtet sich ganz offensichtlich gegen Trotzkis Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande, gegen die These, daß der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion erst nach dem Siege der Weltrevolution möglich ist. Im Jahre 1919 schrieb Lenin in dem Aufsatz „Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats" (Lenin ausgewählte Werke, Band VIII, Seite 6/7):
„Darum bleibt, wie die Bourgeoisie aller Länder und ihre offenen und versteckten Helfershelfer (die ,Sozialisten' der II. Internationale) auch lügen und uns verleumden mögen, eines zweifellos: vom Standpunkt des wirtschaftlichen Hauptproblems ist der Diktatur des Proletariats bei uns der Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus gesichert. Die Bourgeoisie der ganzen Welt tobt und wütet ja gerade deshalb gegen den Bolschewismus, organisiert militärische Invasionen, Verschwörungen u.ä. gegen die Bolschewiki, weil sie sehr wohl versteht, daß unser Sieg beim Umbau der gesellschaftlichen Wirtschaft unvermeidlich ist, wenn man uns nicht durch militärische Kraft erdrückt .... uns aber auf diese Weise zu erdrücken, wird ihr nicht gelingen!" Auch in diesem Artikel spricht Lenin wieder von dem Aufbau der sozialistischen Wirtschaft in der noch von kapitalistischen Ländern umgebenen Sowjetunion. Lenin hat also zu allen Zeiten die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande bejaht. Den Sieg des Sozialismus in Rußland hielt er für möglich, wenn durch, ein festes Bündnis der Arbeiter mit den Bauern diese für die aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnen werden und wenn das rückständige agrarische Rußland in ein fortgeschrittenes Land mit starker Industrie umgestaltet wird. Auf dem VIII. Rätekongreß (im Jahre 1920) sagte Lenin:
„Vor uns liegt ein auf mindestens 10 Jahre berechnetes Programm, das beweist, wie Rußland eine wirkliche kommunistische Wirtschaftsbasis erreichen kann." Aus dieser Formulierung wird eindeutig erkennbar, daß Lenin die Schaffung der „kommunistischen Wirtschaftsbasis", den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion nicht nur wollte, sondern auch für möglich hielt. „Wir haben an der Kriegsfront erfolgreich gekämpft und gesiegt", fuhr Lenin in der zitierten Rede fort, und er zog daraus die Schlußfolgerung, daß der Sieg auch im Kampf um den sozialistischen Aufbau errungen werden kann. Schließlich sagte Lenin in der gleichen Rede:
„Kommunismus ist: Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Sonst bleibt das Land ein kleinbürgerliches Land, und es ist notwendig, daß wir dessen bewußt werden. Wir sind schwächer als der Kapitalismus, nicht nur im Weltmaßstabe, sondern auch innerhalb des Landes, das weiß Jedermann. Wir haben das erkannt und wir werden es soweit bringen, daß die wirtschaftliche Basis sich aus einer kleinbäuerlichen in eine große industrielle verwandelt. Erst wenn das Land elektrifiziert sein wird, wenn die Industrie, die Landwirtschaft und der Transport auf der technischen Basis der modernen Großindustrie beruhen werden — erst dann wird unser Sieg ein endgültiger sein."
Lenins Parole, daß Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes sei, ist zum geflügelten Wort in der Sowjetunion geworden. In „Die Vorbedingungen und die Bedeutung der neuen Politik Sowjetrußlands" sagte Lenin am 21. April 1921:
„Ist die Verwirklichung eines unmittelbaren Übergangs von diesem in Rußland vorherrschenden Zustand zum Sozialismus denkbar? Bis zu einem gewissen Grade ja, aber nur unter einer Bedingung, die wir jetzt dank einer gewaltigen und nunmehr abgeschlossen vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit genau kennen. Diese Vorbedingung ist die Elektrifizierung. Wenn wir Dutzende von Überlandzentralen erbaut haben werden (wir wissen jetzt, wie und wo wir sie bauen können und müssen), wenn wir elektrischen Strom nach allen Dörfern leiten, wenn wir eine genügende Menge Elektromotoren und sonstige Maschinen beschafft haben werden, wird es keiner Übergangsstufen, keiner Verbindungsglieder vom patriarchalischen Verhältnis zum Sozialismus mehr bedürfen. Wir wissen aber genau, daß diese eine Vorbedingung zum mindesten 10 Jahre zur Ausführung allein der Arbeiten erster Ordnung benötigt, und daß eine Abkürzung dieser Frist wiederum nur denkbar ist im Falle eines Sieges der proletarischen Revolution in solchen Ländern wie England, Deutschland und Amerika."
Hier betont Lenin wiederum, daß der Übergang zum Sozialismus in der Sowjetunion möglich ist, auch wenn die Revolution in anderen Ländern noch nicht gesiegt hat, deren Sieg jedoch kann den Aufbau beschleunigen, kann die Zeit der Aufbauperiode verkürzen. Noch vor der Oktoberrevolution hat Lenin die wirtschaftliche Aufgabe der proletarischen Diktatur folgendermaßen charakterisiert:
„Entweder zugrunde gehen oder die fortgeschrittenen Länder einholen und sie auch wirtschaftlich überholen ... Untergehen oder mit Volldampf vorausstreben. So ist die Frage von der Geschichte gestellt."
Vorwärtsstreben, den Untergang vermeiden, das heißt, die Umwandlung Rußlands aus einem rückständigen zu einem hochentwickelten Lande zu vollziehen. Gelingt das, so ist die erste entscheidende Voraussetzung für den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion geschaffen. Trotzki äußert in der 1931 geschriebenen Broschüre „Probleme der Entwicklung der USSR" die vollkommen entgegengesetzte Meinung. Er schreibt dort (Seite 31):
„Der Sturz der Weltbourgeoisie im revolutionären Kampf ist eine viel realere und unmittelbarere Aufgabe, als die Weltwirtschaft ,einzuholen und zu überholen'." Den Sturz der Weltbourgeoisie im „revolutionären Kampfe“ herbeizuführen, das ist, abstrakt gefordert, eine leere Deklamation. Das von Lenin empfohlene wirtschaftliche Einholen und Überholen der kapitalistischen Länder — gegen das sich Trotzki ausspricht — bewahrt dagegen die Sowjetunion vor dem Untergang und gibt ihr die materielle Kraft, tatsächlich „realer und unmittelbarer" für den Sturz der Weltbourgeoisie zu wirken.
Als die zweite Schwierigkeit für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion bezeichnete Lenin die Widersprüche zwischen Arbeitern und Bauern. Es gab besonders auch in der Zeit des Kriegskommunismus Differenzen zwischen den beiden Klassen, aber Lenin vertrat in jeder Situation die Auffassung, daß es möglich sei, mit den im Innern des Landes vorhandenen Kräften auch die zweite Schwierigkeit zu losen und eine „richtige Regelung der Beziehungen" zwischen Arbeitern und Bauern zu erreichen. In der Broschüre „Über die Naturalsteuer" (1921) und in den zur gleichen Zeit gehaltenen Reden zu diesem Thema hat Lenin wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß eine längere Zeit der richtigen Beziehungen der russischen Arbeiterklasse zur Bauernschaft den Sieg im Weltmaßstabe sichern werde.
Am 20. November 1922 sagte Lenin in einer Rede in der Plenarsitzung des Moskauer Sowjets:
„Der Sozialismus ist jetzt schon nicht mehr eine Frage der fernen Zukunft oder irgend einer Abstraktion, oder eines Heiligenbildes. Von wegen der Heiligenbilder sind wir bei der alten, sehr schlechten Meinung geblieben. Wir haben den Sozialismus in das Alltagsleben hineingezogen, und hier müssen wir uns zurechtfinden. Das ist die Aufgabe unseres Tages, das ist die Aufgabe unserer Epoche. Gestattet mir, mit dem Ausdruck der Überzeugung zu schließen, daß, so schwer die Aufgabe auch sein mag, so neu sie auch im Vergleich zu unseren früheren Aufgaben ist und so viele Schwierigkeiten sie uns zu bereiten vermag — wir alle zusammen, nicht morgen, aber in einigen Jahren, diese Aufgabe lösen werden. Um jeden Preis, so daß aus dem Rußland der NEP ein sozialistisches Rußland wird."
Auch in dieser Rede wieder bezeichnet Lenin den Aufbau des Sozialismus als die Tagesaufgabe der Partei, die erfolgreich gelöst werden kann, wenn alle vorhandenen Kräfte geschlossen für ihre Erfüllung eingesetzt werden. Am 16. und 17. Januar 1923 veröffentlichte Lenin in der „Prawda" zwei Artikel „Über unsere Revolution" (anläßlich der Aufzeichnungen N. Suchanows), in denen er sich eindeutig für die Notwendigkeit und die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande ausspricht. In diesem Artikel schrieb Lenin: „...So ist ihnen beispielsweise nicht einmal der Gedanke aufgedämmert, daß Rußland, an der Grenze stehend der zivilisierten Länder und jener, die erstmalig durch diesen Krieg endgültig in die Zivilisation einbezogen wurden, d.h. der Länder des Ostens, der nichteuropäischen Länder, — daß Rußland also aus diesem Grunde gewisse Eigenarten an den Tag legen konnte und mußte, die natürlich in der allgemeinen Entwicklungslinie liegen, seine Revolution aber von sämtlichen bisherigen Revolutionen in den westeuropäischen Ländern unterscheiden und beim Übergang auf die Ostländer gewisse partielle Neuerungen mit sich bringen müssen.
Unendlich schablonenhaft ist beispielsweise das von ihnen während der Entwicklung der westeuropäischen Sozialdemokratie auswendig gelernte und darin bestehende Argument, daß wir für den Sozialismus nicht reif seien, daß wir — wie sich verschiedene „gelehrte“ Herren von ihnen ausdrücken — keine objektiven ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus hätten. Und niemand fällt es dabei ein, sich folgende Frage zu stellen: konnte nicht ein Volk, das eine revolutionäre Situation vor sich sah, eine Situation, die sich im ersten imperialistischen Krieg herangebildet hat, konnte es sich nichts unter dem Einfluß der Ausweglosigkeit seiner Lage, in einen Kampf stürzen, der ihm zumindest einige Chancen gab zur Eroberung von nicht ganz gewöhnlichen Bedingungen für ein weiteres Wachstum der Zivilisation?
,Rußland hat jene Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte nicht erreicht, bei der der Sozialismus möglich ist.' Mit dieser These treiben alle Helden der II. Internationale, darunter natürlich auch Suchanow, wirklich und wahrhaftig einen Kult wie mit einem Götzenbild. Diese unbestreitbare These kauen sie auf tausend verschiedene Arten wieder und meinen, daß sie für die Einschätzung unserer Revolution ausschlaggebend sei.
Nun und was dann, wenn die Eigenart der Situation Rußland erstens in den imperialistischen Weltkrieg hineingestellt hat, in den alle einigermaßen einflußreichen westeuropäischen Länder verwickelt waren, was dann, wenn seine Entwicklung es an die Grenze der beginnenden und schon begonnenen Revolutionen des Ostens in solche Bedingungen gestellt hat, wo wir eben jenes Bündnis des ,Bauernkrieges' und der Arbeiterbewegung verwirklichen konnten, über das ein solcher ,Marxist' wie Marx im Jahre 1856 im Hinblick auf Preußen als über eine mögliche Perspektive geschrieben hat?
Was dann, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage, die die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfachte, uns die Möglichkeit eines andersgearteten Übergangs zur Schaffung der grundlegenden Prämissen der Zivilisation eröffnet hat, als in allen übrigen westeuropäischen Ländern? Ist dadurch die allgemeine Entwicklungslinie der Weltgeschichte verändert worden? Sind dadurch die grundlegenden Wechselbeziehungen der Hauptklassen in jedem Staate, der in den allgemeinen Lauf der Weltgeschichte einbezogen wird und wurde, geändert worden?...
...Zur Schaffung des Sozialismus bedarf es — sagen sie - der Zivilisation. Sehr gut. Nun, warum konnten wir nicht zuerst solche Voraussetzungen der Zivilisation bei uns schaffen, wie die Verjagung der Großgrundbesitzer und die Verjagung der Kapitalisten Rußlands es ist, und dann erst die Bewegung zum Sozialismus anfangen? In welchen Schmökern haben sie gelesen, daß derartige Änderungen der üblichen historischen Reihenfolge unzulässig oder unmöglich seien? ... Gegenwärtig unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß wir im wesentlichen den Sieg davongetragen haben." Hatte das rückständige zaristische Rußland noch nicht „jene Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte ... ereicht, bei der der Sozialismus möglich ist", so ist das durchaus kein Beweis gegen den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. So wie das russische Proletariat im Sinne der Lehre von Karl Marx die proletarische Revolution im nationalen Rahmen vor allen anderen Ländern — in denen die Voraussetzungen dafür günstiger schienen — erfolgreich durchgeführt hat, so kann es durch die Entfaltung der Produktivkräfte das alte rückständige Rußland verändern und auf jene Höhe der Entwicklung bringen, die den Sozialismus ermöglicht. Im selben Jahre (1923) schrieb Lenin in der Broschüre „Über das Genossenschaftswesen" (Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 437):
„In der Tat, alle großen Produktionsmittel im Besitze des Staates, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen der Klein- und Zwergbauern, Sicherung der Führerstellung dieses Proletariat gegenüber der Bauernschaft usw. — ist das denn nicht alles, was man braucht, um aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als krämerisch behandelt haben, und die wir in gewisser Hinsicht jetzt unter der NEP genau so zu behandeln berechtigt sind — ist das nicht alles, was notwendig ist, um eine vollständige sozialistische Gesellschaft aufzubauen? Das ist noch nicht der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu diesem Aufbau notwendig und hinreichend ist."
Das ist Lenins konkrete Erklärung für seine Theorie des Sozialismus in einem Lande. In der Sowjetunion ist alles vorhanden, um den Wirtschaftsruin zu überwinden, um das Land rückständiger Kleinbauern zu einem fortschrittlichen Industrieland zu entwickeln, um die Gegensätze zwischen Bauern und Arbeiterschaft zu überwinden. Es sind also alle Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus im Lande gegeben.
Die Theorie des Sozialismus in einem Lande ist also entgegen der Behauptung Trotzkis von Lenin selbst begründet worden. Sie ergibt sich konsequent aus Lenins revolutionärer Theorie, die im Sinne der Lehre von Marx für die Durchführung der proletarischen Revolution im nationalen Rahmen eintrat, auch wenn die Voraussetzung für die proletarische Revolution in den anderen Ländern noch nicht gegeben war. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in einem Lande, das heißt nach Marx und Lenin: Kampf um die völlige Vernichtung der kapitalistischen Klassenherrschaft, Kampf um die Schaffung einer neuen „gesellschaftlichen Wirtschaft", Aufbau des Sozialismus. Trotzki kann sich in dem entscheidenden Konflikt, der zum Bruch mit der Bolschewistischen Partei geführt hat, keinesfalls auf Lenin berufen. Selbst in den Lenin-Zitaten, die Trotzki zum Beweise dafür anführt, daß Lenin gegen die Theorie des Sozialismus in einem Lande gewesen sein soll, kommt überall sehr eindeutig zum Ausdruck, daß der Erfolg der sozialistischen Revolution in der Sowjetunion der internationalen sozialistischen Revolution einen stärkeren Anstoß geben werde. Das Beispiel, der tatsächliche Nachweis der Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische, schafft nach Lenin die bessere Möglichkeit zur Revolutionierung der Proletarier in der ganzen Welt. Wenn dieses Beispiel wirken soll, muß der sozialistische Aufbau durchgeführt, müssen die inneren Schwierigkeiten überwunden werden, die dem sozialistischen Aufbau hemmend im Wege stehen.
Im Gegensatz zu Trotzki kann die Bolschewistische Partei — wie die Stellungnahme Lenins in den verschiedenen Phasen beweist — sich bei ihrem Kampf für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande mit vollem Recht auf Lenin berufen. Der Leninismus ist genau wie der Marxismus eine Methode: Auf Grund theoretischer Erkenntnisse die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Wirklichkeit analysieren und in der jeweiligen Situation das tun, was zur Erreichung des sozialistischen Zieles vorwärts führt. Die reale Analyse der Wirklichkeit aber ergab nach der Festigung der proletarischen Herrschaft in der Sowjetunion auf der einen und nach dem Ausbleiben der Weltrevolution auf der anderen Seite die unbedingte Notwendigkeit, das mit der Oktoberrevolution begonnene Werk fortzuführen bis zum endgültigen Siege des Sozialismus. So hat Lenin gehandelt, so hat nach seinem Tode die Bolschewistische Partei das Werk ihres Begründers fortgeführt. Und ist Stalin, wie Trotzki behauptet, der Hauptschuldige an der Theorie des Sozialismus in einem Lande, dann gebührt ihm das historische Verdienst, die siegreiche russische Revolution im Geiste Lenins einen großen Schritt vorwärts geführt zu haben. Durch den sozialistischen Aufbau ist die Sowjetunion eine gewaltige Macht geworden. Ihr Vorhandensein erleichtert den Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus.

TROTZKIS THEORIE DER UNMÖGLICHKEIT DES SOZIALISMUS IN EINEM LANDE

Im steten Gegensatz zu Lenin hat Trotzki seit 1905 konsequent seine Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande vertreten, die er zwangsläufig aus seiner permanenten Revolution entwickelte. Wegen der entscheidenden Bedeutung des Kampfes um den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, und um jedem die Möglichkeit zur objektiven Urteilsbildung zu geben, ist es zweckmäßig, Trotzkis Standpunkt nicht nur zusammenfassend darzustellen, sondern ihm selbst zur Begründung seiner Position ausführlicher das Wort zu geben. Anhand von Äußerungen Trotzkis soll gezeigt werden, wie und mit welchen Argumenten er seine Ablehnung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion begründet. Die Grundlage für Trotzkis Theorie ist bereits in seiner unmittelbar nach der Revolution 1905 erschienenen Broschüre „Unsere Revolution" enthalten. Dort ist zu lesen:
„0hne direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats wird die Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein, sich an der Macht zu halten und ihre zeitweise Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur zu verwandeln. Daran kann man auch nicht einen Augenblick zweifeln."
Dieser Auffassung ist Trotzki in allen seinen Schriften unerschütterlich treu geblieben. Weiter vertrat Trotzki auf Grund seiner Theorie der permanenten Revolution bekanntlich schon seit 1905 den Standpunkt, daß das Proletariat in Rußland nach der Eroberung der politischen Macht „mit den breiten Massen des Bauerntums, mit deren Hilfe es zur Macht gekommen ist", „feindlich zusammenstoßen" müsse. Weil Trotzki die Gegnerschaft zwischen Arbeitern und Bauern als eine unvermeidliche Tatsache betrachtete, kam er zu folgender Schlußfolgerung:
„Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem rückständigen Lande, mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können nur im internationalen Maßstabe gelöst werden, in der Arena der proletarischen Weltrevolution." (Vorwort zu „1905", Seite 6.) Trotzki verneine besonders für das rückständige Rußland die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus mit den im Lande vorhandenen, menschlichen, politischen und Ökonomischen Kräften. Die Überwindung der vorhandenen Schwierigkeiten, das heißt der sozialistische Aufbau könne auch in dem Lande, in dem die proletarische Revolution gesiegt hat, erst nach dem Siege der Weltrevolution gelingen. In konsequenter Fortführung dieser Theorie schreibt Trotzki in seiner Broschüre „Programm des Friedens", die er kurz vor dem Oktober — im Juni 1917 - neu herausgab, daß ein revolutionäres Rußland sich gegenüber einem konservativen Europa nicht behaupten könne, daß der Sieg kein wirklicher sei und in ganz kurzer Zeit wieder verloren gehen müsse, wenn der russischen Revolution nicht die Revolution in den anderen Ländern unmittelbar auf dem Fuße folge. Schon damals hat Trotzki allen, die wie Lenin an die Erhaltung der siegreichen Oktoberrevolution gegen alle Widerstände und an den sozialistischen Aufbau auch dann glaubten, wenn die Weltrevolution zunächst noch ausbleibt, „nationale Beschränktheit" und „Sozialpatriotismus" vorgeworfen. Die gleichen Vorwürfe hat er dann später gegen Stalin erhoben. Den Versuch, den Sozialismus in einem Lande allein aufzubauen, bezeichnet Trotzki als unmarxistisch. Der Kampf für den Sozialismus in der Sowjetunion, der ohne unmittelbare Verbindung mit dem Kampf der Arbeiter in den anderen Ländern geführt werde, widerspreche der marxistischen Grundidee. Weil die Weltwirtschaft — so argumentiert Trotzki — eine Einheit ist, so bleibe die Sowjetunion wegen der internationalen Verflechtung immer in Abhängigkeit von den kapitalistischen Ländern. Sie könne von diesen immer wieder in neue wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht werden. Darum müssen alle die Kräfte, die für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande nutzlos vertan werden, für die Weltrevolution, für den Sieg der Revolution in allen Ländern eingesetzt werden. Das allein schaffe die Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus zugleich in allen Ländern, und damit auch in der Sowjetunion. Der Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion allein aufzubauen, müsse notwendigerweise zum Nationalsozialismus und zum Sozialpatriotismus führen, zu der Entartung der proletarischen Diktatur, die ihren Zusammenbruch und den Sieg der Konterrevolution vorbereitet.
Die Prophezeiung Trotzkis, daß die sozialistische Diktatur in Rußland ohne die unverzügliche Hilfe der Weltrevolution nicht dauerhaft sein könne, hat die Geschichte widerlegt. Seit zwei Jahrzehnten behauptet sich das revolutionäre Rußland erfolgreich gegenüber dem konservativen Europa. Trotzki aber hält unentwegt an seinem Standpunkt fest. Er versucht ihn immer wieder neu zu begründen. Im Jahre 1922 z.B. schreibt Trotzki in einem Nachwort zu dem „Programm des Friedens":
„Die im ,Programm des Friedens' sich mehrere Male wiederholende Behauptung, daß die proletarische Revolution im nationalen Rahmen nicht siegreich zu Ende geführt werden kann, wird manchem Leser vielleicht durch die fast fünfjährige Erfahrung unserer Sowjetrepublik als widerlegt erscheinen. Eine derartige Schlußfolgerung wäre aber unbegründet. Die Tatsache, daß der Arbeiterstaat sich in einem einzelnen und überdies rückständigen Lande gegen die ganze Welt behaupten konnte, zeugt von der kolossalen Macht des Proletariats, das in anderen, fortgeschritteneren, zivilisierteren Ländern fähig sein wird, wahrhafte Wunder zu vollbringen. Aber wenn wir uns politisch und militärisch als Staat behauptet haben, so sind wir doch zur Aufrichtung einer sozialistischen Gesellschaft noch nicht gekommen, ja nicht einmal an sie herangekommen .... Solange in den europäischen Staaten die Bourgeoisie an der Macht sitzt, sind wir gezwungen, im Kampf gegen die ökonomische Isolierung nach einer Verständigung mit der kapitalistischen Welt zu suchen; gleichzeitig kann mit Bestimmtheit gesagt werden, daß diese Verständigung uns bestens helfen kann, die einen oder die anderen ökonomischen Wunden zu heilen, den einen oder den anderen Schritt vorwärts zu machen, daß aber ein wirklicher Aufschwung der sozialistischen Wirtschaft in Rußland nur nach dem Siege des Proletariats in den wichtigsten Ländern Europas möglich sein wird." 1922 verneint Trotzki kategorisch die Möglichkeit eines „wirklichen Aufschwungs der sozialistischen Wirtschaft in Rußland" ohne vorherigen Sieg des Proletariats in den wichtigsten europäischen Ländern. Fünfzehn Jahre später haben die Proletarier in den wichtigsten europäischen Ländern zwar noch immer nicht die Macht erobert, aber der gigantische Aufschwung der sozialistischen Wirtschaft in der Sowjetunion ist so deutlich, daß er in der ganzen Welt anerkannt werden muß, Im Jahre 1929, als die siegreiche Behauptung der proletarischen Revolution in der Sowjetunion unverkennbar war, erschien in deutscher Sprache Trotzkis Buch über „Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale". In diesem Buche, in dem der Verfasser sich mit dem im Jahre 1928 vom VI. Kominternkongreß angenommenen Programm der Kommunistischen Internationale auseinandersetzt, wiederholt Trotzki seine alte These. Er nennt dieses Programm das „Programm des Sozialismus in einem Lande" und die diesbezügliche Theorie eine reaktionäre und utopische, Trotzki schreibt in diesem Buche auf Seite 54 usf.:
„Die ungleichmäßige, sprunghafte Entwicklung des Kapitalismus bedingt zugleich den ungleichmäßigen, sprunghaften Charakter der sozialistischen Revolution, die überall zu verschiedenen Zeiten ausbricht. Die bis zur Höchstspannung gestiegene gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Länder bedingt die Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen ....
Wir hatten seit Marx ständig wiederholt, daß der Kapitalismus unfähig ist, den von ihm herausgeforderten neuen Geist der Technik zu bändigen. Dieser zerstört nicht nur die reinen Rechtsgrenzen des bürgerlichen Eigentums, sondern, wie es der Krieg von 1914 uns gezeigt hat, auch die nationalen Grenzen des bürgerlichen Staates. Der Sozialismus soll nicht allein die vom Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte übernehmen, sondern diese auch sofort über die kapitalistische Entwicklung weiter und höher hinaus- und hinaufführen. Wie soll nun aber der Sozialismus die Produktionskräfte wieder in den Rahmen des nationalen Staates zurückdrängen, welchen diese schon unter dem Kapitalismus längst gesprengt hatten? Oder sollten wir etwa auf diese ungebändigten Produktivkräfte verzichten, denen es in dem Rahmen des nationalen Staates, also auch im Rahmen der Theorie des Sozialismus, in einem Lande zu eng ist, und uns nur auf gezähmte, sozusagen Hausproduktionskräfte, also auf die Technik der wirtschaftlichen Rückständigkeit beschränken? Dann müßten wir aber nicht vorwärts gehen, sondern rückwärts. Selbst noch unter unser armseliges gegenwärtiges technisches Niveau, welches bereits das bürgerliche Rußland mit der Weltwirtschaft verbunden und zu dessen Beteiligung an dem imperialistischen Kriege geführt hatte." Die Entwicklung der letzten Jahre hat auch diese Voraussage Trotzkis widerlegt. Der Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion aufzubauen, hat nicht hinter das frühere technische Niveau des bürgerlichen Rußland zurückgeführt. Im Gegenteil, das technische Niveau der russischen Wirtschaft ist unvergleichlich höher als unter dem Zarismus. Trotzki setzt sich mit der Großzügigkeit eines Nichtmarxisten über eine „Kleinigkeit" hinweg: daß die Produktivkräfte im Sozialismus ganz andere Funktionen haben als im kapitalistischen Staat. Trotzki fährt (auf Seite 56 bis 61) fort:
„Wenn unter dem ,Sieg des Sozialismus' nur ein anderer Ausdruck der Diktatur des Proletariats zu verstehen wäre, dann wäre das eine unbestreitbare richtige Feststellung, die man nur hatte weniger zweideutig ausdrücken sollen. Doch die Verfasser meinen anders. Unter dem Sieg des Sozialismus verstehen sie nicht die Eroberung der Macht und die Verstaatlichung der Produktionsmittel, sondern den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande, Wenn man diese Auslegung annehmen würde, so würden wir keine sozialistische Wirtschaft bekommen, die auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung bestehen würde, sondern eine Föderation von selbständigen sozialistischen Gemeinden im Sinne des Anarchismus seligen Angedenkens, nur daß hier die Gemeinden zur Größe der gegenwärtigen nationalen Staaten erweitert werden....
...Wenn man aber von der neuen Theorie Stalins, Bucharins, die sich in dem Programmentwurf überall eingenistet hat, ausgehen würde, so würde man folgendes Bild bekommen: Vor dem völligen internationalen Sieg des Proletariats wird in einer ganzen Reihe von Ländern bereits der sozialistische Aufbau vollständig durchgeführt. Und erst später wird aus diesen sozialistischen Ländern die sozialistische Weltwirtschaft aufgebaut, ungefähr so, wie die Kinder aus fertigen Bauklötzern Häuser zu bauen pflegen.
In Wirklichkeit wird sich die sozialistische Weltwirtschaft niemals aus einer Summe von nationalen sozialistischen Wirtschaftssystemen zusammensetzen. Sie kann nur in ihren Grundzügen auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung entstehen, die bereits von der vorangehenden kapitalistischen Entwicklung geschaffen wurde. Die Grundzüge der sozialistischen Weltwirtschaft werden im Sturm und Gewitter der proletarischen Revolution gebaut und geschaffen werden, und nicht nach einem ,vollständigen Aufbau des Sozialismus' in einer ganzen Reihe einzelner Länder. Die wirtschaftlichen Erfolge der ersten Länder der proletarischen Diktatur werden nicht nach dem Grade der Annäherung derselben an einem ,selbständigen vollständigen Sozialismus' gemessen werden, sondern nach dem Grade der politischen Festigkeit der Diktatur selbst und der erfolgreichen Vorbereitung der Elemente der zukünftigen sozialistischen Weltwirtschaft.
.... In seinem Bestreben, die Theorie des Sozialismus in einem Lande aufzunehmen, macht der Entwurf doppelte, dreifache und vierfache Fehler. Er überschätzt das Niveau der Produktionskräfte der UdSSR. Er schließt die Augen vor dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung der verschiedenen Industriezweige. Er übersieht die internationale Arbeitsteilung. Und er verneint endlich den in der imperialistischen Epoche herrschenden Widerspruch zwischen Produktionskräften und staatlichen Grenzen." Im Gegensatz zu der Darstellung Trotzkis vertrat Marx der Standpunkt, „das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden". („Kommunistisches Manifest".) Mit der Bourgeoisie fertig werden heißt an Stelle der kapitalistischen Klassenherrschaft und Wirtschaf die sozialistische Wirtschaft zu setzen. Und wenn das Proletariat mit seiner Bourgeoisie fertig geworden ist, wenn in den einzelnen Ländern „der Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt", fällt „die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander" („Kommunistisches Manifest"). Das heißt, aus einer Summe vor; nationalen sozialistischen Staaten ergibt sich erst der sozialistische Welt-Staatenbund und damit der endgültige Sieg des Sozialismus. Aber es ist ganz selbstverständlich, daß das „Fertig werden mit der Bourgeoisie" in den einzelnen Ländern untereinander verbunden ist. Auch darum braucht nach dem Siege des sozialistischen Aufbaus In der Sowjetunion keiner der kommenden proletarischen Staaten mehr vom Standpunkt des Sozialismus in einen Lande auszugehen.
Trotzki kann nicht völlig bestreiten, daß der Beweis der Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische — der nur nach Einführung sozialistischer Wirtschaftsmethoden praktisch geführt zu werden vermag — die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern fördern wird. Auf Seite 64 der oben zitierten Schrift schreibt Trotzki:
„Doch die politische Gefahr der neuen Theorie besteht in der falschen vergleichenden Wertung der beiden Hebel des internationalen Sozialismus: des Hebels unserer wirtschaftlichen Errungenschaften und des Hebels der internationalen proletarischen Revolution. Ohne eine siegreiche internationale proletarische Revolution werden wir niemals den Sozialismus aufbauen können. Das müssen die europäischen Arbeiter der ganzen Welt klar begreifen. Gewiß hat der Hebel des wirtschaftlichen Aufbaus eine ungeheure Bedeutung. Bei einer falschen Leitung desselben würde die Diktatur des Proletariats geschwächt werden. Der Fall der Diktatur würde aber für die internationale Revolution einen solchen Schlag bedeuten, von dem sie sich im Laufe einer langen Reihe von Jahren nicht erholen würde. Allein die Entscheidung des grundsätzlichen historischen Streites zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Welt hängt von dem zweiten Hebel ab, d.h. also von der internationalen proletarischen Revolution. Die kolossale Bedeutung der Sowjetunion liegt darin, daß sie den Stützpunkt der Weltrevolution bildet, ganz unabhängig davon, ob sie imstande sein wird, den Sozialismus aufzubauen oder nicht." Aus diesen Sätzen wird die fehlerhafte trotzkistische Konzeption deutlich erkennbar. Trotzki meint, daß es vollkommen gleichgültig sei, ob die Sowjetunion den Sozialismus aufbaue oder nicht, sie sei auf alle Fälle der Stützpunkt der Weltrevolution. Das ist ein Trugschluß. Die Wirklichkeit beweist, daß es durchaus nicht gleichgültig ist, ob in der Sowjetunion der Sozialismus aufgebaut wird oder nicht. Die Sowjetunion wird nur dann Stützpunkt der Weltrevolution sein, wenn sie lebensfähig ist und wenn sie den Arbeitern in der ganzen Welt überzeugend klar machen kann, daß das sozialistische Wirtschaftssystem dem kapitalistischen überlegen ist. Lebensfähig und kräftig aber ist die Sowjetunion nur dadurch geworden, daß sie „nicht in Erwartung erstarrte", sondern den sozialistischen Aufbau vollzog. Der zweite Hebel, die internationale proletarische Revolution, kann viel wirksamer in Funktion gesetzt werden, wenn der erste Hebel, der des wirtschaftlichen Aufbaus, überzeugend funktioniert. Trotzki jedoch glaubt nicht daran, daß der Hebel der inneren wirtschaftlichen Anstrengungen den Hebel des internationalen Kampfes des Proletariats in Bewegung setzen kann. Er sagt vielmehr, daß die Voraussetzung für den wirklichen sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion der Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern ist. Auf Seite 67 in „Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale" schreibt Trotzki dann weiter:
„Damit der Arbeiter, Landarbeiter oder der arme Bauer, der im elften Jahre nach der Revolution um sich herum nichts wie Armut, Arbeitslosigkeit, lange Brotschlangen, Analphabetentum, verwahrloste Kinder, Trunkenheit und Prostitution sieht, nicht die Hände sinken läßt, braucht man die harte Wahrheit und keine aufgeputzte Lüge. Anstatt daß man ihm vorlügt, daß wir den Sozialismus bereits zu neun Zehnteln verwirklicht haben, müßte man ihm sagen, daß wir gegenwärtig nach unserem Wirtschaftsniveau und nach unseren Daseins- und Kulturbedingungen noch viel näher zu einer kapitalistischen, dabei noch rückständigen und unzivilisierten Gesellschaft stehen, als zu einer sozialistischen Gesellschaft. Wir müssen ihnen sagen, daß wir nur dann auf den Weg eines wirklichen sozialistischen Aufbaues gelangen werden, wenn das Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern die Macht ergreifen wird, und daß wir, ohne die Hände in den Schoß zu legen, unermüdlich daran arbeiten müssen. Und zwar müssen wir dabei mit zwei Hebeln arbeiten: sowohl mit dem kurzen Hebel unserer inneren wirtschaftlichen Anstrengungen, wie mit dem langen Hebel des internationalen Kampfes des Proletariats." Im Jahre 1928 sieht Trotzki nichts als Armut, Arbeitslosigkeit, Brotschlangen, Analphabetentum, verwahrloste Kinder usw. Das ist ihm Beweis, daß der sozialistische Aufbau nur nach der Machtergreifung des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern erreicht werden kann. Im Jahre 1937 haben die Proletarier noch in keinem Lande der Welt die Macht erobert. In der Sowjetunion aber sind Arbeitslosigkeit, lange Brotschlangen, verwahrloste Kinder und noch manches andere, was Trotzki 1928 als Charakteristikum für die Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion anführt, verschwunden. Heute argumentieren nur noch die nationalsozialistischen Lügner mit dem Hunger und der Armut in der UdSSR. Alle objektiv urteilenden Menschen in der ganzen Welt müssen die gewaltigen Fortschritte des Aufbaus in diesem Lande anerkennen. Hätte die Sowjetunion trotz allen vorhandenen Schwierigkeiten nicht den ernsthaften Versuch gemacht, auch ohne den vorherigen Sieg der Weltrevolution den Sozialismus aufzubauen, dann könnte sie heute bereits nicht mehr als Stützpunkt, d.h. als Hebel für die internationale Revolution wirken. In der im Jahre 1931 in Berlin erschienenen Broschüre „Probleme der Entwicklung der UdSSR", die in ihrem Untertitel als „Plattform-Entwurf der internationalen Linksopposition zur russischen Frage" bezeichnet wird, nennt Trotzki die Bolschewiki, die am sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion arbeiten, Nationalsozialisten. In dieser Broschüre schreibt er über die „Widersprüche der Übergangsperiode" (Seite 6):
„Das kapitalistische Rußland bildete trotz seiner Rückständigkeit bereits einen untrennbaren Teil der Weltwirtschaft. Diese Abhängigkeit des Teiles vom Ganzen erbte die Sowjetrepublik von der Vergangenheit zusammen mit der geographischen, demographischen und ökonomischen Struktur des Landes. Die in den Jahren 1924 bis 1927 entstandene Theorie des selbstgenügsamen Nationalsozialismus widerspiegelte das erste, sehr niedrige Stadium der Wiederbelebung der Wirtschaft nach dem Kriege, als deren Weltbedürfnis noch keine Zeit gefunden hatte, zu erwachen. Der gegenwärtige angespannte Kampf um die Erweiterung des Sowjet-Exportes stellt eine anschauliche Widerlegung der Illusionen des Nationalsozialismus dar. Die Zahlen des Außenhandels werden immer mehr zu Kommandozahlen in Bezug auf Pläne und Tempo des sozialistischen Aufbaus. Indes beginnt das Problem des Außenhandels, oder anders gesagt, das Problem der Wechselbeziehungen zwischen Übergangs-Sowjet-Wirtschaft und Weltmarkt erst seine entscheidende Bedeutung zu offenbaren.
Akademisch läßt sich selbstverständlich innerhalb der Grenzen der UdSSR eine abgeschlossene und innerlich ausgeglichene sozialistische Wirtschaft konstruieren-, jedoch der lange historische Weg zu diesem „nationalen" Ideal würde über gigantische ökonomische Verschiebungen, soziale Erschütterungen und Krisen führen. Allein schon die Verdoppelung des heutigen Ernteertrages, d.h. seine Annäherung an den europäischen, würde die Sowjet-Wirtschaft vor die grandiose Aufgabe der Realisierung eines landwirtschaftlichen Überflusses von Aberzehnmillionen Tonnen stellen. Mit diesem, wie mit dem nicht weniger akuten Problem der zunehmenden Bevölkerung auf dem Lande fertig werden könnte man nur durch radikale Neueinteilung der gigantischen Menschenmassen auf verschiedene Wirtschaftszweige, und durch völlige Liquidierung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Aber diese Aufgabe — eine der grundlegenden Aufgaben des Sozialismus — würde ihrerseits eine Ausnützung des Weltmarktes in bisher ungeahntem Ausmaße erfordern."
1928 klagt Trotzki über die langen Brotschlangen, die ein Beweis für den Nahrungsmittelmangel und das Mißlingen des sozialistischen Aufbaus sind. 1931 fürchtet er die Verdoppelung des Ernteertrages der Sowjetwirtschaft, die Unmöglichkeit, den landwirtschaftlichen Überfluß von Aberzehnmillionen Tonnen zu realisieren. Trotzki fährt in der vorgenannten Broschüre fort (S. 7):
„Letzten Endes führen somit alle Widersprüche der Entwicklung der UdSSR auf den Widerspruch zwischen dem isolierten Arbeiterstaat und seiner kapitalistischen Umkreisung zurück. Die Unmöglichkeit des Aufbaus einer selbstgenügsamen sozialistischen Wirtschaft in einem Lande erzeugt die grundlegenden Widersprüche des sozialistischen Aufbaus in jedem neuen Stadium in immer größerem Maßstabe und immer bedeutenderer Tiefe. In diesem Sinne müßte die Diktatur des Proletariats in der UdSSR unvermeidlich zusammenbrechen, wäre das kapitalistische Regime in der ganzen Welt fähig, sich noch eine lange historische Epoche zu halten. Eine solche Perspektive jedoch für unvermeidlich oder auch nur für die Wahrscheinlichkeit halten können nur jene, die an die Unerschütterlichkeit des Kapitalismus oder an seine Langlebigkeit glauben. Die linke Opposition hat mit einem solchen kapitalistischen Optimismus nichts gemein. Aber ebensowenig kann sie sich mit der Theorie des Nationalsozialismus abfinden, die ein Ausdruck der Kapitulation vor dem kapitalistischen Optimismus ist." Auch hier begegnen wir der immer wiederkehrenden Prophezeiung Trozkis, daß die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion unvermeidlich zusammenbrechen muß, wenn das kapitalistische Regime in der anderen Welt sich noch lange hält. Die Dauer der Lebensfähigkeit des kapitalistischen Regimes in der übrigen Welt jedoch wird nicht unwesentlich davon abhängen, ob durch das Gelingen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion den Arbeitern in den anderen Ländern Rüstzeug zur Überwindung des Kapitalismus gegeben wird.
In der im Jahre 1932 in deutscher Sprache erschienenen „Oktoberrevolution" hat Trotzki in einem Anhang noch einmal ausführlich zusammenfassend seine Stellung zu dem Problem „Sozialismus in einem Lande" dargelegt. Er schreibt dort (Seite 676/706 usf.) unter anderem:
„Die Schaffung einer nationalen sozialistischen Gesellschaft, wäre ein solches Ziel überhaupt zu verwirklichen, wurde die äußerste Herabminderung der ökonomischen Macht des Menschen bedeuten; und gerade deshalb ist sie undurchführbar ... In Wirklichkeit bleibt das Wachsen der heutigen Sowjetwirtschaft ein antagonistischer Prozeß. Indem sie den Arbeiterstaat festigen, führen die ökonomischen Erfolge keinesfalls automatisch zur Schaffung einer harmonischen Gesellschaft. Im Gegenteil, sie bereiten auf einer höheren Grundlage die Zuspitzung der Widersprüche des isolierten sozialistischen Aufbaus vor. Das russische Dorf bedarf nach wie vor eines wirtschaftlichen Gesamtplanes mit der europäischen Stadt. Die internationale Arbeitsteilung steht über der Diktatur des Proletariats in einem Lande und schreibt ihr gebieterisch die weiteren Wege vor ... Der heutige Stand der Wirtschaft erlaubt es, ohne Bedenken zu sagen: Der Kapitalismus ist viel näher an die proletarische Revolution herangegangen, als die Sowjetunion an den Sozialismus...“ Die ökonomischen Erfolge des sozialistischen Aufbaus bestreitet Trotzki in der im November 1932 in Berlin herausgekommenen Broschüre „Sowjetwirtschaft in Gefahr". Dort schreibt er (Seite 22 usf.):
„Wenn das durch den ersten Fünfjahrplan beabsichtigte allgemeine wirtschaftliche Niveau anstatt in vier Jahren in sechs oder sieben erreicht worden wäre; wenn der Plan auch nur zu 50% verwirklicht worden wäre, so würde das an und für sich noch keinen Anlaß zur Sorge geben. Die Gefahr liegt nicht in der Verlangsamung des Wachstums, sondern in dem zunehmenden Mißverhältnis der verschiedenen Gebiete der Wirtschaft. Auch wenn a priori alle Bestandteile des Planes in volle Übereinstimmung gebracht worden wären, würde die Herabsetzung des die durchschnittliche Zunahme ausdrückenden Koeffizienten um 50% an sich große Schwierigkeiten zur Folge haben: an Stelle von zwei Millionen Paar Schuhe nur eine Million herzustellen, ist eines; eine Schuhfabrik nur zur Hälfte fertig bauen, das ist ein anderes. Aber die Wirklichkeit ist bei weitem verwickelter und widerspruchsvoller als unser angenommenes Beispiel. Die Disproportionen stammen noch aus der Vergangenheit. Die Programme des Plans enthalten unvermeidliche Mängel und Rechenfehler. Die Nichterfüllung des Plans vollzieht sich unter dem Einfluß der in jedem einzelnen Falle vorliegenden besonderen Ursachen nicht gleichmäßig. Eine durchschnittliche Zunahme der Wirtschaft um 50% kann bedeuten, daß im Gebiet von A der Plan zu 90% erfüllt ist, im Gebiet von B aber nur zu 10%; wenn A von B abhängig ist, so kann im folgenden Produktionszyklus das Gebiet von A auf unter 10% herabsinken.
Nicht darin liegt folglich das Unglück, daß sich die Unausführbarkeit des abenteuerhaften Tempos herausgestellt hat. Das Übel liegt darin, daß die Rekordrennen der Industrialisierung die verschiedenen Elemente des Planes in gefährliche Widersprüche zueinander gebracht haben: Das Übel liegt darin, daß die sozialen und politischen Instrumente zur Bestimmung des Nutzeffektes des Plans zerschlagen oder verstümmelt sind. Das Übel liegt darin, daß die keiner Kontrolle unterworfene Bürokratie ihr Ansehen mit der Anhäufung weiterer Fehler verbunden hat. Das Übel liegt darin, daß sich eine Krise mit einer Reihe solcher Folgen, wie die notgedrungene Schließung von Betrieben und die Arbeitslosigkeit, vorbereitet...
...Krisen sind bei uns nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die kommende Krise hat die Bürokratie schon vorbereitet."
Die hier erneut angekündigte Wirtschaftskrise ist ausgeblieben, ebenso die Schließung von Betrieben und die prophezeite Arbeitslosigkeit. Die Sowjetwirtschaft ist frei von Krisen und Arbeitslosigkeit geblieben, die vermehrte Produktion hat nicht wie im kapitalistischen Wirtschaftssystem zur Stillegung der Betriebe geführt, sondern zur Vermehrung des Wohlstandes für das ganze Volk. Trotzki aber behauptet unentwegt in allen seinen Publikationen bis in die Gegenwart, daß der sozialistische Aufbau in einem Lande nicht möglich sei. Er hat seine Angriffe im Laufe der Zeit noch verschärft. Er behauptet, daß die Erfolge des Aufbaus in der Sowjetunion zu immer schlimmeren Entartungen führen, die die proletarische Diktatur untergraben und den Sieg der Konterrevolution ermöglichen. Und da Trotzki proklamiert, daß der Sieg der Konterrevolution nur durch den Sturz Stalins verhindert werden könne, predigt er den Putsch gegen die in der Sowjetunion herrschende Partei Lenins.

 

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RÜCKMARSCH ODER AUFBAU?

 

WAS TUN?

In konsequenter Fortführung der leninistischen Theorie vertrat die Bolschewistische Partei im Gegensatz zu Trotzki die Meinung, daß die Eroberung der politischen Macht überhaupt nur Sinn habe, wenn sie für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion eingesetzt werde. In dem Kampf, der um die Durchführung der leninistischen Theorie des Sozialismus in einem Lande zwischen Trotzki und der Bolschewistischen Partei entbrannte, war Stalin als Repräsentant der Partei ihr Wortführer.
Was sollte die russische Revolution nach dem Ausbleiben der Weltrevolution tun? Sollte sie auf der Stelle treten, sollte sie passiv warten, bis die Situation für die proletarische Revolution im Westen reif geworden war? Als Konsequenz aus der Theorie Trotzkis ergab sich das Verlangen nach abwartender Passivität, die zum Untergang der russischen Revolution und zur Rückentwicklung der Sowjetunion in einen kapitalistischen Staat geführt hätte. Im Sinne der leninschen Theorie entschied sich die Bolschewistische Partei für den aktiven Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, durch dessen Gelingen allein der Rückmarsch zu einem bürgerlichen Staat verhindert werden konnte. In den Äußerungen zu den Aufzeichnungen N. Suchanows („Prawda" vom 16. und 17. Januar 1923) setzte sich Lenin mit den Marxisten auseinander, die nicht begreifen wollten, daß es durchaus im Sinne der Marxschen Lehre war, die proletarische Revolution in einem Lande auch dann zu beginnen, wenn nicht gleichzeitig in anderen Ländern die Revolution durchgeführt werden kann.
„Sie alle nennen sich Marxisten" - schrieb Lenin zu den Aufzeichnungen Suchanows (Ausgewählte Werke, Band VI, Seite 521) — „doch fassen die den Marxismus bis zur Unmöglichkeit pedantisch auf. Das Entscheidende am Marxismus, nämlich seine revolutionäre Dialektik, haben sie ganz und gar nicht begriffen. Sogar Marx direkte Hinweise darauf, daß in den Augenblicken der Revolution maximale Elastizität erforderlich sei, haben sie absolut nicht verstanden..." Für die Durchführung der Revolutionen gibt es kein Schema. Die „maximale Elastizität", die in Zeiten der Revolution nötig ist, gebietet unterschiedliche Entscheidungen und nicht immer gleichartige Maßnahmen für die Erringung des Sieges. In „Die Grundlagen des Leninismus" schreibt Stalin („Probleme des Leninismus", Seite 97):
„Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem einzelnen Lande für unmöglich, da man annahm, daß zum Siege über die Bourgeoisie ein gemeinsames Auftreten der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Heute entspricht dieser Standpunkt nicht mehr der Wirklichkeit. Heute muß man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die unausbleiblich zu Kriegen führen, das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt — all das führt nicht nur zur Möglichkeit, sondern auch zur Notwendigkeit des Sieges des Proletariats in den einzelnen Ländern."
In voller Übereinstimmung mit Lenin hält Stalin den Sieg der proletarischen Revolution in einem Lande durchaus für möglich. Er wendet sich gegen die im reformistischen Lager weit verbreitete Auffassung, daß die proletarische Revolution auch in den fortgeschrittenen Ländern erst siegen könne, wenn die Voraussetzung für die revolutionäre Entwicklung in allen Ländern gleichmäßig gegeben sei. Aus der Erkenntnis aber, daß mit der Durchführung der Revolution in dem dafür reifen Lande nicht gewartet werden kann, bis es in allen Ländern so weit ist, ergibt sich konsequent die Notwendigkeit, in dem Lande der siegreichen proletarischen Revolution unverzüglich mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen. Denn der Sieg des Sozialismus in einem Lande ist die wirkungsvollste Waffe im Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus in der Welt.

DER SOZIALISTISCHE AUFBAU IN DER SOWJETUNION UND DER ENDGÜLTIGE SIEG DES SOZIALISMUS

Die bolschewistische Theorie des Sozialismus in einem Lande ist von den Trotzkisten sehr oft entstellt worden. Um gegen den „Stalinismus" polemisieren zu können, unterschob man Stalin, er wolle — losgelöst von dem revolutionären Kampf der Arbeiter in den anderen Ländern — nur durch den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion den endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen. Stalin dagegen unterschied immer sehr klar zwischen dem Siege des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion und dem endgültigen Siege des Sozialismus. Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion kann mit den im Lande vorhandenen Kräften erreicht werden, aber dieser Sieg ist kein endgültiger, solange noch kapitalistische Staaten existieren und die sozialistische Sowjetunion bedrohen. Stalin wendet sich scharf gegen diejenigen, die den mit Hilfe der proletarischen Revolution in den anderen Ländern zu erreichenden endgültigen Sieg des Sozialismus mit dem Siege des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion verwechseln. Eine Konsequenz der klaren Unterscheidung zwischen dem Siege des Sozialismus in der Sowjetunion und zwischen dem endgültigen Siege des Sozialismus ist die Außenpolitik der Sowjetunion, deren Tendenzen besonders nach dem Siege des Faschismus in Deutschland deutlicher erkennbar geworden sind.
Den Standpunkt der Bolschewistischen Partei hat Stalin in „Zu den Fragen des Leninismus" (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 45) dargelegt:
„Worin besteht der Mangel dieser Formulierung? Ihr Mangel besteht darin, daß sie zwei verschiedene Fragen in eine Frage zusammenzieht: die Frage der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus mit den eigenen Kräften eines einzelnen Landes — worauf eine bejahende Antwort gegeben werden muß; und die Frage, ob sich ein Land, in dem die Diktatur des Proletariats aufgerichtet ist, für vollständig gesichert gegen eine Intervention und folglich für gesichert gegen eine Restaurierung der alten Ordnung betrachten darf, ohne daß in einer Reihe anderer Länder eine siegreiche Revolution stattfände — worauf eine verneinende Antwort gegeben werden muß. Ich spreche schon garnicht davon, daß diese Formulierung zu dem Gedanken führen kann, daß die Organisierung der sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften eines einzelnen Landes unmöglich sei, was natürlich unrichtig ist.
Aus diesem Grunde änderte ich, verbesserte ich diese Formulierung in meiner Broschüre „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten" (Dezember 1924), indem ich diese Frage in zwei zerlegte: in die Frage der vollständigen Garantie gegen eine Restaurierung der bürgerlichen Ordnung und in die Frage der Möglichkeit des Aufbaus der vollständigen sozialistischen Gesellschaft in einem einzelnen Lande. Das wurde erreicht, erstens, indem ich ,den vollen Sieg des Sozialismus' als ,die volle Garantie gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung' auslegte, was nur durch die gemeinsame Anstrengung der Proletarier einiger Länder erreicht werden kann, und zweitens, indem ich auf Grund der Broschüre Lenins ,Über das Genossenschaftswesen' die unbestreitbare Wahrheit aussprach, daß wir alles Notwendige zum Aufbau der vollständigen sozialistischen Gesellschaft besitzen."
Diese Feststellung ist der Ausgangspunkt für das Handeln der Bolschewistischen Partei. Ist in Rußland alles Notwendige für den sozialistischen Aufbau vorhanden, so kann nach der Eroberung und Festigung der politischen Macht der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft erfolgreich in Angriff genommen werden — auch wenn die proletarische Revolution in den anderen Ländern noch nicht gesiegt hat. Allerdings besteht dann noch immer die Gefahr der Zerschlagung der sozialistischen Erfolge durch einen Interventionskrieg kapitalistischer Länder. Der entgültige, garantierte, nicht mehr über den Haufen zu werfende Sieg des Sozialismus ist erst erreicht, - wenn zumindest in einigen Ländern die Arbeiterklasse gesiegt hat, wenn durch den Sieg der Weltrevolution die Interventionsgefahr vollständig beseitigt ist. Um aber die für den endgültigen Sieg des Sozialismus notwendige siegreiche proletarische Revolution in den anderen Ländern zu fördern, müssen — so argumentiert Stalin — die in der Sowjetunion für den sozialistischen Aufbau gegebenen Voraussetzungen ausgenutzt werden. Das internationale Proletariat braucht die Unterstützung der Sowjetunion, diese wiederum braucht nicht minder die Unterstützung der Weltarbeiterklasse. Über die Notwendigkeit der Unterstützung der Sowjetunion durch das internationale Proletariat schrieb Stalin im Vorwort zu „Auf dem Wege zum Oktober" (Seite 16/17):
„Keine Frage, um den vollständigen Sieg des Sozialismus zu erreichen, um eine vollständige Garantie vor der Wiederherstellung der alten Ordnung zu haben, sind gemeinsame Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder notwendig. Keine Frage, daß ohne Unterstützung unserer Revolution durch das europäische Proletariat das Proletariat Rußlands sich gegen den allgemeinen Ansturm nicht hätte halten können, ebenso wie ohne Unterstützung der revolutionären Bewegung des Westens durch die russische Revolution diese Bewegung sich nicht in dem Tempo hätte entwickeln können, wie sie nach der proletarischen Diktatur in Rußland sich zu entwickeln begann. Keine Frage, daß wir Unterstützung brauchen. Aber was bedeutet Unterstützung unserer Revolution durch das westeuropäische Proletariat? Die Sympathie der europäischen Arbeiter für unsere Revolution, ihre Bereitschaft, die Interventionspläne der Imperialisten zu vereiteln, — ist das alles eine Unterstützung, eine ernste Hilfe? Unbedingt ja. Ohne eine solche Unterstützung, ohne solche Hilfe nicht allein von Seiten der europäischen Arbeiter, sondern auch von Seiten der kolonialen und abhängigen Länder wäre es der proletarischen Diktatur in Rußland recht schwer geworden. Reichte bisher diese Sympathie und diese Hilfe, im Verein mit der Kraft unserer Roten Armee und der Bereitschaft der Arbeiter und Bauern Rußlands, das sozialistische Vaterland tapfer zu verteidigen, aus — reichte das alles aus, um die Angriffe der Imperialisten abzuschlagen und die Voraussetzung für eine ernsthafte Aufbauarbeit zu erkämpfen? Ja, es reichte aus. Nimmt diese Sympathie zu oder nimmt sie ab? Sie nimmt unbedingt zu. Sind nun bei uns günstige Bedingungen vorhanden nicht nur, um das Werk der Organisierung der sozialistischen Wirtschaft vorwärts zu bringen, sondern auch dazu, daß wir unsererseits sowohl den westeuropäischen Arbeitern, als auch den unterdrückten Völkern des Ostens helfen können? Ja, sie sind vorhanden. Davon spricht in beredter Weise die siebenjährige Geschichte der proletarischen Diktatur in Rußland. Kann man das leugnen, daß bei uns ein mächtiger Arbeitsaufschwung bereits begonnen hat? Nein, das kann nicht geleugnet werden." Hier spricht Stalin deutlich aus, wie wichtig die Unterstützung der Arbeiter in den anderen Ländern für den Kampf um den Sozialismus ist. Aber Stalin widerspricht der These Trotzkis, daß „ohne direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats die Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein wird, sich an der Macht zu halten". Die Unterstützung durch die Arbeiter in den anderen Ländern kann wirksam werden, auch wenn diese noch nicht die staatliche Macht in ihrem Lande erobert haben. In der Broschüre „Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV. Parteikonferenz" (Mai 1925) schreibt Stalin über die zwei verschiedenartigen Aufgaben, die für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande und für den endgültigen Sieg des Sozialismus zu erfüllen sind („Probleme des Leninismus", Seite 46):
„Auf unser Land wirken zwei Gruppen von Widersprüchen. Die eine Gruppe — das sind die inneren Widersprüche, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft bestehen (hier ist die Rede von dem Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen Lande). Die andere Gruppe — das sind die äußeren Widersprüche, die zwischen unserem Lande, als dem Lande des Sozialismus, und den übrigen Ländern, als den Ländern des Kapitalismus, vorhanden sind (hier ist die Rede von dem endgültigen Sieg des Sozialismus) .... Wer die erste Gruppe der Widersprüche, die mit den Kräften eines einzelnen Landes vollständig überwunden werden können, mit der zweiten Gruppe von Widersprüchen verwechselt, die zu ihrer Lösung die Anstrengung der Proletarier mehrerer Länder erfordern — der begeht den gröbsten Irrtum gegen den Leninismus, der ist entweder ein Wirrkopf oder ein unverbesserlicher Opportunist."
In der „Prawda" vom 12. November 1926 schreibt Stalin zu der Auffassung Trotzkis, daß auch die Gruppe der inneren Widersprüche nur durch die Weltrevolution gelöst werden könne:
„Die Meinungsverschiedenheit besteht hier darin, daß die Partei es für möglich hält, diese inneren Widersprüche und möglichen Konflikte voll und ganz aus der eigenen Kraft unserer Revolution heraus zu überwinden, während der Genösse Trotzki und die Opposition meinen, daß diese Widersprüche und Konflikte nur ,im internationalen Maßstabe, in der Arena der internationalen proletarischen Revolution' gelöst werden können."
Trotzki bestätigt in seinem Buche „Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale", daß die Meinungsverschiedenheit gerade in diesem Punkte bestehe. Er schreibt dort:
„Besser und genauer könnte man den Widerspruch zwischen dem Nationalreformismus und dem revolutionären Internationalismus gar nicht aufzeichnen. Wenn man diese, unsere inneren Schwierigkeiten, Widerstände und Widersprüche, die im Grunde den Spiegel der internationalen Widersprüche bilden, mit den ,eigenen Kräften unserer Revolution allein' lösen kann, ohne ,daß man in die Arena der internationalen Revolution steigt', so ist also die Internationale zum Teil lediglich eine Hilfsorganisation und zum Teil eine Prunkorganisation, deren Kongresse sich alle vier oder zehn Jahre oder überhaupt nicht zu versammeln brauchen." Die Entwicklung in den letzten zehn Jahren beweist, daß die Gruppe der inneren Widersprüche mit den Kräften in der Sowjetunion selbst gelöst werden können, sie beweist vor allem, daß es möglich ist, die Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern aus der eigenen Kraft der russischen Revolution ohne die „europäische Stadt" zu überwinden. Die äußeren Widersprüche werden um so schneller und erfolgreicher beseitigt, je energischer in der Sowjetunion alle Kräfte für die im Lande selbst zu lösenden Widersprüche mobilisiert werden. In dem Briefe an einen zweifelnden Genossen (im Januar 1925) begründet Stalin besonders eindringlich die Notwendigkeit des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR („Probleme des Leninismus", Seite 224):
„Es handelt sich nicht um den vollständigen Sieg, sondern um den Sieg überhaupt, das heißt darum, die Gutsbesitzer und Kapitalisten zu verjagen, die Macht zu ergreifen, die Attacken des Imperialismus zurückzuschlagen und mit dem Aufbau der sozialistischen Wirtschaft zu beginnen. All dies kann dem Proletariat in einem einzelnen Lande vollständig gelingen, seine absolute Garantie gegen die Restauration kann jedoch nur das ,Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder' sein. Es wäre dumm, in Rußland eine Revolution zu beginnen in der Überzeugung, daß das siegreiche Proletariat Rußlands bei offener Sympathie seitens der Proletarier der anderen Länder, aber ohne den Sieg in mehreren Ländern ,einem konservativen Europa gegenüber nicht standhalten könnte'. Das ist kein Marxismus, sondern der flachste Opportunismus. Wäre eine solche Theorie richtig, dann hätte Lenin unrecht, wenn er behauptet, daß wir das Rußland der NEP in ein sozialistisches Rußland verwandeln werden, daß wir ,alles, was zum Aufbau der vollständigen sozialistischen Gesellschaft notwendig ist' haben ....
.... Das Gefährlichste in unserer politischen Praxis wäre, wenn wir das siegreiche proletarische Land als etwas Passives betrachten wollten, das bis zum Erscheinen der Hilfe seitens der siegreichen Proletarier der anderen Länder auf der Stelle treten muß. Angenommen, daß in fünf bis zehn Jahren die Revolution im Westen noch nicht gesiegt haben wird; angenommen, daß unsere Republik während dieser Periode dennoch fortbesteht als eine Republik, die unter den Verhältnissen der Neuen ökonomischen Politik an der sozialistischen Wirtschaft baut; glauben Sie denn, daß sich unser Land während dieser fünf bis zehn Jahre mit Wassertreten und nicht mit der Organisation der sozialistischen Wirtschaft beschäftigen wird? Es genügt, diese Frage zu stellen, um die ganze Gefährlichkeit der Theorie der Leugnung des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande zu begreifen.“
Aus all diesen Meinungsäußerungen Stalins geht hervor, daß die Bolschewistische Partei sehr eindeutig zwischen dem Siege des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion und dem endgültigen Siege des Sozialismus unterscheidet, und daß sie den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion bejaht, weil sie für möglich hält, die Gruppe der Inneren Widersprüche mit den im Lande vorhandenen Kräften zu lösen. Sie läßt aber keinen Zweifel, daß die Überwindung der zweiten, der Gruppe der äußeren Widersprüche, die zwischen der Sowjetunion, als dem Lande des Sozialismus, und allen übrigen Ländern, als den Ländern des Kapitalismus, bestehen, dagegen nur mit Unterstützung der Proletarier in den anderen Ländern möglich ist. Stalin beantwortet die Frage, worin diese Widersprüche der zweiten Gruppe bestehen, in der Broschüre „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" („Probleme des Leninismus", Seite 222/223):
„Sie bestehen darin, daß, solange es eine kapitalistische Umgebung gibt, auch die Gefahr der Intervention seitens der kapitalistischen Länder vorhanden ist, und daß, solange eine solche Gefahr besteht, auch die Gefahr der Restauration, die Gefahr der Wiederherstellung der alten Ordnung, besteht.
Können diese Widersprüche für ein einzelnes Land als überwunden gelten? Nein, das ist nicht möglich, da die Anstrengungen eines einzelnen Landes, selbst wenn dieses Land das Land der Diktatur des Proletariats ist, nicht hinreichen, um es gegen die Gefahr einer Intervention zu sichern. Eine vollkommene Garantie gegen die Intervention und folglich auch der endgültige Sieg des Sozialismus ist infolgedessen nur im internationalen Maßstabe, nur als Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier in einer Reihe von Ländern, oder noch richtiger gesagt, nur als Ergebnis des Sieges der Proletarier einiger Länder möglich. Was bedeutet endgültiger Sieg des Sozialismus? Der endgültige Sieg des Sozialismus ist die volle Garantie gegen die Interventionsversuche und folglich auch gegen die Restauration; denn irgendein ernstzunehmender Versuch der Restauration kann nur mit ernster Unterstützung von außen, nur mit Unterstützung des internationalen Kapitals stattfinden. Infolgedessen ist die Unterstützung unserer Revolution durch die Arbeiter zumindest in einigen Ländern die unerläßliche Vorbedingung für die volle Sicherung des ersten siegreichen Landes gegen die Interventionsversuche und die Restauration, die unerläßliche Vorbedingung des endgültigen Sieges des Sozialismus."
Stalin widerlegt mit dieser Äußerung auch den ihm oft gemachten Vorwurf, durch die Theorie des Sozialismus in einem Lande die Weltrevolution preisgegeben zu haben. In dem Vorwort zu dem Buche „Auf dem Wege zum Oktober" (1926) schreibt Stalin über die „Oktoberrevolution als Beginn und Voraussetzung der Weltrevolution" (Seite 33/37):
„Es ist unzweifelhaft, daß die universelle Theorie von dem gleichzeitigen Siege der Revolution in den ausschlaggebenden Ländern Europas, die Theorie der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande, sich als künstlich geschaffene, lebensunfähige Theorie erwiesen hat. Die siebenjährige Geschichte der proletarischen Revolution in Rußland spricht nicht für, sondern gegen diese Theorie. Diese Theorie ist nicht nur als Entwicklungsschema der Weltrevolution unannehmbar, da sie im Widerspruch zu den offenkundigsten Tatsachen steht, sie ist noch unannehmbarer als Losung, da sie die Initiative der einzelnen Länder, die infolge gewisser historischer Bedingungen die Möglichkeit bekommen, die Front des Kapitals selbständig zu durchbrechen, fesselt, statt sie zu entfesseln; denn diese Theorie spornt nicht die einzelnen Länder zum aktiven Angriff gegen das Kapital an, sondern zum passiven Warten auf den Augenblick der ,allgemeinen Entscheidung'; sie kultiviert unter den Proletariern der einzelnen Länder nicht den Geist revolutionärer Entschlossenheit, sondern den Geist der Hamlet-Zweifel. ,Und wie, wenn die anderen plötzlich versagen?' Lenin hat vollkommen recht, wenn er sagt, daß der Sieg des Proletariats in einem einzelnen Lande den typischen Fall darstelle, während die ,gleichzeitige Revolution in mehreren Ländern' nur ,eine seltsame Ausnahme sein könne'....
Doch die leninsche Theorie der Revolution beschränkt sich bekanntlich nicht auf diese eine Seite der Frage. Sie ist gleichzeitig die Theorie der Entwicklung der Weltrevolution. Der Sieg des Sozialismus in einem einzelnen Lande ist nicht Selbstzweck, Die Revolution des siegreichen Landes darf sich nicht als eine sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Hilfsmittel zur Beschleunigung des proletarischen Sieges in allen anderen Ländern, Denn der Sieg der Revolution in einem Lande, im gegebenen Falle in Rußland, ist nicht nur das Produkt der ungleichmäßigen Entwicklung und des fortschreitenden Verfalls des Imperialismus. Er ist zugleich der Beginn und die Voraussetzung der Weltrevolution ....
Am wahrscheinlichsten ist es, daß die Weltrevolution sich so entwickeln wird, daß eine Reihe neuer Länder auf revolutionärem Wege vom imperialistischen Staatensystem sich lostrennen werden, wobei die Proletarier dieser Länder die Unterstützung des Proletariats der imperialistischen Staaten finden werden. Wir sehen, daß das erste Land, das sich losgetrennt und gesiegt hat, schon jetzt von den Arbeitern und überhaupt von den werktätigen Massen der anderen Länder unterstützt wird. Ohne diese Unterstützung hätte sich dieses Land nicht halten können. Es ist unzweifelhaft, daß diese Unterstützung noch wachsen und sich verstärken wird. Aber es ist ebenso unzweifelhaft, daß die Entwicklung der Weltrevolution selbst, der Prozeß der Lostrennung einer Reihe neuer Länder vom Imperialismus sich um so schneller und gründlicher vollziehen wird, je schneller dieses Land sich in eine Basis für die weitere Entfaltung der Weltrevolution, in einen Hebel zur weiteren Zersetzung des Imperialismus verwandelt.
Wenn es richtig ist, daß der endgültige Sieg des Sozialismus in dem ersten befreiten Lande ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder unmöglich ist, so ist ebenso richtig, daß die Weltrevolution sich um so schneller und gründlicher entfalten wird, je wirksamer die Hilfe des ersten sozialistischen Landes für die Arbeiter und die werktätigen Massen aller übrigen Länder sein wird ....
Die charakteristische Eigenschaft dieser Hilfe seitens des siegreichen Landes besteht nicht allein darin, daß sie den Sieg der Proletarier in den anderen Ländern beschleunigt, sondern auch darin, daß sie durch die Erleichterung dieses Sieges zugleich den endgültigen Sieg des Sozialismus in dem ersten siegreichen Lande gewährleistet.
Am wahrscheinlichsten ist es, daß im Verlauf der Entwicklung der Weltrevolution neben den Herden des Imperialismus in den einzelnen kapitalistischen Ländern und dem System dieser Länder in der ganzen Welt sich Herde des Sozialismus in einzelnen Sowjetländern und ein System dieser Herde in der ganzen Welt herausbilden werden, wobei dei Kampf zwischen diesen beiden Systemen die Geschichte dei Entfaltung der Weltrevolution ausfüllen wird. ,Denn' — sagt Lenin — ,eine freie Vereinigung der Nationen im Sozialismus ist unmöglich ohne einen mehr oder weniger langwierigen, hartnäckigen Kampf der sozialistischen Republiken gegen die rückständigen Staaten.' (Siehe „Gegen den Strom".)
Die universelle Bedeutung der Oktoberrevolution besteht nicht nur darin, daß sie die große Initiative eines einzelnen Landes darstellt, das imperialistische System zu durchbrechen, daß sie den ersten Herd des Sozialismus im Ozean der imperialistischen Länder bildet, sondern auch darin, daß sie die erste Etappe der Weltrevolution und eine mächtige Basis für deren weitere Entwicklung ist.
Deshalb haben nicht allein diejenigen Unrecht, die den internationalen Charakter der Oktoberrevolution vergessen, den Sieg der Revolution in einem Lande als eine rein nationale und nur nationale Erscheinung hinstellen. Unrecht haben auch diejenigen, die zwar den internationalen Charakter der Oktoberrevolution im Auge behalten, aber geneigt sind, diese Revolution als etwas Passives zu betrachten, das lediglich auf Unterstützung von außerhalb angewiesen ist. In Wirklichkeit braucht nicht nur die Oktoberrevolution die Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern, sondern auch die Revolution in diesen Ländern braucht die Unterstützung der Oktoberrevolution, um das Werk der Niederwerfung des Weltimperialismus zu beschleunigen und vorwärts zu treiben."
Der erfolgreiche Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion unterstützt wirkungsvoll die Weltrevolution. Die Bolschewistische Partei hat auf dem XIV. Parteitag den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion als ihre Tagesaufgabe bezeichnet, weil ohne diesen Versuch die Oktoberrevolution, die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, sinnlos gewesen wäre. In der Broschüre „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" schreibt Stalin weiter („Probleme des Leninismus", Seite 221):
„Denn wenn die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Aufbaus der vollständigen sozialistischen Gesellschaft auf Grund dieser oder jener Erwägung ausgeschlossen wird, so verliert doch dadurch die Oktoberrevolution selbst ihren Sinn. Wer die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande leugnet, der muß unbedingt auch die Berechtigung der Oktoberrevolution leugnen. Und umgekehrt, wer nicht an den Oktober glaubt, der kann auch die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus unter den Verhältnissen einer kapitalistischen Umgebung nicht anerkennen. Es besteht ein vollständiger und unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unglauben an den Oktober und der Nichtanerkennung der sozialistischen Möglichkeiten in unserem Lande." Die Frage des Verhältnisses zwischen dem Kampf zur Überwindung der nationalen und der internationalen Bourgeoisie hat Stalin noch oft behandelt. So unter anderem auch in seinem Referat auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember 1926:
„Wenn die Frage der Errichtung des Sozialismus in der Sowjetunion eine Frage der Überwindung der eigenen nationalen Bourgeoisie ist, so ist die Frage des endgültigen Sieges des Sozialismus eine Frage der Überwindung der internationalen Bourgeoisie. Die Partei sagt, daß das Proletariat eines einzelnen Landes nicht imstande ist, aus eigenen Kräften die internationale Bourgeoisie zu überwältigen. Die Partei sagt, daß für den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande die Überwindung oder zumindest die Neutralisierung der internationalen Bourgeoisie erforderlich ist.
...Die Partei geht davon aus, daß die ,nationalen' und internationalen Aufgaben des Proletariats der Sowjetunion sich zu der einen gemeinsamen Aufgabe der Befreiung der Proletarier aller Länder vom Kapitalismus verschmelzen, daß sich die Interessen des Aufbaus des Sozialismus aller Länder zu dem einen gemeinsamen Interesse des Sieges der Revolution völlig verschmelzen...
...den Sozialismus in der Sowjetunion aufbauen heißt deshalb, die Sache der Proletarier aller Länder betreiben, heißt, den Sieg über das Kapital nicht nur in der Sowjetunion, sondern in allen kapitalistischen Ländern schmieden, denn die Revolution in der Sowjetunion ist ein Teil der Weltrevolution, ihr Anfang und die Basis für ihre Entfaltung."
Stalin hat sich bei seiner Begründung des Kampfes für den sozialistischen Aufbau vollkommen der leninistischen Theorie angepaßt. Aus Äußerungen Lenins, daß mit den revolutionären Kräften eines Landes nicht die internationale Bourgeoisie überwunden werden kann, hat Trotzki Beweise für die Richtigkeit seiner Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande zu sammeln versucht. In der „Oktoberrevolution" zitiert Trotzki in einem besonderen Anhang über „Die Theorie des Sozialismus in einem Lande" Meinungsäußerungen von Lenin, die dessen Gegnerschaft gegen die Theorie des Sozialismus in einem Lande beweisen sollen. Aber selbst aus diesen von Trotzki aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten geht nur hervor, daß Lenin genau so wie Stalin sorgfältig zwischen dem Siege in der Sowjetunion und dem endgültigen Siege unterschieden hat. Auch in diesen Zitaten ist sehr oft von dem Siege in der Sowjetunion und dann von dem vollen, dem endgültigen Siege des Sozialismus, der erst das Ergebnis der Weltrevolution sein wird, die Rede. Aber Lenin hat aus der Erkenntnis, daß zum endgültigen Siege die Machteroberung des Proletariats in mehreren Ländern notwendig ist, keinesfalls die Schlußfolgerung gezogen, in der Sowjetunion auf die aktive Arbeit für den sozialistischen Aufbau zu verzichten. Er hat im Gegenteil die Erkämpfung des sozialistischen Sieges in der Sowjetunion als unbedingt erforderlich bezeichnet, um dem Proletariat in den anderen Ländern einen mächtigen Antrieb für seinen Kampf, für den Sieg der Weltrevolution zu geben.

DIE VORAUSSETZUNGEN FÜR DEN SIEG DES SOZIALISMUS IN DER SOWJETUNION

Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion ist also nur davon abhängig, daß es im Lande selbst gelingt, mit der Gruppe der inneren Widersprüche fertig zu werden. Das alte zaristische Rußland war in wirtschaftlicher und technischer Beziehung das rückständigste Land in Europa. Gelang es, dieses Land in ein hochentwickeltes Industrieland mit moderner Landwirtschaft umzuwandeln, dann war die größte Schwierigkeit in der Gruppe der inneren Widersprüche überwunden. Stalin bejahte in voller Übereinstimmung mit Lenin die Möglichkeit, mit den im Lande vorhandenen Kräften diese erste Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion zu schaffen. Lenin hat zuletzt in der Broschüre „Über das Genossenschaftswesen" (1923) eindeutig ausgesprochen, daß in der Sowjetunion alles vorhanden sei, um das alte rückständige Agrarland zu einem fortgeschrittenen Staate mit hochentwickelter Industrie umzugestalten. Zu dem gleichen Thema sagte Stalin in seinem Referate auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember 1926:
„...Wenn man also davon spricht, ob es möglich ist, den Sozialismus in der Sowjetunion zu errichten, so will man damit sagen: ist das Proletariat der Sowjetunion imstande, aus eigenen Kräften die Bourgeoisie der Sowjetunion zu überwinden? So, und nur so steht die Frage bei der Lösung des Problems der Errichtung des Sozialismus in einem Lande.
Die Partei beantwortet diese Frage bejahend, denn sie geht davon aus, daß das Proletariat der Sowjetunion, die proletarische Diktatur in der Sowjetunion die Möglichkeit hat, die Bourgeoisie der Sowjetunion aus eigener Kraft zu überwinden.
Wenn das nicht richtig wäre, wenn die Partei nicht Grund hätte, zu behaupten, daß das Proletariat der Sowjetunion imstande ist, die sozialistische Gesellschaft zu errichten trotz der relativen technischen Rückständigkeit unseres Landes, so hätte die Partei keinen Grund, weiter an der Macht zu bleiben, sie müßte so oder so die Macht aufgeben und die Rolle einer oppositionellen Partei übernehmen. Denn eins von beiden: entweder können wir den Sozialismus aufbauen und ihn letzen Endes errichten, indem wir unsere ,nationale' Bourgeoisie überwinden, — und dann ist die Partei verpflichtet, an der Macht zu bleiben und den sozialistischen Aufbau im Lande im Namen des Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt zu leiten; oder wir sind nicht imstande, aus eigenen Kräften unsere Bourgeoisie zu überwinden, — und dann müssen wir, angesichts des Ausbleibens einer sofortigen Unterstützung von außen her durch die siegreiche Revolution in anderen Ländern, ehrlich und offen von der Macht zurücktreten und Kurs auf die Organisierung einer neuen, künftigen Revolution in der Sowjetunion nehmen...
Wir haben die Diktatur des Proletariats erobert und dadurch die politische Basis für das Vorwärtsschreiten zum Sozialismus geschaffen. Können wir aus eigenen Kräften die ökonomische Basis des Sozialismus, das neue ökonomische Fundament schaffen, das für die Errichtung des Sozialismus notwendig ist? Worin besteht das ökonomische Wesen und die ökonomische Basis des Sozialismus? Etwa darin, ein ,Himmelreich' auf Erden und die allgemeine Zufriedenheit zu schaffen? Nein, nicht darin. Es ist eine spießerhafte, kleinbürgerliche Vorstellung von dem ökonomischen Wesen des Sozialismus. Die ökonomische Basis des Sozialismus schaffen — das heißt die Landwirtschaft mit der sozialistischen Industrie zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Ganzen zusammenzuschließen, die Landwirtschaft unter die Führung der sozialistischen Industrie stellen, die Beziehungen zwischen Stadt und Land auf der Grundlage des direkten Austausches der Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Industrie regeln, alle jene Kanäle schließen und liquidieren, mit deren Hilfe die Klassen entstehen und vor allem das Kapital entsteht, das heißt letzten Endes solche Produktions und Verteilungsbedingungen schaffen, die direkt und unmittelbar zur Aufhebung der Klassen führen ..." Der Kommunismus, der Aufbau des Sozialismus ist in der Sowjetunion möglich. Jedoch nur, „wenn wir Rußland eine andere, höhere Technik geben als früher", wenn die Volkswirtschaft wiederhergestellt und die Industrie entfaltet wird. Diese Gedanken hat Lenin sehr eindringlich in einer Rede ausgesprochen, die er am 20. November 1920 auf der Moskauer Gouvernements- Parteikonferenz gehalten hat. (Lenin, Gesammelte Werke, Band XXV. Seite 600 usf.) „Die wirtschaftliche Grundlage" (des Sozialismus. D.V.)
— sagte Lenin dort — „aber kann nur dann als gesichert gelten, wenn wirklich im russischen proletarischen Staat alle Fäden der maschinellen Großindustrie geknüpft sein werden, einer Industrie, die nach den Grundsätzen der modernen Technik, das aber heißt der Elektrifizierung, aufgebaut ist. Dazu müssen wir die Grundbedingungen der Anwendung der Elektrizität und entsprechend die Industrie und Landwirtschaft verstehen lernen." (Seite 614.) Dieselbe Auffassung vertrat Stalin auf dem XIV. Parteitage (1925). Dort bezeichnete er als die erste Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion, die UdSSR aus einem Agrarland in ein Industrieland zu verwandeln, das fähig ist, aus eigenen Kräften die notwendige maschinelle Ausrüstung herzustellen. Darin liege das Wesen, die Grundlage der Generallinie.
Die Sowjetunion mit ihrem riesigen Rohstoffreichtum ist in der Lage, diese Aufgabe mit den im Lande vorhandenen Kräften zu erfüllen. In der Broschüre „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" sagte Stalin („Probleme des Leninismus", Seite 219/220):
„Das Land der proletarischen Diktatur, von kapitalistischen Ländern umgeben, ist demnach nicht nur imstande, die inneren Widersprüche zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft aus eigenen Kräften aufzuheben, sondern es kann und soll auch den Sozialismus aufbauen, eine sozialistische Wirtschaft bei sich organisieren .... Lenin ist sich über die technischen Schwierigkeiten des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande vollkommen klar, aber er zieht daraus nicht die absurde Schlußfolgerung, daß ,ein wirklicher Aufschwung der sozialistischen Wirtschaft in Rußland nur nach dem Siege des Proletariats in den wichtigsten Ländern Europas möglich sein wird', sondern er ist der Ansicht, daß wir diese Schwierigkeiten aus eigener Kraft überwinden können...
Lenin ist sich über die politischen Schwierigkeiten des Aufbaus In unserem Lande vollkommen klar, aber er zieht daraus keineswegs die unrichtige Schlußfolgerung, daß ,ohne direkte staatliche Unterstützung durch das europäische Proletariat die Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein wird, sich an der Macht zu halten', sondern er ist vielmehr der Auffassung, daß wir bei einer richtigen Politik gegenüber der Bauernschaft den ,Sieg im Weltmaßstäbe', im Sinne eines vollständigen Aufbaus des Sozialismus erringen können..."
Die im Jahre 1925 noch stark spürbare wirtschaftliche Rückständigkeit der Sowjetunion betrachtet Stalin nicht als unüberwindbares Hindernis, weil ja alles für den sozialistischen Aufbau Notwendige vorhanden ist, und weil durch die Anspannung aller Kräfte die wirtschaftliche Rückständigkeit überwunden werden kann. In der Polemik gegen diejenigen, die die Theorie des Sozialismus in einem Lande verneinen, wendet Stalin sich auch gegen Sinowjew. In dem Vorwort zu dem im Jahre 1926 in deutscher Sprache erschienenen Buche „Probleme des Leninismus" schreibt er (Seite 48):
„Unter dem Sieg des Sozialismus In einem Lande aber versteht Genosse Sinowjew ein solches Bauen am Sozialismus, das nicht zum Aufbauen des Sozialismus führen kann und führen soll. Ein Bauen aufs Geradewohl, ohne Perspektive den Sozialismus bauen, ohne daß es möglich wäre, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen — das ist die Position des Genossen Sinowjew.
Den Sozialismus bauen, ohne die Möglichkeit ihn aufzubauen, bauen mit dem Bewußtsein, daß du ihn doch nicht aufbauen wirst — in diese Ungewißheiten hat sich Genosse Sinowjew verrannt.
Aber das ist doch eine Verhöhnung, aber keine Entscheidung der Frage!
Noch eine Stelle aus dem Schlußwort des Genossen Sinowjew auf dem XIV. Parteitage (auf dem Sinowjew das Korreferat hielt, d.V.):
,Schaut einmal an, wohin sich zum Beispiel Genosse Jakowlew auf der letzten Kursker Gouvernements-Parteikonferenz verrannt hat. Können wir — fragt er — in einem einzelnen Lande, wo uns von allen Seiten kapitalistische Feinde umgeben, können wir unter solchen Umständen in einem einzelnen Lande den Sozialismus aufbauen? Und er antwortet: Auf Grund des Gesagten haben wir das Recht zu behaupten, daß wir nicht nur den Sozialismus bauen, sondern daß wir, trotzdem wir einstweilen allein sind, trotzdem wir einstweilen das einzige Sowjetland in der Welt, der einzige Sowjetstaat sind, den Sozialismus aufbauen werden ... Ist das eine leninistische Fragestellung, riecht das nicht nach nationaler Beschränktheit?'
Demnach — antwortet Stalin — scheint es nach Sinowjew eine nationale Beschränktheit zu sein, wenn man die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem einzelnen Lande anerkennt, und es wäre der Standpunkt des Internationalismus, wenn man diese Möglichkeit verneint.
Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus, daß ein solcher Sieg unmöglich ist? Die Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft — dahin führt die innere Logik der Argumentation des Genossen Sinowjew."
Als die zweite und entscheidende Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion bezeichnet Stalin ebenso wie Lenin die Überwindung der Widersprüche zwischen Bauern- und Arbeiterklasse. Trotzki zitiert in dem Buch „Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale" eine Äußerung Lenins aus dem Jahre 1921, mit der er beweisen will, daß Lenin die Möglichkeit des sozialistischen Sieges in der Sowjetunion verneinte. In diesem Zitat sagt Lenin, daß die soziale Revolution in Rußland, in dem das Industrieproletariat eine Minderheit neben der großen Mehrheit von Kleinbauern ist, nur siegreich sein kann, wenn „die Verständigung zwischen dem die Diktatur ausübenden und die Staatsgewalt in Händen habenden Proletariat mit der Bauernbevölkerung" erfolgt. „Wir wissen, daß nur das Zustandekommen einer Verständigung mit den Bauern die sozialistische Revolution in Rußland retten kann..." Auch dieses Zitat spricht gegen Trotzkis Auffassung, denn Lenin hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Verständigung zwischen den beiden entscheidenden revolutionären Klassen in Rußland zustande kommen wird. Er hat schon lange vor der Oktoberrevolution, in den Auseinandersetzungen um Trotzkis „permanente Revolution" klargelegt, daß und warum er ein festes Kampfbündnis der Arbeiterklasse mit den überwiegenden Bauernmassen, und darum den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion für möglich hielt. Stalin sagte in „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" über dieses Problem (Probleme des Leninismus. Seite 216/18):
„Es läßt sich natürlich nicht leugnen, daß gewisse Widersprüche zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft vorhanden sind. Es genügt nur, daran zu erinnern, was bei uns im Zusammenhang mit der Preispolitik für landwirtschaftliche Erzeugnisse, im Zusammenhang mit der Festsetzung von Höchstpreisen, der Kampagne für Herabsetzung der Preise für die Industrieprodukte, vor sich ging und vor sich geht, um die ganze Realität dieser Widersprüche zu begreifen. Zwei Hauptklassen stehen vor uns: die Klasse der Proletarier und die Klasse der Privateigentümer, d.h. der Bauernschaft. Hieraus entspringt die Unvermeidlichkeit eines Gegensatzes zwischen ihnen. Die ganze Frage ist die, ob wir diese Widersprüche, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft bestehen, aus eigenen Kräften überwinden können. Wenn man fragt, ob es möglich ist, den Sozialismus aus eigener Kraft aufzubauen? — so will ich damit sagen: ist es möglich, die zwischen Proletariat und Bauernschaft in unserem Lande bestehenden Widersprüche zu überwinden, oder nicht?
Der Leninismus beantwortet diese Frage bejahend: ja, wir können den Sozialismus aufbauen, und wir werden ihn aufbauen, zusammen mit der Bauernschaft, unter Führung der Arbeiterklasse.
Wo ist die Begründung für eine solche Antwort? Die Begründung dieser Antwort besteht darin, daß es zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft außer den Gegensätzen auch noch gemeinsame Interessen gibt, und zwar in den grundlegenden Fragen der Entwicklung, die diese Widersprüche aufwiegen, und jedenfalls aufwiegen können, und die die Basis, die Grundlage des Bündnisses zwischen den Arbeitern und Bauern bilden. Worin bestehen diese gemeinsamen Interessen? Es handelt sich darum, daß es zwei Entwicklungswege der Landwirtschaft gibt: den kapitalistischen und den sozialistischen. Der kapitalistische Weg bedeutet die Entwicklung durch die Verelendung der Mehrheit der Bauernschaft im Interesse der Bereicherung der oberen Schichten der städtischen Bourgeoisie. Der sozialistische Weg hingegen bedeutet die Entwicklung durch die fortwährende Hebung des Wohlstandes der Mehrheit der Bauernschaft. Wie das Proletariat, so ist auch insbesondere die Bauernschaft daran interessiert, daß die Entwicklung den zweiten, den sozialistischen Weg einschlägt, da dieser Weg die einzige Rettung der Bauernschaft vor der Verelendung und vor dem Hungerdasein darstellt. Es ist überflüssig, zu erwähnen, daß die Diktatur des Proletariats, die die Hauptfäden der Wirtschaft in ihren Händen hält, alle Maßnahmen ergreifen wird, dem sozialistischen Wege zum Siege zu verhelfen. Andererseits liegt es selbstverständlich im ureigensten Interesse der Bauernschaft, daß die Entwicklung diesen zweiten Weg einschlägt.
Hieraus entspringt die Gemeinsamkeit der Interessen des Proletariats und der Bauernschaft, die die Gegensätze zwischen ihnen aufwiegt.
Deshalb sagt der Leninismus, daß wir die vollkommene sozialistische Gesellschaftsordnung zusammen mit der Bauernschaft auf der Grundlage des Bündnisses zwischen den Arbeitern und Bauern aufbauen können und aufbauen müssen.
Deshalb sagt der Leninismus, gestützt auf die gemeinsamen Interessen der Proletarier und Bauern, daß wir aus eigenen Kräften die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft bestehenden Widersprüche überwinden können und müssen."
Zur Begründung der Möglichkeit, die Widersprüche zwischen Arbeiter- und Bauernschaft im Lande selbst zu lösen und die ausschlaggebenden Massen der Bauernschaft in die Sache des sozialistischen Aufbaus hineinzuziehen, stellt Stalin in der Broschüre „Die Grundlagen des Leninismus" zwei Grundthesen auf („Probleme des Leninismus", Seite 118—121):
1. Man darf die Bauernschaft der Sowjetunion nicht verwechseln mit der Bauernschaft Westeuropas. Die Bauernschaft, die durch die Schule dreier Revolutionen gegangen ist, die gegen den Zarismus und die Bourgeoisie zusammen mit dem Proletariat in den vordersten Reihen kämpfte, die Land und Frieden aus der Hand der proletarischen Revolution erhalten hatte — und deshalb zur Reserve des Proletariats wurde — diese Bauernschaft unterscheidet sich von jener, die während der bürgerlichen Revolution zusammen mit der liberalen Bourgeoisie kämpfte, die das Land aus der Hand dieser Bourgeoisie erhielt und deshalb zur Reserve der Bourgeoisie wurde. Es erübrigt sich wohl zu beweisen, daß die Bauernschaft des Sowjetstaates, die die politische Kameradschaft und die politische Zusammenarbeit mit dem Proletariat schätzen gelernt hat, und die dieser Kameradschaft und Zusammenarbeit ihre Freiheit verdankt, ein besonders dankbares Material für die Ökonomische Zusammenarbeit mit dem Proletariat sein muß...
2. Man darf die Landwirtschaft Rußlands nicht verwechseln mit der Westeuropas. Dort vollzieht sich die Entwicklung der Landwirtschaft in den gewöhnlichen Bahnen des Kapitalismus, unter den Verhältnissen einer scharfen Differenzierung der Bauernschaft, mit großen Gütern und privatkapitalistischen Latifundien auf dem einen Pol und dem Pauperismus, der Verelendung und der Lohnsklaverei auf dem anderen. Dort ist der Zerfall und die Zersetzung infolgedessen eine ganz natürliche Erscheinung. Ganz anders in Rußland. Hier kann die Entwicklung der Landwirtschaft schon deswegen in dieser Richtung nicht stattfinden, weil das Bestehen der Sowjetmacht und die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsmittel eine derartige Entwicklung verhindern. In Rußland dürfte die Entwicklung der Landwirtschaft einen anderen Weg gehen, und zwar den Weg der Vergenossenschaftlichung der Millionen kleiner und mittlerer Bauern, den Weg der Entwicklung des Massen umfassenden Genossenschaftswesens auf dem Lande, das vom Staat durch Gewährung von günstigen Krediten unterstützt wird. Lenin hat in seinen Artikeln über das Genossenschaftswesen richtig darauf hingewiesen, daß die Entwicklung unserer Landwirtschaft einen neuen Weg einschlagen muß, den Weg der Hineinziehung der Mehrheit der Bauern in den sozialistischen Aufbau durch die Genossenschaften, den Weg der allmählichen Durchdringung der Landwirtschaft mit den Prinzipien des Kollektivismus, zuerst auf dem Gebiete des Absatzes, und dann — auf dem Gebiete der Produktion der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ... Es erübrigt sich wohl zu beweisen, daß die überwiegende Mehrheit der Bauernschaft diesen neuen Entwicklungsweg einschlagen wird, um nicht den Weg einschlagen zu müssen, der zur Bildung privatkapitalistischer Latifundien, zur Lohnsklaverei, zur Verelendung und zum Verfall führt.
Obwohl Lenin und Stalin in Rußland besonders günstige Bedingungen für das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft sahen, haben beide niemals übersehen, daß auch in den Ländern außerhalb der Sowjetunion die Bauernschaft eine Reserve der Revolution ist, daß auch dort Voraussetzungen für das Zusammengehen der Arbeiter mit den Bauern gegeben sind. In der Sowjetunion war die Politik der Bolschewistischen Partei gerade auch um der Erreichung des sozialistischen Aufbaus willen planmäßig auf die Überwindung vorhandener Gegensätze zwischen Arbeiter- und Bauernklasse abgestellt. „Eine richtige Politik gegenüber der Bauernschaft" — sagte Stalin in „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz" — „ist etwas, das voll und ganz von uns und nur von uns abhängt, von der Partei, die den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande leitet". Die richtige Politik gegenüber der Bauernschaft schuf die zweite Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion. Über die Verdrehung des Standpunktes der Bolschewistischen Partei durch die Opposition äußerte sich Stalin in seinem Referat auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember 1926:
„Nun schön, sagt uns die Opposition, mit wem aber ist es letzten Endes besser im Bündnis zu sein: mit dem Weltproletariat oder mit der Bauernschaft unseres Landes; wem sollen wir den Vorzug geben: dem Weltproletariat oder der Bauernschaft der Sowjetunion? Dabei wird die Sache so dargestellt, als ob zwei Verbündete vor dem Proletariat der Sowjetunion stünden — das Weltproletariat, das bereit ist, sofort seine Bourgeoisie zu stürzen, aber darauf wartet, daß wir ihm hierzu unser bevorzugendes Einverständnis geben, und unsere Bauernschaft, die bereit ist, dem Proletariat der Sowjetunion zu helfen, aber nicht ganz davon überzeugt ist, daß das Proletariat der Sowjetunion diese Unterstützung annehmen werde. Das, Genossen, ist eine kindische Fragestellung. Eine solche Fragestellung hat weder mit dem Verlauf der Revolution in unserem Lande noch mit dem Kräfteverhältnis an der Front des Kampfes zwischen dem internationalen Kapitalismus und dem Sozialismus etwas gemein .... Leider steht es um die Sache nicht so, wie dies einige Oppositionelle darstellen, wobei kein Grund vorliegt, daran zu zweifeln, daß wir mit Vergnügen die Hilfe sowohl der einen, wie der anderen Seite annehmen würden, wenn das nur von uns abhinge. Nein, so steht die Frage im wirklichen Leben nicht.
Die Frage steht folgendermaßen: da das Tempo der internationalen revolutionären Bewegung sich verlangsamt hat, der Sozialismus im Westen noch nicht den Sieg davongetragen hat, das Proletariat der Sowjetunion aber an der Macht steht, diese Macht von Jahr zu Jahr festigt, die Hauptmassen der Bauernschaft um sich zusammenschließt, bereits ernste Erfolge an der Front des sozialistischen Aufbaus aufzuweisen hat und mit Erfolg die Freundschaftsbande mit den Proletariern und den unterdrückten Völkern aller Länder festigt, gibt es da einen Grund dafür, zu leugnen, daß das Proletariat der Sowjetunion seine Bourgeoisie überwinden und den siegreichen Aufbau des Sozialismus in unserem Lande trotz der kapitalistischen Einkreisung fortsetzen kann?
So steht jetzt die Frage, natürlich wenn man nicht von Phantasien ausgeht, wie das der Oppositionsblock tut, sondern von dem wirklichen Kräfteverhältnis an der Front des Kampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Die Partei antwortet auf diese Frage, daß das Proletariat der Sowjetunion unter diesen Verhältnissen imstande ist, seine ,nationale' Bourgeoisie zu überwinden und die sozialistische Wirtschaft mit Erfolg aufzubauen. Die Opposition sagt dagegen:
,Ohne direkte staatliche. Unterstützung des europäischen Proletariats kann die Arbeiterklasse Rußlands die Macht nicht behaupten und seine zeitweilige Herrschaft nicht in eine dauernde sozialistische Diktatur umwandeln.' (Trotzki, „Unsere Revolution" Seite 278.)
Was aber ist der Sinn dieses Satzes von Trotzki und was bedeutet die „staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats“? Das bedeutet, daß ohne den vorherigen Sieg des Proletariats im Westen, ohne die vorherige. Machtergreifung durch das Proletariat im Westen das Proletariat der Sowjetunion nicht nur nicht imstande ist, seine Bourgeoisie zu überwinden und den Sozialismus aufzubauen, sondern nicht einmal imstande ist, die Macht zu behaupten."
Die Bolschewistische Partei hat im Kampf um den sozialistischen Aufbau alle ihre Kraft eingesetzt, um trotz den vorhandenen Schwierigkeiten die Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion zu schaffen. Hat sie die gestellte Aufgabe erfüllt? Ist es ihr in dem Jahrzehnt von 1925 an gelungen, das feste Bündnis zwischen Arbeiter- und Bauernklasse zu schaffen und das rückständige zaristische Rußland in ein fortgeschrittenes Land mit starker Industrie und leistungsfähiger Landwirtschaft umzugestalten? Die Beantwortung dieser Fragen ist für die Stellung des Weltproletariats außerordentlich wichtig, weil bei der Untersuchung der geleisteten Aufbauarbeit zugleich auch die Frage beantwortet wird, ob in dem entscheidenden Konflikt, der zum Bruche Trotzkis mit der Bolschewistischen Partei führte, diese oder Trotzki sachlich im Recht war. Das Urteil in dem ursprünglich nur theoretischen Meinungsstreit hat die Praxis, die tatsächliche Entwicklung in der Sowjetunion gefällt. Wie dieses Urteil ausgefallen ist, ergeben die Untersuchungen über die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus (im IV. Teil), über die Weltrevolution und Trotzkis Kampf gegen die UdSSR (im V. und VI. Teil dieses Buches).
Der Trotzkismus hat sich in seinem Kampfe gegen den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion vollkommen verrannt. Die Erfolge dieses Aufbaus, die die Sowjetvölker täglich erleben, haben die These Trotzkis praktisch widerlegt, haben dem Trotzkismus die politischen Wirkungsmöglichkeiten unter den Massen genommen. Da Trotzki vor diesen Tatsachen nicht kapitulieren, da er die Verfehltheit seiner Theorie nicht zugeben und den Kampf gegen die Bolschewistische Partei und den erfolgreichen sozialistischen Aufbau nicht aufgeben will, muß er zwangsläufig zu immer zweifelhafteren Kampfmethoden kommen. Die Massenbasis des Sowjetregimes ist immer breiter geworden. Die Sowjetmacht ist so fest fundiert, daß sie überhaupt nur noch durch einen verlorenen Krieg erschüttert werden könnte. Trotzkis letzte verzweifelte Konzeption ist darum, seine Konterrevolution zu „machen", wenn die Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland und Japan im Kriege steht. Die von Trotzki gewollte Auslösung des Bürgerkrieges im Kriege würde aber nicht ihn zur Macht bringen, sondern zum Siege des Faschismus, zur Restaurierung der alten zaristischen und kapitalistischen Gewalten unter faschistischer Flagge führen. Die ganze Tätigkeit Trotzkis fördert praktisch die Herstellung der faschistischen Herrschaft. Der Trotzkismus hat sich darum zu einer konterrevolutionären Strömung entwickelt, die bekämpft werden muß, wenn man den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion sichern will, um damit den endgültigen Sieg des Sozialismus zu ermöglichen.

 

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HISTORISCHE ENTSCHLÜSSE

 

DIE AUFGABE

In den Diskussionen um die Theorie des Sozialismus in einem Lande wurden von Lenin und Stalin, wurden von der Bolschewistischen Partei als Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in der UdSSR bekanntlich bezeichnet:
1. Das rückständige Agrarland zu einem hochentwickelten Industrieland mit einer leistungsfähigen mechanisierten Landwirtschaft umzuwandeln; eine Industrie aufzubauen, die die riesigen Rohstoffreichtümer des Landes mobilisieren und verwerten kann, um dadurch die Sowjetunion von den Kapitalisten der anderen Länder unabhängig zu machen.
2. Die Widersprüche, die zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft bestehen, zu überwinden; die Massen der Bauernschaft zu einem festen Bündnis mit der Arbeiterklasse zu bringen und sie für die aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau zu gewinnen.
Die nächste konkrete Aufgabe im Kampf um den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion war die Schaffung dieser Voraussetzungen. Wer beurteilen will, ob es der Bolschewistischen Partei gelungen ist, die Theorie des Sozialismus in einem Lande praktisch zu verwirklichen, der muß zunächst untersuchen, ob sie die nächste konkrete Aufgabe erfolgreich gelöst hat. Nach einem reichlichen Jahrzehnt intensiver Aufbauarbeit und nach nüchterner und sachlicher Prüfung der Entwicklung in der Sowjetunion kann man — wie hier vorweg festgestellt und später ausführlich bewiesen werden soll — sagen, daß die zuerst von Lenin formulierten Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande geschaffen wurden und der Sozialismus im Wesen bereits aufgebaut ist. Trotzkis Theorie ist durch die Tatsachen widerlegt worden.
Wenn man rückschauend den Kampf um den sozialistischen Aufbau wertet, sind die Ergebnisse gewaltig. Aber der Weg zum Erfolge war nicht so geradlinig, wie er manchem bei der rückschauenden Wertung erscheint. Im Jahre 1918 — unmittelbar nach der Eroberung der politischen Macht — waren die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ungeheuer. Bürgerkrieg und Interventionskrieg, Wirtschaftsblockade und die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen die Binnenwirtschaft funktionieren zu lassen, führten zu dem aus der Situation sich zwangsläufig ergebenden Versuch, mit einem Schlage den Sozialismus in der Form einer proletarischen Naturalwirtschaft zu verwirklichen. Das ging nicht. Der Kriegskommunismus erfüllte allerdings die eine und damals wichtigste Aufgabe, alle wirtschaftlichen Kräfte für die erfolgreiche Durchführung des Bürgerkrieges zu mobilisieren und die Kommandohöhen der Wirtschaft fest in die Hand der proletarischen Diktatur zu legen. Das Experiment führte jedoch nicht zum wirtschaftlichen Aufbau; es zeitigte Ergebnisse, die Lenin zur Liquidierung des Kriegskommunismus und zur Einführung der Neuen Ökonomischen Politik veranlaßten. Nach dem Bürgerkrieg war das Land verwüstet, die Wirtschaft desorganisiert und noch weit unter dem Stand des traurigen Erbes, das die Sowjetmacht vom Zarismus übernommen hat. Nach all den Opfern, die Krieg und Bürgerkrieg gefordert hatten, war es schwer, von den ausgepumpten Volksmassen immer neue Opfer für den sozialistischen Aufbau zu verlangen. Um die Riesenaufgabe zu meistern, war vielerlei notwendig: Geduld und Ausdauer des Volkes, unerschütterlicher Glaube und begeisterte Hingabe der Avantgarde und eine zielbewußte, überzeugte, fest zupackende zentralistische Führung, die eine klare Konzeption hatte — und die über die Nöte des Tages hinaus die Aufgaben für die Zukunft sah.
Im Jahre 1925 — als die Diskussion um die Theorie des Sozialismus in einem Lande in der Bolschewistischen Partei den Höhepunkt erreichte, als der XIV. Parteitag den sozialistischen Aufbau zur Tagesaufgabe der Partei erklärte — stand man mitten in jener Periode der Neuen ökonomischen Politik, in der dem Kapitalismus Konzessionen gemacht wurden. Das war in der Zeit, in der in Mittel- und Westeuropa überall festgestellt wurde, die Diktatur des Proletariats sei unfähig, die Ökonomischen Aufgaben zu meistern. Die Entwicklung hat allerdings das Gegenteil gelehrt. Die Diktatur des Proletariats hatte die entscheidenden Trümpfe, den staatlichen Machtapparat, immer fest in der Hand. Mit diesem griff sie korrigierend zugunsten des sozialistischen Wirtschaftssystems ein, baute sie nach der Vollendung des Wiederaufbaus der Wirtschaft planmäßig die Reste des Kapitalismus ab. Die NEP wurde von den Gegnern der Bolschewiki zu unrecht als Kapitulation vor dem Kapitalismus bezeichnet. Sie war die aus der Situation geborene Maßnahme, die zum Wieder- und Neuaufbau der Wirtschaft unbedingt notwendig war. Die mit ihr verbundenen Konzessionen an kapitalistische Kreise wurden planmäßig liquidiert, als die NEP ihre Aufgabe erfüllt hatte. Dann erst konnte der große Aufbau beginnen — der sozialistische Aufbau, der gleicher weise für die Entwicklung der russischen Revolution und für ihre Fernwirkung auf die Proletarier in den anderen Ländern notwendig war.
Als die große Aufgabe des sozialistischen Aufbaus in Angriff genommen wurde, schrieb Stalin („Probleme des Leninismus", Seite 47):
„Man kann den Sozialismus nicht bauen, ohne überzeugt zu sein, daß es möglich ist, ihn aufzubauen, ohne überzeugt zu sein, daß die technische Rückständigkeit unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für den Aufbau der vollständigen sozialistischen Gesellschaft bildet. Die Leugnung einer solchen Möglichkeit bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, ein Abweichen vom Leninismus."
Aber nicht nur mit diesem starken Glauben, sondern mit allen Verstandeskräften, mit Plänen und Berechnungen, wurde das gigantische Werk begonnen. Nach dem entscheidenden Parteitagsbeschluß im Jahre 1925 geht es sofort mit Feuereifer an die Arbeit. Das nächste Jahrzehnt war die Zeit eines atemraubenden Kampfes, in dem rücksichtslos alle Kräfte für die Erfüllung der auf dem XIV. Parteitage proklamierten Tagesaufgabe eingesetzt wurden.

DIE GENERALLINIE

Die Generallinie der Bolschewistischen Partei für den sozialistischen Aufbau fand ihren konkreten Ausdruck in den Fünfjahresplänen. Im Jahre 1928 — als mit Hilfe der NEP die Periode des Wiederaufbaus zu einem gewissen Abschluß gelangt war — begann mit dem ersten Fünfjahrplan die Epoche des großen sozialistischen Aufbauwerkes. Ein gigantisches Ringen! ... Die in diesem harten Ringen an die Sowjetvölker gestellten Anforderungen waren andere, aber nicht weniger schwere als die im Bürgerkrieg. Das kühne Ziel war, die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder in wirtschaftlicher und technischer Beziehung einzuholen und zu überholen. Darum war die vordringlichste Aufgabe des ersten Fünfjahrplans der Aufbau einer großen Schwer- und Produktionsmittelindustrie. Im ersten Planjahrfünft werden alle Kräfte auf die Erreichung dieses Zieles konzentriert. Große Massen zum Teil bäuerlicher Bevölkerung werden im schnellsten Tempo für die industrielle Produktion mobilisiert, der Rückständigkeit des alten zaristischen Rußland wird energisch zu Leibe gegangen. Der erste Fünfjahrplan wird schon in vier Jahren vollendet. In diesen vier Jahren wurden neue Schächte und Erzgruben erschlossen, wurden Fabriken und Maschinen gebaut. Es gelang, eine neue technische Basis für die wichtigsten Teile der Volkswirtschaft aufzubauen, die Grundlage für den zweiten Fünfjahrplan und die endgültige Liquidierung der Reste des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu schaffen.
Aber mit der erfolgreichen Durchführung des ersten Fünfjahrplans war der Mangel an Lebensmitteln und Bedarfsgütern, unter dem das Volk litt, noch nicht behoben. Weil zunächst die Produktionsmittelindustrie aufgebaut werden mußte, konnten noch nicht sofort genügend Waren zur ausreichenden Versorgung des Volkes produziert werden. Hinzu kam noch, daß die steigenden Bedürfnisse der Massen den Mangel an Bedarfsgütern vermehrten. Die Beseitigung dieses Mangels war eine der wichtigsten Aufgaben des zweiten Fünfjahrplans. Wenn in diesem auch der weitere Ausbau der Schwer- und Produktionsmittelindustrie noch einen sehr breiten Raum einnahm, so brachte er doch bereits einen großen Aufbau und Ausbau der Verbrauchsgüterindustrie und eine ergiebige Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Dadurch konnten dem Volke mehr Lebensmittel und mehr Bedarfsgüter gegeben werden. Das Volk braucht nicht mehr zu darben, sein Lebensniveau wird erhöht, sein Wohlstand wächst. Aber der zweite Fünfjahrplan hatte noch andere Aufgaben zu erfüllen. In der Resolution des XVII. Parteitages (1934) wird über seine Ziele gesagt:
„Die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans ist die endgültige Liquidierung der kapitalistischen Elemente und der Klassen überhaupt, die vollständige Beseitigung der Ursachen, die Klassenunterschiede und Ausbeutung erzeugen, sowie die Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewußtsein der Menschen, die Umwandlung der gesamten werktätigen Bevölkerung des Landes in zielbewußte und aktive Schöpfer der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft.
Die endgültige Liquidierung der Überreste der parasitären Klassen und das allgemeine Anwachsen des Volkseinkommens, das voll und ganz den Werktätigen zur Verfügung steht, sollen in der zweiten Fünfjahrperiode einen noch rascheren Aufschwung des Wohlstandes der Arbeiter- und Kollektivbauernmassen, ein bedeutendes Steigen des Reallohnes, eine Erhöhung des Verbrauchs der Werktätigen auf das Zwei- bis Dreifache ermöglichen.
Die Bewältigung dieser Aufgaben ist nur auf dem Boden einer entfalteten technischen Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft, der Industrie, des Verkehrswesens und der Landwirtschaft möglich. Deshalb ist die grundlegende, entscheidende wirtschaftliche Aufgabe des zweiten Fünfjahrplans die Vollendung der Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft. Die entscheidende Bedingung für die Vollendung der technischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft in der zweiten Fünfjahrperiode muß die Beherrschung der neuen Technik und der neuen Produktionszweige werden." Die Resolution des XVII. Parteitages stellt schließlich fest, „daß der zweite Fünfjahrplan der Entwicklung der Volkswirtschaft, den die staatliche Plankommission der UdSSR vorgelegt und das ZK der KPDSU(B) und der Rat der Volkskommissare der UdSSR angenommen haben, sicherstellt: die Liquidierung der kapitalistischen Elemente der Klassen überhaupt, die endgültige Liquidierung des Privateigentums an Produktionsmitteln auf der Grundlage der vollständigen Kollektivierung der bäuerlichen Wirtschaften und der Vergenossenschaftung aller Handwerker; die Liquidierung der Vielheit der gesellschaftlichen Wirtschaftsformationen in der Sowjetunion und die Behauptung der sozialistischen Produktionsweise als der einzigen Produktionsweise, bei Verwandlung der gesamten werktätigen Bevölkerung des Landes in aktive und zielbewußte Schöpfer der sozialistischen Gesellschaft."
Auch der zweite Fünfjahrplan wurde vorfristig erfüllt. Im dritten Fünfjahrplan können schon wieder viel weiter gesteckte Aufgaben gestellt werden. Die Voraussetzungen dafür, daß die bereits eingeholten kapitalistischen Länder jetzt überholt werden, sind gegeben. Die Erziehung qualifizierter Arbeiterkader hat die ausländischen Spezialisten, die in der ersten Periode unentbehrlich waren, überflüssig gemacht. Die Wirtschaft der Sowjetunion kann nunmehr mit den eigenen Kräften gewaltige Leistungen vollbringen, so daß — nachdem die Aufgabe der Meisterung der Technik bis zu einem gewissen Grade gelöst ist — viel mehr Kraft für die politische Schulung der Massen aufgewandt werden kann.
Knapp zehn Jahre nachdem der Kampf um den Aufbau des Sozialismus als Tagesaufgabe der Partei bezeichnet wurde, konnte Stalin (auf dem XVII. Parteitag im Jahre 1934) erklären:
„Das Fundament der sozialistischen Gesellschaft ist in der Sowjetunion bereits gelegt. Übrig bleibt uns nur die Krönung" mit dem Überbau — zweifellos eine leichtere Sache als der Bau des Fundamentes der sozialistischen Gesellschaft." In der ganzen Welt wird das Wirtschaftswunder in der UdSSR angestaunt. Das Volk in den Sowjetrepubliken kann keinesfalls mehr mit dem unter der Knute des Zarismus lebenden russischen Volke verglichen werden. Was im letzten Jahrzehnt in der Sowjetunion geschaffen wurde, ist eine unvergleichliche Leistung. In keinem anderen Jahrzehnt der ganzen Weltgeschichte wurde eine gleich gewaltige Tat vollbracht. Und das ist das Große und Herrliche: Schöpfer des neuen sozialistischen Staates sind die arbeitenden Klassen, deren schöpferische Kräfte bis zur Eroberung der politischen Macht in Rußland gewaltsam unterdrückt waren.

 

 

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DIE WIRTSCHAFTLICHE UMWANDLUNG DER SOWJETUNION

 

DER INDUSTRIELLE AUFBAU

„Kommunismus ist: Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes." Im Sinne dieser Parole Lenins ist die Bolschewistische Partei an die Lösung der ersten Aufgabe gegangen: das alte rückständige Agrarland in ein fortschrittliches Industrieland umzuwandeln. Die industrielle Produktion der Sowjetunion hat sich seit dem Jahre 1924 in riesigem Maße vergrößert. Das technisch-wirtschaftliche Niveau des Landes hat sich völlig verändert. Während die ärgste Wirtschaftskrise in der kapitalistischen Welt wütete, wurden in der Sowjetunion neue, gewaltige, nie stillstehende Industriewerke aus der Erde gestampft. In den mittelasiatischen Republiken und in den fernöstlichen Gauen entstanden eigene Industrien, die diese Gebiete selbständig versorgen. Tausende gigantische Betriebe wurden neu geschaffen: Flugzeugfabriken, Automobil- und Maschinenfabriken, chemische Werke, Kohlengruben und Hüttenwerke, Werften, Betriebe der Fertigwaren- und der Lebensmittelindustrie. Die rückständigste Landwirtschaft der Welt wurde industrialisiert und zur fortschrittlichsten auf dem Erdball. In der Landwirtschaft Turkestans z.B., in der zur Zeit des Zarismus 800 Pflüge ackerten, arbeiteten 1934 bereits 500.000 Pflüge und 15.000 Traktoren.
Von 1924 an ist die industrielle Produktion in jedem Jahre erheblich gewachsen. Die prozentuale Steigerung wurde von Jahr zu Jahr größer. Der Wert der Gesamtproduktion aller Industriezweige war 1935 um 16% höher als 1934, im Jahre 1936 um 31% höher als im Jahre 1935. Das letzte Jahr des zweiten Fünfjahrplans, 1937, brachte eine weitere erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Der Wert der Produktion von Produktionsmitteln war 1936 um 32% höher als im Vorjahre, der Wert der Produktion von Bedarfsartikeln stieg 1936 um 29% über den Stand von 1935, der Wert der Lebensmittelindustrie gleichfalls um 29%. Die Leichtindustrie hat 1936 um 2 Milliarden Rubel mehr Güter produziert als 1935. Die Bedarfsgüter- und die Nahrungsmittelindustrie hatten — wie Molotow auf dem VII. Sowjetkongreß (1935) klagte — im Jahre 1934 ihre Pläne nicht erfüllen können. Wegen des Rückstandes in den vergangenen Jahren war den beiden Industrien in dem Plan des Jahres 1936 eine besonders große Aufgabe gestellt. Sie haben sie nicht nur erfüllt, sondern erstmalig übererfüllt. Dieses Ergebnis, das auf der Grundlage des erfolgreichen Aufbaus der Schwerindustrie möglich wurde, schafft im Verein mit der steigenden Produktivität der Landwirtschaft die reale Möglichkeit der besseren und billigeren Versorgung des ganzen Volkes mit Lebens- und Bedarfsgütern. Auch die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die z.B. bei den Arbeitern der Leichtindustrie 1936 um 20 % höher war als 1935, trägt sehr wesentlich zur Hebung des Wohlstandes bei. Die ganz außerordentliche Leistung des industriellen Aufbaus in der Sowjetunion charakterisiert die Entwicklung der Schwerindustrie in besonders überzeugender Weise. Im Jahre 1936 repräsentierte allein die Produktionszunahme der Schwerindustrie gegenüber 1935 einen Wert von 8 Milliarden Rubel, das ist fast ebensoviel, wie — im gleichen Geldwert gemessen — der Wert der gesamten industriellen Produktion im Jahre 1913.
Auch das Verkehrswesen, das in der ersten Zeit des industriellen Aufbaus zurückblieb und ein schwacher Punkt im Gesamtplan war, hat in den letzten Jahren erheblich aufgeholt. In dem Bericht, den der damalige Volkskommissar für das Verkehrswesen, L. Kaganowitsch, über die Leistungen des Verkehrswesens im Jahre 1936 erstattete, schreibt er u. a.:
„Die Eisenbahnen der UdSSR sollten dem Plane nach in diesem Jahr 28.731.000 Waggons verladen. 1936 wurden 31.534.466 Waggons verladen, was 109.8 Prozent des Jahresplans ausmacht, bei einer täglichen Durchschnittsverladung von 86.160 Waggons, das sind 109.8 Prozent der festgelegten täglichen Durchschnittsverladung (78.500 Waggons) und 126.5 Prozent gegenüber dem Jahre 1935.
Der Jahresplan der Güterbeförderung in Tonnen war für dieses Jahr in einer Höhe von 457 Millionen Tonnen festgesetzt. 1936 wurden 484.2 Millionen Tonnen befördert, d.h. 105.9 Prozent des Jahresplans und 124.6 Prozent der Verladung im Jahre 1935.
Für 1936 war die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter und Angestellten hinsichtlich der Leistung der Eisenbahnen mit 310.000 Tonnenkilometern festgesetzt. Im Jahre 1936 wurde eine Arbeitsproduktivität von 354.810 Tonnenkilometer erreicht, das sind 114.4 Prozent des Jahresplans und 123.7 Prozent der 1935 erreichten Arbeitsproduktivität.
Die Gestehungskosten der Beförderung wurden in neun Monaten um 3.4 Prozent herabgesetzt, während sie dem Plan zufolge im Jahre 1936 um 2.6 Prozent herabgesetzt werden sollten."
Das bessere Funktionieren des Verkehrswesens erleichtert die Rohstoffzufuhr an die Produktionsstätten, steigert die industrielle Produktion, verbessert die Versorgung des Volkes mit Lebensmitteln und Bedarfsgütern.
Alle Wirtschaftsstatistiken beweisen das gewaltige Anwachsen der industriellen Produktion. Die Gesamtproduktion der Industrie ist — bei Umrechnung auf gleichen Geldwert — von 4.7 Milliarden Rubel im Jahre 1924 auf 92.7 Milliarden im Jahre 1937 gestiegen.
Die vollbrachten Leistungen sind gigantisch. Trotzdem bleibt noch viel zu tun, um die steigenden Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen. So ist z.B. die Steigerung der Lederschuh- und der Automobilproduktion ganz außerordentlich, aber die Erzeugung von 180 Millionen Paar Schuhen für ein 180-Millionenvolk ist noch ebensowenig ausreichend, wie die jährliche Produktion von 200.000 Automobilen.
Besonders groß sind die Anstrengungen und die Erfolge in der Schwerindustrie. Während die Hüttenindustrie im ersten Jahre des zweiten Fünfjahrplans — 1932 — schon 16.100 Tonnen Stahl und 12.200 Tonnen Walzgut pro Tag produzierte, betrug im Oktober 1936 die tägliche Stahlproduktion 48.700 Tonnen und die tägliche Walzgutproduktion 37.500 Tonnen. Das Ziel, das in der Hüttenindustrie durch sozialistischen Wettbewerb erreicht werden soll, ist die tägliche Produktion von 60.000 Tonnen Stahl und 45.000 Tonnen Walzgut. In einigen Tagen des Jahres 1936 wurde ebensoviel Stahl und Roheisen gegossen wie im ganzen Jahre 1920. Dieser Vergleich zeigt symbolisch das gewaltige Stück, das auf dem Wege zur Industrialisierung der Sowjetunion in anderthalb Jahrzehnten zurückgelegt worden ist.
Die nachfolgende Aufstellung gibt eine Übersicht, in welchem Ausmaße in den zwei Fünfjahrplänen die Bruttoproduktion der Großindustrie von Jahr zu Jahr angewachsen ist: (in den Preisen der Jahre 1926/27)

Jahre

Bruttoproduktion in Milliarden Rubel

Anwachsen der Produktion in Milliarden Rubel

in Prozenten gegenüber dem Vorjahre

1924

4.5

 

 

1929

21.2

+ 4.4

152.8

1930

27,8

+ 6.6

130.7

1931

34.2

+ 6.6

123.3

1932

38.8

+ 4.6

113.5

1933

42.2

+ 3.4

108,8

1934

50.0

+ 7.8

118.3

1935

59.6

+ 9.5

117.3

1936

71.3

+11.7

119.6

1937

(Plan) 86.4

+15.1

121.2


Vergleicht man die industrielle Produktion von 1924 bis 1937, so ergibt sich, daß in diesen 13 Jahren die Industrieproduktion fast um das 19fache vergrößert wurde. Nach der vorfristigen Erfüllung des zweiten Fünfjahrplans sollte gemäß dem besonderen Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1937 eine Produktion im Werte von 103 Milliarden Rubel erreicht werden, also noch 17 Milliarden Rubel mehr als im zweiten Fünf jahrplan für 1937 ursprünglich bestimmt war. 1924 war das Vorkriegsniveau der Industrieproduktion noch nicht einmal zur Hälfte erreicht, während es 1937 weit überholt ist. Auf dem VIII. Sowjetkongreß — am 26. November 1936 — stellte Stalin in seiner Rede über die neue Verfassung fest, daß die Industrie der Sowjetunion siebenmal so viel produziere wie die russische Industrie im letzten Jahre vor dem Kriege. 1937 war es mehr als achtmal so viel.
Durch dieses stürmische Tempo der industriellen Produktionssteigerung hat sich das Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft in der Sowjetunion erheblich verändert. Im Jahre 1913 lieferte die Landwirtschaft annähernd 60% der Gesamtproduktion des Landes, die Industrie nur 40%. Im Jahre 1936 dagegen, wo die landwirtschaftliche Produktion 1 1/2 mal größer war als 1913. lieferte die Industrie 80% der Gesamtproduktion des Landes, und die landwirtschaftliche Produktion trotz der sehr erheblichen Steigerung nur noch 20%. Diese grundlegende Veränderung ist ein durchschlagender Beweis für die Industrialisierung des Landes und vor allem dafür, daß es in einem reichlichen Jahrzehnt gelungen ist, die Sowjetunion aus einem ökonomisch rückständigen zu einem der fortgeschrittensten Lander der Welt umzuwandeln. In der Sowjetunion kann man 1936 alle Maschinen aus eigenen Kräften, mit eigenen Materialien, in eigenen Fabriken entwerfen und bauen. Die kompliziertesten Produktionsmittel, die leistungsfähigste Ausrüstung für die Lebensmittel- und die Leichtindustrie können nunmehr in der Sowjetunion selbst hergestellt werden.
Der besondere Vorzug des industriellen Produktionsapparates der Sowjetunion ist seine Jugend, seine Modernität. Während in dem industriell leistungsfähigsten Lande der Welt, in den USA, nach einer Anfang 1935 gemachten Statistik zwei Drittel der gesamten Ausrüstung der metallverarbeitendenden Industrie mehr als 10 Jahre alt waren, hatten in der SU zur gleichen Zeit 60% der metallschneidenden Drehbänke ein Alter unter sechs Jahren.
„Wir wollen nicht übertreiben" — sagte Molotow 1935 auf dem VII. Sowjetkongreß — „und sagen nicht, daß die Sowjetunion bereits ein reiches Land ist. Die Werktätigen der Sowjetunion wissen jedoch, daß unser Land auf dem Wege ist, reich zu werden."

DAS VERHÄLTNIS DER SOWJETUNION ZU DEN ANDEREN LÄNDERN

Wie hat die gewaltige Industrialisierung das Verhältnis der Sowjetunion zu den anderen Ländern der Welt verändert?
1929 war das Jahr der letzten Hochkonjunktur in der kapitalistischen Welt. Vergleicht man den Umfang der industriellen Produktion der einzelnen Länder in Prozenten zu 1929, so kommt man zu folgendem Ergebnis:

Land

1929

1930

1931

1932

1933

1934

1935

1936

Sowjetunion

100

130

162

185

202

239

288

351

USA

100

81

68

54

65

67

72

90

Großbritannien

100

92

84

84

88

96

105

117

Deutschland

100

88

72

60

69

86

94

106

Frankreich

100

101

89

69

77

71

66

70

Italien

100

92

78

67

74

80

93

 

Die ganze Welt ohne Sowjetunion

100

85

74

62

71

76

98

103


Daraus ist zu ersehen, in wie starkem Maße die industrielle Produktion in der Sowjetunion gerade in den Jahren gewachsen ist, in denen die industrielle Produktion den kapitalistischen Länder einschrumpfte. Der Anteil der Sowjetunion an der industriellen Weltproduktion ist ganz erheblich gestiegen. Bei Abschluß des zweiten Fünf jahrplans ist die UdSSR, wie in dem Ende 1936 von der Staatlichen Plankommission herausgegebenen Buch „Der zweite Fünfjahrplan" festgestellt wird, „...nicht nur in Bezug auf den Stand der technischen Grundlage der Volkswirtschaft, sondern auch in Bezug auf die absolute Hohe der industriellen Produktion an die erste Stelle Europas" gerückt.
Die nachfolgende Aufstellung, die dem gleichen Buche entnommen ist, zeigt, welche Stelle in der Weltproduktion die UdSSR in den einzelnen Produktionszweigen in früheren Jahren eingenommen hat und welchen Platz sie heute einnimmt:

Produktionszweige

1913 in der Welt

1928 in der Welt

1932 in der Welt

1932 in Europa

1937 in der Welt

1937 in Europa

Gesamtproduktion

-

5

3

2

2

1

Energieerzeugung

15

10

7

4

2

1

Steinkohle

6

6

4

3

4

3

Torf

-

-

1

1

1

1

Erdöl

2

3

2

1

2

1

Roheisen

5

6

5

4

2

1

Stahl

5

5

5

4

2

1

Allgemeiner Maschinenbau

4

4

2

1

2

1

Landwirtschaftlicher
Maschinenbau

-

4

2

1

2

1

Traktoren

-

4

2

1

2

1

Mähdrescher

-

-

2

1

2

1

Automobile insgesamt

-

12

7

5

5

3

Darunter Lastkraftwagen

-

11

6

4

2

1

Kupfer

7

9

9

2

3

1

Aluminium

-

-

11

9

2

1

Zement

-

8

7

5

2

1

Phosphordüngemittel
(Superphosphat)

-

18

9

6

2

1

Schuhe

-

5

3

2

2

1

Seife

6

5

5

4

2

1


1937 hat also die Sowjetunion in allen Produktionszweigen, ausgenommen die Steinkohlenförderung und die Automobilproduktion, den ersten Platz in Europa und fast überall den zweiten Platz in der Welt erreicht. Im Maschinenbau betrug der Anteil der Sowjetunion an der Weltproduktion im Jahre 1928 nur 4.2%, im Jahre 1937 dagegen 37.5%. Bei all diesen Vergleichen mit den kapitalistischen Ländern ist nicht das Produktionsniveau dieser Staaten aus den Jahren der Krise herangezogen worden, sondern aus dem Jahre 1929, in dem der Höhepunkt der Produktion der kapitalistischen Staaten erreicht war.
Die Sowjetunion hat aber nicht nur die kapitalistischen Staaten eingeholt und teilweise überholt, sie hat die Steigerung ihrer industriellen Produktion in einem so raschen Tempo erreicht wie kein kapitalistisches Land vorher. Zum Beispiel hat die Sowjetunion die Eisenproduktion in vier Jahren von 5 Millionen Tonnen auf 10 Millionen Tonnen gebracht, während die USA zu einer solchen Erhöhung ihrer Eisenproduktion 15 Jahre, und England sogar 36 Jahre brauchten.
Das außerordentlich schnelle Tempo der industriellen Produktionssteigerung in der Sowjetunion berechtigt zu der Auffassung, daß die UdSSR in gar nicht allzu ferner Zeit alle kapitalistischen Länder überflügeln und an erster Stelle in der Welt stehen wird. In dem gleichen Maße, wie in der Sowjetunion die gesamte industrielle Produktion gewachsen ist, wurde auch die Produktivität der Arbeit gesteigert. Eine Übersicht darüber gibt die nachfolgende Aufstellung, die gleichfalls aus dem Buche „Der zweite Fünfjahrplan" stammt:

1. Jährliche Roheisengewinnung pro Arbeiter (in t):

UdSSR ...

1932

255

 

1937

710

Deutschland ...

1929

611.9

USA ...

1929

1734.6


2. Steinkohlenförderung pro Arbeiter und Schicht (in kg):

UdSSR ...

1932

697

 

1937

1302

Deutschland ...
(Ruhrgebiet)

1929

1271

Großbritannien ...

1929

1102

Frankreich

1929

694


Die Leistung pro Arbeiter in der Großindustrie ist 1937 63% höher als 1932, die Leistung der Bauarbeiter um 75%, die der Eisenbahnarbeiter um 43%.
Diese großen Erfolge der UdSSR konnten erreicht werden, weil das Riesenreich im Osten ein Kontinent für sich ist, der über alle Rohstoffe und Materialien für den gigantischen Aufbau verfügt. Aber nicht nur das Vorhandensein der materiellen Voraussetzungen hat das grandiose Ergebnis gezeitigt, sondern die begeisterte Hingabe des Volkes für den sozialistischen Aufbau und die zielklare Führung, die diese Begeisterung in die rechten Bahnen zu lenken verstand.
Die Richtigkeit dieser Behauptung beweist ein Vergleich mit der Entwicklung des entscheidenden kapitalistischen Landes, den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die USA sind mindestens ebenso reich wie die Sowjetunion. Sie verfügen über alle Naturreichtümer, über ein ungeheures Territorium, über einen mächtigen Produktionsapparat, der bei voller Inanspruchnahme das Volkseinkommen bis auf 300 Milliarden Dollar jährlich heben könnte, und über eine hochentwickelte Landwirtschaft, die imstande wäre, zwei solche Länder wie Amerika zu ernähren. Trotzdem gibt es in Amerika 10 Millionen Arbeitslose, eine heftige Agrarkrise, einen zusammenbrechenden Mittelstand, eine latente Wirtschaftskrise, in der Millionen Existenzen vernichtet und ständig bedroht werden. Das kapitalistische Regime hemmt die freie Entfaltung der Produktivkräfte und macht es unmöglich, die ungeheuren Reichtümer Amerikas zu mobilisieren, sie allen Bürgern des Landes dienstbar zu machen und den Wohlstand des Volkes zu heben. Der Sowjetunion — die nicht reicher ist als Amerika — gelang es dank der vom Kapitalismus befreiten Planwirtschaft, das Land von Krisen frei zu halten, die Arbeitszeit zu verkürzen, die Reallöhne zu erhöhen und allen arbeitenden Menschen eine gesicherte Existenz und steigenden Wohlstand zu gewährleisten.
Viel deutlicher noch wird die Überlegenheit des sozialistischen über das kapitalistische Wirtschaftssystem klar, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine mit der in Polen vergleicht. Die Ukraine und Polen gehörten beide früher zu dem zaristischen Rußland, sie waren dort gewissermaßen ein einheitliches Wirtschaftsgebiet, in dem unter den gleichen Bedingungen produziert wurde. Polen ist heute ein kapitalistisches Land, die Ukraine gehört zur UdSSR. Amtliche Statistiken ergeben folgendes Bild:
Die Kohlengewinnung ist auf dem Gebiet, das jetzt zu Polen gehört, von 40.972.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 28.543.000 Tonnen im Jahre 1935 zurückgegangen. In der Ukraine ist die Kohlengewinnung von 23.485.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 61.000.000 Tonnen im Jahre 1935 gestiegen.
Die Roheisenerzeugung ist in Polen von 1.055.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 394.000 Tonnen im Jahre 1935 gesunken. In der Ukraine ist die Roheisenerzeugung von 2.876.000 Tonnen auf 7.623.000 Tonnen gestiegen.
Die Stahlerzeugung ist in Polen von 1.677.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 946.000 Tonnen im Jahre 1935 zurückgegangen. In der Ukraine ist die Stahlerzeugung von 2.441.000 Tonnen auf 6.012.000 Tonnen gestiegen. Als Unterlage für den Vergleich ist das Material der offiziellen polnischen Statistik, das „Kurzgefaßte Statistische Jahrbuch" Polens für 1936 genommen worden. In der Ukraine kennt man die Arbeitslosigkeit nicht mehr, in Polen gibt es nach der amtlichen Statistik 250.000 Arbeitslose. Die tatsächliche Arbeitslosenzahl in Polen ist jedoch noch wesentlich größer, weil Polen das charakteristischste Land für das Bauernelend ist. In Polen gibt es Hunderttausende ruinierter Bauernwirtschaften, deren Besitzer weder in ihrer Wirtschaft noch in der Industrie Arbeit finden können.
Dieser Vergleich zwischen Polen und der Ukraine zeigt plastisch die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems. Die freie Entfaltung der Produktivkräfte in der UdSSR ermöglicht die Mobilisierung der ungeheuren Reichtümer des Landes. Sie befähigt die Sowjetunion, in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion einen immer größeren Vorsprung vor den kapitalistischen Ländern zu erringen.

DIE WIRTSCHAFTLICHE UNABHÄNGIGKEIT DER SOWJETUNION

Ist durch die gewaltige Steigerung der industriellen Produktion die Sowjetunion unabhängiger von der übrigen kapitalistischen Welt geworden?
1924 war die Sowjetunion in starkem Maße von den kapitalistischen Ländern abhängig. Eines der wichtigsten Argumente Trotzkis gegen die Theorie des Sozialismus in einem Lande war der Hinweis auf diese Abhängigkeit. Durch den erfolgreichen industriellen Aufbau hat sich das damalige Verhältnis wesentlich geändert. In seinem dem VII. Sowjetkongreß — 1935 — erstatteten Bericht schildert Molotow die Schwierigkeiten des Außenhandels und ihre Überwindung folgendermaßen:
„Unser Außenhandel hatte seine schwierige Zeit. Noch vor kurzer Zeit waren wir technisch rückständig und mußten infolgedessen zu Beginn des ersten Fünfjahrplanes viele Maschinen importieren, um die Industrialisierung und technische Umgestaltung der Landwirtschaft unseres Landes zu beschleunigen. Nachdem aber das Fundament gelegt war und sich in den letzten Jahren der Maschinenbau in unseren eigenen Betrieben entfaltete, bestand für uns die Möglichkeit, die Maschineneinfuhr stark einzuschränken. Das bewirkte eine Änderung unserer Außenhandelsbilanz. Die letzten zwei Jahre gaben uns ein beträchtliches Übergewicht der Ausfuhr über die Einfuhr, was früher nicht der Fall war. Wir vermochten die aus der Vergangenheit stammende große Verschuldung an das Ausland im Laufe der letzten Jahre auf ein Viertel zu verringern, so daß die Überreste der Verschuldung unbeträchtlich genannt werden können. Zugleich wurde in den letzten vier Jahren die Goldausbeute (die Goldeinnahme der Torgsin mit eingerechnet) versechsfacht. Dadurch wurde unsere Währungslage und überhaupt die Lage auf dem Außenmarkt von Grund auf geändert, um so mehr, da die Sowjetunion allen ihren Handelsverpflichtungen pünktlich nachkommt. Im Ausland ist allen bekannt, daß die Sowjetunion ihre Verpflichtungen aus den Handelsverträgen nicht so erfüllt, wie es gegenwärtig in vielen bürgerlichen Ländern üblich ist — sie zahlt nicht ,symbolisch', sondern wie es sich gehört, nicht in Versprechungen, sondern in Valuta. Daraus folgt, daß wir heute mehr denn je die Möglichkeit haben, unserem Außenhandel normale Bedingungen zu sichern." An anderer Stelle derselben Rede sagt Molotow zu dem gleichen Thema:
„Es ist noch nicht lange her, als die Sowjetunion zehntausende Traktoren aus dem Auslande importieren mußte. Für die Einfuhr von Traktoren (von 1929 bis 1931 86.000 Stück) wurden über 200 Millionen Goldrubel vom Staat in der Erkenntnis ausgegeben, daß dies in jenen Jahren notwendig war. Es genügt, sich daran zu erinnern, daß wir z.B. im Vorjahre, wo das Ausland für ein Pud Weizen 48 Goldkopeken und für ein Pud Roggen 27 Goldkopeken zahlte, zur Deckung dieser Auslagen für die Traktoren 500 Millionen Pud Getreide an das Ausland hätten verkaufen müssen. Die Lage hat sich geändert. Wir bauten unsere eigenen Traktorenfabriken auf und erhielten von ihnen allein im Vorjahre 93.500 Traktoren."
Die Sowjetunion produzierte 1937 rund 167.000 Traktoren, das ist ungefähr doppelt so viel, wie in den drei Jahren von 1929 bis 1931 aus dem Ausland bezogen wurden. Viele Millionen Pud Getreide, die damals als Gegenleistung an das Ausland geliefert und der Ernährung des eigenen Volkes entzogen werden mußten, können jetzt im Lande verbleiben und die Ernährung des Volkes erheblich verbessern.
Seit dieser im Januar 1935 gehaltenen Rede Molotows ist die wirtschaftliche Abhängigkeit der Sowjetunion von der kapitalistischen Umwelt noch geringer geworden. Nach den Ende 1936 veröffentlichten offiziösen Mitteilungen über den Stand des Außenhandels der UdSSR ergibt sich folgendes Bild:
Die Einfuhr der Sowjetunion ist von 1103 Millionen Rubel im Jahre 1931 auf 241 Millionen Rubel im Jahre 1935 (nach altem Kurs) gesunken. Der Import im Jahre 1936 hält sich ungefähr auf der Höhe des Jahres 1935, ohne den Import auf Rechnung der Zahlung für die ostchinesische Eisenbahn und auf Rechnung der Abkommen über die langfristigen Finanzkredite. Die Einfuhr von Maschinen und anderen Metallwaren, die im Jahre 1931 582 Millionen amerikanische Dollar erreichte, beträgt bei einer eigenen Maschinenproduktion von 7.4 Milliarden Rubel und bei einem eigenen Maschinenbau und Metallverarbeitungsplan im Werte von 22 Milliarden Rubel 110 bis 120 Millionen amerikanischer Dollar. In den Jahren 1927 und 1928 wurden 145.000 Tonnen Baumwolle bei einer Eigenproduktion von 235.000 Tonnen gereinigter Baumwolle importiert. Im Jahre 1936 betrug der Baumwollimport nur noch 17.000 Tonnen auf Rechnung des Warenaustausches mit den östlichen Ländern. Die eigene Baumwollproduktion ergibt im Jahre 1936 nicht weniger als 660.000 Tonnen. Die Außenhandelsschuld der Sowjetunion für den Import betrug Anfang des Jahres 1929 410 Millionen amerikanischer Dollar. Ende 1931 erreichte sie ihr Maximum mit 1220 Millionen amerikanische Dollar. Gegenwärtig beträgt sie aber nur mehr 75 Millionen amerikanischer Dollar, was ihre praktische Liquidierung bedeutet.
Der erste Fünfjahrplan konnte nur mit Unterstützung der kapitalistischen Länder durchgeführt werden. Obwohl die unter dem Zarismus gemachten Auslandsschulden von der Sowjetmacht gestrichen wurden, obwohl gerade diese Tatsache die Wut der Kapitalisten über den Sowjetstaat gesteigert hat, haben später die Kapitalisten in allen Ländern um des Geschäftes willen nicht gezögert, der Sowjetunion große Kredite zu geben. Diese Kredite aus den kapitalistischen Ländern haben nicht wenig dazu beigetragen, den industriellen Aufbau durchzuführen. Die Sowjetunion wurde dadurch in die Lage versetzt, sich selbst zu versorgen und billige Fertigwaren auf den Weltmarkt zu bringen, die die Produkte aus den kapitalistischen Ländern zurückdrängten. „Der rote Handel lockt" schrieb damals der amerikanische Journalist Knickerbocker. Er wollte zum Ausdruck bringen, daß die Kapitalisten in der anarchischen kapitalistischen Wirtschaft nicht an die Zukunft, sondern immer nur an die Gegenwart denken. Um des Geschäftes willen, das sie in der Gegenwart mit der Sowjetunion machen können, übersehen sie die daraus für sie erwachsenden Gefahren für die Zukunft. 1220 Millionen amerikanischer Dollar hatten die ausländischen Kapitalisten im Jahre 1931 der Sowjetunion kreditiert. Sie haben die Schuld bezahlt bekommen, aber für dieses Geld kamen ausländische Maschinen nach der Sowjetunion, mit deren Hilfe heute die eigenen Maschinen und die Waren produziert werden, die die UdSSR von dem kapitalistischen Ausland immer unabhängiger machen.
Für den zweiten Fünfjahrplan hat die Sowjetunion schon viel weniger Unterstützung aus dem Ausland gebraucht als für den ersten, und der dritte Fünfjahrplan kann bereits ganz ohne ausländische Hilfe durchgeführt werden. Die Sowjetunion braucht die Kredite aus dem Auslande nicht mehr. Wenn sie ihr gemachte Angebote in Anspruch nimmt, um das Tempo des Aufbaus noch zu beschleunigen, dann braucht sie das nicht mehr zu den ungünstigen Bedingungen, wie während des ersten Fünfjahrplans; sie macht von solchen Krediten nur dann Gebrauch, wenn ihr ganz besonders günstige Bedingungen gewährt werden.
So hat sich das Verhältnis der Sowjetunion zu der kapitalistischen Umwelt verändert. Bei dem Fortgang des industriellen Aufbaus, bei der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Mobilisierung der vorhandenen Naturreichtümer baut der Kontinent der Sowjetrepubliken unabhängig von den kapitalistischen Ländern eine sozialistische Wirtschaft auf, die die ständig steigende Menge der produzierten Güter zu dauernden Verbesserungen des Lebensstandards des eigenen Volkes benutzt.

DIE ERSTARKUNG DER ARBEITERKLASSE

Die Umwandlung der Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland in ein fortgeschrittenes Land mit moderner Industrie hat auch das zahlenmäßige Verhältnis der Arbeiterschaft zu den anderen Bevölkerungsschichten verändert. Im Jahre 1913 gab es in Rußland 23.300.000 Menschen, die zur Arbeiterklasse gezählt wurden (Arbeiter, Angestellte, Techniker, Ingenieure und andere in der Industrie Beschäftigte mit ihren Angehörigen), 1928 wurden in dieser Kategorie 26.343.000 gezählt, am 1. Januar 1934 aber schon 47.118.000 Menschen. Das heißt, 1913 gehörten 16.7% der Gesamtbevölkerung zur Arbeiterklasse, 1928 17.3% und am 1. Januar 1934 schon 28.1%. Die zur Arbeiterklasse zählende Bevölkerung hat sich danach von 1913 bis 1934 mehr als verdoppelt, der prozentuelle Anteil der Arbeiterklasse an der Gesamtzahl der Bevölkerung ist gleichfalls erheblich gestiegen, er ist bis 1937 noch größer geworden. Diese Daten hat Molotow auf Grund der Angaben der Zentralverwaltung der Volkswirtschaftsstatistik auf dem VII. Sowjetkongreß mitgeteilt.
In einem Lande, in dem die Arbeiterklasse die politische Führung hat, ist ihr zahlenmäßiges Erstarken von ganz besonderer Bedeutung. Die Kritik europäischer Sozialisten wies immer wieder darauf hin, daß die durch die schwache russische Industrie bedingte geringe Zahl der Arbeiter der Arbeiterklasse die Behauptung der politischen Macht unmöglich mache. Die Tatsachen haben diese Argumente widerlegt. Der Aufbau einer gewaltigen Industrie ist gelungen, der zahlenmäßige Anteil der Arbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung ist enorm gewachsen. Die weitere Sicherung ist das Bündnis mit den Kollektivbauern, mit denen zusammen die Arbeiterklasse schon Anfang 1934 die überwiegende Mehrheit, über 74%, des Volkes bildete; 1937 aber schon rund 94% der Gesamtbevölkerung.

 

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DIE LÖSUNG DER WIDERSPRÜCHE ZWISCHEN ARBEITERN UND BAUERN

 

GEGENSÄTZE UND ÜBEREINSTIMMUNGEN

Die zweite große Aufgabe, deren Lösung 1924 als Voraussetzung für das Gelingen des sozialistischen Aufbaus bezeichnet wurde, war die Überwindung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern. Nach einem reichlichen Jahrzehnt kann anhand der Tatsachen nachgeprüft werden, wie weit die Erfüllung dieser Aufgabe gelungen ist, ob die Bauern für die aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnen wurden.
In Rußland gab es neben Gegensätzen zwischen Arbeitern und Bauern unendlich viel mehr Gemeinsames zwischen den beiden Klassen als in irgendeinem anderen Lande der Welt. Darum vertrat Lenin schon sehr frühzeitig die Auffassung, daß in Rußland mehr noch als in anderen Ländern des Westens ein festes Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern möglich sei, darum auch ist es im Verlaufe der russischen Revolution gelungen, vorhandene Gegensätze zu mildern und schließlich mehr und mehr zu überwinden. Im revolutionären Kampfe konnte die Politik der Bolschewistischen Partei gegenüber den Bauern nicht immer die gleiche sein; sie mußte der oft geänderten Situation jeweils angepaßt werden. Nicht in allen Perioden des Kampfes war die Bauernschaft ein geschlossenes Ganzes mit übereinstimmenden Interessen; mit der Entwicklung traten entgegengesetzte Interessen der verschiedenen Schichten innerhalb der Bauernschaft stärker in den Vordergrund. Für die darum wechselnde Taktik gegenüber den Bauern hat Lenin sehr klare Richtlinien gegeben. In dem politischen Tätigkeitsbericht, den Stalin im Auftrage des Zentralkomitees dem XIV. Parteitag (1925) erstattete, sagte er über die „drei Losungen Lenins in der Bauernfrage" (Stalin. „Probleme des Leninismus", Seite 371 usf.):
„Es wird gesagt, daß auf dem II. Kongreß der Komintern eine Resolution zur Bauernfrage angenommen worden sei, in der es heißt, daß in der Epoche des Kampfes um die Macht nur die Dorfarmut ein Bundesgenosse des Proletariats sein könne und daß man den Mittelbauern lediglich neutralisieren könne. Ist das richtig? Das ist richtig. Lenin schrieb diese Resolution im Hinblick auf die Parteien, die sich erst auf dem Wege zur Macht befinden. Wir aber sind eine Partei, die bereits die Macht übernommen hat. Das ist der Unterschied. In der Bauernfrage, in der Frage des Bündnisses der Arbeiter mit den Bauern oder mit einzelnen Schichten der Bauernschaft hat der Leninismus drei grundlegende Losungen aufzuweisen, die drei Perioden der Revolution entsprechen...
Früher, als wir der bürgerlichen Revolution entgegengingen ... da sagte Lenin; Bündnis mit der ganzen Bauernschaft gegen den Zaren und die Großgrundbesitzer und Neutralisierung der kadettischen Bourgeoisie. Mit dieser Losung sind wir damals in die bürgerliche Revolution gegangen und wir haben gesiegt. Das war die erste Etappe unserer Revolution.
Später, als wir der zweiten Etappe, dem Oktober, entgegengingen, da stellte Lenin eine neue Losung auf, die der neuen Lage entsprach: Bündnis des Proletariats mit der Dorfarmut gegen alle Bourgeois bei Neutralisierung der Mittelbauern. Das ist eine Losung, die die kommunistischen Parteien, die um die Macht kämpfen, brauchen. Und selbst dann, wenn sie bereits die Macht erobert, sie aber noch nicht befestigt haben, können sie nicht auf ein Bündnis mit dem Mittelbauern rechnen. Der Mittelbauer, das ist ein Mensch, der abwartet. Er schaut zu, wer der Stärkere ist, er wartet ab, und erst dann, wenn wir die Oberhand gewonnen und die Großgrundbesitzer und Bourgeois verjagt haben, ist er zu einem Bündnis mit uns geneigt ... Wir sind also in die zweite Etappe unserer Revolution nicht mehr mit der Losung des Bündnisses der Arbeiter mit der ganzen Bauernschaft, sondern mit der Losung des Bündnisses des Proletariats mit den armen Bauern hineingegangen.
... Im weiteren, als wir unsere Macht bereits genügend befestigt, als wir die Angriffe der Imperialisten abgeschlagen hatten, und als wir in den Abschnitt eines breiten sozialistischen Aufbaus eintraten, da stellte Lenin eine dritte Losung auf, die Losung des festen Bündnisses des Proletariats und der Dorfarmut mit den Mittelbauern. Diese Losung ist die einzig richtige, die der neuen Periode unserer Revolution, der Periode des breiten Aufbaus, entspricht. Sie ist nicht nur deshalb richtig, weil man jetzt auf dieses Bündnis rechnen kann, sondern auch deshalb, weil wir beim Aufbau des Sozialismus nicht mit Millionen, sondern mit Dutzenden von Millionen ländlicher Bewohner operieren müssen...
Dieser Übergang von der alten Losung des ,Bündnisses des Proletariats und der Dorfarmut', von der alten Losung der Neutralisierung der Mittelbauern zur Losung eines festen Bündnisses mit den Mittelbauern ist bereits auf unserem VIII. Parteitag vollzogen worden. Ich will eine Stelle aus der Rede Lenins bei Eröffnung dieses Parteitages anführen. Sie lautet folgendermaßen:
,Die besten Vertreter des Sozialismus in der alten Zeit haben, als sie noch an die Revolution glaubten und theoretisch für sie eintraten, von einer Neutralisierung der Bauernschaft gesprochen, d.h. davon, diese mittlere Bauernschaft in eine gesellschaftliche Schicht zu verwandeln, die, wenn sie auch der proletarischen Revolution nicht aktiv beisteht, so doch wenigstens unsere Arbeit nicht stört. Diese abstrakte theoretische Aufgabestellung ist für uns vollkommen klar. Aber sie ist ungenügend. Wir sind in ein solches Stadium des sozialistischen Aufbaus eingetreten, wo wir anhand der Erfahrungen der Arbeit auf dem Lande konkret und eingehend die Hauptregeln ausarbeiten müssen, an die wir uns zu halten haben, um unser Verhältnis zum Mittelbauern auf die Grundlage eines festen Bündnisses zustellen.'“
Warum in der Periode des sozialistischen Aufbaus das aktive Bündnis auch mit den Mittelbauern angestrebt werden mußte, hat Lenin in einem Referat, das er am 9. April 1921 vor den Sekretären und Zellenleitern der Moskauer Parteiorganisation hielt, folgendermaßen formuliert (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 170/171):
„Um diese Frage zu beantworten, muß man aufmerksam die Veränderungen betrachten, die in der Bauernwirtschaft stattgefunden haben. Anfangs war die Lage so, daß wir einen Ansturm der gesamten Bauernschaft gegen die Herrschaft der Gutsbesitzer sahen. Gegen die Gutsbesitzer marschierten gleichermaßen sowohl die armen Bauern, als auch die Kulaken, wenn auch natürlich mit verschiedenen Absichten: die Kulaken marschierten mit dem Ziel, das Land den Gutsbesitzern wegzunehmen und auf ihm ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln. Da traten eben die verschiedenen Bestrebungen und Interessen der Kulaken und der armen Bauern in Erscheinung ... Die arme Bauernschaft konnte unmittelbar den Übergang der Ländereien von den Gutsbesitzern sehr wenig ausnutzen, denn sie verfügte dazu weder über Materialien, noch über Gerätschaften. Und so sehen wir, daß die arme Bauernschaft sich organisiert, um nicht zuzulassen, daß die Kulaken die beschlagnahmten Ländereien an sich reißen. Die Sowjetunion unterstützt die entstandenen Komitees der Dorfarmut bei uns und Komitees der armen Bauern in der Ukraine. Was war das Ergebnis? Das Ergebnis war, daß die Mittelbauern zum überwiegenden Element auf dem Lande wurden ... Die Extreme in der Richtung des Kulakentums auf der einen und der Verelendung auf der anderen Seite nahmen ab, und die Mehrheit der Bevölkerung begann, sich dem Niveau der Mittelbauern zu nähern. Wenn wir die Produktivität unserer Bauernwirtschaft heben sollen, so müssen wir in erster Linie mit dem Mittelbauern rechnen. Die Kommunistische Partei mußte dann auch dementsprechend ihre Politik gestalten...
Die veränderte Politik gegenüber der Bauernschaft findet also ihre Erklärung darin, daß die Lage der Bauernschaft selbst sich geändert hat. Das Dorf ist mehr mittelbäuerlich geworden, und bei der Hebung der Produktivkräfte müssen wir damit rechnen." Die konkrete Einstellung auf die Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Dorfe hat die Überwindung der vorhandenen Widersprüche zwischen Arbeitern und Bauern erleichtert. Die russischen Bauern führten in der Vergangenheit unter dem Druck der Gutsherren ein besonders elendes Leben, das sie oft zu revolutionären Erhebungen gegen ihre Unterdrücker veranlaßte. Es war darum durchaus verständlich, daß diese Bauern in der Revolution des Jahres 1917 mit der Arbeiterklasse gegen Zarismus und Gutsbesitzer marschierten. Die Bauern wollten Land. Sie sahen die Ursache ihres elenden Lebens in der Verweigerung des Landes durch die Gutsbesitzer. Die Oktoberrevolution gab den Bauern Land, aber die Verwüstungen durch Krieg und Bürgerkrieg und der Mangel an Werkzeugen zur Bearbeitung des Landes verringerten die Erträgnisse der bäuerlichen Produktion in katastrophaler Weise. Deswegen ist im Verlaufe der russischen Revolution das Verhältnis zwischen Arbeitern und Bauern zeitweise getrübt worden und manchmal sehr kritisch gewesen. Was nützte den Bauern das Land, wenn ihnen die Hilfsmittel und Maschinen zur intensiven Bearbeitung fehlten? Die Stadt, die Arbeiter brauchten Lebensmittel, die Bauern vermochten sie nicht zu liefern.
„Kriegskommunismus“ sagte Lenin im April 1921 (Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 190 usf.) „bestand darin, daß wir tatsächlich den Bauern alle Überschüsse, ja mitunter nicht die Überschüsse, sondern einen Teil der dem Bauern notwendigen Lebensmittel wegnahmen, um die Ausgaben für die Armee und den Unterhalt der Arbeiter zu decken ... Der ,Kriegskommunismus' war durch den Krieg und den Ruin erzwungen. Er war keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entspricht, und konnte es auch nicht sein. Er war eine provisorische Maßnahme. Eine richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande verwirklicht, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer benötigt." Der Zwang, der von der herrschenden Arbeiterklasse in der ersten Periode zeitweilig gegen die Bauernschaft ausgeübt werden mußte, um die Ablieferung von Lebensmitteln zu steigern, vermehrte die Not auf dem Lande, schuf Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern, das gewaltsame Vorgehen gegen die Bauern verminderte die bäuerliche Produktion noch weiter. Gegensätze ergaben sich auch aus der verschiedenartigen sozialökonomischen Basis der in verstaatlichten Betrieben arbeitenden Arbeiter und der bäuerlichen Privateigentümer. Es wurde immer klarer, daß die Arbeiterklasse nicht imstande war, die Bauern zur Mitarbeit am sozialistischen Aufbau zu zwingen. Die russische Arbeiterklasse war dafür zahlenmäßig zu schwach und die Bauernschaft zu zahlreich.
Darum mußte ein anderer Weg gegangen werden. Die Bauern mußten überzeugt werden. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Bauern und Arbeitern, der aus dem Mangel an landwirtschaftlichen Produkten erwachsen war, konnte nur durch eine planmäßige Steigerung der Erträgnisse der bäuerlichen Produktion erreicht werden. In dem Entwurf der Broschüre über die Naturalsteuer schrieb Lenin: „Jetzt wird die Vermehrung der Produktion der Angelpunkt, der Probierstein." Erst nach der Steigerung der bäuerlichen Produktion, erst nach der Beseitigung des vorhandenen Mangels, erst nach der Änderung der ökonomischen Basis der Bauernschaft konnten die letzten Gegensätze überwunden und das richtige Verhältnis zwischen Arbeitern und Bauern geschaffen werden.
Die Voraussetzung für die bessere Bearbeitung des Bodens und für die Steigerung der Ernteerträgnisse war die ausreichende Belieferung der Landwirtschaft mit Maschinen und Werkzeugen. Die erfolgreiche Industrialisierung des Landes, der schnelle Aufbau der Schwer- und der Maschinenindustrie ermöglichte die Erfüllung der gestellten Aufgabe. Aber noch ein anderes war notwendig. Durch die Landverteilung waren Millionen kleiner Bauernwirtschaften neu entstanden, die jede für sich die Ergebnisse der Industrialisierung nicht in ausreichendem Maße nutzbar machen konnten. Erst der Zusammenschluß dieser Einzelwirtschalten zu Kollektiven ermöglichte den gemeinsamen Einsatz der neugeschaffenen Traktoren und Mähdrescher für die erfolgreiche Bearbeitung des Bodens. Erst der Zusammenschluß der Bauern in Kollektivwirtschaften machte die Bauern zu Genossenschaftlern, deren ökonomische Basis nicht mehr das Privateigentum war, und die damit in ihrer sozialen Stellung näher an die Arbeiterschaft heranrückten.
Zur Zielsetzung des zweiten Fünfjahrplans gehörte auch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Diese sollte, wie die „Staatliche Plankommission" in ihrem Buch „Der zweite Fünfjahrplan" schreibt, erreicht werden durch „Verstärkung der Rolle der Sowjetgüter als Muster der maschinellen Produktion auf großer Stufenleiter, Erfassung aller Kollektivwirtschaften durch die Maschinen- und Traktorenstationen, organisatorische und wirtschaftliche Stärkung der Kollektivwirtschaften, sozialistische Umerziehung der Kollektivbauern durch Festigung der sozialistischen Arbeitsdisziplin und damit Umwandlung aller Werktätigen des Dorfes in Erbauer der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft". Erzeugung landwirtschaftlicher Maschinen und Werkzeuge, Kollektivierung der Bauernwirtschaften, Bereitstellung von Maschinen und Staatskrediten an die kollektivierten Bauernwirtschaften, sozialistische Erziehung der Kollektivbauern — das war das Programm zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erträgnisse, zur Überwindung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern, zur Gewinnung der Bauern für den sozialistischen Aufbau. Wie ist die Verwirklichung dieses Programms gelungen?

DIE MECHANISIERUNG DER LANDWIRTSCHAFT

Traktoren, Mähdrescher, Kartoffelerntemaschinen, Kraftwagen der verschiedensten Art und andere für die Intensivierung der Landwirtschaft notwendige Maschinen sind den Kollektivwirtschaften und den Sowjetgütern zur Verfügung gestellt worden. Bereits im Jahre 1936 wurden vier Fünftel der Saatfläche der Sowjetunion mit Traktoren und landwirtschaftlichen Maschinen bearbeitet. Neben den Sowjetgütern, die ihre eigenen vorzüglichen Maschinenparks haben, standen den Kollektivwirtschaften 1936 rund 4000 Maschinen- und Traktorenstationen zur Verfügung, für deren Errichtung der Staat nicht weniger als neun Milliarden Rubel ausgegeben hat. Mit dem Abschluß des zweiten Fünfjahrplans — Ende 1937 - sind 6000 Maschinen- und Traktorenstationen im Betrieb, gegenüber 2440 Maschinenstationen, die zu Beginn des zweiten Fünfjahrplans vorhanden waren. Bei der Ernte des Jahres 1936 verrichteten auf den Feldern der Kollektivwirtschaften 50.000 Mähdrescher und 316.000 Traktoren mit einer Leistungsfähigkeit von 5.700.000 Pferdekräften die Arbeit, die früher mit dem Hakenpflug oder mit Hilfe von Pferden geleistet wurde. Rechnet man noch die Maschinen der Sowjetgüter hinzu, so bearbeiteten 1936 rund 400.000 Traktoren mit 7.580.000 Pferdekräften die Felder in der Sowjetunion. Im Laufe des zweiten Fünfjahrplans, also bis Ende 1937, wird die Landwirtschaft mit Traktoren von 8.680.000 Pferdekräften beliefert. Davon bekommen die Maschinen- und Traktorenstationen 6.600.000 Pferdekräfte, die Sowjetgüter 2.080.000 Pferdekräfte. In der gleichen Zeit werden der Landwirtschaft 86.600 Mähdrescher und 170.000 Kraftfahrzeuge neu zugeführt. Im Laufe der ersten Fünfjahrperiode wurden der Landwirtschaft 5000 Raupenschlepper geliefert, in der zweiten Fünfjahrperiode 100.000. Neben 3554 neuen Maschinen- und Traktorenstationen werden zu den vor Beginn des zweiten Fünfjahrplans bestehenden 1800 rund 3500 neue Maschinen- und Traktorenreparaturwerkstätten geschaffen. Aber nicht nur die Zahl der Maschinen- und Traktorenstationen hat sich erhöht, sondern auch ihre durchschnittliche Leistungsfähigkeit, die von 1932 bis 1937 von 30 auf 65—70 Traktoren pro Station gestiegen ist. Von insgesamt 139.7 Millionen ha Anbaufläche in dem gesamten Gebiet der UdSSR werden Ende 1937 ca. 115 Millionen ha der kollektivwirtschaftlichen Anbaufläche maschinell bearbeitet, gegen 52.6 Millionen ha im Jahre 1932.
Alle diese Maschinen und Traktoren werden in der Sowjetunion selbst produziert. 1937 wurden 167.000 Traktoren produziert, eine Riesenzahl, die in den nächsten Jahren noch weiter gesteigert werden kann, so daß die volle Mechanisierung der gesamten Landwirtschaft der UdSSR nur noch die Frage einer sehr kurzen Zeit ist.
Die Revolution gab den Bauern Land — die Mechanisierung und Kollektivierung hat neues Land nutzbar gemacht. Von 1917 bis 1937 stieg die Gesamtanbaufläche der UdSSR von 102 Millionen ha auf 139.7 Millionen ha, von denen 1937 rund 123 Millionen ha von Kollektivwirtschaften bearbeitet wurden. Schon 1936 verfügte ein Kollektivwirtschaftshof im Durchschnitt über doppelt so viel Land pro Kopf wie der Klein- und Mittelbauer 1924 besessen hat. Mit Hilfe der gleichen Maschinen, mit denen neues Land erschlossen wurde, kann der Boden fruchtbringender bearbeitet werden, als es den Einzelbauern mit Pflug und Pferd jemals möglich war. Die Große der technischen Revolution in der Landwirtschaft der Sowjetunion gibt die nachfolgende Tabelle wieder, die dem schon zitierten Buche „Der zweite Fünfjahrplan" entnommen ist:

 

 

1928
(in %)

1937
(in %)

Pflügen der Sommersaaten

Holzpflug

9.8

-

 

Pferdepflug

89.2

20

 

Traktorenpflug

1

80

Saat von Sommergetreide

Handsaat

74.4

-

 

Pferdesämaschinen

25.4

45

 

Traktorensämaschinen

0.2

55

Getreideernte

Sichel und Sense

44.4

-

 

Pferdeantrieb

55.4

40

 

Traktoreninventar

0.2

60

Getreidedrusch

Dreschflegel u.
andere Handgeräte

40.7

-

 

Pferdeantrieb

58

15

 

Mechan. Antrieb

1.3

85


Während 1928 noch 9.8% der Gesamtanbaufläche mit dem Holzpflug beackert wurden, 89.2% mit dem Pferdepflug und nur 1% mit dem Traktorenpflug, ist 1937 der Holzpflug völlig verschwunden, 80% des Landes werden von Traktoren gepflügt und nur 20% noch mit dem Pferdepflug. Ebenso ist es bei der Aussaat, bei der Ernte und dem Drusch. Die Handarbeit bei diesen Tätigkeiten ist völlig verschwunden, den überwiegenden Teil der Arbeit leisten die 1928 nur spärlich vorhandenen Maschinen, und der kleinere Rest der Arbeit wird mit Pferdeantrieb bewältigt.
Der industrielle Aufbau in der UdSSR ermöglichte einen grundlegenden Umbau der gesamten Agrarwirtschaft. Aus der einst rückständigen russischen Landwirtschaft ist die fortschrittlichste, mechanisierteste der Welt geworden. Schon zu Beginn des zweiten Fünfjahrplans war das Niveau der Mechanisierung der sowjetischen Agrarwirtschaft höher als das in allen europäischen Ländern. Im Laufe des zweiten Fünfjahrplans wurde auch das Niveau der Landwirtschaft in den USA überholt. In der europäischen Landwirtschaft arbeitet der größere Teil der Einzelwirtschaften noch ohne Maschinen, in der Sowjetunion wird nur noch ein verschwindend geringer Prozentsatz des Bodens ohne Maschinen bearbeitet. Nur die Landwirtschaft der USA verfügt noch über einen größeren Traktorenpark als die Sowjetunion (11 gegen 8.6 Millionen PS), aber die Gesamtarbeitsleistung des sowjetischen Traktorenparks übertrifft den nicht voll ausgenutzten der USA um ein Vielfaches. Die 11 Millionen PS der USA bearbeiteten 1936 (auf Pflugarbeit umgerechnet) 66 Millionen ha, die 8.6 Millionen PS der Sowjetunion dagegen im Jahre 1937 schon 270 Millionen ha. Die Zahl der Mähdrescher in der Sowjetunion übertrifft die der USA um 39.000 Stück (100.000 gegen 61.000), das Übergewicht der Arbeitsleistung der Mähdrescher in der UdSSR ist noch größer. Auf 1000 ha Anbaufläche stehen den Sowjetgütern 131 PS Traktorenzugkraft und 2.3 Mähdrescher zur Verfügung; in den Maschinen- und Traktorenstationen 53 PS Traktorenzugkraft und rund 1 Mähdrescher.
Die Mechanisierung der gesamten Landwirtschaft ist erfolgreich vorangegangen. Im Jahre 1937 steht die technische Ausrüstung der Agrarwirtschaft der UdSSR an erster Stelle in der Welt. Die Folge der großzügigen Mechanisierung der Agrarwirtschaft ist die ständige Steigerung der landwirtschaftlichen Erträgnisse. Der Mangel an Lebensmitteln schwindet, der Warenverkehr zwischen Stadt und Land funktioniert reibungsloser, die Ursachen der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern werden überwunden.

DIE KOLLEKTIVIERUNG

Die günstige Aufwärtsentwicklung der Agrarwirtschaft wurde beschleunigt, weil die Sowjetmacht die Millionen Einzelbauern von der Notwendigkeit der Kollektivierung zu überzeugen vermochte. Parallel mit der Erzeugung, von Traktoren und Mähdreschern schritt die Kollektivierung der bäuerlichen Einzelwirtschaften voran. Was nutzten die schönsten Maschinen, wenn der einzelwirtschaftende Bauer sie nicht anschaffen, sie für die rationelle Bewirtschaftung seines Bodens nicht einsetzen konnte. Erst die Zusammenfassung der Einzelbauern zu Kollektiven ermöglichte die Ausnutzung der Traktoren und Mähdrescher. Das günstige Ergebnis des gemeinschaftlichen Schaffens bewies in der Praxis den Vorteil, den die Kollektivierung dem Bauern brachte. Der Bauer konnte nur durch den kollektivistischen Gedanken von der Schicksalsgemeinschaft zwischen ihm und dem Arbeiter überzeugt und für die aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnen werden. Darum hat die Staatsmacht alle Mittel eingesetzt, um den Einzelbauern klar zu machen, daß er mit dem Eintritt in die Kollektive seinen eigenen Interessen am besten diene. Die Einzelbauern wurden nicht zum Eintritt in die Kollektivwirtschaften gezwungen, aber die Regierung hat die Kollektive in der Belieferung mit Maschinen und Material, in der Gewährung von Krediten so bevorzugt, daß die Zugehörigkeit zu einer Kollektivwirtschaft dem Bauern viel größere materielle Vorteile brachte, als er je als individualistischer Einzelbauer erschuften konnte.
Die überwiegende Mehrheit der Bauern ist schließlich auch den Kollektivwirtschaften beigetreten. 1928 gab es erst 4.400.000 Kollektivbauern und Handwerker der Genossenschaften gegen 111.100.000 Einzelbauern (ohne Kulaken). Am 1. Januar 1934 dagegen waren 77.037.000 oder rund 46% der Gesamtbevölkerung Kollektivbauern und Handwerker der Genossenschaften, gegen nur noch 37.902.000 Einzelbauern mit Angehörigen, die nur noch 22.5% der Gesamtbevölkerung ausmachten. 1936 waren ca. 90%, das sind über 22 Millionen bäuerliche Wirtschaften von den 25 Millionen, in den wichtigsten Getreidegebieten sogar 95—98% aller Wirtschaften, in Kollektiven vereinigt. Die Zahl der Kollektivbauern wächst tagtäglich, und es ist anzunehmen, daß das Ziel des zweiten Fünfjahrplans, den letzten Einzelbauern für die Kollektive zu gewinnen, erreicht wird. 1938 sind dann 100% der Bauern in Kollektivwirtschaften.
Die bäuerlichen Kollektivwirtschaften sind noch keine kommunistischen Gemeinschaften, in denen das Eigentum im Kollektiv allen gemeinsam gehört. In einem ganz geringen Teil der Kollektivwirtschaften ist dieses Prinzip allerdings schon verwirklicht. Diese Form nennt man Kommune, in ihr gehört der ganze Betrieb den Kolchosbauern gemeinsam. Sie leben in Gemeinschaft und keiner hat privates Eigentum. In der landwirtschaftlichen Kommune sind die Produktionsmittel und die Verteilung vergesellschaftet.
Die zweite Form der Kollektivwirtschaften ist das Artel. Im Artel sind die ausschlaggebenden Produktionsmittel, Arbeit, Boden, Maschinen und Geräte, Arbeitsvieh und Wirtschaftsgebäude vergesellschaftet. Der Gesamtbetrieb gehört auch allen Kollektivmitgliedern, die das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit je nach der Leistung verteilen. Daneben ist im Artel aber Jeder Kolchosbauer Eigentümer seines Hauses, seines Gartens, seiner Kuh und seines Geflügels. Er bleibt gewissermaßen Privateigentümer eines Teiles des Gesamtbetriebes. Im Statut des landwirtschaftlichen Artels wird bestimmt: „Die allgemeine Versammlung ist das höchste Verwaltungsorgan des Artels." Das heißt, daß alle wichtigen Fragen, die Mitgliedschaft und die Wahl der Leitung in der Kollektivwirtschaft, die Produktions- und Baupläne, die Leistungsnormen, die Lohnsätze und die Verteilung der Einkünfte auf demokratischer Basis durch die allgemeine Mitgliederversammlung entschieden werden.
Die überwiegende Mehrzahl der Kollektivwirtschaften sind die Artel, also nicht die vollkommenere Form der landwirtschaftlichen Kommune. Warum das so ist, hat Molotow auf dem VII. Sowjetkongreß (1935) folgendermaßen dargelegt:
„Auf dem XVII. Parteitag hat Genösse Stalin erklärt, weshalb in der letzten Periode das landwirtschaftliche Artel die Hauptform des kollektivwirtschaftlichen Aufbaus darstellt und nicht die Kommune, die eine spätere Entwicklungsform ist. Es ist klar, daß die Kollektivbauern heute nur im Artel ihre persönlichen Interessen mit dem gesellschaftlichen Interesse der Kollektivwirtschaft richtig in Einklang bringen können und die Sache der Kollektivierung weiter nur dadurch vorwärts gebracht werden kann. Die Kollektivwirtschaft (das Artel und nicht die Kommune) entscheidet heute den Aufstieg der Landwirtschaft, und nur dieser Weg führt zum Erfolg des Sozialismus auf dem Lande, da er den Einklang der Interessen des einzelnen Kolchosbauern und der Kollektivwirtschaft als Ganzes sichert, der das kollektivwirtschaftliche System entfaltet und das Leben des Kolchosbauern verbessert.
Erst nachdem sie auf die kleinbürgerliche Gleichmacherei verzichteten und vom Artel zur Kollektivwirtschaft übergingen, zeigte sich bei allen Kollektivwirtschaften ein gesunder wirtschaftlicher Aufschwung, eine straffere Disziplin und eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Kampf gegen die gleichmacherischen Tendenzen in den Kollektivwirtschaften ist auch heute eine durchaus aktuelle Aufgabe, wie auch jeder andere Kampf gegen die Überreste des Kapitalismus im Bewußtsein der Kollektivbauern."
Die Bemühungen der Sowjetmacht, die Bauern zunächst für das Artel zu gewinnen, wurde vielfach Rechtsabweichung, Opportunismus genannt. Die Forderung, alle Bauern sofort in die Kommune zu bringen, erschien viel radikaler, grundsatzfester, viel revolutionaristischer. Der Versuch, die Bauern sofort in die Kommune zu zwingen, ohne daß die ökonomische und ideologische Situation für eine solche Maßnahme herangereift war, wäre jedoch nur eine opportunistische Verbeugung vor dem revolutionären Endziel gewesen. Ein Vorstoß in dieser Richtung hätte in der Gegenwart keine revolutionäre Wirkung gehabt. Er hätte die Masse der Bauern nicht in die Kollektivwirtschaften gebracht, er hätte nicht ermöglicht, die im Interesse des sozialistischen Aufbaus dringend nötige Liquidierung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern zu erreichen, sondern er hätte diese Gegensätze verschärft, vielleicht auf die Spitze getrieben und die ganze Revolution gefährdet. In der gegebenen Situation war die Losung, die Bauern für das Artel zu gewinnen, die wirkungsvollste und darum die revolutionärste Losung. Mit ihrer Hilfe wurde die überwiegende Mehrheit der Bauern Kollektivbauern, genossenschaftlicher Mitarbeiter am sozialistischen Aufbau, mit ihrer Hilfe wurde die mangelnde landwirtschaftliche Produktion gesteigert, mit ihrer Hilfe wurden genügend Lebensmittel produziert. Die Ursache der materiellen Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern wurde beseitigt, und in dem Maße, wie der Kollektivbauer an dem Gemeinschaftseigentum in ähnlicher Weise interessiert wurde, wie der Arbeiter in den vergesellschafteten Betrieben, schwanden auch die ideologischen Gegensätze. Es wurde die Voraussetzung geschaffen, die Bauern für die höhere Gesellschaftsform zu gewinnen, das Werk weiter zu bauen und die vollendete sozialistische Gesellschaft zu erreichen. Die radikalste Forderung am unrechten Ort, in der falschen Situation, ohne Beachtung der materiellen Zusammenhänge gestellt, ist nicht revolutionär, sondern opportunistisch. Sie ist eine Rechtsabweichung, die zur Gefährdung der Revolution führen kann. Wirklich revolutionär ist nur die Maßnahme, die das in der gegebenen Situation jeweilig notwendige und richtige nächste Stück für die Vollendung des klar vor Augen stehenden revolutionären Gesamtwerkes schafft. Nur die Wirkung entscheidet, was rechts oder links, revolutionär oder opportunistisch ist.
Dank der Anwendung der richtigen Mittel hat sich die Kollektivierung durchgesetzt. Die Kollektivwirtschaften arbeiten erfolgreich.
In dem Prozeß gegen Pjatakow und Genossen hat Radek den Inhalt eines Briefes mitgeteilt, in dem Trotzki die Rückgängigmachung der Kollektivierung forderte. In diesem Briefe, in dem eine gewisse Angleichung der sozialen Struktur der UdSSR an die kapitalistischen Mächte für die Zeit nach der Machteroberung durch die trotzkistische Opposition als notwendig bezeichnet wurde, stand weiter, daß die Deutschen und Japaner „von uns die Entspannung der Atmosphäre im Dorfe verlangen" werden, „daher wird man auf Zugeständnisse eingehen und die Auflösung der Kollektivwirtschaften oder den Austritt aus den Kollektivwirtschaften zulassen müssen." In dem gleichen Prozeß sagte Sokolnikow, daß der zur Macht gekommene Trotzkismus die Kollektivwirtschaften dadurch abbauen werde, daß er ihnen die staatliche Unterstützung und die materiellen Lebensmöglichkeiten entzieht. Wer die in der Sowjetunion geführten Diskussionen über die Kollektivierung nicht kennt, wird die von Radek angegebenen Zitate für unglaubwürdig halten. Sie erscheinen in einem anderen Lichte, wenn man weiß, daß Trotzki selbst in seiner Broschüre „Sowjetwirtschaft in Gefahr" schrieb (Seite 28):
„Das Jahr 1933 muß dazu dienen, die kollektive Landwirtschaft in Übereinstimmung mit den technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hilfsquellen zu bringen. Das heißt Auswahl der lebensfähigsten Kollektive, ihre Umformung aufgrund der Erfahrung und der Wünsche der Hauptbauernmassen, vor allem der armen Bauern. Gleichzeitig — Ausarbeitung von solchen Bedingungen für den Austritt aus den Kollektivgütern, durch die die Erschütterungen für die Landwirtschaft auf das geringste Maß beschränkt werden ...“
Die vorstehend genannte Broschüre mit der Forderung, aus den Kollektivwirtschaften auszutreten, ist im November 1932 erschienen — zu einer Zeit, wo bereits 61,5% aller Bauernwirtschaften kollektiviert waren und wo schon jeder objektiv Urteilende den Erfolg der Kollektivierung anerkennen mußte. Aber diese von Trotzki selbst niedergeschriebene Forderung stimmt vollkommen mit der Charakterisierung seiner Stellungnahme in dem Briefe an Radek überein. Trotzki selbst propagiert in seinen Schriften ganz offen den Austritt aus den Kollektivwirtschaften, in der Konsequenz also die Auflösung derselben, um die verlangte „Entspannung der Atmosphäre im Dorfe" herbeizuführen. Schon angesichts der im Jahre 1932 erreichten Tatbestände war die Forderung Trotzkis offensichtlich konterrevolutionär; sie verlangte die Rückgängigmachung der erfolgreich durchgeführten Einbeziehung der Bauern in den sozialistischen Aufbau, die Torpedierung des immer fester werdenden Bündnisses zwischen Arbeiter- und Bauernklasse. Die Forderung Trotzkis diente nicht der russischen Revolution, sondern ihren Feinden.
Die glänzende Entwicklung der Kollektivierung ist allerdings durch die Aktion Trotzkis nicht gehindert worden. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans wird die Kollektivierung hundertprozentig durchgeführt sein. Zu diesem Erfolge hat natürlich die Staatshilfe sehr viel beigetragen. Bis Anfang 1935 gab die Regierung den Kollektivwirtschaften Geldkredite in Höhe von 1.168.000.000 Rubel. Für die Organisierung der Traktorenstationen, die den Kollektivbauern zur Verfügung standen, gab die Regierung in der gleichen Zeit 4.800.000.000 Rubel aus. Die Geldverschuldung der Kollektivwirtschaften bis zum 1. Januar 1933 in Höhe von 435.6 Millionen wurde Ende 1934 von der Regierung gestrichen. Diese „Subventionierung" der Kollektivbauern hat sich vielfach bezahlt gemacht: Die Produktivität der landwirtschaftlichen Erzeugung wurde gesteigert, der Wohlstand des ganzen Volkes wurde gehoben und die Bauern wurden für die aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnnen.

DIE STEIGERUNG DER LANDWIRTSCHAFTLICHEN PRODUKTION

Als Ergebnis der Kollektivierung und Mechanisierung der Landwirtschaft ist auf allen Gebieten der agrarischen Erzeugung ein großer Aufschwung festzustellen. Besonders angewachsen ist die Getreideproduktion. Schon 1933, unmittelbar nach Beendigung des Rekonstruktionsprozesses der Landwirtschaft, war der Bruttoertrag der Getreideernte um 590 Millionen Pud großer, — nach dem Plan ist er 1937 um 2 Milliarden Pud großer — als in dem sehr ertragreichen Erntejahr 1913. Da 1913 aber 700 Millionen Pud Brotgetreide ins Ausland ausgeführt wurden gegen nur 60 Millionen Pud im Jahre 1934, stand zur Volksernährung 1934 eine um rund 1200 Millionen Pud, im Jahre 1937 eine um rund 2200 Millionen Pud höhere Getreidemenge zur Verfugung als 1913. Im Jahre 1935 wurden über 920 Millionen Doppelzentner Getreide geerntet, das ist 30% mehr als 1932, 162.1 Millionen Doppelzentner Zuckerrüben gegen gen 12.7 Millionen im Jahre 1932. Im letzten Jahre des zweiten gen 12.7 Millionen im Jahre 1932. Im letzten Jahre des zweiten Fünfjahrplans (1937) wurden nach dem Plan 34.5 Millionen Tonnen Getreide (gegen 19.8 Millionen Tonnen im ersten Jahre des zweiten Fünfjahrplans), 16.4 Millionen Tonnen Kartoffeln (gegen 8.9), Gemüse 8.7 Millionen Tonnen (gegen 4.19), Fleisch 2.5 Millionen Tonnen (gegen 0.93), Milch und Molkereiprodukte 9.6 Millionen Tonnen (gegen 4.09) produziert. Das ist ein ganz gewaltiger Anstieg. Die 1937 eingebrachte Getreideernte ermöglicht, den Durchschnittsverbrauch von Getreide um weitere 20% pro Kopf der Bevölkerung zu steigern. Ähnlich ist es mit den anderen agrarischen Produkten, deren Produktionsvermehrung die Arbeit der Nahrungsmittelindustrie wesentlich verbessert hat. Die ebenso erhebliche Steigerung der Ernteerträge von Baumwolle, Flachs, Hanf usw. bedeutet eine wesentliche Stärkung der Rohstoffbasis für die Leichtindustrie und damit die bessere Versorgung des Volkes mit Textilwaren. Die Baumwollfabriken, die sich mit der ersten Verarbeitung der Baumwolle beschäftigen, lieferten im Jahre 1933 rund 378.500 Tonnen Baumwollfasern, im Jahre 1936 aber schon 576.200 Tonnen. Die Bruttoproduktion der Landwirtschaft wächst im Jahre 1937 auf 26.16 Milliarden Rubel an, gegen 13.07 Milliarden Rubel am Ende des ersten Fünfjahrplans und 8.2 Milliarden Rubel im Jahre 1924. Der Bruttowert der Viehwirtschaft soll sich von 3.2 Milliarden Rubel 1932 auf 7.1 Milliarden Rubel im Jahre 1937 vermehren. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans wird die Sowjetunion in den wichtigsten agrarischen Produktionszweigen an der ersten Stelle in der Welt stehen. Eine Übersicht, welchen Platz die UdSSR einnimmt, gibt die nachfolgende Aufstellung der Staatlichen Plankommission:

 

1928

1932

1937

Weizen

2

2

1

Gerste

2

2

1

Hafer

2

2

1

Rohbaumwolle
(nicht entkörnte)

5

4

3

Flachsfaser

1

1

1

Zuckerrüben

2

2

1

Pferdebestand

1

1

1

Rindviehbestand

2

4

3


In der Weizenerzeugung hatte die Sowjetunion schon 1935 den ersten Platz in der Welt erobert. Die Bruttoernte an Weizen betrug in diesem Jahre in der Sowjetunion 320 Millionen Doppelzentner gegen 245 Millionen, die die Vereinigten Staaten und Kanada, die bisher die Spitze in der Weizenerzeugung hatten, 1935 produzierten. 1937 erzeugt die Sowjetunion 378.4 Millionen Doppelzentner und vergrößert damit ihren Vorsprung noch mehr.
In den Jahren 1926—1929 betrug die Zunahme der landwirtschaftlichen Produktion im Durchschnitt jährlich nur 2.7%, in den ersten zwei Jahren des zweiten Fünfjahrplans schon 6.5%, im Jahre 1935 rund 14%, das heißt in diesem Jahr wurden für ca 2.5 Milliarden Rubel mehr landwirtschaftliche Produkte erzeugt als 1934. Das durchschnittliche jährliche Wachtstumstempo in den einzelnen Jahren des zweiten Fünfjahrplans beträgt 14.9%. Damit hielt das Wachstumstempo der Landwirtschaft gleichen Schritt mit dem industriellen Aufbau. Kein anderes Land der Welt hat ein ähnliches Wachstumstempo der Landwirtschaft aufzuweisen. In der Periode des stärksten Aufstiegs des deutschen Kapitalismus betrug der durchschnittliche Jahreszuwachs der landwirtschaftlichen Produktion in Deutschland 2.5%, in den USA in den Jahren der Hochkonjunktur 1,7%.
Im Jahre 1936 lieferte die Landwirtschaft der Sowjetunion tVa mal so viel Produkte wie in den besten Jahren der Vorkriegszeit. Diese Vermehrung der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion ist zum guten Teil das Verdienst der Kollektivwirtschaften. Bereits im Jahre 1933 war der Bruttoertrag der Getreideernte pro Kopf der Bevölkerung in den Kollektivwirtschaften um 10% höher als in den 1929 noch existierenden Großbauernwirtschaften. Eine Untersuchung in 83.000 Kollektivwirtschaften stellte fest, daß 1934 in den Kollektivwirtschaften auf jeden Kollektivbauern und auf jedes seiner Familienmitglieder 10.9 Doppelzentner Getreide kamen, gegen 5.5 im Jahre 1932, gegen 6.2 Doppelzentner in den Wirtschaften der Klein- und Mittelbauern und gegen 9.2 Doppelzentner in den Großbauernwirtschaften in dem für diese günstigen Jahr 1929. Der Ertrag der Getreideernte, der in den Jahren 1909—1913 durchschnittlich 7.4 Doppelzentner pro ha betrug, 1922—1932 schon 7.5 Doppelzentner, beträgt 1937 rund 10 Doppelzentner pro ha.
In der Sowjetunion gibt es keine Agrarkrise. Der Sowjetbauer hat keinen Mangel an Land und an Saatgut, ihm stehen Geräte und Maschinen in ausreichendem Maße zur Verfügung. Der Bauer in der Sowjetunion braucht sich nicht zu sorgen, ob er für die von ihm erzeugten Produkte Abnehmer findet. Die Steigerung der Produktivität führt dank der planwirtschaftlichen sozialistischen Organisation nicht zur Absatzkrise, sondern zur Verbesserung des Lebensniveaus des ganzen Volkes und zur Hebung des Wohlstandes der Bauern.

DIE EINBEZIEHUNG DER BAUERN IN DEN SOZIALISTISCHEN AUFBAU

Der schroffe Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern, der nach dem Bürgerkrieg die russische Revolution bedrohte, wurde überwunden. Es ist gelungen, die Widersprüche zwischen Arbeiterklasse und Bauernklasse zu lösen und die Bauern für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen. Kollektivbauern und Arbeiter marschieren gemeinsam zum Sozialismus.
Otto Bauer, der sehr viel kritische Einwände gegen die Sowjetunion macht, muß in seinem letzten Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" zugeben (Seite 158 usf.), daß es gelungen ist, die Klassengegensätze zwischen Arbeitern und Bauern zu überwinden:
„... Wachsen die Erträge der Landwirtschaft, so verliert der Kampf zwischen Stadt und Land um ihre Überschüsse an Schärfe. Mehr als früher vermengen sich Arbeiter und Bauern und beeinflussen einander gegenseitig; sind Millionen Bauernsöhne zu Industriearbeitern geworden, so bringen andererseits die großen Werkstätten der Maschinen- und Traktorenstationen Industriearbeiter ins Dorf. Die sozialen Daseinsbedingungen der Arbeiter und Bauern sind einander ähnlicher geworden. Der Bauer arbeitet um einen Akkordlohn für den Kolchos, wie der Fabrikarbeiter für die nationalisierte Fabrik. Die Arbeitsweise und damit auch die Denkweise des Bauern wird der des Industriearbeiters ähnlicher, seitdem der Bauer den Traktor, die komplizierten Anbau- und Erntemaschinen bedienen lernt. Die Überschüsse der Kollektivwirtschaften werden dazu verwendet, Wasserleitungen zu errichten, elektrisches Licht, Kino und Radio in das Dorf zu bringen, Kinderhorte und Schulen, Krankenanstalten und Klubs im Dorfe zu errichten; so verringert sich auch die kulturelle Kluft zwischen Stadt und Land.
Mit dem Wachstum der landwirtschaftlichen und der industriellen Produktion steigt die Lebenshaltung der Volksmassen. Im Jahre 1935 konnte die Sowjetregierung das Rationierungssystem aufheben, — ein Anzeichen, daß die produzierten Konsumgüter nunmehr zureichen, nicht nur eine begünstigte Minderheit, sondern das ganze Volk zu versorgen. Zugleich konnten die Warenpreise Schritt für Schritt bedeutend ermäßigt werden, — ein Anzeichen, daß die vorhandenen Gütermengen zureichen, den Konsumbedarf der Volksmassen reichlicher zu befriedigen.
Mit diesen großen Erfolgen des Industrialisierungs- und Kollektivierungsprozesses verbreitert sich die soziale Basis der Diktatur. Mögen sich große Teile der erst in den letzten Jahren in Industriearbeiter verwandelten Bauernsöhne noch gegen die industriellen Betriebsnotwendigkeiten innerlich auflehnen, — sie werden der Diktatur innerlich gewonnen in dem Maße, als die Diktatur ihre wirtschaftliche Lebenshaltung zu verbessern vermag."
Über den neuen Bauern der Kollektivwirtschaften hat Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß, am 26. November 1936, gesagt:
„Gewöhnlich pflegt man zu sagen, daß die Bauernschaft eine solche Klasse von Kleinproduzenten ist, deren Mitglieder atomisiert, über das ganze Land verstreut sind, die einzeln in ihren Kleinwirtschaften mit ihrer rückständigen Technik herumwühlen, Sklaven des Privateigentums sind und straflos von Gutsbesitzern, Kulaken, Kaufleuten, Spekulanten, Wucherern usw. ausgebeutet werden. Und tatsächlich ist die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern, wenn man ihre Hauptmasse ins Auge faßt, gerade eine solche Klasse. Kann man sagen, daß unsere heutige Bauernschaft, die Sowjetbauernschaft, in ihrer Masse dieser Bauernschaft ähnlich ist? Nein, das kann man nicht sagen. Eine solche Bauernschaft gibt es bei uns schon nicht mehr. Unsere Sowjetbauernschaft ist eine vollständig neue Bauernschaft. Bei uns gibt es keine Gutsbesitzer und Kulaken, keine Kaufleute und Wucherer mehr, die die Bauern ausbeuten könnten. Unsere Bauernschaft ist also eine von der Ausbeutung befreite Bauernschaft. Weiter, unsere Sowjetbauernschaft ist in ihrer überwiegenden Mehrheit eine Kollektivbauernschaft, d.h. ihre Arbeit und ihr Eigentum beruhen nicht auf Einzelarbeit und auf einer rückständigen Technik, sondern auf kollektiver Arbeit und auf der modernen Technik. Schließlich liegt der Wirtschaft unserer Bauernschaft nicht das Privateigentum, sondern das Kollektiveigentum zugrunde, welches sich auf der Basis der kollektiven Arbeit entwickelt hat.
Wie Ihr seht, ist die Sowjetbauernschaft eine vollständig neue Bauernschaft, wie sie die Menschheitsgeschichte noch nicht gekannt hat."
Die ökonomischen Gegensätze zwischen den beiden Klassen sind gefallen, und damit auch die politischen Gegensätze. Die Kollektivbauern arbeiten unter der Führung der Arbeiterklasse, mit der zusammen sie die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes darstellen, an einer gemeinsamen Aufgabe, am Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Die zweite Voraussetzung für den sozialistischen Aufbau ist erfüllt. Die größten Hindernisse sind beseitigt, die schwierigste Aufgabe ist gelöst, das Fundament ist gelegt, das Werk wird gelingen.

 

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OPFER UND ERFOLGE DES SOZIALISTISCHEN AUFBAUS

 

DIE ANFORDERUNGEN DER AUFBAUPERIODE

Die Umwandlung der Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland in ein fortgeschrittenes industrialisiertes Land ist nicht so reibungslos vor sich gegangen, wie die enormen Endzahlen des zweiten Fünfjahrplans vermuten lassen. Die Erfolge der stürmischen Industrialisierung kamen den Volksmassen nicht sofort zugute. Im Gegenteil. In den ersten Jahren des Aufbaus wurden von dem Volke große Leistungen verlangte ohne daß ihm in ausreichendem Maße Lebensmittel und Bedarfsgüter geliefert werden konnten. Die großzügige Planung, die ein sicheres, unerschütterliches ökonomisches Fundament schaffen wollte, verlangte die Konzentrierung aller Kräfte zunächst auf den Aufbau der Schwerindustrie und der Produktionsmittelindustrie. Die wichtigsten Bedarfsgüter konnten noch nicht in ausreichendem Maße produziert werden.
Das Ziel des ersten Fünfjahrplans war nicht, dem Volke schnell und unmittelbar mehr Nahrung, mehr der überall fehlenden Bedarfsguter zu geben, sondern eine große moderne Industrie aufzubauen, mit deren Hilfe dann allerdings nach einiger Zeit die Bedürfnisse aller Bürger im Lande selbst befriedigt werden konnten. Jedoch am Anfang brauchte die Sowjetunion für den industriellen Aufbau Maschinen, Kredite und Hilfe aus den kapitalistischen Ländern. Sie mußte dafür mit Lebensmitteln an das Ausland zahlen, mit der Nahrung, die dem eigenen Volke entzogen wurde.
Diese Opfer waren aber notwendig, um die Grundlage für eine gesunde Weiterentwicklung zu schaffen. Nur durch den industriellen Aufbau konnten die gewaltigen Rohstoffe des Landes mobilisiert, konnten die Voraussetzungen für die Intensivierung der Landwirtschaft, für die Steigerung der Lebensmittelerzeugung und der Verbrauchsgüterproduktion geschaffen werden. Nur durch die planmäßig fortschreitende Industrialisierung konnte die Sowjetunion — die ein Sechstel der Erdoberfläche umfaßt und mit ihren riesigen Rohstoffreichtümern ein selbständiger Kontinent ist — immer unabhängiger von den kapitalistischen Ländern der Welt werden. Nur dadurch konnte sie — was nicht weniger wichtig ist — die militärische Macht und die wirtschaftliche Potenz schaffen, die ihr eine Sicherung gegen Interventionskriege gibt. Nur wenn das Volk die harte opfervolle Periode des Aufbaus durchhielt, konnten die Früchte der geleisteten Arbeit geerntet werden.
Theoretisch wäre es durchaus möglich gewesen, schon im Jahre 1930 den Mangel an Bedarfsgütern zu beheben. Man brauchte nur die im Lande vorhandene wirtschaftliche Kraft und die Auslandskredite nicht für den Aufbau der Produktionsmittelindustrie, sondern für die Beschaffung von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern verwenden. Dann wäre es zwar gelungen, das Volk schon Jahre früher satt zu machen, aber der Preis für diesen Erfolg wäre der Verzicht auf eine dauernde, stetig sich verbessernde Versorgung des Volkes gewesen. Der sofortige Einsatz aller Mittel für die unverzügliche Verbesserung der Lebenshaltung wäre eine sehr zweifelhafte Volksversorgung auf Pump gewesen. Reserven und Auslandskredite wären aufgegessen worden, anstatt sie zum Aufbau einer eigenen starken wirtschaftlichen Basis zu verwenden. Wäre die Schaffung des eigenen festen Fundaments um der sofortigen Lösung der Tagesnöte willen versäumt worden, dann wäre die Sowjetunion immer in Abhängigkeit vom kapitalistischen Auslande geblieben, dann wären Krisen eingetreten, die aus eigener Kraft zu überwinden die UdSSR zu schwach gewesen wäre. Hätte die Sowjetregierung den vordringlichen Aufbau der Bedarfsgüterindustrie an die Spitze der Fünfjahrpläne gestellt, dann wäre dem Volke vielleicht zwar der ärgste Mangel der Aufbau-Jahre erspart geblieben, aber nach einem nicht fundierten Aufschwung wäre der Niedergang gefolgt, der zum Zusammenbruch der Sowjetunion führen konnte. Wäre die Sowjetregierung, nur um im Augenblick die Massen zu befriedigen, diesen Weg gegangen, so hätte sie wie ein Bankrotteur gehandelt, der heute aufißt was er hat und was er gepumpt bekommt, und der nicht danach fragt, was morgen wird.
Da die Sowjetregierung nicht nur für den Augenblick den drückendsten Mangel beseitigen, sondern eine stabile sozialistische Wirtschaft aufbauen wollte, hat sie zu Beginn des industriellen Aufbaus alle Kraft für den Ausbau der Produktionsmittelindustrie eingesetzt, hat sie planmäßig Traktoren und Mähdrescher produziert, die die spätere Industrialisierung der Landwirtschaft und dadurch die dauernde Steigerung der Lebensmittelproduktion ermöglichten. Es war ein weitsichtiger Plan, der aber nur verwirklicht werden konnte, weil die Regierung von der Mehrheit des Volkes aktiv unterstützt wurde.
Die konsequente Durchführung dieses Planes erforderte eine starke zentralistische Regierungsgewalt, die um ihres großen und richtigen Zieles willen mit allen Mitteln dafür sorgte, daß ihr Wollen nicht durch Ungeduld und Unzufriedenheitsausbrüche gestört wurde.
Trotzki jedoch war auch in der Frage, in welcher Reihenfolge der große Aufbau der Sowjetwirtschaft vollzogen werden müsse, anderer Meinung als die Sowjetregierung. In der Rede, die er am 14. November 1922 auf dem IV. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale über die NEP-Politik hielt, sagte er u.a. (Broschüre über diese Rede, Seite 17/18):
„Das bedeutet, daß wir vor allem sehr arm sind und für die Belebung der Industrie beginnen müssen, unsere technischen und finanziellen Kräfte dort anzuwenden, wo es am dringendsten ist. Am dringendsten ist es aber da, wo der Konsum beginnt — bei den Arbeitern, Bauern und roten Soldaten. Es ist also klar, daß Mittel in erster Linie dorthin wandern. Erst wenn die Fertigfabrikatindustrie sich entwickelt, wird die Möglichkeit für eine gesunde Entwicklung der Schwerindustrie entstehen. In dem Maße, wie die Fertigfabrikat-Industrie uns die Möglichkeit gibt, dem Lande reale Reichtümer zu entnehmen und dabei Profit abwirft, bekommen wir auch eine Grundlage für die Schwerindustrie." Hätte man nach dem Vorschlage Trotzkis erst die Bedarfsgüterindustrie aufgebaut, wäre der Aufbau nie gelungen. Die Entwicklung hat bewiesen, daß die Bolschewistische Partei recht damit getan hat, im Gegensatz zu den Vorschlägen Trotzkis zuerst die Schwer- und Produktionsmittelindustrie aufzubauen. Heute vermag niemand mehr zu bezweifeln, daß die Entwicklung auch in dieser Frage Trotzki sachlich widerlegt hat, daß die Erfolge der Sowjetmacht auf dem von ihr beschrittenen Wege groß sind.
In den ersten Jahren nach Beginn des Fünfjahrplans war das durchaus nicht so klar erkenntlich. Die Opfer, die das russische Volk für die Erreichung dieses Zieles bringen mußte, gaben der sozialdemokratischen Presse in West- und Mitteleuropa nur zu oft Gelegenheit, in kurzsichtiger Verkennung der Lage gegen den Aufbau in der Sowjetunion Stellung zu nehmen und den sozialdemokratischen Arbeitern ein ganz schiefes Bild von dem gewaltigen Ringen des russischen Proletariats um die Freiheit zu geben. Unzählige Äußerungen der deutschen sozialdemokratischen Presse könnten dafür angeführt werden. So schrieb z.B. die Mannheimer sozialdemokratische „Volksstimme" am 7. Juli 1931 unter der Überschrift „Neo-Nep in Sowjet-Rußland! Sieg der Methoden der kapitalistischen Rationalisierung":
„Der russische Fünfjahrplan ist ein Abklatsch der kapitalistischen Rationalisierung. Die Parallele der Folgen der fehlerhaften Rationalisierung der kapitalistischen Welt und Sowjetrußlands ist ganz überraschend. Der volkswirtschaftlichen Vergeudung auf der einen Seite steht die bittere Not auf der anderen gegenüber. Gigantische Werke werden in Sowjetrußland erbaut, aber der Hunger, das Schlangestehen vor den Lebensmittelläden, die Wohnungsnot, das Absinken des Reallohnes, das ist die Kehrseite der technischen Phantasie. Von den technischen Meisterwerken, den Renommierbauten, den gigantischen Industriepalästen, die die russische Propaganda der kapitalistischen Welt in teuersten Drucken zeigt, werden die russischen Arbeiter nicht satt. Das Experiment des russischen Fünfjahrplanes wird auf dem Rucken des russischen Volkes durchgeführt. Wie ein Alpdruck lastet der Fünfjahrplan auf dem russischen Volke ....
So überwindet man den Kapitalismus nicht, weder organisatorisch noch geistig. Diese Methoden münden schließlich ein in kapitalistische Bahnen. Und was sie erreichen werden, das wird nur ein Zerrbild des Kapitalismus sein, und noch dazu ein häßliches."
Die Entwicklung hat diese im sozialdemokratischen Lager weit verbreitete Auffassung widerlegt. Im Jahre 1937 sind die gewaltigen Erfolge der Fünfjahrpläne für den sozialistischen Aufbau unbestreitbar. Vor allem kann ein objektiver Beurteiler nicht mehr behaupten, daß der gewaltige Aufbau zu einem häßlichen Zerrbild des Kapitalismus geführt habe. Im Gegenteil, gerade durch diesen Aufbau konnten die kapitalistischen Einflüsse immer mehr ausgeschaltet und liquidiert werden. Hätte die sozialdemokratische Presse in den kapitalistischen Ländern schon einige Jahre früher die große Bedeutung des Aufbaus in der Sowjetunion begriffen, dann wäre der Kampf der Sowjetvölker für den Sozialismus in stärkerem Maße durch das internationale Proletariat unterstützt worden. Die Früchte dieses Aufbaus wären dann auch schneller und spürbarer dem Freiheitskampfe der Proletarier in den anderen Ländern zugute gekommen.
Die Anforderungen, die in den Jahren des Aufbaus an die Völker in der UdSSR gestellt wurden, hat Manuilski in seinem vor dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (1935) erstatteten Bericht über „Die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion" geschildert:
„Unser Aufbauwerk ging nicht reibungslos vonstatten, wie es aus der Ferne scheinen mochte. Wir brauchten Metall zum Bauen, doch es gab keines; wir brauchten Baumaterial, doch es war knapp; man mußte diese Materialien und große Menschenmassen nach neuen Orten transportieren, doch das Verkehrswesen versagte; die Bauarbeiter und die Arbeiter mußten mit Nahrung, Kleidung und Schuhen versorgt werden, es mußten die elementarsten Wohnbedingungen für sie geschaffen werden, doch es mangelte an Hilfsquellen und Vorräten; man brauchte qualifizierte Arbeiter, doch woher sollten sie alle auf einmal genommen werden? Es gab keine Ingenieure, Techniker, es mangelte an elementarster industrieller Ausbildung. Auf uns lastete die vom alten Regime ererbte alte russische Loddrigkeit, die jahrhundertealte Trägheit, der Bürokratismus. Der Klassenfeind aber nutzte jeden Fehlgriff unserer unerfahrenen jungen Kader aus, stellte aufgebauschte Kostenvoranschläge zusammen, verwirrte die Pläne, legte wissentlich untaugliche Projekte vor, beschädigte die Maschinen, organisierte Brandstiftungen, Sprengattentate und ruinierte die kostspieligen Betriebseinrichtungen.
Im Laufe dieser Jahre waren die Muskeln und Nerven des ganzen Landes wie ein straffes Seil gespannt. Wir lebten nur für unsere Bauten. Wenn wir dachten, so dachten wir in den Zahlen dieser Bauten, wenn wir sprachen, so sprachen wir nur von ihnen, wenn wir tagten, so diskutierten, stritten wir nur über sie, wenn wir einschliefen, so träumten wir nur von ihnen. Alles war dem einen Ziel untergeordnet, der Erfüllung des Planes der großen Arbeiten, den sich unsere Partei und unser Land gestellt hatten: die Anspannung aller materiellen Mittel des Landes, der mobilisierte menschliche Wille, die organisierte menschliche Energie, die bolschewistische Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit — dieses Ziel bestimmte die bescheidene Lebenshaltung unseres Volkes ....
Nicht alle vermochten diese sozialistische Offensive auszuhalten, die die Feldzüge aller Zeiten und aller Völker in den Schatten stellte. Alles Feige, Selbstsüchtige, Gemeine, Faule blieb am Wege liegen, ließ den Kopf hängen, flennte, säte Unglauben, weissagte den Untergang ..." Der Untergang ist ausgeblieben. Die Anspannung der Kräfte bis zum Äußersten ist nicht umsonst gewesen.

OPFER FÜR WEN UND FÜR WAS?

Der schnelle Aufbau der Produktionsmittelindustrie war allerdings nur auf Kosten des Konsums der Volksmassen durchzuführen. Die europäischen Sozialisten schlußfolgerten aus dieser Tatsache, daß der erste Fünfjahrplan mißlingen und die Diktatur des Proletariats scheitern müsse.
Ja, Millionen Bauern, die für die industrielle Produktion gewonnen werden mußten, waren nicht sofort qualifizierte Industriearbeiter. Sie mußten erst lernen, mit den modernen Maschinen umzugehen. Zweifellos ist dabei viel kaputt gegangen, viel Schaden entstanden, der die schnelle Aufwärtsentwicklung hemmte und die Produktionskosten steigerte. Stalin hat in einem späteren Stadium einmal auf diese Tatsachen hingewiesen und dabei die Frage aufgeworfen, ob die dadurch entstandenen Verluste vermieden werden konnten. Er hat das verneint, weil seiner Meinung nach eine qualifizierte Industriearbeiterschaft eben aus dem vorhandenen russischen Menschenmaterial überhaupt nur heranzubilden war, wenn die Menschen an die Maschine gestellt wurden und praktisch lernen konnten. Dieses praktische Erlernen hat trotz den entstandenen Verlusten den Aufbau schnell vorwärts gebracht. Der relativ große Verschleiß der ersten Aufbauzeit, der unter den besonderen Bedingungen Rußlands unvermeidlich war, steigerte allerdings die Produktionskosten und zwang das Volk zu größeren Einschränkungen. Die große Aktion, die später von der Sowjetregierung für die bessere Qualifikation der Arbeitenden, für die Steigerung der Arbeitsproduktivität und für die Senkung der Produktionskosten durchgeführt wurde, diente in erster Linie dem Zwecke, die früher notwendigen Einschränkungen zu beseitigen.
Aufklärung über die Entwicklung in der Sowjetunion erhielten die sozialdemokratischen Massen zunächst fast ausschließlich durch Gegner des Sowjetregimes, die als besondere Sachkenner vorgestellt wurden. Einer dieser Spezialisten, der vorübergehend in der Sowjetunion war, schrieb 1930 in einem von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands herausgegebenen Material über die Lage in der Sowjetunion:
„In Rußland wird jetzt das geschaffen, was in den fortgeschritteneren Ländern der Kapitalismus geschaffen hat. Die roten Fahnen verhüllen das wahre Wesen dieser Wirtschaft. Aufbau einer Großindustrie auf Kosten der werktätigen Massen, genau so wie die Großindustrie überall aufgebaut worden ist."
In der Tat: Die Großindustrie in den kapitalistischen Ländern ist auf Kosten der arbeitenden Menschen aufgebaut worden und auch in der Sowjetunion haben die werktätigen Massen große Opfer bringen müssen, um den industriellen Aufbau zu ermöglichen. Aber das ist der grundlegende Unterschied zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern: In den kapitalistischen Ländern haben die den Massen aufgebürdeten Lasten nur den Kapitalisten Vorteile gebracht, die Massen wurden nach dem Aufbau eines qualifizierten Industrieapparates, nach der Rationalisierung in Arbeitslosigkeit und Elend gestoßen. Ihre Löhne und Lebenshaltung wurden herabgedrückt. In der Sowjetunion dagegen führten die von den Massen gebrachten Opfer zu einer Produktionssteigerung, die den Wohlstand des ganzen Volkes hob. Die durch den Aufbau der Großindustrie ermöglichte Gütervermehrung führte in der Sowjetunion nicht zu Absatzstockungen, zu Arbeitslosigkeit und Elend, sondern zu einer besseren Befriedigung der Bedürfnisse der Volksmassen, zur Erhöhung des Reallohnes und zu einer weiteren Steigerung der Produktion.
„Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft." So hat Karl Marx schon vor 90 Jahren den Kapitalismus charakterisiert. Und überall in diesen 90 Jahren war in allen kapitalistischen Ländern festzustellen, daß der Arbeiter ärmer wurde, je mehr Reichtum er produzierte. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte ist in der Sowjetunion der Beweis erbracht worden, daß unter einem besseren als dem kapitalistischen Wirtschaftssystem der von den Arbeitenden produzierte Reichtum zu einem Segen für sie selbst wird. Noch nie haben die Arbeiter und auch die Bauern ihre Produktion so gesteigert, wie in der UdSSR in den Jahren von 1924 bis 1937. Wäre die Sowjetunion nichts anderes als ein kapitalistisches oder staatskapitalistisches Land, dann hätte dort nach dem von Marx festgestellten ehernen Gesetz des Kapitalismus die Vermehrung der Produktion die Arbeiter ärmer, und ihre Ware, die Arbeitskraft, wohlfeiler gemacht. Dann hätte die gewaltige Steigerung der Produktion zu Absatzschwierigkeiten, zur Krise und zur Arbeitslosigkeit von Millionen geführt. Auch das ist ein Beweis für das Funktionieren des sozialistischen Wirtschaftssystems in der Sowjetunion, daß dort die Vermehrung der von den Arbeitern erzeugten Güter nicht einer kleinen kapitalistischen Oberschicht, sondern dem ganzen Volke zugute kommt und damit auch den Wohlstand der Erzeuger, der Arbeiter, vermehrt. Ihre Arbeitskraft wird nicht wohlfeiler, sondern teurer. Werden in der Sowjetunion mehr Waren produziert, so werden mehr Waren immer billiger an das Volk verteilt, so können immer mehr der Bedürfnisse aller Bürger befriedigt werden. Die bessere Befriedigung der Bedürfnisse macht eine immer weitere Vergrößerung der Produktion nötig und die Arbeitslosigkeit unmöglich.
Die Opfer, die das Volk der Sowjetunion in den ersten schweren Jahren des Aufbaus brachte, waren sinnvoll. Die Frucht dieser Opfer kam den Massen unmittelbar zugute. Wertet man die erste Periode des Aufbaus im großen geschichtlichen Zusammenhang, dann kann man feststellen, daß die Massen in dieser Zeit Mangel und Not weniger als eine drückende Dauererscheinung empfunden, sondern in dem Bewußtsein ertragen haben, daß ohne diese Opfer der Aufstieg zu einem besseren Leben nicht erreicht werden kann. Sie wußten, daß zur Erzeugung größerer Mengen von Lebensmitteln Maschinen notwendig waren; sie wußten, daß zur besseren Versorgung ein gut funktionierender Eisenbahnverkehr gebraucht wurde; sie wußten, welches traurige Erbe die Sowjetmacht vom Zarismus übernommen hat; und sie wußten vor allem, daß zum Bau von Maschinen, von Lokomotiven, zur Schaffung eines guten Eisenbahnnetzes Eisen und Stahl, und immer wieder Eisen und Stahl gebraucht wurden, die erst in ausreichendem Maße produziert werden mußten, um die vorhandenen Mängel zu beheben. Die große Masse des Volkes glaubte fest und unerschütterlich daran, daß die Erfolge in der Steigerung der Eisen- und Stahlproduktion mit mathematischer Sicherheit zur Vermehrung der Bedarfsgüter, zur Liquidierung des Mangels fuhren würden. Wenn die herrschende Partei und die Sowjetmacht ankündigten, zu einem bestimmten Zeitpunkt wird die Brotmenge erhöht, wird die Menge der Bedarfsgüter vermehrt, wird der Brotpreis, werden die Preise für Lebens- und Bedarfsmittel gesenkt, dann waren die Massen von der Erfüllung dieser Voraussagen überzeugt. Die tatsächliche Durchführung der von einer zielbewußten Führung gemachten Versprechen befestigte das Vertrauen des Volkes zur Sowjetmacht. Die Massen brachten darum die von ihnen geforderten Opfer in der Überzeugung, daß sie nicht für den Profit kapitalistischer Ausbeuter leiden, sondern daß der Weg, den sie durch Fahrnisse und Schwierigkeiten marschieren, sie selbst sicher vorwärts und aufwärts führt zu einem besseren Leben. Ohne diese Überzeugung großer Teile des Volkes wäre das schwierige Werk des sozialistischen Aufbaus nicht gelungen. Der Aufbau der Großindustrie, der „auf Kosten der werktätigen Massen" vollzogen wurde, wirkt sich zu ihrem Nutzen aus. Die Opfer, die das arbeitende Volk nach der Revolution für eine bessere Zukunft brachte, wurden nicht sinnlos vertan. Nicht nur spätere Generationen ernten die Früchte, sondern schon die Generation, die die schwersten Lasten auf sich nahm, ist Nutznießerin eines besseren Lebens geworden.

DIE ERFOLGE

Die große Masse der Völker in der Sowjetunion lebt — ohne Angst vor Krise und Arbeitslosigkeit — froh in der Gegenwart, mit dem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft.
Der ununterbrochene Aufschwung der Wirtschaft führt zu einer ständigen Verbesserung der Lebensverhältnisse der werktätigen Massen. Die erfolgreiche Durchführung der Fünfjahrpläne bringt dem ganzen Volke die von diesem selbst täglich festzustellenden Vorteile. Über die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus äußerte sich der französische Gesundheitsminister Henri Sellier nach einem Besuch in der Sowjetunion (im Februar 1937) in einer Unterredung, die er dem Vertreter des „Journal de Moscou“ gewährte:
„Meine zweite Reise in die Sowjetunion hat die Empfindungen bestätigt und verstärkt, die ich bereits bei meiner ersten Reise im August des letzten Jahres tief empfunden hatte. Der Eindruck eines unerhörten Aufbauwerks, von Macht und Methode beherrscht den, der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat .... Die Besserungen der materiellen Bedingungen und des allgemeinen Komforts — die man, wie mir ein besonders gut informierter, in Moskau ansässiger Franzose sagte, von Tag zu Tag merkt — ist charakteristisch für die letzten sechs Monate. Die Zeit der Entbehrten ist entschieden zu Ende und alle Hoffnungen sind dem russischen Volke erlaubt: das Ende der Hungersnot, die Normalisierung des Lebens, das Ende der Wahnvorstellungen, die Revolution und Krieg hinterließen, sind natürlich von der Art, daß sie die krankhaften Empfindungen einiger dekadenter Literaten verringern, für die die Leiden der anderen ein geistiges Anregungsmittel sind.
Jene, die sich ihrer Vertrautheit mit dem Marxismus rühmen, als ob sie versucht hätten, in ihn einzudringen, um den sozialistischen Aufbau Rußlands zu verdammen, sollten wissen, daß eine der Grundlagen des dialektischen Materialismus ist, daß das Individuum nicht zur vollen Entfaltung seiner intellektuellen Möglichkeiten kommen kann, solange es nicht von allen Sorgen um die materielle Sicherheit befreit ist.
...Der Ruhm Stalins und seiner Mitarbeiter wird sein, daß sie mit einer unbezwingbaren Energie an der Vollendung dieses Programms gearbeitet haben." Die täglich wachsende Besserung der materiellen Verhältnisse ist in der Tat unbestreitbar. Die Produktion der Massenbedarfsartikel ist ganz erheblich gewachsen. Sie ist im letzten Jahre des zweiten Fünfjahrplans zweieinhalbmal größer als 1932. Die Produktionskosten sind erheblich gesenkt worden, sie sind im Jahre 1937 in der Industrie um 26%, in der Landwirtschaft um 63.3% niedriger als 1932. Die Produktivität der Arbeit ist in der gleichen Zeit ungefähr ebenso gesteigert worden, wie die Produktionskosten gesenkt wurden. Das Ergebnis ist: Es gibt allenthalben mehr Waren und die Waren werden billiger.
Die Löhne sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Der durchschnittliche Jahreslohn der Arbeiter und Angestellten stieg von 936 Rubel im Jahre 1930 auf 1783 Rubel im Jahre 1934. Das ist in vier Jahren eine Steigerung um 90.4%. Im Jahre 1935 betrug der durchschnittliche Jahreslohn des Arbeiters in der Großindustrie 2200 Rubel, oder um weitere 12% mehr als 1934. Im Jahre 1936 stieg der Durchschnittslohn bei gleichzeitig billigeren Lebensmittelpreisen auf 2770 Rubel. Ein mittelqualifizierter Arbeiter in einer Maschinenfabrik verdient durchschnittlich 400 Rubel im Monat.
Die Lohnsteigerung ist parallel gegangen mit einer nicht unerheblichen Senkung der Preise für die wichtigsten Bedarfsartikel.
Die Kleinhandelspreise für Nahrungsmittel sind nach den amtlichen Angaben im Jahre 1937 in der Stadt um 35.2%. auf dem Lande um 32% niedriger als 1932; die Kleinhandelspreise für die industriellen Massenbedarfsartikel waren 1937 in der Stadt um 33.1%, auf dem Lande um 38.1% niedriger als 1932.
Vergleicht man die Preise, die im Jahre 1937 für die wichtigsten Nahrungsmittel gezahlt wurden, mit den im Jahre 1933 gezahlten Preisen, so ergibt sich eine ganz erhebliche Senkung. 1933 kostete ein Kilogramm Roggenbrot im freien Handel 2.50 Rubel, 1937 85 Kopeken; der Preis für Weizenbrot betragt nur noch ein Drittel des 1933 gezahlten Preises, ebenso ist es bei Butter. Grütze, Fleisch- und Wurstwaren sind um die Hälfte billiger geworden, ähnlich ist es noch bei sehr vielen anderen Lebensmitteln. Die Gesamtsumme der Preissenkung für Lebensmittel bellet sich bereits im Jahre 1935 - im staatlichen, genossenschaftlichen und kollektivbäuerlichen Handel — auf insgesamt 5 Milliarden Rubel, und im Jahre 1936 gegenüber 1935 auf weitere 5 Milliarden Rubel. Also allein in diesen zwei Jahren betrug der Gesamtwert der Preissenkung für Lebensmittel 10 Milliarden Rubel. Das heißt, das Volk konnte mit dem gleichen Einkommen für 10 Milliarden Rubel mehr Waren kaufen, seinen Verbrauch steigern und sein Lebensniveau erhöhen. Nach den Regierungsverordnungen, die für 1. Juni, bzw. 1. Juli 1937 die Herabsetzung der Preise für die industriell erzeugten Massenbedarfsartikel bestimmten, sind auch die Bedarfsgüter mit einem Schlage um weitere 10 bis 20% billiger geworden. Die von der Zentralverwaltung für Volkswirtschaftsstatistik durchgeführten Untersuchungen ergeben, daß der Verbrauch der Arbeiterfamilien an Fleisch im Jahre 1935 um 9.6% und 1936 um weitere 48.2%, an Milch im Jahre 1935 um 21.1% und 1936 um weitere 22.8%, an Eiern 1935 um 57.7% und 1936 um weitere 129.3% gestiegen ist. Nach der gleichen Quelle ist die Verbrauchssteigerung bei Fett, Zucker und Obst noch größer. Aber auch die Qualität der verbrauchten Lebensmittel hat sich gebessert. Zur Zeit des Kartensystems entfielen von der gesamten Brotproduktion 71% auf Roggenbrot und 29% auf Weizenbrot, aber schon in der ersten Hälfte des Jahres 1936 wurden 28% Roggenbrot und 72% Weizenbrot gekauft. Nach den Preissenkungen des Jahres 1937 sind die Lebens- und Bedarfsmittel noch billiger geworden, der Verbrauch der einzelnen Familie an Lebens- und Bedarfsgütern konnte -weiter erhöht werden. Der dritte Fünfjahrplan sieht nicht nur weitere erhebliche Produktionssteigerungen, sondern auch noch weitere Preissenkungen vor. Die gleichzeitige Erhöhung der Löhne und Senkung der Preise hat den Verbrauch der Massen in den letzten Jahren enorm gesteigert. Der Warenumsatz stieg 1934 um 24.5%, 1935 um 32.8%, 1936 um 30.2%, 1937 um 23.2% jeweils gegenüber dem Vorjahre. Er beträgt im jähre 1937 rund 131 Milliarden Rubel. Und im jähre 1942 soll der Einzelhandelsumsatz und damit das Lebensniveau des Volkes — nach amtlichen Berechnungen — mindestens doppelt so hoch sein wie im jähre 1937.
Die gleichzeitige absolute Erhöhung des Lohnes und die Senkung der Preise bedeutet für alle arbeitenden Menschen eine stark spürbare Erhöhung des Reallohnes. Wie sich die Erhöhung des Reallohnes im einzelnen zum Vorteil der Volksmassen auswirkt, beweist die Verbrauchssteigerung, über die im vorhergehenden Absatz berichtet wird. Nach den amtlichen Angaben erhöhte sich der Reallohn von 1932 bis 1937 um rund 100%. Neben der Senkung der Preise erhöhen außerdem die vermehrten unentgeltlichen Leistungen, die die Arbeiter und Angestellten aus den Fonds für kulturelle und soziale Versorgung erhalten, den Reallohn noch ganz wesentlich über den gezahlten Nominallohn hinaus. Es gibt kein anderes Land in der Welt, in dem der Reallohn der Arbeitenden in fünf Jahren verdoppelt wurde. Noch ist der durchschnittliche Jahreslohn des Arbeiters in der Sowjetunion niedriger als der Lohn seines Kollegen in den USA oder in den europäischen Ländern mit den höchsten Lehnen, aber die fortschreitende Aufwärtsentwicklung der nach sozialistischen Prinzipien dirigierten Sowjetwirtschaft schärft die Voraussetzung für eine weitere Steigerung des Reallohns. Darum ist die Behauptung, daß der Reallohn in der Sowjetunion in nicht allzu ferner Zeit höher sein wird als in allen kapitalistischen Ländern, mehr als eine Prophezeiung.
Die sozialen Leistungen für die arbeitenden Menschen sind außerordentlich gesteigert worden. Sie sind unendlich viel höher als in der Vorkriegszeit. Während im Staatsbudget des Jahres 1923/1924 ganze 119.7 Millionen Rubel für soziale und kulturelle Zwecke eingesetzt waren, ist im Jahre 1937 der Haushalt der Sozialversicherung allein auf 6750 Millionen Rubel festgesetzt, gegen 4400 Millionen Rubel im Jahre 1932. Gegenüber dem ersten Jahre des zweiten Fünfjahrplans sind die Ausgaben für Sozialversicherung um 53.4% Prozent erhöht worden.
Hinzu kommt noch, daß der Fonds für kulturelle und soziale Versorgung der Arbeiter, der vom Staat und den Gewerkschaften aufgebracht wird, erheblich erhöht wurde. Allein für die nichtlandwirtschaftlichen Arbeiter wurden durch diesen Fonds im letzten Jahre des zweiten Fünf Jahrplans 9284.3 Millionen Rubel aufgewendet, gegenüber 4308.4 Millionen Rubel im Jahre 1932. Die Ausgaben des Fonds für kulturelle und soziale Versorgung der Arbeiter sind in den fünf Jahren des zweiten Fünfjahrplans um 215.5% gestiegen.
Die Zahl der Erholungsheime und Sanatorien, der Krankenhäuser und Kinderheime hat sich ganz außerordentlich vermehrt. Das Wichtigste aber ist, daß alle diese Einrichtungen, die im zaristischen Rußland nur einer kleinen Zahl Besitzender zugute kamen, heute den Werktätigen, Arbeitern, Angestellten und Bauern zur Verfügung stehen. Im Jahre 1937 besuchten von je 1000 Versicherten 75 Erholungsheime und Sanatorien. Für die Kinder wird mit großer Liebe gesorgt. Kinderkrippen, Kinderheime und Erziehungsanstalten sind wie Pilze aus der Erde geschossen. Die Zahl der Plätze in den ständigen und den Saisonkinderkrippen ist noch nicht ausreichend, wächst aber ständig.
Der Wohnungsnot, die bis in die gegenwärtige Zeit zu den nicht überwundenen Mängeln gehört, wurde kräftig zu Leibe gegangen. 1937 betrug die Durchschnittsnorm der Wohnfläche pro Person 5.35 m², in den wichtigsten Industriezweigen 7 m². Das ist wesentlich mehr als 1924, aber noch lange nicht genügend. Die Modernisierung der Städte hat große Fortschritte gemacht. Die unter dem Kapitalismus geschaffenen Elendshütten in den Arbeitervierteln sind durch neue große Wohnbauten ersetzt worden. Mitten in ehemals nur agrarischen oder Steppengebieten wurden riesige Großstädte mit hellen, luftigen Wohnvierteln neu geschaffen. Viele alte Städte werden umgebaut, so zum Beispiel Moskau, das nach einem Zehnjahrplan die schönste, luftigste und gesündeste Stadt der Welt werden soll. Das langsame Tempo der Überwindung der Wohnungsnot hatte zwei ganz besondere Ursachen: Das Erbe, das die Sowjetunion auf diesem Gebiete von dem Zarenreich übernehmen mußte, war ganz besonders kläglich. Nirgends in der Welt waren die Wohnverhältnisse für die werktätigen Massen so erbärmlich, nirgendwo standen den Arbeitern und Angestellten so wenige Wohnungen zur Verfügung wie im zaristischen Rußland. Die zweite Ursache war der durch die gigantische Industrialisierung bedingte ungewöhnliche Zustrom der Massen in die Städte.
Einen so rapiden Bevölkerungszuwachs wie z.B. Moskau hat keine andere Stadt der Welt gehabt. Der prozentuale Bevölkerungszuwachs der anderen Städte in der Sowjetunion ist nicht wesentlich geringer als der Moskaus. Die Überwindung der Wohnungsnot in den Städten braucht darum eine längere Zeit, aber die Voraussetzungen sind geschaffen, daß auch dieser Mangel allmählich beseitigt wird.
Das kulturelle Niveau des Volkes wurde ganz beträchtlich gehoben. Im Jahre 1937 wurden für kulturelle und damit zusammenhängende soziale Zwecke 22.16 Milliarden Rubel ausgegeben, gegen 1.19 Millionen Rubel im Jahre 1924. Die 22.16 Milliarden Rubel verteilen sich folgendermaßen: für Volksbildung 6.34 Milliarden Rubel, für Kaderheranbildung 6.16, für Wissenschaften 0.27, für Kunst 0.25, für Presse 0.14, für Gesundheitspflege und körperliche Ausbildung 5.62, für soziale Fürsorge und Arbeiterschutz 2.66 Milliarden Rubel. Im Jahre 1937 besuchten 29.9 Millionen Schüler die allgemeinen Elementar- und Mittelschulen, gegen 5.9 Millionen Volksschüler im Jahre 1913 im zaristischen Rußland, 35,6 Millionen die Schulen für allgemeine und Fachausbildung, 1.8 Millionen Schüler die Hochschulen und technischen Mittelschulen. Auf je 1000 Einwohner kommen 197 Besucher der Schulen für allgemeine und Fachausbildung (Arbeiterfakultäten, Betriebsschulen, technische Mittelschulen usw.). Die Zahl der Mittel- und Hochschüler ist um das Vielfache höher als 1924. Über 600.000 Lehrer unterrichten an diesen Schulen. Diese Zahl ist in der letzten Zeit durch besondere Förderung der Lehrerausbildung und durch Erhöhung der Lehrergehälter noch erheblich gesteigert worden.
Das Analphabetentum, das im zaristischen Rußland weit verbreitet war, ist liquidiert. Aber nicht nur das. Die Schülerzahl der höheren Schulen, der Universitäten und der Fachschulen ist so groß geworden, daß eine immer steigende Anzahl Menschen des neuen Rußland über die allgemeine Volksbildung hinaus eine qualifizierte und technische Bildung besitzt. Im zweiten Fünfjahrplan erhöht sich die Zahl der qualifiziert ausgebildeten Fachleute von 2.737.200 auf 4.009.000. In der UdSSR sind 1937 im Steinkohlenbergbau 6% Fachleute (in Deutschland 4.2%), in der Hüttenindustrie 10.5% (in Deutschland 6.2%), im Maschinenbau 12.6% (in Deutschland 9.8 %). 1937 sind von den Fachleuten in der Sowjetunion 57.0 % von höherer Qualifikation, gegen 49.9 % im Jahre 1932. Im Laufe der zweiten Fünfjahrperiode wurden außerdem der Wirtschaft der UdSSR 5 Millionen qualifizierte Facharbeiter neu zugeführt, die in den fachlichen Vorbereitungsschulen ihre Ausbildung fanden. Von diesen neu ausgebildeten Kadern erhielt die Landwirtschaft 1.5 Millionen Traktoristen, Mähdrescherführer, Brigadiere usw. Hunderttausende einfacher Bauernburschen und Bauernmädel erwarben das Traktorenführerzeugnis und wurden qualifizierte Fachkräfte.
Das alles ist der sichtbare Ausdruck für die Hebung des kulturellen Niveaus des Volkes in der Sowjetunion. Aber auch die sonstigen kulturellen Leistungen sind viel größer geworden. Während 1932 erst 26.950 Schaustätten (Theater, Lichtspieltheater usw.) vorhanden waren, gibt es 1937 deren 71.500. Die Zahl der Theatertruppen hat sich von 560 auf 1080 erhöht, die Zahl der Kinoanlagen allein in den städtischen Klubs von 6073 auf 10.230. Über Bücher und Presse sagte Manuilski auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale:
„... Nehmt unsere Bücher, Zeitungs- und Zeitschriften-Produktion Die Werke Lenins und Stalins, des größten proletarischen Schriftstellers Gorki werden in Dutzenden von Millionen Exemplaren verkauft .... Wissenschaftliche Bücher erscheinen bei uns in Auflagen von je 50.000 Exemplaren. Die Gesamtauflage aller Zeitungen ist von 8.8 Millionen im Jahre 1928 auf 38.5 Millionen im Jahre 1934 gestiegen, und trotzdem gehören Buch und Zeitung bei uns zu den Artikeln, an denen größte Knappheit herrscht, denn unermeßlich schneller und breiter wachsen unsere kulturellen Bedürfnisse."
Jede Zeitungsredaktion in der Sowjetunion hat eine besondere Bauern- und Arbeiter-Abteilung, deren Aufgabe die unmittelbare Verbindung mit den werktätigen Massen ist. Aus allen Teilen des Landes kommen Berichte und Briefe an diese Abteilung, in denen sich das Alltagsleben der Sowjetmenschen widerspiegelt. Sie schreiben in diesen Briefen ihre Beschwerden, ihre Wünsche, sie verlangen Rat in den verschiedensten Fragen des Lebens. Die Arbeiter- und Bauern-Abteilung der Redaktion ist verpflichtet, sich mit den gestellten Fragen auseinanderzusetzen, die Briefe zu beantworten, Rat und Auskunft zu erteilen. Sind in einem Briefe Fragen von allgemeiner Bedeutung gestellt, so erfolgt die Antwort in der Zeitung. Die überwiegende Mehrzahl der Antworten erfolgt aber an die Fragesteller brieflich. Es hat sich auf diese Weise neben der gedruckten noch eine zweite, geschriebene Zeitung herausgebildet, durch die eine unmittelbare, persönlichere Verbindung zwischen Presse und Volk hergestellt wird. Diese persönliche Verbindung hat in der Sowjetunion einen Umfang angenommen, von dem sich Leser und Redakteure in den kapitalistischen Ländern keine Vorstellung machen können. Die „Prawda" zum Beispiel, die einen Redaktionsstab von 200 Redakteuren und Mitarbeitern umfaßt, hat in ihrer Bauern- und Arbeiter-Abteilung nicht weniger als 13 Redakteure und 25 Mitarbeiter sitzen, deren einzige Aufgabe es ist, die eingehenden Briefe zu beantworten. In der „Prawda" laufen täglich Hunderte von Briefen ein, die zu allen Fragen des Alltagslebens Stellung nehmen und die ein besseres Bild von der Entwicklung und Stimmung des Volkes geben als die gedruckte Zeitung selbst. Während noch 1932 und 1933 die Mehrzahl der Briefe Beschwerden über die Unzulänglichkeiten in den Kollektivwirtschaften, in den Sowchosen und in den Fabriken, über Ernährungsschwierigkeiten und ähnliche materielle Fragen enthielten, beschäftigte sich 1936 die Mehrzahl der eingegangenen Briefe mit kulturellen Fragen, mit Kunstproblemen, Sport und ähnlichem. In dem Maße, wie durch den erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbau die materiellen Fragen eine bessere Lösung gefunden haben, wendet sich das Interesse der Massen stärker den kulturellen Fragen zu.

DER MENSCH STEHT IM MITTELPUNKT

Kritiker der Sowjetunion haben oft die großen Anforderungen bemängelt, die während des Aufbaus an die Menschen gestellt wurden. Die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische ist ein harter, langwieriger Kampf, in dessen Verlauf dem Menschen schwere Opfer nicht erspart werden können. Der letzte tiefe Sinn des Sozialismus ist zweifellos, dem Menschen das Leben schöner, reicher, glücklicher zu machen. Die Krönung des sozialistischen Kampfes ist die vollständige Befreiung des Menschen, die nach Marx in der höchsten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der kommunistischen Gesellschaft, erreicht wird. In der Sowjetunion ist der sozialistische Aufbau nicht um eines neuen Wirtschaftssystems, nicht um eines gut funktionierenden Apparates, sondern um des Menschen willen vollzogen worden. Bald nach der Lösung der wichtigsten materiellen Fragen wurde der Mensch Mittelpunkt allen Wirkens. Auf dem XVII. Parteitag (1934) sagte Stalin (Broschüre über diese Rede, Seite 80):
„Was hätte es für einen Sinn gehabt, den Kapitalismus im Oktober 1917 zu stürzen und im Laufe einer Reihe von Jahren den Sozialismus zu errichten, wenn wir es nicht erreichen, daß die Menschen bei uns im Wohlstand leben? Sozialismus bedeutet nicht Elend und Entbehrungen, sondern die Beseitigung des Elends und der Entbehrungen, die Schaffung eines wohlhabenden und kulturellen Lebens für alle Mitglieder der Gesellschaft."
Sollen alle Menschen ein Leben in Wohlstand und Kultur führen, so kann das auch mit einem qualifizierten Produktionsapparat nur erreicht werden, wenn die Menschen diesen Produktionsapparat zu gebrauchen verstehen, wenn die Arbeitsproduktivität so gesteigert wird, daß alle Produkte und Gebrauchsgegenstände im Überfluß zur Verteilung stehen. Die eine Voraussetzung für die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist die Herausbildung qualifizierter Kader. Ein weiteres Mittel für die Steigerung der Arbeitsleistung ist der sozialistische Ansporn.
„Insofern — sagte Stalin 1934 zu dieser Frage — wir bereits gelernt haben, die Technik zu schätzen, ist es Zeit, offen zu erklären, daß das Wichtigste jetzt die Menschen sind, die sich die Technik angeeignet haben ... Man muß jeden fähigen und verständigen Funktionär wohl behüten, man muß ihn wohl behüten und großziehen." Dank dieser Aufmerksamkeit, die dem Problem der Menschenheranbildung gewidmet wurde, sind in kurzer Zeit qualifizierte Kader buchstäblich aus der Erde gestampft worden. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans steht eine neue Armee von Spezialisten zur Verfügung. Die Sowjetunion ist nicht mehr angewiesen auf Spezialisten aus dem Auslande, sie verfügt über genügend qualifizierte Arbeiter, Techniker und Ingenieure für ihren modernen Produktionsapparat. Aus der großen Masse der Arbeiter und Bauernschaft sind aber nicht nur Ingenieure, Techniker, Organisatoren und Betriebsleiter herausgewachsen, sondern auch Wissenschaftler und Forscher, die auf den verschiedensten Gebieten Unübertreffliches geleistet haben. Die Stratosphärenflieger zum Beispiel, die in der kühnen Erforschung der Stratosphäre größere Erfolge zu verzeichnen hatten als ihre Kollegen in anderen Ländern, waren wenige Jahre vorher noch Arbeiter- und Bauernburschen. Ebenso beweist die Eroberung des Nordpols, beweisen die Taten der Nordpolüberflieger, zu welchen heroischen Leistungen der sozialistische Staat anspornt.
Die Mobilisierung der Menschen für den Sozialismus hat aber nicht nur aus der Masse des werktätigen Volkes kühne Forscher, Wissenschaftler und Techniker hervorgebracht, die unlösbar scheinende Aufgaben bewältigt haben, sondern sie hat auch aus den Kreisen der alten Intelligenz Gelehrte und Künstler, Ingenieure und Forscher zu begeisterten freien Mitkämpfern für den sozialistischen Aufbau gemacht.
Die Ausschaltung der kapitalistischen Einflüsse, die Beseitigung der Ausbeuterklasse aus der Wirtschaft der Sowjetunion und die Heranziehung der werktätigen Massen zur unmittelbaren tätigen Mitarbeit an der Gestaltung der sozialistischen Wirtschaft, haben die Voraussetzungen für den sozialistischen Menschen geschaffen. In der Rede, die Manuilski auf dem VII. Weltkongreß der Komintern über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion hielt, sagte er: „Unsere Massen sind nicht mehr die Massen, die man nur für die proletarische Revolution zu gewinnen braucht, es sind Massen von Miterbauern der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft. Aber die klassenlose sozialistische Gesellschaft aufbauen, heißt nicht allein die Klassen aufheben, sondern die Überreste des Kapitalismus in der Ökonomik und im Bewußtsein des Menschen überwinden. Der Kommunist kann aber in den Massen nicht für die Überwindung dieser Überbleibsel kämpfen, wenn er selbst nicht durch sein persönliches Beispiel im politischen und öffentlichen Leben, in seinem Privatleben, in allen seinen Beziehungen zur Umgebung zeigt, daß er diese Überreste überwunden hat oder erfolgreich überwindet. Daher die unnachgiebige Strenge unserer Partei gegen alle ihre Mitglieder in Bezug auf ihre moralische Gesinnung. Das ist kein sinnloser religiös-sittlicher Asketismus eines Savonarola, sondern der Kampf um den sozialistischen Menschen, der sich des schmählichen Erbes der kapitalistischen Gesellschaft entledigt."
Dieser sozialistischen Neuerziehung der Menschen dienen in der Sowjetunion Schule, Presse, Kunst und der ganze Staatsapparat. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß nach der Schaffung des materiellen Unterbaues der sozialistischen Gesellschaft die Wandlung der Menschen beträchtliche Fortschritte gemacht hat, Ein neuer Menschentyp ist herangereift. Der tschechoslowakische Journalist Kubka, der nach seiner Reise mit der tschechoslowakischen Journalistendelegation in die UdSSR (1936) ein kleines Büchlein „Menschen in der Sowjetunion" geschrieben hat, schildert dort den Typ des Sowjetmenschen folgendermaßen:
„... eine andere Masse, differenziert durch Beruf und Bildung, aber in ihrer Mannigfaltigkeit auf ein einziges Ziel gerichtet: Dienst am Aufbau — Verbundenheit mit dem Schicksal der Massen auf der Straße und in den Fabriken. Und ein eiserner Wille: vorwärts durch Mühsal und Darben, vorwärts durch Eis und Steppe. Wir müssen das schönste, das reichste, das kulturvollste Land der Erde werden! So sprachen sie alle, in Moskau und überall." Es hat sich eine neue Weltanschauung des Sowjetmenschen gebildet, eine grundlegende andere Einstellung zur Gesellschaft, zu den staatlichen Fabriken und Werken. Millionen Menschen fühlen sich als Eigentümer der Produktionsmittel und der Riesenbetriebe. Mit derselben fieberhaften Leidenschaft, mit der in den kapitalistischen Ländern die Kapitalisten die täglichen Börsenkurse lesen, verfolgen die Sowjetmenschen die täglich in den Zeitungen erscheinenden Berichte über die Produktionsziffern. Jeden Tag wird kontrolliert, ob am vorhergehenden Tage in den wichtigsten Produktionszweigen die Planziffern erreicht wurden, ob die Erzeugung hinter dem Plan zurückgeblieben ist, oder um wieviel die Planziffern übertroffen wurden. Jede Schädigung der Produktion, Jeden Verlust in seinem Betriebe, betrachtet der Sowjetmensch als einen gegen ihn gerichteten Schlag. Jede hervorragende Leistung seiner Fabrik verbucht er mit Stolz als eigenen Gewinn. Unzählige Fälle gibt es, wo die Kameradschaftsgerichte der Betriebe Belegschaftsmitglieder, die aus Unachtsamkeit Sachschaden anrichten, hart bestrafen. Versündigung gegen das Eigentum des Sowjetstaates betrachtet der Sowjetmensch darum als ein so großes Verbrechen, weil er in ihm eine Schädigung der Gesamtheit sieht. Es kommt auch in Fabriken kapitalistischer Länder vor, daß durch einen Zufall oder durch falsche Berechnungen der Akkordsatz für ein Arbeitsstück besonders günstig festgesetzt wird. Wenn der Arbeiter im kapitalistischen Betrieb diese Möglichkeit nicht so ausnutzt, daß der günstige Akkordsatz erhalten bleibt und auch seinen Arbeitskameraden zugute kommt, dann wird ein solcher Arbeiter als Schädiger der proletarischen Klasseninteressen betrachtet. Wenn in einem Betrieb in der Sowjetunion genau der gleiche Vorfall sich ereignet, und wenn der Arbeiter, der zuerst das Arbeitsstück mit dem zu günstigen Akkordsatz in Arbeit bekommt, nicht sofort den zuständigen Stellen die Fehlkalkulation berichtet, dann wird er vom Kameradschaftsgericht und von der ganzen Belegschaft des Betriebes verurteilt wegen Vergehens gegen das Eigentum, das dem Staat und allen Werktätigen gehört.
Zwei Welten! Im Bewußtsein des Sowjetmenschen schwinden die Überreste des Kapitalismus. Es formt sich die sozialistische Weltanschauung, es formt sich in der nach dem sozialistischen Wirtschaftssystem geleiteten Produktion der sozialistische Mensch.

 

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SOZIALISMUS IN DER SOWJETUNION

 

DIE LIQUIDIERUNG DER KAPITALISTISCHEN EINFLÜSSE

Nach Lenins Parole ist in der Sowjetunion als stabile Grundlage für die politische Macht ein gewaltiger moderner Industrieapparat und eine mechanisierte, elektrifizierte Agrarwirtschaft aufgebaut worden, die den Vergleich mit der Wirtschaft jedes anderen Landes der Welt verträgt.
In der UdSSR hat sich seit 1924 eine gigantische Umwälzung vollzogen. Die Kritiker der Sowjetmacht können den erfolgreichen Aufbau nicht mehr bestreiten. Aber sie haben neue Einwände ersonnen. Sie behaupten, daß das, was geschaffen wurde, kein Sozialismus sei. Sie nennen das sowjetische System „staats-kapitalistisch" oder im besten Falle „staatssozialistisch". Der niedrige Lebensstandard des Volkes in den Jahren des Aufbaus, die mangelnde Rücksichtnahme auf die Menschen in dieser harten Zeit und die Behauptung, daß die Arbeiter in der Sowjetunion angeblich ebenso ausgepreßt werden wie in den kapitalistischen Ländern, sind ihnen Beweise für die Richtigkeit ihrer negativen Einstellung.
Für die Stellungnahme des Weltproletariats zur Sowjetunion ist die Frage, ob das Fundament des ersten Arbeiterstaates sozialistisch ist, zweifellos von entscheidender Bedeutung. Um diese Frage beantworten zu können, muß zunächst untersucht werden, in welchem Maße die kapitalistischen Einflüsse in der Wirtschaft der Sowjetunion liquidiert wurden, ob der gewaltige Aufbau nach den Prinzipien des kapitalistischen oder des sozialistischen Systems vollzogen wurde.
Die neue ökonomische Politik, die den Kriegskommunismus ablöste, leitete die Periode einer vorübergehenden Belebung des Kapitalismus ein. Um die zusammengebrochene alte Wirtschaft wieder aufzubauen, mußten dem Kapitalismus Konzessionen gemacht, mußte den kapitalistischen Kräften eine gewisse Bewegungsfreiheit eingeräumt werden. Um den Wiederaufbau schneller und sicherer zu erreichen, wurde das sozialistische Wirtschaftssystem zu einem Wettkampf mit dem kapitalistischen gezwungen. In diesem Wettkampf ist das sozialistische Wirtschaftssystem Sieger geblieben. Nach dem Wiederaufbau der Wirtschaft begann mit dem ersten Fünfjahrplan der gigantische Kampf um den industriellen Neuaufbau, in dessen Verlauf die kapitalistischen Einflüsse immer mehr ausgeschaltet wurden.
Im Jahre 1924 arbeiteten in der russischen Wirtschaft noch alle gesellschaftlich-sozialen Formen, die Lenin einmal folgendermaßen charakterisierte: die patriarchalische Wirtschaft, die kleine Warenwirtschaft, der privatwirtschaftliche Kapitalismus, der Staatskapitalismus und der Sozialismus. Im Jahre 1925 machte der sozialistische Sektor der Wirtschaft 48.8%, der kapitalistische Sektor 6.5% und die kleine Privatwirtschaft 44.7% der Gesamtwirtschaft aus 1925 überwog noch die Privatwirtschaft. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis gründlich geändert.
In der Industrie wurden die kapitalistischen Elemente vollkommen beseitigt. In dem Jahre 1923/1924 war der Anteil der Privatindustrie an der Bruttoproduktion der gesamten Industrie noch 23.7%, 1924/1925 war er auf 19% zurückgegangen, 1926/1927 auf 14%, 1927/1928 auf 13.1%, 1929 auf 10.5%, 1930 auf 5.6%, 1932 auf 0.5%, 1933 auf 0.45%, 1934 auf 0.33%. Im Jahre 1936 war der Privatbesitz, waren die kapitalistischen Elemente aus der Industrie vollkommen ausgeschaltet.
Nicht anders verlief die Entwicklung im Handel. 1923/1924 entfielen auf den Privatsektor noch 57.7%, also über die Hälfte. 1924/1925 sank der prozentuale Anteil des Privathandels auf 42.5%, 1926/1927 auf 38.9%, 1928 auf 22.5%, 1929 auf 13.5%, 1930 auf 5.6%. In der Periode von 1930 bis 1934, in der sich der Warenverkehr in der Sowjetunion von 20 auf 61 Milliarden Rubel erhöhte, also verdreifacht hat, ist der Privatsektor im Handel vollkommen liquidiert worden. Der Handel ist dadurch nicht geringer, er ist größer geworden. Auf dem VIII. Sowjetkongreß (1936) sagte Stalin zu dieser Frage:
„Was den Warenumsatz im Lande betrifft, so sind die Kaufleute und Spekulanten... von diesem Gebiet vertrieben.
Der gesamte Warenumsatz liegt jetzt in Händen des Staates, der Konsumgenossenschaften und der Kollektivwirtschaften. Der neue, der Sowjethandel, ein Handel ohne Spekulanten, ein Handel ohne Kapitalisten, ist entstanden und hat sich entwickelt."
In der Landwirtschaft ist der privatwirtschaftliche Sektor durch die Kollektivwirtschaften immer mehr zurückgedrängt worden. Die Entwicklung auf dem Lande vollzog sich in einem stürmischen Tempo. 1927 waren nur 0.8% der gesamten Bauernwirtschaften Kollektivwirtschaften. 1938 sollen es 100% sein. Ein Bild über diese Entwicklung gibt die nachstehende Tabelle: Prozentsatz der Kollektivierung:

Jahre

Nach der Zahl der Wirtschaften

Nach Saatfläche

1927

0.8

0.7

1928

1.7

1.2

1929

3.9

3.6

1930

23.6

30.9

1931

52.7

63.0

1932

61.5

75.7

1933

64.4

81.0

1934

71.4

84.7

1935 (1. April)

81.0

-

1936 (1. April)

89.0

-


Zu diesen Kollektivwirtschaften kommen noch die Sowjetgüter, die gleichfalls über beträchtliche Saatflächen verfügen. So waren 1936 zwar noch 11% Einzelbauernwirtschaften, aber diese verfügten nur noch über 3% der gesamten Saatfläche, 97% wurden von den vergesellschafteten Staatsgütern und den Kollektivwirtschaften bearbeitet. Im Jahre 1936 lieferte die gesamte Landwirtschaft der Sowjetunion rund 6380 Millionen Pud Körnerfrüchte. Davon entfielen auf die Kollektivwirtschaften 5690 Millionen Pud, auf die Sowjetgüter 700 Millionen Pud und auf die bäuerlichen Einzelwirtschaften nur 290 Millionen Pud. In der wichtigsten agrarischen Produktion, der Körnerfrüchte, ist der Anteil des privatwirtschaftlichen Sektors auf 5% herabgedrückt worden. Durch die Erfolge der Kollektivwirtschaften werden immer mehr Einzelbauern sich den Kollektivwirtschaften anschließen, so daß in absehbarer Zeit auch in der Landwirtschaft der kleine Privateigentümer verschwunden und der letzte Rest des Kapitalistischen Einflusses liquidiert sein wird.
Die soziale Struktur des Landes hat sich vollkommen verändert. Laut einer Aufstellung der Zentralverwaltung der Volkswirtschaftsstatistik, die Molotow auf dem VII. Sowjetkongreß verlesen hat, waren Anfang 1934 74% der Gesamtbevölkerung Arbeiter und Kollektivbauern. Die weitere zahlenmäßige Vermehrung dieser beiden Gruppen erhöhte bis 1936 ihren prozentualen Anteil auf rund 90%. Außerdem ist diesen beiden Gruppen noch die Gruppe Schüler, Soldaten usw. zuzurechnen, so daß 1936 nur noch zirka 6% der Bevölkerung mit der Privatwirtschaft zusammenhingen. Aber die Menschen, die zu dieser Gruppe gerechnet werden, sind keine großen Kapitalisten, sondern in der überwiegenden Mehrzahl kleine Einzelbauern, Handwerker, die noch selbständig wirtschaften und die noch nicht den Weg zu den Produktivgenossenschaften gefunden haben. Das ökonomische Gewicht dieser kleinen Privatwirtschaften ist gering, aber mit ihrem Vorhandensein muß gerechnet werden.
Der Anteil dieser 6% Menschen an dem gesamten Volkseinkommen beträgt jedoch nur 1.5%. Eine Untersuchung der Steigerung des Volkseinkommens in den letzten Jahren und des Anteils, der davon auf den sozialistischen Sektor entfällt, ergibt folgendes Bild:

 

Volkseinkommen
(in Milliarden Rubel)

Anteil des sozialistischen Sektors
(in Prozenten)

1913

21.0

0

1932

45.5

93

1933

48.5

95

1934

55.8

96

1935

65.7

97.8

1936 (Plan)

83.1

98.5

1937 (Plan)

100.2

100


Das Volkseinkommen ist von 1935 bis 1937 ganz enorm gewachsen. Es stieg in jedem der beiden Jahre um je rund 18 Milliarden Rubel. Der prozentuale Anteil des nichtsozialistischen Sektors an dem gewaltig gestiegenen Volkseinkommen ist immer weiter zurückgedrängt worden. Von den im Jahre 1935 auf den nichtsozialistischen Sektor des Volkseinkommens entfallenden 4% kamen auf die Überreste der kapitalistischen Elemente nur noch 0.09% des Volkseinkommens. 1937 ist dieser Anteil ganz verschwunden. Die 1936 beschlossene neue Verfassung charakterisiert nur den inzwischen geschaffenen Tatbestand, wenn sie feststellt, daß „... die ökonomische Grundlage der UdSSR das sozialistische Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln bilden. Sie behaupteten sich nach der Liquidierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, des Privateigentums an den Produktionsmitteln und nach der Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen."
Für das gesellschaftliche Eigentum gibt es, wie Stalin feststellte, zwei Formen: „Staatliches, das heißt Eigentum des ganzen Volkes, sowie Eigentum der Genossenschaften und Kollektivwirtschaften." Die kapitalistischen Einflüsse sind aus der Sowjetwirtschaff völlig ausgeschaltet. Die alte Bourgeoisie wurde bereits in der ersten Phase der Revolution vernichtet. Die NEP-Bourgeoisie, die während der NEP neu in Erscheinung trat und deren Auftreten von vielen als Beweis gegen den Sozialismus gewertet wurde, ist mit der erfolgreichen Durchführung der Fünfjahrpläne wieder verschwunden. Ihr wurde durch die Verstaatlichung des Handels die Existenzmöglichkeit genommen.
Und Stalin charakterisiert den Ende 1936 vorhandenen Zustand in der Sowjetunion auf dem VIII. Sowjetkongreß folgendermaßen:
„Wenn wir damals (1924. d. V.) die erste Periode der NEP, den Beginn der NEP hatten, die Periode einer gewissen Belebung des Kapitalismus, so haben wir jetzt die letzte Periode der NEP, das Ende der NEP, die Periode der restlosen Liquidierung des Kapitalismus in allen Sphären der Volkswirtschaft.
Beginnen wir vielleicht damit, daß unsere Industrie in dieser Periode sich zu einer gigantischen Kraft entwickelt hat. Jetzt kann man sie nicht mehr schwach und technisch schlecht ausgerüstet nennen. Im Gegenteil, sie beruht jetzt auf einer neuen, reichen modernen Technik mit stark entwickelter Schwerindustrie und noch stärker entwickeltem Maschinenbau. Die Hauptsache besteht jedoch darin, daß der Kapitalismus überhaupt aus der Sphäre unserer Industrie vertrieben worden ist, die sozialistische Produktionsform aber jetzt auf dem Gebiete unserer Industrie das unumschränkt herrschende System ist. Man kann die Tatsache nicht als Kleinigkeit betrachten, daß unsere heutige sozialistische Industrie hinsichtlich des Produktionsumfanges die Industrie der Vorkriegszeit um mehr als das Siebenfache übertrifft." Stalin spricht von der sozialistischen Produktionsform als dem „unumschränkt herrschenden" System. Weil noch Reste des privatwirtschaftlichen Sektors vorhanden sind, sagt er nicht, daß die sozialistische Wirtschaft die einzige, die ausschließlich vorhandene sei. Aber weil die sozialistische Produktionsform schon unumschränkt herrscht, kommt Stalin nach einer Betrachtung über die Liquidierung der nichtsozialistischen Einflüsse im Handel und in der Landwirtschaft zu folgendem Schluß:
„Der restlose Sieg des sozialistischen Systems in allen Sphären der Volkswirtschaft ist somit jetzt Tatsache. Was bedeutet das aber?
Es bedeutet, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen vernichtet, liquidiert, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln aber als unantastbare Grundlage unserer Sowjetgesellschaft gefestigt ist."

DIE GRUNDLAGE DER SOWJETGESELLSCHAFT

Nach der Liquidierung der kapitalistischen Einflüsse in der Wirtschaft der UdSSR kann mit gutem Gewissen gesagt werden, daß die von Lenin im Jahre 1922 aufgestellte Forderung „aus dem Rußland der NEP ein sozialistisches Rußland" zu machen, im wesentlichen erfüllt ist. In der Sowjetunion gibt es keine Kapitalisten mehr. In der Industrie und im Handel sind die privatkapitalistischen Einflüsse restlos beseitigt. Und auch die kleinen Privateigentümer, die noch übrig blieben, die noch keiner Kollektivwirtschaft und keiner Genossenschaft angeschlossen sind, dürfen nur von dem Ertrag ihrer eigenen Arbeit leben. Die neue Verfassung, die die vorhandene Wirklichkeit registriert, verbietet auch den kleinen, noch zugelassenen Privateigentümern die Beschäftigung von Arbeitskräften. Es kann kein Mensch mehr von einem anderen ausgebeutet werden, die ausbeutenden Klassen sind restlos liquidiert.
Wo es aber keine Kapitalisten gibt, kann es keinen Kapitalismus geben. Wo kein Kapitalismus ist, kann auch kein Staatskapitalismus sein. Zu der Behauptung, daß in der Sowjetunion im besten Falle eine Form von „Staatssozialismus" sei, hat Stalin in dem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Roy Howard (1936) gesagt:
„Die Gesellschaft, die wir gebaut haben, kann keinesfalls mit ,Staatssozialismus' bezeichnet werden. Unsere sowjetische Gesellschaft ist eine sozialistische Gesellschaft, weil das Privateigentum an Fabriken, Werken, Boden, Banken, Transportmitteln bei uns aufgehoben und durch das gesellschaftliche Eigentum ersetzt ist. Die soziale Organisation, die wir geschaffen haben, kann eine sowjetische, sozialistische, eine, noch nicht vollkommen ausgebaute (in einer anderen Übersetzung heißt es, eine noch nicht ganz fertig gebaute d. V.), aber in ihrem Kern dennoch sozialistische Organisation der Gesellschaft genannt werden. Grundlage dieser Gesellschaft ist das gesellschaftliche Eigentum, das staatliche, das heißt, Eigentum des ganzen Volkes, sowie das genossenschaftliche und kollektivwirtschaftliche Eigentum. Weder der italienische Faschismus, noch der deutsche National-,Sozialismus' haben mit einer solchen Gesellschaft irgend etwas gemein. Vor allem darum, weil dort das Privateigentum an Fabriken, Werken, Boden, Banken, Verkehrsmitteln usw. unberührt geblieben ist, und darum bleibt der Kapitalismus in Deutschland und in Italien vollkommen in Kraft." Dieser Tatbestand ist im Artikel 6 der neuen Verfassung folgendermaßen festgehalten:
„Grund und Boden, Bodenschätze, Wälder, Werke, Fabriken, Gruben, Bergwerke, Eisenbahnen, Wasser- und Luftverkehrsmittel, Banken, Verbindungsmittel, die vom Staat organisierten landwirtschaftlichen Großbetriebe (Sowjetwirtschaften, Maschinen- und Traktorenstationen usw.), sowie die Hauptmasse der Wohnungen in den Städten und Industrieorten, sind Staatseigentum, das heißt, allgemeines Volkseigentum."
Nichtmarxisten mag die Unterscheidung zwischen sozialistischer und kapitalistischer Wirtschaft schwer fallen. Der Marxist hat für die Feststellung des Charakters der gesellschaftlichen Organisation einen unfehlbaren Maßstab. Nach der marxistischen Theorie ist die gesellschaftliche Organisation eine sozialistische, wenn in ihr die „Expropriateure expropriiert", die Produktionsmittel, der Grund und Boden und die Bodenschätze vergesellschaftet sind. Das alles ist in der Sowjetunion geschehen. Darum kann Stalin sagen, daß die soziale Organisation der Sowjetunion eine im Kern sozialistische ist. Nur weil in der sowjetischen Produktion und Verteilung das sozialistische Prinzip angewandt wird, sind der Sowjetunion schwere wirtschaftliche Krisen erspart geblieben. Die ungeheure Steigerung der Produktion in den letzten anderthalb Jahrzehnten hätte zu Absatzschwierigkeiten, zur Stillegung von Betrieben führen müssen, wenn nicht die ganze Wirtschaft unter Ausschaltung der kapitalistischen Profitinteressen planvoll organisiert wäre, wenn nicht das Mehr der erzeugten Güter entsprechend der sozialistischen Grundidee zur Mehrbefriedigung der Bedürfnisse des arbeitenden Volkes verwandt worden wäre. In der Sowjetunion hat die große Masse der mehr erzeugten Güter nicht wie in allen kapitalistischen Ländern die Mehrwerte schaffenden Arbeiter ärmer gemacht, in Arbeitslosigkeit und Elend gestoßen, sondern das Lebensniveau des ganzen Volkes verbessert. Was Karl Marx als das unlösbare Wesen der kapitalistischen Gesellschaft charakterisierte, was in dieser zwangsläufig zu immer neuen Krisen und zur Verelendung der arbeitenden Massen führt, fehlt der sowjetischen Gesellschaft vollkommen. Dagegen sind alle die ökonomischen Tatbestände, die der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus als Voraussetzungen für den Sozialismus bezeichnete, in der Sowjetunion vorhanden.
Trotzki kann trotz all seiner Feindschaft gegen die Sowjetmacht nicht bestreiten, daß die Grundlage der Sowjetgesellschaft eine sozialistische ist. Er kann den Marxismus nicht widerlegen, nach dem die Eigentumsverhältnisse das Kriterium für die Bestimmung des sozialen Charakters einer Gesellschaft sind. In seiner im Jahre 1931 veröffentlichten Broschüre über die „Probleme der Entwicklung der UdSSR" schreibt Trotzki (Seite 3):
„Der Charakter eines sozialen Regimes wird vor allem durch die Eigentumsverhältnisse bestimmt. Nationalisierung des Bodens, der Mittel industrieller Produktion und des Tausches bei staatlichem Außenhandelsmonopol bilden die Grundlagen des gesellschaftlichen Regimes der USSR ... Mit diesen Eigentumsverhältnissen, die die Grundlage der Klassenbeziehungen bilden, ist für uns der Charakter der Sowjetunion als der eines proletarischen Staates bestimmt...
Die Möglichkeit der gegenwärtigen wahrhaft gigantischen Erfolge der Sowjetwirtschaft wurde durch die revolutionäre Umwälzung der Eigentumsverhältnisse geschaffen, die die Voraussetzung planmäßiger Überwindung der Marktanarchie herstellte. Der Kapitalismus erzeugte niemals und ist unfähig, jene Progression des Ökonomischen Wachstums zu erzeugen, die sich gegenwärtig auf dem Territorium der Sowjetunion entwickelt. Beispiellos hohe Tempos der Industrialisierung, die sich entgegen den Erwartungen und Plänen der Epigonenleitung den Weg bahnten, haben ein für allemal die Macht der sozialistischen Wirtschaftsmethoden gezeigt. Der rasende Kampf der Imperialisten gegen den angeblichen ,Dumping' ist deren unbeabsichtigte, aber um so echtere Anerkennung der Überlegenheit der sowjetischen Industrieformen." Der Abwechslung wegen kritisiert Trotzki hier die Parteileitung, weil angeblich die erfolgreichen „beispiellos hohen Tempos der Industrialisierung" erst gegen ihren Willen durchgesetzt werden mußten. Später macht er der „Epigonenleitung" gerade dieses Tempo und ihre Steigerung zum Vorwurf. Das Entscheidende jedoch an dieser Meinungsäußerung Trotzkis ist das Geständnis, daß die gesellschaftliche Form. die sich in der Sowjetunion entwickelt hat, mit Kapitalismus nichts mehr zu tun hat. Mit der grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse sind die entscheidenden Voraussetzungen für die sozialistische Gesellschaft gegeben, auch wenn Trotzki (um seiner alten Konzeption nicht zu widersprechen) daraus nur schlußfolgert, daß damit „für uns der Charakter der Sowjetunion als der eines proletarischen Staates bestimmt" sei.
Auch Otto Bauer gibt zu, daß der Kapitalismus in der Sowjetunion beseitigt ist. In seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen“ schreibt er über den Charakter des gesellschaftlichen Regimes in der UdSSR (Seite 161):
„Die Sowjetunion hat auf diese Weise einen großen Teil des Umwandlungsprozesses von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft schon zurückgelegt. Das Privateigentum an den Produktions- und Zirkulationsmitteln besteht nicht mehr; in Stadt und Land sind Produktions- und Zirkulationsmittel gesellschaftliches Eigentum. Die Bourgeoisie ist vernichtet, die gesellschaftlichen Daseinsbedingungen der Arbeiter und der Bauern sind einander angenähert... Die überaus schnelle Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der neuen Industrie und in den neuen Kollektivwirtschaften, die eine ebenso schnelle Hebung der Lebenshaltung der Volksmassen ermöglicht, erweist die schöpferischen Kräfte, die die Befreiung der Gesellschaft vom Kapitalismus entfesselt hat." Das kapitalistische System ist in der Sowjetunion überwunden. Die schöpferischen Kräfte, die durch die Befreiung der Gesellschaft vom Kapitalismus entfesselt wurden, haben eine gigantische geschichtliche Leistung vollbracht. Der Sozialismus hat aus dem alten Zarenreich ein diesem unvergleichbar neues Land geschaffen.
„Wir waren" — sagte Manuliski auf dem VII. Weltkongreß der Komintern (1935) — „das Land der am meisten ausgebeuteten, entrechteten und unterdrückten Arbeiterklasse in Europa, der ärmsten, niedergedrücktesten und rechtlosesten, katastrophalen Hungersnöten ausgesetzten Bauernschaft. Wir waren das Land des rückständigsten, extensivsten Ackerbaus, der chronischen Dürren, Mißernten, das Land des Hakenpfluges, der Hacke, der Wolgatreidler. Wir waren das Land der Typhus- und Choleraepidemien, der Degeneration, des Alkoholismus, einer erschreckenden Sterblichkeit, ein Land der Unkultur, des Analphabetentums, des Aberglaubens, ein Land der religiösen Verdummung, des finstersten Pfaffentums. Um ihre durch und durch verfaulte Herrschaft aufrecht zu erhalten, wurde von den herrschenden Klassen unseres Landes die nationale Feindschaft künstlich gezüchtet, wurden Legenden von Ritualmorden erfunden, Judenpogrome, Armenier- und Tatarenmassaker ins Werk gesetzt ...
Und heute? ... Die proletarische Revolution ... entfaltet die Produktivkräfte in einem in der Geschichte der Menschheit nicht dagewesenen Tempo, sie ersetzt Hacke, Hakenpflug und Sense durch Traktoren und Mähdrescher, verwandelt die ,Verdammten dieser Erde' in Herren des Landes und in Schöpfer eines neuen herrlichen Lebens, hebt unaufhörlich das materielle Niveau der Massen, schafft eine neue, hohe sozialistische Kultur und stellt ein brüderliches Zusammenleben der Völker her. Sie hat einen mächtigen Arbeiterstaat errichtet, eine neue sozialökonomische Ordnung, in der sich das Antlitz eines neuen, des sozialistischen Menschen formt, sie hat in die Tat umgesetzt, wovon die besten Geister der Menschheit träumten — den Sozialismus." Das Fundament ist gelegt. Die sozialistische Gesellschaft ist — wie es Stalin formuliert hat — noch nicht vollkommen ausgebaut, sie ist noch nicht vollendet. Aber auch das bisher geschaffene Werk steht turmhoch über der kapitalistischen Gesellschaft. Die Sowjetgesellschaft kennt im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern keine Krise und keine Arbeitslosigkeit, keine von der Zukunft bedrohten Existenzen und keine Bankrotte. Sie gewährt allen ihren Staatsbürgern ein Leben, das täglich reicher wird und dessen kultureller Inhalt ständig wächst. Das sozialistische Wirtschaftssystem hat nicht nur die unter dem Kapitalismus gefesselten Produktivkräfte befreit, es hat auch die freie Entfaltung der höchsten menschlichen Fähigkeiten ermöglicht. Das Lebens- und Arbeitsbewußtsein der Menschen ist gewachsen. Der Mensch wird aus dem Sklaven zum Herrn der Maschine. Die menschliche Arbeit wird sinnvoller, fruchtbarer. Die Arbeitsproduktivität steigt. Die dadurch erhöhte Menge der zur Verteilung stehenden Güter macht die Menschen leistungsfähiger, wodurch eine weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht wird. Diese ständige Wechselwirkung ist eine der Voraussetzungen für die Schaffung des Überbaus, für die Vollendung der sozialistischen Gesellschaft.

DIE VERSCHIEDENEN KLASSEN IN DER SOWJETUNION

Die kapitalistischen Klassen sind in der Sowjetunion endgültig beseitigt. Es gibt weder industrielle noch Handelskapitalisten, es gibt keine Gutsbesitzer, keine Spekulanten und keine Kulaken mehr. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist abgeschafft. Das ist ein riesiger Fortschritt. Damit aber ist das Endziel, die klassenlose Gesellschaft, noch nicht erreicht. Es gibt noch — wie das Stalin in seiner Rede zur neuen Verfassung auf dem VIII. Sowjetkongreß ausdrücklich feststellte — verschiedene Klassen: die Arbeiterklasse, die Klasse der Bauern und die Intelligenz. Die Intelligenz bezeichnet Stalin nicht als Klasse, sondern als eine „Zwischenschicht, die ihre Mitglieder aus allen Klassen der Gesellschaft rekrutiert".
Die Liquidierung der kapitalistischen Klassen, die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist aber nicht ohne Wirkung auf die in der sowjetischen Gesellschaft noch vorhandenen Klassen geblieben. Der Charakter dieser Klassen hat sich gründlich gewandelt. Die Intelligenz, sagt Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß:
„... ist schon nicht mehr jene alte, verknöcherte Intelligenz, die sich über die Klassen zu stellen versuchte, tatsächlich aber in ihrer Masse den Gutsbesitzern und Kapitalisten diente. Unsere Sowjetintelligenz ist eine vollständig neue Intelligenz, die mit allen Fasern mit der Arbeiterklasse und der Bauernschaft verbunden ist. Verändert hat sich erstens die Zusammensetzung der Intelligenz. Die Abkömmlinge des Adels und der Bourgeoisie machen einen kleinen Prozentsatz unserer Sowjetintelligenz aus. 80 bis 90 Prozent unserer Sowjetintelligenz sind Abkömmlinge der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der anderen Schichten der Werktätigen Geändert hat sich schließlich auch der Charakter der Tätigkeit der Intelligenz selbst. Früher mußte sie den reichen Klassen dienen, denn sie hatte keinen anderen Ausweg. Jetzt muß sie dem Volke dienen, denn es gibt keine Ausbeuterklassen mehr. Und gerade deshalb ist sie jetzt gleichberechtigtes Mitglied der Sowjetgesellschaft, wo sie zusammen mit den Arbeitern und Bauern, Schulter an Schulter mit ihnen, den Aufbau der neuen, klassenlosen Gesellschaft führt.
.... das ist eine vollständig neue, werktätige Intelligenz, wie ihr sie sonst in keinem Lande des Erdballs findet." Die Arbeiterklasse der Sowjetunion ist nicht vergleichbar mit der Arbeiterklasse des zaristischen Rußland oder der irgendeines kapitalistischen Landes. Auf die Arbeiterklasse der UdSSR trifft — sagt Stalin — die Bezeichnung Proletariat nicht mehr zu:
„Das Proletariat ist die Klasse, die in dem Wirtschaftssystem keine Produktionsmittel besitzt, wo die Produktionsmittel den Kapitalisten gehören und wo die Kapitalistenklasse das Proletariat ausbeutet. Das Proletariat ist die Klasse, die von den Kapitalisten ausgebeutet wird. Die Klasse der Kapitalisten ist bei uns aber bekanntlich schon liquidiert, die Produktionsmittel sind den Kapitalisten weggenommen und dem Staat übergeben worden, dessen führende Kraft die Arbeiterklasse ist. Es gibt also keine Kapitalistenklasse mehr, welche die Arbeiterklasse ausbeuten könnte. Unsere Arbeiterklasse ist also nicht nur der Produktionsmittel nicht beraubt, sondern im Gegenteil, sie besitzt sie gemeinsam mit dem ganzen Volke. Sobald sie sie aber besitzt und die Klasse der Kapitalisten liquidiert ist, ist jede Möglichkeit der Ausbeutung der Arbeiterklasse ausgeschlossen. Kann man danach unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es ist klar, daß man sie nicht so nennen kann. Marx hat gesagt: um sich zu befreien, muß das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zerschmettern, den Kapitalisten die Produktionsmittel wegnehmen und jene Produktionsverhältnisse vernichten, die das Proletariat hervorbringen. Kann man behaupten, daß die Arbeiterklasse der UdSSR diese Bedingungen ihrer Befreiung schon verwirklicht hat? Zweifellos kann und muß man das behaupten. Was bedeutet das aber? Es bedeutet, daß das Proletariat der UdSSR sich in eine vollkommen neue Klasse, in die Arbeiterklasse der UdSSR verwandelt hat, die das kapitalistische Wirtschaftssystem vernichtet, das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln gefestigt und die Sowjetgesellschaft auf die Bahn des Kommunismus gelenkt hat."
Das ökonomische Fundament, auf dem die Arbeiterklasse der Sowjetunion steht, ist grundlegend verändert worden, aber trotzdem bestehen zunächst noch in der Arbeiterklasse selbst Differenzierungen. Noch ist nicht die soziale Lage aller Arbeiter gleich. Der Ansporn, der im Kampf um die Vollendung der sozialistischen Gesellschaft notwendig ist, gewährt in der Periode des Überganges dem leistungsfähigeren Arbeiter bessere Lebensverhältnisse als dem minderleistungsfähigen. In der gegenwärtig erreichten Phase der Gesellschaft ist die Differenzierung der Einkommen, die Verteilung der vorhandenen Güter nach der geleisteten Arbeit unvermeidlich. Ausführlich ist zu diesem wichtigen Problem in dem Kapitel „Neue Klassenbildung?" (Siehe VI. Teil) Stellung genommen, so daß hier einige grundsätzliche Bemerkungen zu diesem Thema genügen. Die Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse wird von den Führern der Sowjetunion nicht bestritten, aber die „Unterschiede in der Vermögenslage, die es teilweise noch gibt" — sagt Stalin — „können weder irgendwelche Privilegien noch Nachteile mit sich bringen". Denn: keiner kann seine bessere Vermögenslage ausnützen, um sich Produktionsmittel oder Boden oder Waren zur Spekulation zu kaufen, keiner kann andere ausbeuten, keiner kann auf Kosten der Arbeit anderer Kapitalist werden. Die ökonomische Grundlage der sowjetischen Gesellschaft macht es unmöglich, daß sich aus den Unterschieden in der Vermögenslage eine neue Klassenschichtung entwickelt. Die durch den Ansporn hervorgerufene Differenzierung ist eine Zwischenstation auf dem Wege zum endgültigen Sozialismus. Sie wird von der zielbewußt auf die klassenlose Gesellschaft zusteuernden Sowjetmacht zur gegebenen Zeit ebenso liquidiert werden, wie andere notwendige Zwischenstationen bereits liquidiert wurden.
Die Tatsache. daß auch auf dem Lande die kapitalistischen Klassen, die Gutsbesitzer und die Kulaken, vernichtet sind, hat den Charakter der Bauernklasse in der UdSSR verändert. Es entstand eine Bauernschaft, mit der die Bauernschaft keines kapitalistischen Landes verglichen werden kann. Der Boden in der Sowjetunion gehört keinem Privatkapitalisten, er kann nicht von Spekulanten aufgekauft und zur Ausbeutung der Bauern verwertet werden. Der Boden ist ebenso wie die industriellen Produktionsmittel Nationaleigentum, das heißt er gehört dem ganzen Volke. Er wird von der Sowjetmacht den Bauern als unveräußerliches Gut zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt. Der Bauer ist nicht mehr Privateigentümer wie der Bauer in den kapitalistischen Ländern. Die überwiegende Mehrzahl der Bauern ist in den Kollektivwirtschaften und Produktionsgenossenschaften. Die ökonomische Grundlage ihrer Existenz ist das Kollektiveigentum.
Natürlich besteht auch innerhalb der Bauernschaft noch eine Differenzierung, auch unter den Bauern schafft der Anreiz noch verschieden große Vermögen. Außerdem bestehen ja noch mehrere Formen der Bauernwirtschaft. Die Landarbeiter in den staatlichen Sowjetgütern (den Sowchosen) unterscheiden sich von den Kollektivbauern im Artel, diese von den Kollektivbauern in den Kommunen, alle drei von den noch vorhandenen kleinen Privatbesitzern in den Einzelbauernwirtschaften; aber da in der gesamten Landwirtschaft der Sowjetunion die Einzelbauernwirtschaften nur noch einen kleinen Prozentsatz ausmachen, wird die Klassenlage und das Denken fast der gesamten Bauernschaft von der kollektivistischen und genossenschaftlichen Produktionsform bestimmt. Die soziale Organisation für die Bauernklasse ist ebenso wie für die Arbeiterklasse das gesellschaftliche sozialistische Eigentum. Nur die Formen sind noch verschieden: Die Arbeiterklasse ist durch ihre Arbeit in den vergesellschafteten Betrieben unmittelbar mit dem staatlichen, dem ganzen Volke gehörenden Eigentum verbunden, die Bauernklasse mit dem kollektivwirtschaftlichen, genossenschaftlichen Eigentum.
Der gemeinsame Ausgangspunkt für beide Klassen ist jedoch das sozialistische Wirtschaftssystem. Beide Klassen arbeiten nicht mehr für Privateigentümer, für Kapitalisten, für Ausbeuter. Beide Klassen stehen auf dem gleichen Fundament und ganz zwangsläufig haben sich daraus gemeinsame Interessen ergeben. Die scharfen ökonomischen Gegensätze zwischen diesen beiden Klassen sind beseitigt, die politischen Gegensätze schwinden.

AUF DEM WEGE ZUR KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT

Aber noch ist nicht die völlige Übereinstimmung, die völlige Gleichheit der beiden Klassen hergestellt. Es ist noch ein gewisser Unterschied vorhanden, weil die Form des sozialistischen Eigentums der Arbeiterklasse von der der Bauernklasse verschieden ist: staatliches, dem ganzen Volke gehörendes Eigentum als ökonomische Grundlage für die Arbeiterklasse, kollektivwirtschaftliches Eigentum für die Bauernklasse. In der bisherigen erfolgreichen Annäherung und Zusammenführung der beiden Klassen sind die Elemente entwickelt worden, die für die völlige gesellschaftliche und ideologische Übereinstimmung von Arbeiter und Bauernklasse notwendig sind.
Das kollektivwirtschaftliche und genossenschaftliche Eigentum hat das Bewußtsein der Bauern gewandelt. Die Psychologie des Kollektivbauern ist eine andere als die des kleinen Privateigentümers. Der Bauer in der Sowjetunion wandelt sich zum Kollektivmenschen, der sich in seinen Interessen und auch in seinem Denken und Fühlen dem in der sozialistischen Produktion stehenden Arbeiter angenähert hat. Der Wandlungsprozeß ist nicht abgeschlossen. Er wirkt weiter, er wird den Kollektivbauern der Artel reif machen für eine höhere Form der gesellschaftlichen Ordnung. In der Vergangenheit wurden alle Mittel eingesetzt, um den Bauern für das kollektivistische Artel zu gewinnen und der zweiten Form der Kollektivwirtschaften, der Kommune, wurde noch keine entscheidende Bedeutung beigemessen. Das Heranreifen der ökonomischen Voraussetzungen und der fortschreitende Prozeß der Bewußtseinswandlung der Bauern wird allmählich die Kommune und die Sowjetgüter stärker in den Vordergrund rücken. Die weitere Annäherung der Bauernklasse an die Arbeiterklasse wird sich vollziehen, bis es nur noch eine Form des gesellschaftlichen, sozialistischen Eigentums gibt, bis der letzte ökonomische und ideologische Unterschied zwischen Arbeitern und Bauern beseitigt ist, bis die beiden letzten in der Sowjetunion noch vorhandenen Klassen in eins verschmelzen und die klassenlose Gesellschaft herangewachsen ist. Aber soweit ist es noch nicht. Molotow hat auf dem VIII. Sowjetkongreß (1936) darauf hingewiesen, daß bis zum endgültigen Schwinden aller Überreste der Klassenunterschiede zwischen Arbeitern und Bauern noch „ein langer Weg ist. Man darf aber auch nicht übersehen, daß die Lösung dieser Aufgabe davon abhängen wird, wie erfolgreich bei uns, wie Genosse Stalin sich ausgedruckt hat, die ,staatliche Führung der Gesellschaft (die Diktatur)' verwirklicht wird, die die ,Arbeiterklasse', als fortgeschrittenste Klasse der Gesellschaft, innehat."
Der Weg ist lang, aber das Ziel kann erreicht werden. In der Rede, mit der Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß die neue Verfassung begründete, hat er den erreichten gesellschaftlichen Zustand, der in der Verfassung niedergeschrieben wurde, und die noch zu erkämpfende höhere gesellschaftliche Form, die im Programm steht, folgendermaßen formuliert:
„Unsere Sowjetgesellschaft hat es erreicht, daß sie den Sozialismus im Grunde schon verwirklicht, daß sie die sozialistische Gesellschaftsordnung geschaffen, das heißt das verwirklicht hat, was von den Marxisten nicht anders als die erste oder unterste Phase des Kommunismus genannt wird. Das bedeutet, daß die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, bei uns im Grunde schon verwirklicht ist. Grundprinzip dieser Phase des Kommunismus ist bekanntlich die Formel: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.' Soll unsere Verfassung diese Tatsache, die Tatsache der Erringung des Sozialismus, zum Ausdruck bringen? Soll sie auf dieser Errungenschaft basieren? Unbedingt muß sie das. Sie muß das darum, weil der Sozialismus für die UdSSR dasjenige ist, was bereits erreicht und errungen ist.
Aber die Sowjetgesellschaft hat noch nicht die Verwirklichung der höheren Phase, des Kommunismus, erreicht, in der das herrschende Prinzip die Formel sein wird: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen', obgleich sie es sich zum Ziele gesetzt hat, in der Zukunft die Verwirklichung der höchsten Phase des Kommunismus zu erringen. Kann unsere Verfassung auf der höchsten Phase des Kommunismus basieren, die noch nicht existiert und die erst errungen werden muß? Nein, sie kann das nicht, denn die höchste Phase des Kommunismus ist für die UdSSR das, was noch nicht verwirklicht ist und was in Zukunft verwirklicht werden soll. Wenn die Verfassung sich nicht in ein Programm oder in eine Deklaration über die künftigen Errungenschaften verwandeln will, so kann sie das nicht." Der erste Artikel der neuen Verfassung, der davon spricht, daß der Verband der sozialistischen Sowjetrepubliken ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern ist, wurde absichtlich so formuliert. Er drückt aus, daß es in der Sowjetunion noch mehrere Klassen gibt und daß die klassenlose Gesellschaft noch nicht verwirklicht ist. Gegenüber den Abänderungsanträgen, die dem ersten Artikel einen anderen Wortlaut geben wollten, sagte Stalin:
„Die Verfasser der Berichtigung haben offenbar nicht die gegenwärtige, sondern die künftige Gesellschaft im Auge, wo es schon keine Klassen mehr geben wird und wo die Arbeiter und die Bauern sich in Werktätige der einheitlichen kommunistischen Gesellschaft verwandeln werden. Sie eilen also offenkundig voraus."
Molotow, der nach Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß sprach, hat die Formulierung Stalins von der Verwirklichung der ersten, der untersten Stufe des Kommunismus aufgegriffen. Er hat ergänzend hinzugefügt:
„Sogar diese erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, ist weitaus noch nicht vollendet, sie ist erst im Rohbau errichtet."
Im Rohbau steht das Werk, um dessen Errichtung der Meinungskampf zwischen der Bolschewistischen Partei und dem Trotzkismus tobte. Der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion ist vorangekommen, obwohl die proletarische Revolution in den anderen Ländern noch nicht gesiegt hat. Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion ist eine Tatsache — aber wie 1924 sagt Stalin auch 1936, daß der endgültige Sieg des Sozialismus erst dann völlig garantiert ist, wenn mindestens in einigen der entscheidenden Länder das Proletariat die Macht erobert und jede Intervention gegen die sozialistischen Sowjetrepubliken unmöglich gemacht hat. Inzwischen geht der Kurs in der Sowjetunion zielklar und eindeutig auf das Endziel: auf die klassenlose Gesellschaft.

 

Zum Inhaltsverzeichnis

 


 

 

DIE SOZIALISTISCHE DEMOKRATIE

 

DIE NEUE VERFASSUNG

Am 5. Dezember 1936 hat der VIII. Sowjetkongreß einstimmig die neue Verfassung der UdSSR beschlossen, die das sozialistische Aufbauwerk krönen soll. Am Schlusse seiner auf diesem Kongreß gehaltenen Rede sagte Stalin:
„Die neue Verfassung wird ein historisches Dokument sein, das in einfacher, gedrängter Form, fast im Protokollstil, Tatsachen des Sieges des Sozialismus in der UdSSR, Tatsachen der Befreiung der Werktätigen der UdSSR von kapitalistischer Sklaverei, Tatsachen des Sieges der entfalteten, restlos konsequenten Demokratie in der UdSSR behandelt. Es wird dies ein Dokument sein, das davon zeugt, daß das, wovon Millionen ehrlicher Menschen in den kapitalistischen Ländern träumten und weiter träumen, in der UdSSR bereits verwirklicht ist, es wird dies ein Dokument sein, das davon zeugt, daß das, was in der UdSSR verwirklicht ist, auch in den anderen Ländern restlos verwirklicht werden kann." Die Verfassung von 1936 unterscheidet sich von den ersten Verfassungen der Sowjetunion, der Verfassung von 1918 und der von 1923, in sehr vielen Punkten. Vor allem aber auch darin, daß sie nur Tatbestände protokolliert, während die alten Verfassungen die inzwischen geschaffenen Tatbestände noch als Zielforderungen enthielten.
Die gesamte Weltöffentlichkeit hat die Änderung der Sowjetverfassung mit sehr großem Interesse verfolgt. Die widersprechendsten Kommentare und die verschiedenartigsten Hoffnungen wurden mit dem neuen Verfassungswerk verknüpft: ob die neue Verfassung die Diktatur des Proletariats praktisch liquidiert, ob sie zur bürgerlichen Demokratie zurückführt, ob sie den Verfassungen der demokratischen Länder sich nähert, oder ob sie, weiter in die Zukunft schreitend, unter Beibehaltung der Diktatur des Proletariats eine höhere Form der Demokratie entwickelt.

WAS IST DEMOKRATIE?

Mit der „Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte" durch die große französische Revolution von 1793 ist die „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" aller Menschen proklamiert worden. Alle Menschen sollen gleiche Freiheiten haben, alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein und brüderlich miteinander leben. Die große demokratische Forderung ist in der Praxis aber nicht verwirklicht worden, sie ist in der kapitalistischen Gesellschaft bis heute eine Zielforderung geblieben, weil die materielle Voraussetzung für die praktische Durchführung dieser großen Gedanken nicht geschaffen wurde. Die französische Revolution hat das Privateigentum nicht angetastet, sie hat im Gegenteil ausdrücklich die Unantastbarkeit des Privateigentums proklamiert. Bis auf den heutigen Tag gewährt die große Macht des privatkapitalistischen Eigentums den ausbeutenden Klassen die Möglichkeit, den nichtbesitzenden Volksschichten die Ausnützung der ihnen gewährten politischen Freiheiten zu erschweren oder unmöglich zu machen.
Wirkliche Demokratie: die Gewährung gleicher Freiheiten, gleicher Rechte, die Garantie von Arbeit und ausreichenden Lebensmöglichkeiten für alle Staatsbürger ist nur möglich, wenn ein gesellschaftlicher Zustand geschaffen ist, in dem die ökonomischen Bedingungen für alle gleich sind, in dem keiner in die materielle Abhängigkeit von dem anderen geraten kann, in dem es keine ausgebeuteten Klassen gibt. Die herrlichen Vorstellungen Owens und Fouriers von einer Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen sind Utopien geblieben, weil sie in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht zu verwirklichen sind. Hegel, der Philosoph des deutschen Bürgertums, ist bei der Untersuchung der großen französischen Revolution zu dem Ergebnis gekommen, daß Demokratie und Vermögensungleichheit unvereinbar sind, daß das eine dem anderen früher oder später weichen muß.
Der Verlauf der Entwicklung in Mitteleuropa hat die Richtigkeit dieser Auffassung vollauf bestätigt. In einem Teil der Länder, in denen nach dem Weltkrieg die Demokratie erobert, aber die Vermögensungleichheit nicht beseitigt wurde, stießen in der Wirtschaftskrise Demokratie und Kapitalismus schroff aufeinander.
„In Deutschland und Österreich — schreibt Otto Bauer in „Zwischen zwei Weltkriegen“ (Seite 162) — wo das Proletariat im Jahre 1918 die Demokratie errungen hat, hat der Klassenkampf die Demokratie gesprengt; hier herrscht der Faschismus. In Rußland, wo das Proletariat wenige Monate vorher seine Diktatur aufgerichtet hat, hat der Klassenkampf die Klassen aufgehoben; hier ist eine sozialistische Gesellschaft im Werden."
In der bürgerlichen Demokratie ist es — wie Anatole France trefflich formulierte — den Reichen ebenso wie den Armen verboten, unter Brücken zu schlafen. Aber was nützt dem Armen diese Gleichheit? Der Reiche braucht dieses Gesetz nicht zu übertreten, weil er in dem warmen Bett schlafen kann, das dem Armen fehlt. Noch drastischer hat Walter Rathenau, der im Jahre 1922 von den deutschen Nationalisten ermordete bedeutendste Kopf der deutschen bürgerlichen Demokraten, den zweifelhaften Wert der Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft geschildert. In einem Vortrag über die „Demokratische Entwicklung“, den Rathenau am 28. Juni 1920 im Demokratischen Klub zu Berlin hielt, sagte er (Gesammelte Reden, S.62/63):
„Nehmen wir den äußersten Fall; nehmen wir den Fall, daß wir in Deutsch-Ostafrika das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht errichtet hätten. Was wäre das Ergebnis gewesen? Daß jede beliebige Abstimmung mühelos vom Gouverneur hätte herbeigeführt werden können, und zwar mit Hilfe einiger Glasperlen, einiger Einschüchterung, einiger Stichworte und religiöser Begriffe und einiger militärischer Nachhilfe...
Es ist mir manchmal verteufelt amerikanisch zumute geworden, und wenn ich mir sage, daß es immer in Deutschland wohlhabende Gruppen geben wird, die unter Umständen 50 Millionen für einen Wahlfeldzug ausgeben können, so glaube ich, auch hier liegt eine grundsätzliche Schwierigkeit der Verwirklichung des streng demokratischen Gedankens..."
Diese Schwierigkeit: Das ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. Unter seiner Herrschaft fehlen alle materiellen Voraussetzungen für eine wirkliche Demokratie. Rathenau unterstreicht seine Gedanken auch noch an anderer Stelle. Er schreibt in „Von kommenden Dingen" (Gesammelte Werke, Band 3, Seite 43, 68/70):
„Ein Blendwerk äußerer Freiheit bedeckt die mechanistische Bindung: der Unzufriedene kann Rücksicht auf Form verlangen, auftrumpfen, die Arbeit niederlegen, wegziehen, auswandern: und doch befindet er sich nach Wochen bei veränderten Namen, Personen und Ortschaften im gleichen Verhältnis. Die Anonymität der Unfreiheit vollbringt durch ihren Zauber, was den alten Despoten und Oligarchien mit ihren Häschern und Spähern nicht gelang: die Abhängigkeit zu verewigen....
Keinen ihrer Ruhmestitel schlägt unsere Zeit höher an als die Überwindung der Sklaverei. Leibeigen ist niemand; Untertan heißt der Mensch nur noch in anmaßenden Erlässen; er selbst nennt sich Staatsbürger, genießt ungezählte persönliche und politische Rechte, gehorcht niemand als der Staatsgewalt, bündelt, wählt und verwaltet. Er verdingt sich nicht, sondern schließt Arbeitsverträge, er ist nicht Knecht und Geselle, sondern Personal, Arbeitnehmer und Angestellter; er hat keinen Brotherrn, sondern einen Arbeitgeber, und der darf ihn nicht schelten und strafen. Er kann kündigen und seiner Wege gehen, er darf feiern und wandern, er ist, wie er sagt, ein freier Mann.
Und doch seltsam! Gehört er nicht zu den wenigen, die man gebildet und vermögend nennt, so sitzt er nach wenigen Tagen in den Räumen eines anderen Arbeitgebers, bei der gleichen achtstündigen Arbeit, unter der gleichen Aufsicht, mit gleichem Lohn und mit gleichen Genüssen, mit gleicher Freiheit und mit gleichen Rechten. Niemand zwingt ihn, niemand tritt ihm in den Weg, und dennoch verläuft sein frühalterndes Leben ohne Muße und ohne Sammlung. Die mechanische Welt tritt ihm entgegen als ein verworrenes Rätsel, das eine Parteizeitung einfarbig beleuchtet; die höhere Welt erscheint im Ausschnitt einer billigen Predigt und eines populären Abrisses; der Mensch erscheint als Feind, wenn er dem fremden, als wortkarger Genosse, wenn er dem eigenen Kreise angehört, der Arbeitgeber als Ausbeuter, der Arbeitsraum als Knochenmühle.
Die Bürgerrechte bestehen, vor allem das Wahlrecht in beiderlei Form. Doch wiederum seltsam! Im behördlichen Leben bleibt der Mensch stets Objekt; Subjekt sind die anderen, gleichviel, ob sie als militärische Vorgesetzte ihn duzen, als Richter aburteilen, als Polizei und Beamte ihn behandeln, ausfragen, verwalten. Er mag sich verbünden und organisieren, versammeln und demonstrieren, er bleibt der Regierte und Gehorchende, auf den goldenen Stühlen sitzen die gleichen, die in breiten Straßen unter Bäumen wohnen, in Wagen fahren; sie tragen die Verantwortung, die Würden und die Macht...
So erheben sich gläserne Mauern von allen Seiten, durchsichtig und unübersteiglich, und jenseits liegt Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Macht. Die Schlüssel des verbotenen Landes aber heißen Bildung und Vermögen, und beide sind erblich."
Freiheit und Selbstbestimmung gibt es in der kapitalistischen Welt nur für die Besitzenden. Für die anderen ist die Freiheit zwar hinter gläsernen Mauern sichtbar, aber nicht erreichbar. Ihre materielle Abhängigkeit macht diejenigen, die nicht über Bildung und Vermögen verfügen, in der Tat zu unfreien Menschen, auch wenn ihnen in einer demokratischen Verfassung das Recht auf Freiheit feierlich auf dem Papier gewährt wird. Lenin nannte darum die bürgerliche Demokratie eine Demokratie der Reichen. Stalin charakterisierte das Wesen der bürgerlichen Demokratie in der gleichen Weise. In den „Problemen des Leninismus" (Seite 104/105) schreibt er:
„Das Gerede .... über allgemeine Gleichheit, ,reine' Demokratie, ,vollkommene' Demokratie usw. ist nichts weiter als die bürgerliche Verschleierung der unzweifelhaften Tatsache, daß eine Gleichheit zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern nicht möglich ist ... Unter dem Kapitalismus gibt es für die Ausgebeuteten keine wirklichen ,Freiheiten' und kann es sie nicht geben, schon aus dem einfachen Grunde, weil alle Räumlichkeiten, Druckereien, Papierlager usw. die zur Ausnutzung dieser ,Freiheiten' notwendig sind, ein Privilegium der Ausbeuter bilden. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirkliche Beteiligung der ausgebeuteten Massen an der Verwaltung des Landes geben, weil selbst unter dem demokratischen System die Regierungen hier nicht vom Volk, sondern von den Rothschild und Stinnes, Rockefeller und Morgan eingesetzt werden. Die Demokratie unter dem Kapitalismus ist eine kapitalistische Demokratie, eine Demokratie der ausbeuterischen Minderheit, die auf der Beschränkung der Rechte der ausgebeuteten Mehrheit beruht und gegen diese Mehrheit gerichtet ist. Nur unter der proletarischen Diktatur sind für die Ausgebeuteten wirkliche ,Freiheiten' und eine wirkliche Beteiligung der Proletarier und Bauern an der Verwaltung des Landes möglich. Die Demokratie unter der Diktatur des Proletariats ist eine proletarische Demokratie, eine Demokratie der ausgebeuteten Mehrheit, die auf der Beschränkung der Rechte der ausbeutenden Minderheit beruht und gegen diese Minderheit gerichtet ist.“
Die wahre Demokratie ist in der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht zu verwirklichen; der ernsthafte Versuch zur Durchführung der vollkommenen Demokratie im bürgerlichen Staat müßte den Rahmen der kapitalistischen Klassenherrschaft sprengen. Die Voraussetzung für die wahre Demokratie ist die Schaffung eines neuen ökonomischen Fundaments, die Ersetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems durch das sozialistische.

ZUR DEMOKRATIE — ÜBER DIE DIKTATUR DES PROLETARIATS

Die Änderung des ökonomischen Fundaments ist — das beweist die Geschichte — nicht mit dem Stimmzettel zu erreichen. Die herrschenden kapitalistischen Klassen treten nicht freiwillig ab; wenn es um ihre Existenz geht, kapitulieren sie nicht vor der Entscheidung des Stimmzettels. Dort, wo trotz Einsatz ihrer überlegenen ökonomischen Mittel die Entscheidung der Volksmehrheit gegen die herrschenden kapitalistischen Klassen ausfällt und deren Vorherrschaft ernsthaft bedroht, wird gegen die bürgerliche Demokratie der Faschismus mobilisiert. So war es in Italien, in Deutschland, in Österreich, in Spanien.
Soll die Demokratie leben, muß die Diktatur der herrschenden kapitalistischen Klassen sterben.
Die grundlegende Änderung der Eigentumsverhältnisse, die Überführung des Grund und Bodens und der Produktionsmittel aus den Händen der Großgrundbesitzer und der Großkapitalisten in das Eigentum des Staates, das heißt des ganzen Volkes, ist nicht durch Überredung, sondern nur im harten Kampf zu erreichen. Zur erfolgreichen Führung dieses Kampfes brauchen die ausgebeuteten Klassen, deren Ziel die Überwindung der Ausbeutung und der Klassengesellschaft ist, die Diktatur des Proletariats. Marx und Engels haben gelehrt, daß zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft „die Periode der Umwandlung der einen in die andere" liegt. „Den entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats." Lenin hat diese Lehre des Marxismus aufgegriffen und vertieft. Nach seiner Auffassung ist die in der Übergangsperiode notwendige Diktatur des Proletariats eine Waffe, die nach der Eroberung der politischen Macht zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur restlosen Brechung ihres Widerstandes, zur völligen Liquidierung der Ausbeuterklassen eingesetzt werden muß. Ebenso aber für die Losreißung der nichtproletarischen Schichten der Werktätigen von der Bourgeoisie zum gemeinsamen Kampf für die Organisierung der sozialistischen Gesellschaft. Die Diktatur des Proletariats ist Waffe zur Niederschlagung der kapitalistischen Klassenherrschaft, ist Werkzeug zum Aufbau des Sozialismus.
„Die Diktatur des Proletariats" — schrieb Lenin in dem Artikel „Über den Volksbetrug mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit" im Jahre 1919 — „bedeutet nicht die Beendigung des Klassenkampfes, sondern dessen Fortsetzung in neuen Formen. Die Diktatur des Proletariats ist der Klassenkampf des Proletariats, das gesiegt und die politische Macht errungen hat, gegen die Bourgeoisie, die ihren Widerstand verstärkt hat."
Was heißt das? Das heißt, daß die Diktatur des Proletariats nicht ein Herrschaftsmittel für die Ewigkeit ist, sondern daß mit diesem Herrschaftsmittel die Aufgabe erfüllt werden muß, die von der bürgerlichen Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft nicht erfüllt werden kann: Die Liquidierung der Ausbeuterklasse, die Liquidierung der Klassengesellschaft, die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, in der erst, — wie Lenin in „Staat und Revolution" dargelegt hat, — „eine wirklich volle Demokratie, wirklich ohne irgendwelche Ausnahmen durchgeführt werden könne." Ist die Aufgabe durchgeführt, bestehen keine Klassen mehr, kann auch die Diktatur des Proletariats nicht mehr existieren und muß abgelöst werden durch den Kommunismus, die Gesellschaftsform ohne Staat.
Stalin hat zu dem Problem Demokratie und Diktatur des Proletariats stets den gleichen Standpunkt wie Lenin eingenommen. In den „Fragen des Leninismus", in denen er auch den Unterschied zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Revolution klarstellt, schreibt er (siehe „Probleme des Leninismus" S. 15/16):
„1. Die bürgerliche Revolution beginnt gewöhnlich, wenn schon mehr oder weniger fertige Gebilde der kapitalistischen Formation vorhanden sind, die bereits vor der offenen Revolution im Schöße der feudalen Gesellschaft entstanden und ausgereift sind, während beim Beginn der proletarischen Revolution fertige Gebilde der sozialistischen Formation fehlen oder fast fehlen.
2. Die Grundaufgabe der bürgerlichen Revolution läuft darauf hinaus, die Macht zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomik in Einklang zu bringen, während die Grundaufgabe der proletarischen Revolution darauf hinausläuft, mit der Ergreifung üer Macht eine neue sozialistische Ökonomik aufzubauen.
3. Die bürgerliche Revolution wird gewöhnlich mit der Machtergreifung vollendet, während für die proletarische Revolution die Machtergreifung nur den Anfang bildet, wobei die Macht als Hebel zum Umbau der alten Ökonomik und zur Organisierung der neuen benutzt wird.
4. Die bürgerliche Revolution beschränkt sich darauf, die eine an der Macht stehende Ausbeutergruppe durch eine andere Ausbeutergruppe zu ersetzen, und braucht deshalb die alte Staatsmaschinerie nicht zu zerbrechen, während die proletarische Revolution alle wie immer gearteten Ausbeutergruppen beseitigt und den Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten, die Klasse der Proletarier, an die Macht hingt, weshalb sie ohne Zerschlagung der alten Staatsmaschinerie und deren Ersetzung durch eine neue nicht auskommen kann.
5. Die bürgerliche Revolution kann schon deshalb nicht die Millionenmasse der Werktätigen und Ausgebeuteten für längere Zeit um die Bourgeoisie scharen, weil sie eben werktätig sind und ausgebeutet werden, während die proletarische Revolution sie gerade als Werktätige und Ausgebeutete mit dem Proletariat zu einem dauernden Bunde vereinigen kann und muß, wenn sie ihre Grundaufgabe der Befestigung der Macht des Proletariats und des Aufbaues der neuen sozialistischen Ökonomik erfüllen will.“
Der Sieg der proletarischen Revolution ist nicht möglich ohne die Diktatur des Proletariats.
Aber diese dient einem bestimmten Zweck, dem Aufbau der neuen sozialistischen Ökonomik, die erst die wahre Demokratie ermöglicht. Auf Seite 22/23 der gleichen Schrift stellt Stalin die folgenden drei grundlegenden Seiten der Diktatur des Proletariats fest:
„1. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur Verteidigung des Landes, zur Befestigung des Bandes mit den Proletariern der anderen Länder, um in allen Ländern die Revolution zur Entfaltung und zum Siege zu bringen.
2. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur endgültigen Lostrennung der werktätigen und ausgebeuteten Massen von der Bourgeoisie, zur Befestigung des Bündnisses des Proletariats mit diesen Massen, zur Einbeziehung dieser Massen in den sozialistischen Aufbau, zur staatlichen Leitung durch das Proletariat.
3. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur Organisierung des Sozialismus, zur Vernichtung der Klassen, zum Übergang in eine Gesellschaft ohne Klassen, ohne Staat... Nur alle diese drei Seiten zusammengenommen geben uns einen vollständigen und abgerundeten Begriff der Diktatur des Proletariats."
Stalin setzt dann weiter auseinander, daß es für die Diktatur des Proletariats verschiedene Perioden gibt, in denen die eine oder die andere der grundlegenden Seiten stärker im Vordergrund steht. Zum Beispiel in der Periode des Bürgerkrieges ist das Moment der Gewalt besonders auffällig und die Aufbauarbeit mehr im Hintergrund. Auch in dieser Periode muß Aufbauarbeit geleistet werden. Ebenso wie in der Periode des Aufbaus, in der die friedliche aufbauende Arbeit das Entscheidende ist, das Moment der Gewalt jedoch noch nicht wegfallen kann. Erst wenn die drei grundlegenden Seiten immer vorhanden sind, funktioniert die Diktatur des Proletariats. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das: Unter der Diktatur des Proletariats wird die notwendige Gewalt nicht um der Gewalt willen angewandt, sondern sie dient einem ganz bestimmten Zweck, dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Nach der Erfüllung dieser Aufgabe wird die Gewalt ebenso liquidiert, wie vorher mit ihrer Hilfe die Klassengesellschaft und die Klassen liquidiert wurden. Ganz eindeutig spricht Stalin diesen Gedanken in einer Rede aus, die er 1925 an der Swerdlow-Universität hielt und die unter dem Titel „Fragen und Antworten" in den „Problemen des Leninismus" (Seite 275) abgedruckt ist:
„Die Diktatur des Proletariats ist nicht Selbstzweck. Die Diktatur ist das Mittel, der Weg zum Sozialismus. Und was ist Sozialismus? Der Sozialismus ist der Übergang von einer Gesellschaft der Diktatur des Proletariats zur staatenlosen Gesellschaft."
Lenin und Stalin haben der Diktatur des Proletariats die Aufgabe gestellt, die ökonomischen, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung der wahren Demokratie zu schaffen. Für beide sind ebenso wie für Marx und Engels Demokratie und Diktatur des Proletariats vereinbar gewesen. Aus diesem Grunde auch ist Lenin zu der Formulierung gekommen, daß die Diktatur des Proletariats zugleich der höchste Typus der Demokratie, die proletarische Demokratie, sei. Das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats als Herrschaftsmittel zur Liqidlerung der Klassen, als Werkzeug zum Aufbau der klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft schließt den Kampf um die demokratischen Freiheiten im kapitalistischen Staat nicht aus. Es verpflichtet vielmehr zum leidenschaftlichen Ringen um den besten Kampfboden für die konsequente Wahrnehmung der proletarischen Klasseninteressen, die früher oder später zu den entscheidenden Auseinandersetzungen um die Umwandlung der Klassengesellschaft führt. Die bürgerliche Demokratie in der kapitalistischen Klassengesellschaft gewährt nur einem kleinen Teil des Volkes — den Reichen — alle Freiheiten. Die Diktatur des Proletariats gewährt in der sozialistischen Aufbauperiode dem überwiegenden Teil der Bevölkerung wirkliche demokratische Freiheiten, deren realer Wert mit dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Umwandlung immer mehr Menschen und schließlich — in der klassenlosen Gesellschaft — allen ohne Ausnahme zugänglich wird.

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN PROLETARISCHER UND FASCHISTISCHER DIKTATUR

Die Diktatur des Proletariats ist das Kampfmittel zur Erzwingung der wahren Demokratie, Die faschistische Diktatur dagegen ist der Todfeind jeder Demokratie. Die faschistische Diktatur hat in den Ländern, in denen sie herrscht, die bürgerliche Demokratie zerschlagen, sie hat alle demokratischen Freiheiten beseitigt und für die große Masse des Volkes einen Zustand völliger Unfreiheit geschaffen. Der Faschismus hat an der ökonomischen Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft nichts verändert, aber er hat den ausgebeuteten Klassen die legalen Möglichkeiten zum Kampf um die Verbesserung dieser Verhältnisse genommen: das Vereinigungsrecht, die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, das Streikrecht.
Die faschistische Diktatur kann in keiner Weise mit der Diktatur des Proletariats auf eine Stufe gestellt werden. Das Wesen, die Funktionen und die Ziele der beiden Herrschaftsformen sind grundverschieden.
Die faschistische Diktatur ist die Diktatur einer kleinen herrschenden Oberschicht über die große Masse der ausgebeuteten werktätigen Klassen. Sie dient der gewaltsamen Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft, der Sicherung dauernder Ausbeutung der überwiegenden Mehrheit des Volkes durch Trusts und Kartelle. Sie kann diese ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie mit den furchtbarsten terroristischen Mitteln jede Freiheit unterdrückt und das von ihr beherrschte Land in einen Friedhof verwandelt. Die faschistische Diktatur ist kein Hebel, mit dem eine höhere Gesellschaftsform erzwungen werden kann, sie ist nicht als eine Übergangsperiode gedacht, die zu einer allen Menschen Freiheit gewährenden vollkommeneren gesellschaftlichen Organisation hinführen soll, sondern sie ist von den Diktatoren als ein Zustand für die Ewigkeit gedacht, als (wie Hitler es verkündete) ein „tausendjähriges Reich".
Die Diktatur des Proletariats dagegen ist die Herrschaft der großen Mehrheit des Volkes über die kleine Schicht der Ausbeuter. Ihre Aufgabe ist, die Klassengesellschaft zu beseitigen und die höhere Gesellschaftsform der klassenlosen Gesellschaft, in der Freiheit, Recht und Gleichheit allen Menschen gewährleistet wird, zu schaffen. Die proletarische Diktatur ist ihrer Funktion nach nur ein Übergangsstadium, sie ist kein Zustand für die Ewigkeit. Hat sie ihre Aufgabe, die klassenlose Gesellschaft zu schaffen, erfüllt, dann wird, ökonomisch wie politisch, vollendete Demokratie herrschen. Die faschistische Diktatur ist ein Bollwerk gegen den Aufstieg der Menschheit, eine furchtbare Waffe zur Verewigung der sozialen Ungleichheit, der Unfreiheit und Sklaverei — die Diktatur des Proletariats ist ein gewaltiger Schritt vorwärts auf dem Wege zur Befreiung der Menschheit. Sie beseitigt die Hindernisse, die der sozialen Gleichheit im Wege stehen, sie schafft das Fundament für ein wirklich freies Menschengeschlecht, sie ist ein Sturmbock zur Zertrümmerung der den Aufstieg der Menschheit hindernden Bollwerke. Der grundlegende Unterschied zwischen der proletarischen und der faschistischen Diktatur zwingt zur verschiedenen Beurteilung der manchmal äußerlich ähnlich ausschauenden Taten. Die Gewaltanwendung der faschistischen Diktatur dient der Unterdrückung, der endgültigen Vernichtung der Freiheit, die Gewaltanwendung der Diktatur des Proletariats dient der Erlösung aus der Knechtschaft, der Schaffung des gesellschaftlichen Zustandes, in dem Freiheit für alle Menschen garantiert ist.

DIE WAHRE FREIHEIT

„Wahre Freiheit gibt es nur dort, wo die Ausbeutung aufgehoben ist, wo es keine Unterdrückung der einen Menschen durch andere gibt, wo es keine Erwerbslosigkeit und kein Elend gibt, wo der Mensch nicht darum zittere daß er morgen vielleicht Arbeit, Behausung und Brot verliert."
Stalin in dem Interview mit dem Amerikaner Roy Howard (März 1936).
Die neue Verfassung der UdSSR beweist, daß die Diktatur des Proletariats kein Selbstzweck ist, sondern die Übergangsperiode zur vollkommenen Demokratie. In dem Maße, wie die proletarische Diktatur ein neues gesellschaftliches Fundament geschaffen hat, wurden die demokratischen Freiheiten für alle Staatsbürger erweitert. Die Verfassung von 1936 registriert den inzwischen geschaffenen Zustand. Weil das Endziel, die klassenlose Gesellschaft, noch nicht erreicht ist, kann — von außenpolitischen Gründen ganz abgesehen — der Staat der Sowjetmacht sich noch nicht in eine staatenlose Gesellschaft auflösen, darum kann auch die Diktatur des Proletariats noch nicht liquidiert werden. Noch bestehen zwei Klassen in der Sowjetunion, die Arbeiter- und die Bauernklasse. Aber die beiden Klassen stehen sich nicht feindlich gegenüber. Sie verlieren unter der Führung der Sowjetmacht immer mehr ihre noch vorhandenen Klassenbesonderheiten und werden reif für die klassenlose Gesellschaft.
Diese tatsächlich vollzogene sozialistische Umwälzung der Gesellschafts- und Eigentumsordnung kommt eindeutig im ersten Kapitel der neuen Verfassung, das die Artikel über den „Gesellschaftsaufbau" enthält, zum Ausdruck. Die entscheidenden Artikel dieses Kapitels haben folgenden Wortlaut:
„Artikel 4. Die ökonomische Grundlage der UdSSR bildet das sozialistische Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionswerkzeugen und -mitteln, gefestigt im Ergebnis der Liquidierung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionswerkzeugen und -mitteln und der Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Artikel 5. Das sozialistische Eigentum in der UdSSR hat entweder die Form von Staatseigentum (Gemeinbesitz des Volkes) oder die Form von genossenschaftlich-kollektivwirtschaftlichem Eigentum (Eigentum einzelner Kollektivwirtschaften, Eigentum genossenschaftlicher Vereinigungen).
Artikel 6. Der Grund und Boden, die Bodenschätze, die Gewässer, die Waldungen, die Werke, die Fabriken, die Gruben, die Bergwerke, das Eisenbahn-, Wasser- und Luftverkehrswesen, die Banken, die Verbindungsmittel, die vom Staat organisierten Großbetriebe (Sowjetwirtschaften, Maschinen- und Traktorenstationen usw.) sowie die Kommunalbetriebe und die Hauptmasse der Wohnungen in den Städten und Industrieorten sind Staatseigentum, das heißt Gemeinbesitz des Volkes.
Artikel 7. Die gesellschaftlichen Unternehmungen in den Kollektivwirtschaften und den genossenschaftlichen Organisationen mit ihrem lebenden und toten Inventar, die von den Kollektivwirtschaften und den genossenschaftlichen Organisationen erzeugten Produkte, ebenso wie ihre gesellschaftlichen Baulichkeiten sind gesellschaftliches, sozialistisches Eigentum der Kollektivwirtschaften und der genossenschaftlichen Organisationen.
Der Hof jedes Kollektivbauern hat außer dem Grundeigentum von der gesellschaftlichen kollektivwirtschaftlichen Wirtschaft in persönlicher Nutzung ein kleines Stück Hofland und als persönliches Eigentum eine zusätzliche Wirtschaft auf dem Hofland, ein Wohnhaus, Nutzvieh und landwirtschaftliches Kleininventar — gemäß dem Statut des landwirtschaftlichen Artels.
Artikel 8. Der Boden, den die Kollektivwirtschaften innehaben, wird ihnen zu unentgeltlicher und unbefristeter Nutzung, d.h. für ewig, zuerkannt.
Artikel 9. Neben dem sozialistischen Wirtschaftssystem, der herrschenden Wirtschaftsform in der UdSSR, ist die private Kleinwirtschaft der Einzelbauern und Gewerbetreibenden, die auf persönlicher Arbeit beruht und die Ausbeutung fremder Arbeit ausschließt, gesetzlich zugelassen."
Diese Verfassungsgrundsätze schaffen die materielle Voraussetzung für die Gewährung wahrer Freiheit an alle Staatsbürger. In der UdSSR sind die Produktionsmittel in Stadt und Land vergesellschaftet. Das privatkapitalistische Eigentum ist beseitigt, keine der übriggebliebenen Klassen kann die andere ausbeuten. Selbst der kleine Rest von Privateigentümern, dessen Existenz im Artikel 9 der Verfassung anerkannt wird, darf keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen. Die klassenmäßige Vermögensungleichheit, die nach Hegel mit der Demokratie unvereinbar ist, existiert nicht mehr. Die soziale Gleichheit ist hergestellt, der Mensch ist in der Sowjetunion, wo die sozialistische Wirtschaftsordnung verwirklicht wurde, materiell frei und unabhängig. Die unter diesen Umständen allen Bürgern gewährten gleichen demokratischen Rechte und Freiheiten sind nicht mehr unerreichbar hinter gläsernen Mauern, sondern sie können von allen ohne Ausnahme praktisch ausgenutzt werden.
Die besondere soziale Grundlage der neuen Verfassung, die sich grundsätzlich von den Ökonomischen Verhältnissen der kapitalistischen Länder unterscheidet, hat Stalin in seiner Verfassungsrede auf dem VIII. Sowjetkongreß besonders hervorgehoben: „Zum Unterschied von ihnen (den Verfassungen der bürgerlichen Länder. D.V.) geht der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR von der Tatsache der Liquidierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus, von der Tatsache des Sieges der sozialistischen Gesellschaftsordnung m der UdSSR. Die Hauptgrundlage des Entwurfes der neuen Verfassung der UdSSR bilden die Prinzipien des Sozialismus, seine wichtigsten, bereits errungenen und verwirklichten Stützpfeiler: das sozialistische Eigentum an Grund und Boden, Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsmitteln; die Liquidierung der Ausbeutung und der Ausbeuterklasse; die Liquidierung der Armut der Mehrheit und des Luxus der Minderheit; die Liquidierung der Erwerbslosigkeit; die Arbeit als Verpflichtung und Ehrenpflicht jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers nach der Formel ,Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen'. Das Recht auf Arbeit, das heißt das Recht jedes Staatsbürgers, gesicherte Arbeit zu erhalten, das Recht auf Erholung, das Recht auf Bildung usw. usf. Der Entwurf der neuen Verfassung stützt sich auf diese und ähnliche Stützpfeiler des Sozialismus. Er bringt sie zum Ausdruck, er legt sie auf dem Wege der Gesetzgebung fest."
Aber die Festlegung all dieser Rechte wäre nicht ausreichend, wenn nicht zugleich auch die Garantien dafür geschaffen würden, daß jeder Staatsbürger von diesen Rechten auch Gebrauch machen kann. In den Verfassungen der bürgerlich-demokratischen Staaten sind mitunter auch schöne Proklamationen zu lesen, die aber nur auf dem Papier stehen, weil es in den kapitalistischen Staaten an den materiellen Garantien für die praktische Verwirklichung dieser Proklamation fehlt. Stalin sagt in seiner Verfassungsrede weiter:
„Die Eigentümlichkeit des Entwurfs der neuen Verfassung besteht darin, daß sie sich nicht mit der Feststellung formeller Rechte für die Staatsbürger begnügt, sondern den Schwerpunkt auf die Frage der Garantien für diese Rechte, auf die Frage der Mittel zur Verwirklichung dieser Rechte verlegt. Sie verkündet nicht einfach Gleichheit der Rechte für die Staatsbürger, sondern sichert auch die gesetzgeberische Verankerung der faktischen Liquidierung des Regimes der Ausbeuter, der faktischen Befreiung der Staatsbürger von jeglicher Ausbeutung. Er verkündet nicht einfach das Recht auf Arbeit, sondern sichert auch die gesetzgeberische Verankerung der Tatsache, daß es in der Sowjetgesellschaft keine Krisen gibt, der Tatsache, daß die Erwerbslosigkeit vernichtet ist. Er verkündet nicht einfach die demokratischen Freiheiten, sondern sichert sie auch auf gesetzlichem Weg durch gewisse materielle Mittel. Es ist daher begreiflich, daß der Demokratismus des Entwurfes der neuen Verfassung kein gewöhnlicher und allgemein anerkannter Demokratismus überhaupt, sondern ein sozialistischer Demokratismus ist."
Der grundlegende Unterschied, der zwischen den demokratischen Verfassungen bürgerlicher Länder und der Verfassung der Sowjetunion besteht, ist das ökonomische Fundament, auf dem die Verfassungsrechte basieren. Dort das kapitalistische, hier das sozialistische Wirtschaftssystem. Die Demokratie, die sich auf der Basis des sozialistischen Wirtschaftssystems entwickelt, kann mit Recht eine von den Demokratien der anderen Länder sich vorteilhaft unterscheidende, eine sozialistische Demokratie genannt werden. Die bürgerliche Demokratie in den kapitalistischen Ländern ist eine besondere Form der Klassenherrschaft des Kapitalismus, die sozialistische Demokratie ist die Herrschaft der Massen in einem Lande ohne ausbeutende Klassen, die von keiner Klasse zur Unterdrückung einer anderen mißbraucht werden kann. Die sozialistische Demokratie ist das Mittel, mit dem die Erreichung der klassenlosen Gesellschaft beschleunigt wird.
Die neue Verfassung der Sowjetunion enthält alle wesentlichen Elemente einer sozialistischen Demokratie. Das neue Grundgesetz der Sowjetunion bedeutet darum keinen Schritt zurück zur bürgerlichen Demokratie, sondern einen großen Schritt vorwärts zu einem in keinem der kapitalistischen Länder verwirklichten höheren Typus der Demokratie.

DAS RECHT AUF ARBEIT

Die neue Verfassung der Sowjetunion stellt die volle Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz her. Aber nicht dadurch, daß sie Armen und Reichen gleicher weise das Nächtigen unter Brücken verbietet, sondern dadurch, daß sie allen Bürgern das gleiche Recht auf Arbeit gibt. Artikel 118 der neuen Verfassung besagt: „Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf Arbeit, das heißt: das Recht auf Zuteilung gesicherter Arbeit mit Entlohnung ihrer Arbeit gemäß deren Menge und Qualität. Das Recht auf Arbeit wird gesichert durch die sozialistische Organisation der Volkswirtschaft, durch die unaufhörliche Entwicklung der Produktivkräfte der Sowjetgesellschaft, durch die Beseitigung der Möglichkeit von Wirtschaftskrisen und durch die Aufhebung der Arbeitslosigkeit." Dieses garantierte Recht auf Arbeit ist ein entscheidender Wertmesser für eine wahrhaft demokratische Verfassung. Das Recht auf Arbeit fehlt in allen Verfassungen bürgerlicher Demokratien, weil in diesen Ländern die ökonomische Voraussetzung für die Verwirklichung eines solchen Verfassungsartikels nicht vorhanden ist. Nur in der Sowjetunion kann dieses höchste, wahrhaft demokratische Prinzip verwirklicht werden, weil nur dort die Produktionsmittel vergesellschaftet sind und die sozialistische Planwirtschaft organisiert ist. Über die entscheidende Bedeutung des Artikels 118 der sowjetischen Verfassung schreibt Otto Bauer in Nr. 7 (1936) des „Kampf":
„In einer Zeit, in der immer noch mehr als 15 Millionen Arbeiter in der kapitalistischen Welt arbeitslos sind, ist es die eindrucksvollste Tatsache, daß die Sowjetunion allen ihren Bürgern das Recht auf Arbeit zu verbürgen vermag. Damit wird ein alter Traum der in allen kapitalistischen Ländern immer wieder von der Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeiterklasse verwirklicht.
Das Recht auf Arbeit war, wie Marx sagte, die erste unbeholfene Formel, worin sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen. Die Forderung nach dem Recht auf Arbeit ist zuerst aufgetaucht in den Stürmen der großen französischen Revolution. In der Konstituante von 1789 haben Malouet und Targe beantragt, in den Katalog der Menschen- und Bürgerrechte auch das Recht auf Arbeit aufzunehmen; die bürgerliche Konstituante hat diesen Antrag abgelehnt. Die Forderung nach dem Recht auf Arbeit taucht in den schweren, große langanhaltende Arbeitslosigkeit hervorrufenden Wirtschaftskrisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von neuem auf; sie wird verfochten von dem utopistischen Sozialismus jener Zeit, von Fourier und Considerant. Als die Pariser Arbeiterklasse auf den Barrikaden des Februar 1848 das Königtum stürzt, erzwingt sie die Proklamierung des Rechtes auf Arbeit. Am 25. Februar 1848 diktiert der Arbeiter Marchet der Provisorischen Regierung das Dekret: ,Die provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet sich, die Existenz des Arbeiters durch Arbeit zu garantieren. Sie verpflichtet sich also, allen Bürgern Arbeit zu gewähren.' Aber das Recht auf Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft reduziert sich auf das elende Experiment der Nationalwerkstätten. Der Kampf um seine Durchführung endet in dem blutigen Bürgerkrieg der Junischlacht. Sobald die Arbeiterklasse blutig niedergeworfen ist, streicht die Bourgeois-Regierung das Recht auf Arbeit aus der Gesetzsammlung der Republik.
In der Tat kann es in der kapitalistischen Gesellschaft kein Recht auf Arbeit geben. Solange die Produktionsmittel Privateigentum der Kapitalisten sind, so lange daher Waren um des Profites willen produziert werden und die Schwankungen der Profitrate über die Ausdehnung und Einschränkung der Produktion entscheiden, kann der Kapitalismus die industrielle Reservearmee der Arbeitslosen nicht entbehren, die er in Zeiten steigender Profitrate an der Produktionsfront einsetzt, um sie in Zeiten sinkender Profitrate aus seinen Betrieben auszustoßen. Erst wenn die Produktionsmittel nicht mehr Privatleuten gehören, sondern der Gesamtheit, erst wenn die Produktion nicht mehr um des Profites willen erfolgt, erst wenn der Umfang der Produktion nicht mehr durch die Schwankungen der Profitrate reguliert wird, sondern durch gesellschaftlichen Plan, erst dann kann die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern das Recht auf Arbeit verbürgen. Die Proklamation des Rechtes auf Arbeit in der neuen Staatsverfassung der Sowjetunion ist bloße Konsequenz der in der Sowjetunion vollzogenen sozialistischen Umwälzung der Gesellschafts-, der Eigentumsordnung." Das unbedingte gleiche Recht auf Arbeit für alle ist mehr Demokratie, als alle die Freiheiten, die der freieste der bürgerlich demokratischen Staaten gewähren kann. Erst der Mensch, der unabhängig von irgendwelchen Ausbeuterklassen auf einer garantiert unantastbaren materiellen Basis steht, kann die übrigen ihm gewährten demokratischen Freiheiten wirklich benutzen.
Die nächsten Verfassungsartikel des Kapitels über „Die Grundrechte und Grundpflichten“ sichern dem Sowjetbürger weitere Rechte, die den Bürgern der kapitalistischen Staaten gar nicht oder nicht in diesem Ausmaße gewährt werden:
„Artikel 119. Die Staatsbürger der UdSSR besitzen das Recht auf Erholung.
Das Recht auf Erholung wird gesichert durch die Kürzung des Arbeitstages für die überwältigende Mehrheit der Arbeiter bis auf sieben Stunden, durch Festlegung eines alljährlichen Urlaubs der Arbeiter und Angestellten mit Beibehaltung des Arbeitslohnes und durch das in den Dienst der Werktätigen gestellte dichte Netz von Sanatorien, Erholungsheimen, Klubs.
Artikel 120. Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf materielle Versorgung im Alter wie auch im Krankheitsfalle und im Falle des Verlustes der Arbeitsfähigkeit.
Dieses Recht wird durch breite Entwicklung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten auf Staatskosten verbürgt, durch unentgeltliche medizinische Hilfe für die Werktätigen, durch das dichte Netz von Kurorten, die den Werktätigen zur Verfügung gestellt werden.
Artikel 121. Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf Bildung.
Dieses Recht wird gesichert durch die allgemeine obligatorische Elementarschulbildung, die Unentgeltlichkeit der Bildung einschließlich der Hochschulbildung, durch das System staatlicher Stipendien für die überwiegende Mehrheit der Studierenden an den Hochschulen, durch Schulunterricht in der Muttersprache, Organisierung des unentgeltlichen Fach-, technischen und agronomischen Unterrichts der Werktätigen in Betrieben, Sowjetwirtschaften, Maschinen- und Traktorenstationen und Kollektivwirtschaften." Diese Verfassungsartikel stehen nicht nur auf dem Papier. Die Ausgaben, die in der Sowjetunion für die Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der werktätigen Massen gemacht werden, sind von Jahr zu Jahr gestiegen. Im Jahre 1937 betrug der Haushalt für Sozialversicherung 6750 Millionen Rubel, gegen 4400 im Jahre 1932. Die produktive sozialistische Wirtschaft gewährt die materielle Voraussetzung für die Verwirklichung der sozialistischen Verfassungsartikel.
Der Frau werden in allen Fragen die gleichen Rechte gewährt wie dem Manne. Sie hat Insbesondere auch das gleiche Recht auf Arbeit und auf dieselbe Arbeitsentlohnung wie der Mann. Alle Bürger, gleich welcher Rasse und Nationalität, sind unbedingt gleichberechtigt. Verstöße gegen dieses Prinzip werden schwer bestraft.
Jeder Staatsbürger kann nach seinen Anlagen, nach seinen Fähigkeiten seine Persönlichkeit entwickeln. Bildung und Wissen sind nicht mehr das Monopol einer dünnen Oberschicht der Besitzenden, sondern sind jedem zugänglich. In den technischen Hochschulen und Universitäten sitzen nicht mehr die Kinder der Kapitalisten und Gutsbesitzer, sondern die Söhne und Töchter der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz. Ihr Studium und ihre freie Entfaltung wird nicht durch das Geld ihrer Eltern, sondern durch die gesellschaftliche Organisation des Sowjetstaates ermöglicht. Das in den kapitalistischen Ländern viel mißbrauchte Wort „Freie Bahn dem Tüchtigen“ ist in der Sowjetunion verwirklicht. Die materiellen Voraussetzungen sind dafür geschaffen, daß jeder Begabte und Fleißige lernen und studieren darf, daß er Ingenieur und Betriebsleiter, Gelehrter und Forscher werden kann. Auch das ist ein wichtiges demokratisches Recht, das in keinem kapitalistischen Lande verwirklicht ist, und das das Recht, bei Parlamentswahlen frei eine der kandidierenden Parteien zu wählen, um das Vielfache an Wert übertrifft. Wirkliche Demokratie ist eben nicht nur das freie Wahlrecht, sondern die freie, allen Menschen gleich garantierte, durch Geld und andere kapitalistische Einwirkungen ungehinderte Entfaltung der Persönlichkeit. Dieser demokratische Grundsatz ist im Artikel 12 der Sowjetverfassung festgelegt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen."

EINWÄNDE GEGEN DIE NEUE VERFASSUNG

Über einzelne Bestimmungen der neuen Verfassung gab es in der Sowjetunion verschiedene Meinungen, die im Lande selbst eine breite Diskussion auslösten. Ferner haben die Sozialisten außerhalb der UdSSR an einzelnen Teilen der Verfassung Kritik geübt.
Zu der ersten Gruppe der Einwendungen gehören die gegen den Artikel 124 der Verfassung, der die Gewissensfreiheit garantiert:
„Zur Sicherung der Gewissensfreiheit der Bürger sind in der Sowjetunion die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulte und die Freiheit der antireligiösen Propaganda ist allen Staatsbürgern zuerkannt."
Stalin bezeichnete die Forderung, die Ausübung religiöser Kulte zu verbieten, als dem Geiste der Verfassung zuwiderlaufend. Gegen den Antrag, den ehemaligen Geistlichen und Weißgardisten das Wahlrecht nicht zu geben, nahm Stalin Stellung. Er erklärte, daß sich die Sowjetmacht so weit entwickelt habe und so stark sei, daß sie die früher notwendig gewesenen Einschränkungen fallen lassen könne. Gegen die Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes an alle Staatsbürger ohne Ausnahme, sind noch andere Einwendungen erhoben worden. Zu der Zeit, als die Ausbeuterklassen noch nicht liquidiert waren, konnten den Angehörigen dieser Klassen nicht die gleichen politischen Rechte gewährt werden, um ihre freie Entfaltung und die Organisierung der Gegenrevolution zu unterbinden. Die ökonomische Macht, die den Händen der ausbeutenden Klassen erst entwunden werden mußte, hätte ihnen früher, bei der vollen Zuerkennung der demokratischen Rechte, die Ausnützung der Demokratie für ihre Klasseninteressen ermöglicht. Darum mußten sie sichtbar und vollständig von der Mitentscheidung im Staate ausgeschaltet werden. Wenn damals auch nur ungefähr 3% der Wahlfähigen das Wahlrecht entzogen wurde, so konnte der Einsatz ihrer zu Jener Zeit noch vorhandenen ökonomischen Kraft eine weit über ihre geringe Zahl hinausgehende politische Wirkung erzielen. Sind jedoch die Ausbeuterklassen beseitigt, können auch diejenigen, die früher diesen Ausbeuterklassen angehört haben, ihr Recht, zu wählen und gewählt zu werden, nicht mehr mit ökonomischen Machtmitteln zum Aufbau konterrevolutionärer Kräfte auswerten. Darum kann, ohne den Bestand der Sowjetmacht zu gefährden, im Artikel 135 der Verfassung stehen:
„Die Wahlen der Deputierten sind allgemein. Alle Bürger der UdSSR, die ihr achtzehntes Lebensjahr vollendet haben, haben, unabhängig von der nationalen und der Rassezugehörigkeit, dem Glaubensbekenntnis, dem Bildungsgrad, der Ansässigkeit, der sozialen Herkunft, der Vermögenslage und der früheren Tätigkeit, das Recht, an den Wahlen der Deputierten teilzunehmen und gewählt zu werden; ausgenommen sind Geisteskranke sowie Personen, die vom Gericht zum Verlust des Wahlrechtes verurteilt worden sind." Die weiteren Verfassungsartikel in dem Kapitel über das Wahlsystem bestimmen, daß die Wahlen zu allen Körperschaften direkt, geheim und gleich sind, daß die Frauen dabei in allem den Männern gleichgestellt werden, ebenso die Soldaten der Roten Armee, die wählen und gewählt werden können. Es gibt keine Sowjetbürger ohne Wahlrecht mehr. Auch die Vorrechte, die die alte Verfassung den Arbeitern gegenüber den Bauern gewährte, sind abgeschafft worden. Während nach der alten Verfassung 25.000 städtische und 125.000 ländliche Wähler je einen Deputierten zum Sowjetkongreß wählten, werden nach der neuen Verfassung die Stimmen der ländlichen Bevölkerung genau so gewertet wie die der städtischen. In der Gewährung der vollkommen gleichen Rechte an Arbeiter und Bauern spiegelt sich auch die Veränderung des Verhältnisses der Arbeiter- und Bauernklasse zueinander wider. Das richtige Verhältnis der beiden Klassen, das Lenin und Stalin als eine der Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion bezeichneten, ist so weit hergestellt, daß den beiden Klassen, die in gleicher Weise an der Erhaltung der Sowjetmacht und dem Ausbau der sozialistischen Gesellschaft interessiert sind, die gleichen politischen Rechte gewährt werden können.
Die öffentliche Wahl ist durch die geheime ersetzt worden. Während früher nur die unteren Organe der Sowjetmacht in direkter Wahl gewählt wurden, die mittleren und oberen Organe aber in indirekter Wahl durch die gewählten Vertreter der unteren Sowjetorgane, werden jetzt auch die mittleren und oberen Organe der Sowjetmacht in direkter, geheimer Wahl gewählt. Neu eingeführt wurde außerdem die allgemeine Volksbefragung, das Referendum, bei dem das Volk in wichtigen Fragen zur direkten Entscheidung aufgerufen werden kann. Die Einwände gegen die Wahlrechtsgewährung an die früheren reaktionären Elemente wies Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß mit folgender Begründung zurück:
„Die Sowjetmacht hat den nichtwerktätigen und Ausbeuterelementen die Wahlrechte nicht für ewige Zeiten, sondern zeitweilige bis zu einer gewissen Periode entzogen. Es gab eine Zeit, da diese Elemente gegen das Volk einen offenen Krieg führten und den Sowjetgesetzen zuwider handelten. Das Sowjetgesetz über den Entzug des Wahlrechts war die Antwort der Sowjetmacht auf diesen Widerstand. Seitdem ist nicht wenig Zeit verstrichen. In der vergangenen Periode haben wir es erreicht, daß die Ausbeuterklassen vernichtet, die Sowjetmacht aber eine unbesiegbare Kraft wurde. Ist nicht die Zeit gekommen, dieses Gesetz zu revidieren? Ich glaube, daß die Zeit gekommen ist. Man sagt, daß dies gefährlich sei, denn in die obersten Organe des Landes könnten sich der Sowjetmacht feindliche Elemente und der eine und der andere aus der Mitte der ehemaligen Weißgardisten, Kulaken, Popen usw. einschleichen. Aber was ist hier eigentlich zu fürchten? Wer die Wölfe fürchtet, gehe nicht in den Wald. Erstens sind nicht alle ehemaligen Kulaken, Weißgardisten oder Popen der Sowjetmacht feind. Zweitens, wenn das Volk irgendwo feindliche Leute wählen wird, so wird das bedeuten, daß unsere Agitationsarbeit unter aller Kritik ist und wir diese Schande durchaus verdient haben; wenn aber unsere Agitationsarbeit auf bolschewistische Art vorwärts gehen wird, so wird das Volk zu seinen obersten Organen keine feindlichen Leute zulassen. Das heißt, daß man arbeiten muß und nicht flennen, man muß arbeiten, und darf nicht erwarten, daß alles in fertiger Form durch administrative Verfügungen vorgelegt wird. Lenin sagte schon 1919, die Zeit sei nicht mehr fern, da die Sowjetmacht es für nützlich halten werde, das allgemeine Wahlrecht ohne jegliche Einschränkungen einzuführen. Beachtet: ohne jegliche Einschränkung. Das sagte er zu der Zeit, als die ausländische militärische Intervention noch nicht liquidiert war und unsere Industrie und Landwirtschaft sich in verzweifelter Lage befanden. Seitdem sind 17 Jahre vergangen. Ist es nicht Zeit, Genossen, die Weisung Lenins zu erfüllend Ich glaube, daß es Zeit ist."
Molotow hat an die Erweiterung des Wahlrechts die Erwartung geknüpft, daß diese zur Verbesserung des Staatsapparates, das heißt auch zur Behebung der Mängel des Bürokratismus, zur Vergrößerung und Erneuerung der führenden Sowjetkader und zur Hebung der Arbeit der Parteiorganisationen in den Massen führen werde. Gefahren, die durch die Erweiterung der demokratischen Rechte entstehen können, werden von den Führern der Sowjetmacht nicht als eine Bedrohung ihres Regimes, sondern als Druckmittel zur Beseitigung noch vorhandener Mängel des Systems betrachtet.
Die Gewährung demokratischer Rechte an alle Staatsbürger und die Erweiterung der politischen Rechte der Bauern wurden auch als Rechtsschwenkung der Sowjetmacht bezeichnet. Trotzki z.B. behauptete, daß die neue Verfassung juristisch die Diktatur des Proletariats liquidiert, und zwar zugunsten eines Systems der bürgerlichen Demokratie. Stalin hat sich auf dem VIII. Sowjetkongreß über diesen Vorwurf lustig gemacht. Er warf den Kritikern vor, daß sie „sich bei ihrer Kritik ... endgültig verwirrt haben und ... rechts mit links verwechseln." Und in der Tat, die Erweiterung der demokratischen Rechte ist keine Rechtsschwenkung, ist kein Opportunismus; sie ist vielmehr ein wichtiger Schritt zur Erreichung des sozialistischen Zieles.
In der zweiten Gruppe der Einwendungen, die von den Sozialisten außerhalb Rußlands vorgebracht werden, sind die entscheidenden: die neue Verfassung läßt keine andere als die Bolschewistische Partei zu und sie beseitigt nicht die Diktatur des Proletariats. Am konzentriertesten wird der aus dem Lager der Zweiten Internationale gemachte Vorwurf, daß die Nichtzulassung anderer Parteien den demokratischen Grundprinzipien ins Gesicht schlage, in einem „Offenen Brief" erhoben, den die Auslandsvertretung der Menschewiki an den VIII. Sowjetkongreß richtete. Den Kritikern erscheint der Artikel 126 der Verfassung, der das Vereinigungsrecht in der Sowjetunion umschreibt, als nicht ausreichend für die Vorstellung, die sie von der Demokratie haben. Dieser Artikel 126 besagt: „Entsprechend den Interessen der Werktätigen und zur Entwicklung der organisatorischen Selbsttätigkeit und politischen Aktivität der Volksmassen wird den Bürgern der UdSSR das Recht auf Vereinigung in gesellschaftlichen Organisationen gesichert: in Gewerkschaften, Genossenschaften, Jugendorganisationen, Sport- und Verteidigungsorganisationen, kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften; die aktivsten und bewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklassen und anderer Schichten der Werktätigen vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), die die Vorhut der Werktätigen in ihrem Kampfe für die Festigung und Entwicklung der sozialistischen Ordnung ist und den führenden Kern sämtlicher Organisationen der Werktätigen, sowohl der gesellschaftlichen wie der staatlichen, darstellt." Gegenüber den Einwänden, daß nur eine politische Partei zugelassen werde, sagte Stalin in seiner Verfassungsrede:
„Was die Freiheit verschiedener politischer Parteien anbetrifft, so vertreten wir hier einige andere Ansichten. Die Partei ist ein Teil der Klasse, ihr fortgeschrittener Teil. Einige Parteien und folglich auch die Freiheit der Parteien können nur in einer solchen Gesellschaft existieren, wo es antagonistische Klassen gibt, deren Interessen untereinander feindlich und unversöhnlich sind, wo es, sagen wir, Kapitalisten und Arbeiter, Gutsbesitzer und Bauern, Kulaken und Armut usw. gibt. In der UdSSR aber gibt es solche Klassen wie Kapitalisten, Gutsbesitzer, Kulaken usw. nicht mehr. In der UdSSR gibt es nur zwei Klassen, Arbeiter und Bauern, deren Interessen nicht feindlich, sondern im Gegenteil freundschaftliche sind. In der UdSSR gibt es also für die Existenz mehrerer Parteien und folglich auch für die Freiheit dieser Parteien keinen Boden. In der UdSSR gibt es nur für eine Partei, die Kommunistische Partei, Boden. In der UdSSR kann nur eine Partei, die Partei der Kommunisten, existieren, die kühn und bis zum Ende die Interessen der Arbeiter und der Bauern schützt. Und daß sie die Interessen dieser Klassen nicht schlecht schützt, daran kann wohl kaum irgendein Zweifel bestehen."
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der verschiedene Klassen sich in heftigem Kampfe gegenüberstehen, muß der Marxist als selbstverständliche Voraussetzung für demokratische Freiheiten die Zulassung von Parteien fordern, die die Interessen der arbeitenden Klassen gegenüber der herrschenden kapitalistischen Klasse und deren Parteien vertreten können. Wird in der kapitalistischen Gesellschaft nur eine Partei zugelassen, so besteht tatsächlich keine Demokratie. Dagegen ist in der sozialistischen gesellschaftlichen Organisation, in der keine ausbeutenden Klassen mehr existieren, die Zulassung nur einer die arbeitenden Klassen vertretenden Partei kein Beweis gegen die Demokratie. Die gleichen materiellen Bedingungen und die gleichen materiellen Rechte für alle Staatsbürger, garantiert durch die gleiche soziale Ordnung — das ist viel mehr Demokratie, als die Zulassung mehrerer Parteien in der kapitalistischen Klassengesellschaft.
Der Kampf des Proletariats um die Eroberung der Macht ist schwer. Viel schwerer aber noch ist die Sicherung der eroberten Macht und der sozialistische Aufbau. In dieser schwierigeren Periode kann der Bruderkampf mehrerer proletarischer Parteien zum Mißlingen des Werkes und (wie die Geschichte in anderen Ländern lehrt) zum Siege der Konterrevolution führen. Das Gleiche gilt auch noch für die Periode, in der zwar schon das Fundament der sozialistischen Gesellschaft gelegt, aber das Werk noch nicht vollendet ist; in der es durch innere Komplikationen und durch die Intervention kapitalistischer Staaten immer wieder gefährdet werden kann. In dieser Zeit muß ein einheitlicher Wille, eine einheitlich handelnde revolutionäre Partei, in der die Prinzipien der sozialistischen Demokratie verwirklicht sind, die Geschicke des Staates lenken. Die Zulassung verschiedener Parteien würde zurückführen in den Zustand der bürgerlichen Demokratie, sie könnte die geschlossene Fortführung des Aufbaus stören und die Erreichung der klassenlosen Gesellschaft hindern. Angenommen: in irgendeinem europäischen Lande, in dem die sozialistische Partei die überwältigende Mehrheit im Proletariat hat, siegt die proletarische Revolution. Will die siegreiche sozialistische Partei die eroberte Macht gegen Rückschläge sichern und den sozialistischen Aufbau vollziehen, dann muß sie die anderen Parteien ausschalten. Unterläßt sie das, so würde sie entweder von einer anderen proletarischen Partei, die diese Prinzipien anwendet, abgelöst, oder die proletarische Revolution bricht zusammen und die kapitalistische Konterrevolution richtet ihre Herrschaft wieder auf.
Die Ausschaltung dieser Gefahr ist das Wichtigste. Unvergleichlich wichtiger als die Erfüllung dessen, was in der kapitalistischen Umwelt mit Recht als ein entscheidender Bestandteil der Demokratie angesehen wird. Mit der Einschränkung, daß nur eine Partei zugelassen ist, werden nach Artikel 125 allen Staatsbürgern beiderlei Geschlechts die wichtigsten politischen Freiheiten gewährt: die Freiheit des Wortes, die Freiheit der Presse, die Freiheit der Versammlungen und Meetings, die Freiheit der Straßenaufzüge und Demonstrationen.

SOZIALISTISCHE DEMOKRATIE — UNTER DER DIKTATUR DER ARBEITERKLASSE

Der Fortbestand der Diktatur der Arbeiterklasse wird von sozialistischen und linksbürgerlichen Kritikern als weiterer Beweis dafür angeführt, daß trotz der neuen Verfassung mit ihren weitgehenden demokratischen Rechten in der Sowjetunion keine Demokratie herrscht. In der Tat, das bisherige Sowjetregime wird durch die neue Verfassung nicht aufgehoben, sondern — wie die Führer der Sowjetmacht sagen — nur noch fester untermauert. Die Diktatur der Arbeiterklasse bleibt unerschüttert, sie soll durch die Demokratisierung, die Vervollkommnung der Staatsformen besonders gefestigt werden. Gegenüber den Einwänden, die wegen der Aufrechterhaltung der Diktatur der Arbeiterklasse erhoben wurden, sagte Stalin in seiner Verfassungsrede (1936):
„Wenn die vorhergehende Gruppe den Entwurf der Verfassung des Verzichts auf die Diktatur der Arbeiterklasse bezichtigt, so bezichtigt ihn diese Gruppe im Gegenteil, daß er an der bestehenden Lage in der UdSSR nichts andres, daß er die Diktatur der Arbeiterklasse unangetastet lasse, die Freiheit politischer Parteien nicht zulasse und die jetzige führende Stellung der Partei der Kommunisten in der UdSSR bewahrt...
Ich muß zugeben, daß der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich das Regime der Diktatur der Arbeiterklasse aufrecht erhält, genau so wie er die jetzige führende Stellung der Kommunistischen Partei der UdSSR unverändert läßt. Wenn die verehrten Kritiker dies für einen Mangel des Entwurfes halten, so kann man dies nur bedauern. Wir Bolschewiki aber halten dies für ein Verdienst des Entwurfes der Verfassung...
Man spricht von Demokratie, was versteht man aber unter Demokratie? Die Demokratie in den kapitalistischen Ländern, wo es antagonistische Klassen gibt, ist schließlich und endlich eine Demokratie für die Starken, eine Demokratie für die begüterte Minderheit. Die Demokratie in der UdSSR ist dagegen eine Demokratie für die Werktätigen, das heißt eine Demokratie für alle. Daraus folgt aber, daß die Grundlagen des Demokratismus nicht durch den Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR verletzt werden, sondern durch die bürgerlichen Verfassungen. Deshalb glaube ich, daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis zum Ende demokratische Verfassung auf der Welt ist."
Diejenigen, die von der neuen Sowjetverfassung eine Angleichung an die bürgerliche Demokratie erwartet haben, sind mit Recht enttäuscht. Die in der Sowjetunion verwirklichte Demokratie ist eine andere Art Demokratie, als die in den Verfassungen kapitalistischer Staaten niedergeschriebene. Und das ist gut so. Das kann gar nicht anders sein. Der Weg der siegreichen proletarischen Revolution führt nicht zurück zu Gewesenem, er kann nur zur Demokratie eines neuen, höheren, vollkommeneren Typs führen. Die in der neuen Sowjetverfassung verbriefte Demokratie steht turmhoch über den demokratischen Verfassungen der kapitalistischen Länder. Nicht die Demokratie in der Sowjetunion muß revidiert werden, sondern die Demokraten in den kapitalistischen Ländern müssen ihre Vorstellungen von einer wirklichen Demokratie ändern.
In der Sowjetunion herrscht nicht die volksfremde Diktatur einer Minderheit. Die Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben immer breitere Massen für die Sowjetmacht gewonnen, so daß heute zweifellos die überwältigende Mehrheit des Volkes hinter ihr steht.
Die Arbeiter und Kollektivbauern, die zusammen mit ihren Angehörigen ungefähr 90% der gesamten Bevölkerung ausmachen, sind in einer der beiden bestehenden Formen mit dem gesellschaftlichen Eigentum verbunden, ihr Tun und ihr Denken entwickelt sich auf der ökonomischen Grundlage, die untrennbar mit dem Sowjetregime verbunden ist. Diese überwiegende Mehrheit des Volkes betrachtet das herrschende Regime als das von ihr getragene, das in ihrem Auftrage für die Vollendung des sozialistischen Aufbaus, für die Vermehrung der allen zugänglichen Güter, für die ständige Hebung des Wohlstandes wirkt. Weil das so ist, kann die Diktatur der Arbeiterklasse dem ganzen Volke die weitest gehenden demokratischen Rechte gewähren. Darum kann die neue Verfassung allen Bürgern das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht geben. Darum auch ist die Sowjetunion die einzige Macht, die die Armee an dem politischen Aufbau teilnehmen lassen, den Angehörigen der Armee das Recht zu wählen und gewählt zu werden, gewähren kann. Darum ist die Sowjetunion das einzige Land, das die werktätigen Massen bewaffnen, den Arbeitern in den Fabriken Gewehre zur Verteidigung des Landes jederzeit in die Hand geben kann. Diese Diktatur der Arbeiterklasse, die zielbewußt den Kampf um die klassenlose Gesellschaft führt, steht auf einer breiten, unantastbaren Massenbasis, auf einer festen demokratischen Grundlage. Die demokratische Verfassung hebt die Diktatur der Arbeiterklasse nicht auf, — aber noch weniger wird durch den Fortbestand der bisherigen Sowjetmacht die in der Verfassung verankerte Demokratie beeinträchtigt.
Das beides ist miteinander vereinbar: Die Demokratie und die Diktatur der Arbeiterklasse, die sich in einer sozialistischen Gesellschaft ohne ausbeutende Klassen auf die überwiegende Mehrheit des Volkes stützt. Es ist die höchste demokratische Leistung, allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu garantieren und die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach ihren Fähigkeiten zu gewährleisten. „Dem Volke" — schrieb „Arbeederbladet", das Blatt der norwegischen Arbeiterpartei, zu der neuen Verfassung der UdSSR — „ist das Recht auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Güter - des Landes gesichert. Und das ist die Grundlage einer wirklichen Demokratie."

 

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DIE WELTREVOLUTI0N

 

SOZIALISTISCHER AUFBAU UND WELTREVOLUTION

Stalin hat die Weltrevolution verraten! Das ist einer der entscheidenden Vorwürfe, die Trotzki und die Trotzkisten gegen Stalin erheben. Mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig wäre, versuchen sie bei allen außenpolitischen Handlungen der Sowjetunion zu beweisen, daß Stalin die internationale revolutionäre Idee preisgegeben habe. Sie behaupten, daß die Theorie des Sozialismus in einem Lande zur Unterordnung aller internationalen Interessen, zur Unterordnung des proletarischen Freiheitskampfes in allen Ländern unter die eine Aufgabe geführt habe: den wirtschaftlichen Aufbau im nationalen Rahmen zu lösen. Sie behaupten, Stalin erwürge um seines „nationalen Sozialismus" willen die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern, er mache damit die Weltrevolution unmöglich. Dieser Verrat der Weltrevolution — so dekretiert Trotzki in den letzten Jahren mit gesteigerter Verbissenheit — führe zwangsläufig zum Zusammenbruch der Sowjetunion, die nur erhalten bleiben könne, wenn die proletarische Revolution in den anderen Ländern siege. Stalin müsse stürzen, wenn die Sowjetunion leben solle. Ausgehend von dieser These führt Trotzki seinen Kampf gegen Stalin mit allen Mitteln. Der ehemalige rote Volkskommissar wird in der Zeit, wo der Faschismus zum Sturme gegen den ersten Arbeiterstaat bläst, zum Kronzeugen und Helfer aller Feinde der Sowjetunion.
Ist der Vorwurf, der Ausgangspunkt zu Trotzkis heftigen Ausfällen gegen Stalin ist, berechtigt? Hat Stalin die Weltrevolution verraten? Basiert die Außenpolitik der Sowjetunion auf der Preisgabe der internationalen revolutionären Idee?
Vor der Beantwortung dieser Fragen gilt es zunächst einmal die falsche Vorstellung von der Weltrevolution zu zerstören, die von den deutschen Faschisten als internationaler Bürgerschreck planmäßig propagiert wird. Die Marxisten haben nie daran gedacht, die Weltrevolution durch den Einmarsch einer bewaffneten Macht in ein anderes Land zu machen. Die Marxisten haben nie geglaubt, daß proletarische Revolutionen durch aus dem Ausland importierte Terrorgruppen und durch Anzünden von Parlamentsgebäuden in Schwung gebracht werden können. Eine solch verschrobene „Weltrevolution" hat Lenin ebenso wie Stalin immer abgelehnt.
Lenin hat aber auch im Gegensatz zu Trotzki den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion nicht als einen Verrat an der Weltrevolution betrachtet. Im Gegenteil: Ein wichtiger Bestandteil der leninschen Theorie über die Weltrevolution war die Erkenntnis, daß der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion der revolutionären Entwicklung in den anderen Ländern den stärksten Antrieb geben werde. Lenin verlangte, alle Kräfte aufzubieten, um die Sowjetunion von der kapitalistischen Umwelt unabhängig zu machen, um dem ersten Arbeiterstaat die militärische Macht zum Schutze gegen alle Interventionsversuche zu schaffen. Und Lenin betonte, daß dieses Ziel nur durch den erfolgreichen sozialistischen Aufbau und die Gewinnung der Bauernmassen für die aktive Teilnahme an diesem Aufbau erreicht werden könne. Mit dem Aufbau des Sozialismus leistet die Sowjetunion — sagt Lenin — „das Maximum dessen, was in einem Lande zur Entwicklung, Unterstützung, Anfachung der Revolution in allen Ländern ausführbar ist". Das betrachtet der auch von Trotzki als der beste Weltrevolutionär gerühmte erste Führer der russischen Revolution als einen wichtigen Bestandteil der proletarischen Weltrevolution, als „die einzig internationalistische" Taktik. Den Arbeitermassen in allen Ländern muß klar gemacht werden, „daß hier in Rußland das Schicksal der gesamten Weltrevolution entschieden wird". Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion ist nicht Selbstzweck. „Sobald das Proletariat dieses Landes gesiegt, die Kapitalisten enteignet und bei sich die sozialistische Produktion organisiert hat", sagt Lenin, „würde es die unterdrückten Klassen der anderen Länder zu sich heraufziehen" und deren Kampf in der jeweiligen Situation mit den geeignet erscheinenden Mitteln unterstützen. Sozialistischer Aufbau in der Sowjetunion und Weltrevolution sind eine Einheit. Das eine hebt das andere nicht auf, beides gehört untrennbar zusammen. Diese These Lenins ist auch die These Stalins. Stalin hat nie daran gedacht, - wegen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion - die Idee der Weltrevolution preiszugeben. Er hat stets betont, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande den Zweck habe, den Sieg der proletarischen Revolution in den anderen Ländern zu beschleunigen. Aus den Reden und Schriften Stalins klingt immer wieder seine positive Einstellung zur internationalen revolutionären Idee heraus: der Sieg des Sozialismus in der UdSSR ist nicht ein Sieg der russischen Arbeiter, sondern ein Sieg des internationalen Proletariats. Der sozialistische Aufbau in dem Lande der siegreichen proletarischen Revolution dient nicht nur den eigenen Arbeitern und Bauern, sondern den Werktätigen in allen Ländern. Stalin ist der Meinung, daß die Bolschewistische Partei außer den Verpflichtungen den Arbeitern und Bauern der UdSSR gegenüber noch ernstere und wichtigere Verpflichtungen habe. Das sind die Verpflichtungen gegenüber dem Weltproletariat, die zwar identisch sind mit den Verpflichtungen gegenüber den einheimischen Arbeitern und Bauern, „doch stellen wir sie höher". Gewiß soll der Kampf um den sozialistischen Aufbau In der Sowjetunion den sowjetischen Arbeitern und Bauern ein besseres Leben garantieren, aber dieser Kampf hat nichts mit nationaler Engherzigkeit zu tun, sondern er wird letzten Endes geführt, um den Sieg des Weltproletariats zu ermöglichen. Den überzeugenden Beweis zu erbringen, daß das sozialistische Wirtschaftssystem dem kapitalistischen überlegen ist, die Arbeitermassen in allen Ländern anzuregen, den gleichen für sie günstigen gesellschaftlichen Zustand wie in der Sowjetunion zu erkämpfen, das ist der internationalistische Gedanke der bolschewistischen Politik.
Stalin hat die Revolution in Rußland und den sozialistischen Aufbau nie „als eine sich selbst genügende Größe" betrachtet, sondern als Stütze, als Hilfsmittel zur Beschleunigung des proletarischen Sieges in den anderen Ländern. In einer im Juni 1925 an der Swerdlow-Universität gehaltenen Rede hat Stalin die Zusammenhänge zwischen Interventionsgefahr, sozialistischem Aufbau und Weltrevolution behandelt. Er sagte dort (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 309):
„Es handelt sich also nicht: um eine unmittelbare Intervention, sondern um die Tatsache, daß die Gefahr der Intervention im allgemeinen fortbesteht, solange es eine kapitalistische Umgebung gibt. Solange aber die Gefahr der Intervention besteht, sind wir gezwungen, im Interesse unserer Verteidigung eine Armee und Flotte zu unterhalten, die jährlich hunderte Millionen Rubel verschlingen. Was aber bedeutet eine jährliche Ausgabe von hunderten von Millionen Rubel für die Armee und die Flotte? Das bedeutet eine entsprechende Reduzierung der Ausgaben für wirtschaftliche und kulturelle Zwecke. Es ist überflüssig, darauf hinzuweisen, daß wir, wenn keine Interventionsgefahr bestände, diese Summe oder wenigstens den größten Teil davon für die Stärkung der Industrie, für die Verbesserung der Landwirtschaft, für Einführung zum Beispiel der obligatorischen Elementarschulbildung usw. verwenden könnten. Das sind die Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Aufbauarbeit, die mit der Interventionsgefahr zusammenhängen.
Das charakteristische Merkmal dieser Schwierigkeit, das sie von allen anderen Schwierigkeiten unterscheidet, besteht darin, daß ihre Überwindung nicht von uns allein abhängt, daß sie nur durch die gemeinsamen Anstrengungen in allen anderen Ländern beseitigt werden kann."
Das ist klar, logisch und überzeugend. Die Rüstungen, die durch die ständige Interventionsgefahr erzwungen werden, vermindern die Mittel für den sozialistischen Aufbau. Das Tempo dieses Aufbaus wäre noch stürmischer, wenn nicht Riesensummen für die Verteidigung des Landes bereitgestellt werden müßten. Die Freisetzung aller Mittel für die Vollendung des sozialistischen Aufbaus Ist nur möglich, wenn nach dem Siege der proletarischen Revolution in anderen Ländern die Interventionsgefahr endgültig beseitigt ist. Darum ist die Förderung der revolutionären Entwicklung in den ändern Ländern eine Pflicht, die unmittelbar mit der Pflicht des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion zusammenhängt.
In allen Äußerungen Stalins kehrt der Gedanke wieder, daß alles, was in der Sowjetunion aufgebaut wird, dem Kampfe der Proletarier aller Länder um den endgültigen Sieg des Sozialismus diene. Auf dem VII. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Dezember 1926) sagte Stalin:
„Lenin unterschied in seinen Werken streng den Sieg des Sozialismus in einem Lande vom Siege ,im Weltmaßstabe'. Lenin will sagen, daß die Erfolge des Sozialismus in unserem Lande, der Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande, eine solche ungeheure internationale Bedeutung hat, daß er (der Sieg) sich nicht auf unser Land beschränken kann, sondern eine machtvolle Bewegung zum Sozialismus in allen kapitalistischen Ländern hervorrufen muß, wobei er, wenn er zeitlich nicht mit dem Siege der proletarischen Revolution in anderen Ländern zusammenfällt, auf jeden Fall eine machtvolle Bewegung der Proletarier anderer Länder zum Siege der Weltrevolution einleiten muß." So mahnt Stalin die russischen Arbeiter, „der Sache des proletarischen Internationalismus, der Sache des brüderlichen Bundes der Proletarier" treu zu sein. Stalin hat immer wieder betont, daß die Diktatur des Proletariats, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande das Band mit den Proletariern der anderen Länder befestigen müsse. In „Über die Aufgaben der Wirtschaftler" erklärt Stalin (1927):
„Die Arbeiterklasse der Sowjetunion ist ein Teil der Arbeiterklasse der Welt. Wir haben nicht nur dank den Anstrengungen der Arbeiterklasse der Sowjetunion, sondern auch dank der Unterstützung der internationalen Arbeiterklasse gesiegt. Ohne diese Unterstützung hätte man uns längst erledigt...
Wir müssen uns in einem Tempo vorwärtsbewegen, daß die Arbeiterklasse der ganzen Welt, die auf uns blickt, sagen kann: Hier ist er, mein Vortrupp, hier ist sie, meine Stoßbrigade, hier ist sie, meine Arbeitermacht, hier ist es, mein Vaterland, — sie machen ihre Sache, unsere Sache gut, unterstützen wir sie gegen die Kapitalisten und entfachen wir die Weltrevolution."
Diese Gedanken hat Stalin besonders eindringlich auch am Schlüsse seiner Rede auf dem XVII. Parteitag (1934) ausgesprochen. Dort sagte er über das Verhältnis zwischen Weltarbeiterklasse und Sowjetunion (siehe Broschüre über diese Rede, Seite 100 usf.):
„Die Arbeiterklasse der Sowjetunion ist ein Teil des Weltproletariats, sein Vortrupp, unsere Republik ein Kind des Weltproletariats. Es kann nicht daran gezweifelt werden: wenn sie nicht die Unterstützung der Arbeiterklasse der kapitalistischen Länder gehabt hätte, dann hätte sie nicht die Macht in ihren Händen behalten, dann hätte sie nicht die Bedingungen für den sozialistischen Aufbau geschaffen und folglich auch nicht die Erfolge erzielt, die sie jetzt besitzt. Die internationalen Verbindungen der Arbeiterklasse der Sowjetunion mit den Arbeitern der kapitalistischen Länder, das brüderliche Bündnis der Arbeiter der Sowjetunion mit den Arbeitern aller Länder — sind die Eckpfeiler der Macht und Stärke der Sowjetrepublik. Die Arbeiter im Westen sagen, daß die Arbeiterklasse der Sowjetunion die Stoßbrigade des Weltproletariats ist ... Das bedeutet, daß wir den Ehrennamen einer Stoßbrigade der Proletarier aller Länder durch unsere Arbeit rechtfertigen müssen. Das verpflichtet uns dazu, besser zu arbeiten und zu kämpfen für den endgültigen Sieg des Sozialismus in unserem Lande, für den Sieg des Sozialismus in allen Ländern!" So klingt es aus allen Reden Stalins bis in die Gegenwart.

DAS TRAGIKOMISCHE MISSVERSTÄNDNIS

Aber da ist noch das Interview, das Stalin am 1. März 1936 dem Präsidenten der Scripps Howard Newspaper Press, Roy Howard, gewährt hat. Dort ist die Rede von dem tragikomischen Mißverständnis. Diese Äußerung ist durch die gesamte Weltpresse gegangen. Die Trotzkisten bezeichneten dieses Interview als den letzten schlüssigen Beweis dafür, daß Stalin endgültig die Weltrevolution preisgegeben habe und ein engstirniger „Nationalsozialist" sei. Der Wert dieser Behauptung ist am besten anhand des genauen Wortlautes dieses Interviews nachzuprüfen:
„Howard: Sind Sie nicht der Ansicht, daß auch in den kapitalistischen Ländern die begründete Befürchtung bestehen kann, die Sowjetunion könnte sich entschließen, ihre politischen Theorien anderen Völkern mit Gewalt aufzuzwingen?
Stalin: Für derartige Befürchtungen liegen gar keine Gründe vor. Wenn Sie denken, daß die Sowjetmenschen selbst und dazu noch mit Gewalt das Gesicht der sie umgebenden Staaten ändern wollen, so irren Sie sich ganz gewaltig. Die Sowjetmenschen möchten natürlich, daß das Gesicht der sie umgebenden Staaten sich ändere, doch ist dies die Sache der sie umgebenden Staaten selbst. Ich sehe nicht, welche Gefahr die die Sowjetunion umgebenden Staaten in den Ideen der Sowjetmenschen sehen können, wenn diese Staaten tatsächlich fest im Sattel sitzen.
Howard: Bedeutet diese Ihre Erklärung, daß die Sowjetunion ihre Pläne und Absichten, die Weltrevolution durchzuführen, in irgend einem Maße aufgegeben hat?
Stalin: Solche Pläne und Absichten hatten wir niemals.
Howard: Mir scheint, Mister Stalin, daß sich in der ganzen Welt lange Zeit hindurch ein anderer Eindruck herangebildet hat.
Stalin: Das ist das Ergebnis eines Mißverständnisses.
Howard: Eines tragischen Mißverständnisses?
Stalin: Nein, ein komisches. Oder wohl ein tragikomisches. Sehen Sie, wir Marxisten sind der Ansicht, daß die Revolution auch in den anderen Ländern kommen wird. Aber sie wird erst dann kommen, wenn dies die Revolutionäre dieser Länder für möglich oder notwendig finden werden, Export der Revolution — das ist Unsinn. Jedes Land wird, wenn es will, selbst eine Revolution machen, und wenn es nicht will, so wird es keine Revolution geben. Unser Land z.B. wollte die Revolution machen und hat sie gemacht, und jetzt bauen wir die neue, klassenlose Gesellschaft. Zu behaupten aber. daß wir die Revolution in anderen Ländern machen wollen, indem wir uns in ihr Leben einmischen, das bedeutet, etwas zu behaupten, was nicht der Fall ist und was wir niemals propagiert haben."
Bedeuten diese Äußerungen eine Preisgabe der Idee der proletarischen Revolution in den anderen Ländern?
Stalin bestreitet — mit vollem Recht — daß die Sowjetunion jemals Pläne und Absichten gehabt habe, ihre politischen Theorien den anderen Völkern mit Gewalt aufzuzwingen und die Weltrevolution durch Krieg oder andere Gewaltanwendung zu machen. Wer sich die Durchführung der Weltrevolution so vorstellt, der hat dieses Problem allerdings mißverstanden. Stalin läßt jedoch keinen Zweifel darüber, daß die Völker der Sowjetunion die Revolution auch in den anderen Ländern wünschen. Aber sie wird dort nur kommen, wenn die revolutionären Kräfte dieser Länder in einer dazu reifen Situation ihre revolutionären Ziele aus eigener Kraft verwirklichen. Die proletarische Revolution in den anderen Ländern, von deren Sieg — wie Stalin bei jeder Gelegenheit betont — der endgültige Sieg des Sozialismus abhängt, wird nicht gewaltsam von der Sowjetunion von außen gemacht, aber sie wird entscheidend gefördert, wenn der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion als Idee immer breitere Massen auch in den anderen Ländern erfaßt. Dadurch werden diese von der Notwendigkeit überzeugt, ihre Revolution durchzuführen, um in ihrem Lande wie in der Sowjetunion unter dem Banner des Sozialismus ein Leben ohne Krisen und Arbeitslosigkeit, ohne Kriegsgefahr, Krieg und chaotische Vernichtung führen zu können. Es ist zweifellos sehr deutlich, wenn Stalin den amerikanischen Interviewer ironisch fragt, welche Gefahr die kapitalistischen Staaten in den Ideen der Sowjetmenschen sehen können, wenn diese Staaten tatsächlich fest im Sattel sitzen. Weil das jedoch nicht der Fall ist, weil die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung schwankend geworden sind, darum wirken die sozialistischen Ideen der Sowjetmenschen in der ganzen Welt. Je stärker sich die praktische Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische erweist, je größere Erfolge es den Menschen bringt, um so revolutionierendere Wirkung wird die sozialistische Idee auf die Arbeitermassen der anderen Länder ausüben.
Im übrigen bringt das Howard-Interview durchaus keine Neuigkeiten, keine „sensationelle Wendung" der sowjetrussischen Außenpolitik. Genau dasselbe hat Stalin schon viel früher nicht weniger deutlich gesagt. So z.B. in seinem politischen Referat auf dem XIV. Parteitag im Jahre 1925. Dort wandte er sich gegen die Urheber von gefälschten Briefen und wies nach, daß die Komintern keine „Organisation von Verschwörern und Terroristen sei", daß die Sowjetunion auch nicht durch russische Propagandakolonnen in anderen Ländern dort für die Revolution zu arbeiten brauche, weil sich ohnedies „die Kunde von unserem Regime" in der ganzen Welt verbreitet. Aber auch Trotzki hat früher genau das gleiche gesagt, was die Trotzkisten im Anschluß an das Howard-Interview Stalin vorwarfen. In seinem auf dem IV. Weltkongreß gehaltenen Referat über „Die neue ökonomische Politik Sowjetrußlands und die Weltrevolution" wies er nach, daß durch den Wiederaufbau der Wirtschaft indirekt auch die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern gestärkt werde. Er verweist im Anschluß daran auf eine Rede des damaligen Außenministers Lord Curzon, die dieser am 9. November 1922 gehalten hat. Trotzki zitiert daraus u.a. folgende Sätze, zu denen er die in Klammern beigefügten Randbemerkungen machte:
„Rußland bleibt immer noch außerhalb der Familie der europäischen Völker. Es steht noch immer unter dem Banner des Kommunismus (es ist also nicht ganz mit Otto Bauer einverstanden) und führt seine kommunistische Propaganda in allen Weltteilen fort (Was gar nicht wahr ist)" Diese Behauptung Trotzkis auf dem IV. Kominternkongreß ist weitgehend identisch mit dem „Beweisstück" aus Stalins Interview mit Howard. Im Jahre 1922 bestreitet Trotzki, daß Rußland kommunistische Propaganda in allen Weltteilen treibe. Niemand hat Trotzki damals vorgeworfen, daß er mit dieser Äußerung die Idee der Weltrevolution preisgegeben habe. Er selber hat schon 1922 das „tragikomische Mißverständnis" aufklären und sagen wollen, daß sich Sowjetrußland nicht in die inneren Angelegenheiten der anderen Länder mische und nicht daran denke, seine Revolution gewaltsam in die anderen Staaten zu importieren. Als Volkskommissar hat Trotzki wahrscheinlich noch begriffen, daß prahlerische Deklamationen führender Sowjetmänner die Weltrevolution auch nicht einen Schritt vorwärts brächten. Wäre die Sowjetunion ein Ökonomisch rückständiges, wirtschaftlich schwaches, von der kapitalistischen Umwelt abhängiges Land geblieben, dann hätte sie eine wirksame Funktion für die Idee der Weltrevolution nicht entfalten können. Darum war die Entscheidung für den Aufbau des Sozialismus in dem Lande, in dem die proletarische Revolution zunächst allein gesiegt hat, kein Verrat an der Weltrevolution, sondern eine internationale Pflicht. Die starke Industrialisierung des Landes, die gewaltige Steigerung der industriellen und agrarischen Produktivität hat die UdSSR zu einem mächtigen, unabhängigen Lande gemacht. Die starke Landesverteidigung der Sowjetunion und ihre außerordentliche wirtschaftliche Kriegspotenz haben sich als wirkungsvolle Waffen gegen Interventionsversuche erwiesen. Stände dem Dritten Reich noch das Rußland von 1924 gegenüber, dann würden die deutschen Faschistenführer sich nicht auf ihre Hetzreden gegen die UdSSR beschränken.
In welchem Maße die stark und mächtig gewordene Sowjetunion ihre praktische Solidarität mit der kämpfenden freiheitlichen Bewegung in anderen Ländern zum Ausdruck bringen kann, beweist ihre Stellungnahme zum spanischen Bürgerkrieg. Wegen der besonderen internationalen Konstellation in diesem Konfliktfall waren die objektiven Voraussetzungen für die Unterstützung der spanischen Volksfront durch die Sowjetunion nicht günstig. Trotzdem ist eine machtvolle ideologische und auch materielle Hilfe organisiert worden, die zweifellos zur Verbesserung der bedrohten Position der spanischen Freiheitskämpfer geführt hat. Wie stark sich die praktische Solidarität der Sowjetunion in Spanien auswirkt, schildert Jean Delvigne, der Sekretär der belgischen sozialistischen Partei, nach einem Besuch in Spanien, in einem Artikel des Brüssler „Peuple". In diesem Artikel, dessen Schluß auch in der „Internationalen Information" der II. Internationale wiedergegeben ist, heißt es u.a.:
„Wie schade für die Arbeiterklasse der demokratischen Länder, daß in Spanien das Volk, wenn es denen, die es gerettet haben, seine Dankbarkeit bekunden will, genötigt ist — Tatsachen sind Tatsachen — nur das Bild Stalins zu bejubeln."
Die tatkräftige Unterstützung des spanischen Freiheitskampfes gegen Faschisten und Interventen durch die Sowjetunion ist eine so unbestreitbare Tatsache, daß der führende belgische Sozialist dies unumwunden zugeben muß. In früheren Fällen ähnlicher Art hätte die Sowjetunion eine gleichartige Unterstützung nicht gewähren können; erst der erfolgreiche sozialistische Aufbau hat die Kraft geschaffen, die eine tätige Unterstützung der spanischen Brüder ermöglichte. Stalin, der nach den Behauptungen der Trotzkisten ein engstirniger .„Nationalsozialist" ist, der nur an Rußland und nicht an die Kämpfe der werktätigen Massen in den anderen Ländern denkt, hat in einem besonderen Telegramm an die Spanier, das Göbbels in seiner Hetzrede gegen die Sowjetunion auf dem Nürnberger Parteitag 1937, natürlich entstellt, zitierte, seine innere Verbundenheit mit ihrem Kampfe bekundet:
„Die Werktätigen der Sowjetunion erfüllen lediglich ihre Pflicht, indem sie den revolutionären Massen Spaniens nach Kräften helfen. Sie legen sich Rechenschaft darüber ab, daß die Befreiung Spaniens vom Joche der faschistischen Reaktionäre keine private Angelegenheit der Spanier ist, sondern gemeinsame Sache der gesamten fortgeschrittenen und progressiven Menschheit."
Dieses politische Eingreifen Stalins zugunsten der spanischen Freiheitskämpfer steht im schroffen Gegensatz zu der trotzkistischen Auslegung des Howard-Interviews. Die Trotzkisten und die mit ihnen gesinnungsverwandten Kreise bestreiten jedoch auch die Wirksamkeit der von den Sozialisten anerkannten Solidarität der Sowjetunion mit den spanischen Freiheitskämpfern. Wo sie die Tatsachen nicht ganz leugnen können, behaupten sie, daß die proletarischen Massen in der UdSSR die Unterstützung der spanischen Freiheitskämpfer gegen Stalin und seine Bürokratie erzwingen mußten. Diese Behauptung steht zwar im Widerspruch zu den sonstigen Behauptungen der Trotzkisten über die gewaltsame Unterdrückung jeder freien Meinungsregung in der Sowjetunion, aber schließlich ist auch das nur Beweis dafür, wie fanatisch und unsachlich die Trotzkisten ihren Kampf gegen die Sowjetunion führen. Die Wahrheit dagegen ist, daß die Sowjetführung und die werktätigen Massen in der UdSSR, die gemeinsam den sozialistischen Aufbau in ihrem Lande erkämpften, gemeinsam die dadurch erreichte Macht einsetzen, um die spanischen Freiheitskämpfer wirksam zu unterstützen.
Die Trotzkisten geben ein oft absichtlich entstelltes Bild von der Politik Stalins. Aber auch Reformisten und Linksbürgerliche ziehen falsche Schlüsse aus der Außenpolitik der Sowjetunion. In diesen Kreisen ist die Meinung weit verbreitet, daß Stalin „aus den Erfahrungen gelernt" und der „alten bolschewistischen Taktik" abgeschworen habe. Er lasse die Idee der sozialen Revolution fallen und er wolle die Sowjetunion zu einem Staat machen, der im wesentlichen den demokratischen Staaten der kapitalistischen Umwelt gleichen werde. Um Rußlands ruhiger Aufwärtsentwicklung keine Schwierigkeiten zu bereiten, um Bundesgenossen zu gewinnen und Rußland aus der Kriegsgefahr unbeschädigt zu erretten, verzichte Stalin auf die Weltrevolution. Gegner der sozialen Revolution, die so die Stalinsche Politik deuten, geben dem „gemäßigteren" Stalin vor dem „radikaleren" Trotzki den Vorzug; sie knüpfen an ihre Charakterisierung des Politikers Stalin Illusionen, die nicht in Erfüllung gehen können.
Diese Einschätzung Stalins ist falsch und darum für die weitere günstige Entwicklung des gemeinsamen Kampfes für die Verhinderung des Krieges sehr gefährlich. Stalins Politik ist nicht weniger revolutionär als die Lenins in der ersten Periode der russischen Revolution. Sein Ziel ist, in der Sowjetunion die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen und seine Politik dient dem Zweck, die Idee der sozialen, proletarischen Revolution in den anderen Ländern zu stärken und mit tauglichen, erfolgreichen Mitteln den endgültigen Sieg des Sozialismus in der Welt zu fördern. Stalins Politik ist revolutionär, weil sie zielbewußt in der jeweiligen Situation die für diese geeigneten Mittel anwendet, um Schritt für Schritt, aber sicher vorwärts zu kommen zum sozialistischen Endziel; die wortradikalen Proklamationen der sogenannten 4. Internationale Trotzkis dagegen nutzen niemandem als der internationalen Konterrevolution.
Wer — die stalinsche Politik mißverstehend — sich illusionäre Vorstellungen über die Abkehr Moskaus von einer konsequenten revolutionären Politik macht, wird immer wieder enttäuscht werden. Glaubt er ernsthaft an eine Wendung Stalins zum Reformismus, an die Preisgabe der Weltrevolution, dann wird er stets von neuem seinen Anhängern erzählen müssen, daß das, was er fälschlich für eine „gemäßigtere", seiner Meinung nach „vernünftigere" Politik hielt, nur ein „Manöver" war. Man kann die Politik Stalins nicht nach Belieben deuten. Man muß sie sehen, wie sie wirklich ist. Die Folge illusionärer Vorstellungen sind nur neue Enttäuschungen, neue Rückschläge, neue Störungen der Entwicklung zum einheitlichen Kampf der internationalen Arbeiterklasse.
Durch den erfolgreichen sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion ist die Weltrevolution nicht liquidiert worden, sondern in eine neue erfolgversprechende Phase eingetreten. In der Zeit, wo Sowjetrußland noch ein rückständiges, armes Land war, das mit unzähligen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und den Mangel seiner Völker nicht beheben konnte, standen die Arbeitermassen in der ganzen Weit der Sowjetmacht sehr skeptisch gegenüber. In dieser Zeit gelang es, sozialistische Massen in den anderen Ländern zu überzeugen, daß der in Rußland beschrittene Weg falsch sei, daß sie sicherer und schneller zum Sozialismus kommen, wenn sie den reformistischen Weg des friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus gehen. Der Aufbau hat die Sowjetunion zu einem fortgeschrittenen, immer reicher werdenden Land umgestaltet. Weil dieser große, allgemein sichtbare und unbestreitbare Erfolg zusammenfällt mit einer weitgehenden Erschütterung des Glaubens an den reformistischen Weg, ist im Jahre 1937 die Stellung der sozialistischen Arbeitermassen in der Welt zur Sowjetunion eine andere als vor einem Jahrzehnt. Das Beispiel der Sowjetunion wirkt bis in die fernsten Winkel der Welt; die nunmehr praktisch bewiesene Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische zeigt den vom Kapitalismus unterdrückten und versklavten Menschen den Weg in die Freiheit.
Dieses Ergebnis hat Stalin vorgeschwebt, als im Jahre 1924 auf dem XIV. Parteitag der Bolschewistischen Partei der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion zur Tagesaufgabe der Partei proklamiert wurde. Durchaus im Sinne der stalinschen Gedanken über die Weltrevolution wurde auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (Ende 1935) die internationale Aufgabe der von den ausbeutenden Klassen befreiten Sowjetunion eindeutig klargestellt. Am Schlusse des im Auftrage des Exekutivkomitees gehaltenen Referates über „die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion" sagte Manuilski:
„Noch mehr ist die Bedeutung der Sowjetunion als die Hochburg der proletarischen Weltrevolution gestiegen, die in jeder Weise die Positionen der internationalen Arbeiterklassen in ihrem Kampf gegen das Kapital gestärkt hat.
...Unsere Stärke und unsere Errungenschaften gehören nicht nur den Völkern der Sowjetunion, nicht nur der kommunistischen Vorhut, sondern auch der Arbeiterklasse aller Länder, sowohl den Arbeitern, die der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale angeschlossen sind, als auch den Arbeitern, die den Parteien der II. Internationale folgen, sowohl den Arbeitern, die keiner Organisation angehören, als auch den Arbeitern, die gewaltsam in die faschistischen Organisationen gezwängt sind.
... Unter der Führung Stalins diente und dient unsere Partei restlos der Sache des proletarischen Internationalismus, als sie sich die Aufgabe stellte, den Sozialismus in ihrem Lande in den Verhältnissen einer feindlichen kapitalistischen Umwelt aufzubauen. Heute ist dieser Sieg eine Tatsache. Heute vollendet unsere Partei unter der Führung Stalins den Bau der sozialistischen Gesellschaft, hat sie die Sowjetunion zur mächtigen Basis der proletarischen Weltrevolution gemacht, sie hat die Anziehungskraft des Sozialismus unter den Werktätigen der kapitalistischen Länder nicht nur erhalten, sondern in gewaltigem Maße gesteigert. Unter der Führung des Leninschen Zentralkomitees mit Genossen Stalin an der Spitze diente und dient unsere Partei bis zuletzt der Sache des proletarischen Internationalismus, indem sie die Wehrkraft des Landes der Sowjets stärkte und weiter stärkt...
... Und unsere Partei, unser Volk, unser Land, von Lenin und Stalin erzogen, sind dieser Sache des proletarischen Internationalismus unveränderlich treu und werden ihr treu sein — welchen Prüfungen die Geschichte uns auch immer unterziehen mag. Jeder von uns wird der Sache des proletarischen Internationalismus bis zur letzten Kraftanstrengung, bis zum letzten Atemzuge, bis zum letzten Blutstropfen treu sein.“

 

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DIE AUSSENPOLITIK DER UdSSR

 

DIE SICHERUNG DER SOWJETUNION GEGEN INTERVENTIONEN

Der Sieg des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion ist eine unbestreitbare Tatsache. Die diesem Siege innerhalb des Landes entgegenstehenden Hindernisse wurden aus eigener Kraft beseitigt — ohne die Weltrevolution. Aber der endgültige Sieg des Sozialismus ist erst garantiert, wenn das sozialistische Sowjetland durch keine Intervention kapitalistischer Staaten mehr bedroht wird. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die proletarische Revolution mindestens in den entscheidenden Ländern der Welt gesiegt hat. Die Stellung der Bolschewistischen Partei zu dieser Frage ist besonders deutlich in der Resolution des XIV. Parteitags (1925) ausgedrückt, die den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion einleitete. Dort heißt es:
„Das Vorhandensein zweier diametral entgegengesetzter sozialer Systeme ruft die beständige Gefahr der kapitalistischen Blockade und sonstiger Formen des ökonomischen Druckes, der bewaffneten Intervention und der Restauration hervor. Die einzige Garantie für den endgültigen Sieg des Sozialismus, das heißt eine Garantie gegen die Restauration, ist folglich die sozialistische Revolution in einer Reihe von Ländern."
Trotzki hat wiederholt gegen die Resolution des XIV. Parteitages polemisiert. Zur Frage der Intervention schrieb er in „Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale" (1929 in deutscher Ausgabe erschienen) auf Seite 65/66:
„Wenn Stalin und Bucharin beweisen wollen, daß die UdSSR auch ohne die ,staatliche Hilfe des ausländischen Proletariats', das heißt also, ohne dessen Siege über die Bourgeoisie, auskommen kann, denn die gegnerische Sympathie der Arbeitermassen schützt uns vor der Intervention, so ist das genau dieselbe Blindheit, wie überhaupt die gesamten Folgerungen ihres Grundfehlers. Gewiß ist es unbestreitbar, daß die Sympathie der Arbeitermassen die Sowjetrepublik vor einer Intervention gerettet hat, nachdem die Sozialdemokratie den Nachkriegsaufstand des europäischen Proletariats gegen die Bourgeoisie abgewürgt hatte. Die europäische Bourgeoisie war in diesen Jahren außerstande, gegen den Arbeiterstaat einen großen Krieg zu beginnen. Doch nun zu glauben, daß ein solches Kräfteverhältnis durch viele Jahre hindurch anhalten könne, zum Beispiel bis zu dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, das würde die größte Kurzsichtigkeit bedeuten. Genau so, als wenn man eine Kurve nach einem ganz kleinen Teil derselben bestimmen wollte. Eine solch labile Lage, wo das Proletariat die Macht noch nicht in die Hand nehmen kann und die Bourgeoisie sich nicht mehr als starker Herr im Hause fühlt, muß sich früher oder später jäh entscheiden, entweder nach der einen oder anderen Seite." Die Bourgeoisie, deren erster Interventionsversuch im Bürgerkrieg gescheitert ist, war in den nächsten Jahren außerstande, gegen den Arbeiterstaat einen großen Krieg zu beginnen. Trotzki meint, daß inzwischen die kapitalistische Front durch die Stabilisierung der Verhältnisse in den kapitalistischen Ländern wesentlich erstarkt sei. Die gefestigte kapitalistische Front werde den sozialistischen Aufbau in der UdSSR nicht dulden und durch einen Interventionskrieg zerschlagen. Stalin sah auch das Verebben der proletarischen Revolution in den anderen Ländern und die damit verbundene Stabilisierung der kapitalistischen Mächte. Aber er sah deutlicher noch die Stabilisierung auf der anderen Seite. In einem im Mai 1925 vor den Moskauer Funktionären gehaltenen Referat über „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" sagte er (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 204):
„Die Ebbe ist aber nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite der Sache ist, daß wir neben dem Abebben der Revolution in Europa ein stürmisches Wachstum der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Macht der Sowjetunion haben. Wir haben mit anderen Worten nicht nur eine Stabilisierung des Kapitalismus, wir haben zugleich eine Stabilisierung der Sowjetordnung. Wir haben also zwei Stabilisierungen: eine vorübergehende Stabilisierung des Kapitalismus und die Stabilisierung der Sowjetordnung. Ein gewisses Gleichgewicht zwischen diesen zwei Stabilisierungen — das ist der Charakterzug der gegenwärtigen internationalen Lage...
Wer von den beiden wird den anderen besiegen? — Das ist der springende Punkt!"
Stalin setzt dann weiter den Wert, die Bedeutung und die Unterschiede der beiden Stabilisierungen auseinander. Danach kommt er zu folgendem Schluß:
„Das sind die Tatsachen und Erwägungen, die dafür sprechen, daß die Stabilisierung des Kapitalismus nicht dauerhaft sein kann, daß diese Stabilisierung die Schaffung von Verhältnissen bedeutet, die zur Niederlage des Kapitalismus führen, daß die Stabilisierung der Sowjetordnung hingegen eine fortwährende Anhäufung der Bedingungen bedeutet, die zur Erstarkung der Diktatur des Proletariats, zur Steigerung der revolutionären Bewegung aller Länder und zum Sieg des Sozialismus führen."
Das schnellere Erstarken der Sowjetunion durch den sozialistischen Aufbau, die zuverlässigere Festigung der Sowjetmacht gegen die immer von Zersetzung bedrohte kapitalistische Herrschaft betrachtete Stalin als einen realen Vorsprung. Er erwartete jedoch die Verhinderung der Intervention nicht nur von der revolutionären Entwicklung in den anderen Ländern. Der Sieg des sozialistischen Aufbaus, das Erstarken der Sowjetunion und die revolutionierende Wirkung der sozialistischen Erfolge auf die Werktätigen in der kapitalistischen Welt sind ihm wichtige Hilfsmittel gegen Angriffe von außen. Die Rote Armee, die mächtigste der Welt, die qualifizierte Kader, modernste Kampfwaffen und die stärkste Luftflotte hat, ist ein beträchtlicher Garant gegen die Intervention. Lenin hatte „die äußerste Anstrengung aller Kräfte zum raschesten wirtschaftlichen Aufschwung des Landes, zur Erhöhung seiner Wehrkraft, zur Schaffung einer mächtigen sozialistischen Armee" verlangt. Die wichtigste Voraussetzung für eine solche mächtige sozialistische Armee aber ist die große wirtschaftliche Potenz des Landes, die nur durch den sozialistischen Aufbau geschaffen werden konnte. Eine weitere Voraussetzung für die erfolgreiche Abwehr kriegerischer Angriffe ist die Einheit zwischen Armee und Volk, die durch die ideologische Mobilisierung der Massen für die Verteidigung des sozialistischer Vaterlandes in der Sowjetunion in unvergleichlich größerem Maße gelungen ist als in Jedem anderen Lande.
Seit 1917 haben sich die Verhältnisse in der Sowjetunion grundlegend geändert. Dadurch erfuhr die Stellung des Sowjetlands innerhalb der übrigen Welt eine ganz ungewöhnliche Stärkung. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch die Form der Interventionsgefahr gewandelt. Am Anfang stand die offene Stellungnahme der kapitalistischen Mächte gegen das proletarische Land, dann kam die Periode der indirekten Störungsversuche bei Nichtanerkennung des neuen Staates. Erst später fanden sich die kapitalistischen Mächte mit den neugeschaffenen Machtverhältnissen in dem Riesenreich im Osten ab. Allmählich anerkannten sie auch offiziell die Sowjetmacht. Und heute haben — unter dem Druck der aggressiven imperialistischen Politik des faschistischen Deutschland einerseits und infolge des Erstarkens der Sowjetunion andererseits — bereits einige der bürgerlichen Staaten Bündnisse mit der Sowjetunion abgeschlossen. Zu Beginn des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion war das damals noch demokratische Deutschland die erste europäische Großmacht, die — beengt durch die Folgen der Kriegsniederlage — ein gutes Verhältnis zu der UdSSR suchte. In dieser Periode drohte die Gefahr der Intervention nicht von Deutschland. Erst mit dem Siege Hitlers begann die Umwälzung in Europa, die das von den Faschisten unterjochte Deutschland zu dem angriffslüsternsten Gegner der Sowjetunion machte. Der Sieg des Faschismus in Deutschland hat nicht nur die Kriegsgefahr In der ganzen Welt unendlich vergrößert, er hat im Besonderen auch die Gefahr des Interventionskrieges gegen das sozialistische Sowjetland gesteigert. Der von Hitler erstrebte faschistische Staatenblock, dessen Aufgaben durch das „gegen den Kommunismus" gerichtete Angriffsbündnis mit Japan und Italien eindeutig klargestellt wurden, soll zweifellos der Intervention zur Restaurierung der früher in Rußland herrschenden Gewalten dienen. Jedoch hinter der Propaganda für den Weltanschauungskrieg sind die imperialistischen Tendenzen des deutschen Faschismus deutlich erkennbar: Große Teile der Sowjetunion für Deutschland zu erobern; alle von Deutschen bewohnten Gebiete „Großdeutschland" einzuverleiben und das Dritte Reich so stark zu machen, daß es seine weitgehenden materiellen Ansprüche in Südost- und Westeuropa, ebenso seine kolonialen Wünsche hemmungslos verwirklichen und die unbestrittene Vormachtstellung in Europa errichten kann. Diese imperialistischen Tendenzen aber, die im Widerspruch stehen zu den Interessen anderer kapitalistischer Mächte, hindern Hitler, die Isolierung der Sowjetunion zu erreichen und einen geschlossenen Block aller kapitalistischen Staaten für den Interventionskrieg gegen die „bolschewistische Weltgefahr" zusammenzubringen.
Dem Interventionskrieg gegenüber ist die Stellung der Sowjetunion im Jahre 1937 unvergleichlich stärker als früher. Erstens ist unter den neuen Verhältnissen der geschlossene Block aller kapitalistischen Staaten gegen die Sowjetunion zweifelhafter geworden; zweitens sind heute viel größere Massen der internationalen Arbeiterklasse (ohne Unterschied der Parteirichtung) zur Unterstützung der Sowjetunion gegen Interventionen bereit; und drittens ist die eigene Kraft der UdSSR so gewachsen, daß sie Angriffe viel erfolgreicher zurückzuschlagen vermag. Dieses Anwachsen der eigenen Kraft hat zweifellos entscheidend die Verstärkung der anderen beiden Sicherungen beeinflußt.
Die gesteigerte Wehrfähigkeit der Sowjetunion hat die Angriffslust der faschistischen Interventionisten gedämpft. Bei einer Betrachtung über die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus sagte Stalin im Januar 1933 auf dem Plenum des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei:
„Wir hätten da nicht alle die modernen Verteidigungsmittel, ohne die die staatliche Unabhängigkeit des Landes unmöglich ist, ohne die das Land sich in ein Objekt der militärischen Operationen auswärtiger Feinde verwandeln würde. Unsere Lage wäre dann mehr oder weniger der gegenwärtigen Lage Chinas gleich, das keine eigene Schwerindustrie besitzt, keine eigene Kriegsindustrie, und das jetzt von allen, denen es nur einfällt, gerupft wird.
Mit einem Worte: wir hätten in einem solchen Falle die militärische Intervention und keine Nichtangriffspakte. Wir hätten Krieg, einen gefährlichen Krieg auf Tod und Leben, einen blutigen und ungleichen Kampf, denn in diesem Kriege wurden wir den Feinden, denen alle modernen Angriffswaffen zur Verfügung stehen, fast waffenlos gegenüberstehen.“ Das ist aber nicht der Fall. Die Industrialisierung des Landes, der Aufbau einer mächtigen Roten Armee gaben der Sowjetunion die Möglichkeit zu einer erfolgreichen Verhinderung dieses Interventionskrieges.
Die großen Opfer, die die Völker der Sowjetunion für den sozialistischen Aufbau in ihrem Lande gebracht haben, tragen bereits reiche Früchte. Wenn die friedliche Aufbauarbeit ungestört fortgesetzt werden kann, wird die Ernte für alle Menschen immer reicher. Nur die Intervention kann die Früchte der opfervollen Aufbauarbeit vernichten. Dagegen wirkt die ungestörte Fortführung erfolgreicher sozialistischer Aufbauarbeit in steigendem Maße für die Revolutionierung der werktätigen Massen in der ganzen Welt.

DER KAMPF UM DIE VERHINDERUNG DES KRIEGES

Die Außenpolitik der Sowjetunion ist sehr eindeutig. Sie ist nicht engherzig national, sondern im besten Sinne international. Ihre konkrete Tagesaufgabe sieht sie in der Mobilisierung der proletarischen Massen aller Länder für die Verhinderung des Interventionskrieges. Der Erfolg dieser Politik ermöglicht die ungestörte Fortsetzung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion; er dient aber nicht nur dem Volke in der UdSSR, sondern der Weltarbeiterklasse. Denn der Sieg des Sozialismus in einem Lande fördert die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern, er erleichtert den endgültigen Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt. Trotzki bekämpft fanatisch die auf die Sicherung des Friedens hinauslaufende Politik der Sowjetunion. Seine außenpolitischen Vorschläge führen konsequent zur Isolierung der UdSSR und zum Krieg der isolierten Sowjetunion gegen die ganze Welt. Trotzkis Agitation gefährdet die Erfolge des sozialistischen Aufbaus und die Existenz der UdSSR. Sie dient den Feinden der Weltarbeiterklasse.
Mit dem Auftreten des faschistischen Deutschland in der Weltpolitik ist die internationale Situation grundlegend verändert worden. Die Sowjetunion hat darum in den letzten Jahren ihre Stellungnahme zum Völkerbund, der früher als Machtinstrument des Weltimperialismus gegen den ersten Arbeiterstaat galt, geändert. Die Außenpolitik der Sowjetunion ist deswegen von Trotzki und seinen Nachbetern als opportunistische, antiinternationalistische, beschränkte nationale russische Machtpolitik beschimpft worden. Nur ein sturer, starrer Dogmatismus, der im schroffen Widerspruch zu der revolutionären Realpolitik Lenins steht, ignoriert den Umschwung in der internationalen Situation, der durch die aggressive Politik des zum Kriege treibenden faschistischen Deutschland herbeigeführt wurde, und hält an der alten Kampfstellung gegen den Völkerbund fest. Vor Hitlers Machtantritt war Deutschland zwar kein Bundesgenosse der Sowjetunion, aber als das Land, das die härtesten Opfer des Versailler Vertrages ohnmächtig zu tragen wähnte, stand es der Sowjetunion näher als der Völkerbund, dem es inzwischen beigetreten war. Das faschistische Deutschland dagegen, das vom Völkerbund toleriert seine Aufrüstung betreiben konnte, benutzte die wiedergewonnene „Wehrfreiheit", um den Völkerbund zu sprengen. Aber nicht um das „Machtinstrument des Weltimperialismus" gegen die Sowjetunion zu zerschlagen, sondern um auf den Trümmern des Völkerbundes einen neuen europäischen Staatenbund unter faschistischer Führung zu bilden.
Es war durchaus richtig, daß die Außenpolitik der UdSSR die Gegensätze der imperialistischen Staaten, die Hitlers Pläne störten, auszunutzen versuchte, um den Völkerbund als Hindernis gegen die weitgesteckten Pläne des faschistischen Deutschland zu erhalten. Im geschichtlichen Geschehen ist der Völkerbund ebensowenig wie irgend eine andere Institution eine absolute Größe, deren Funktion unbeeindruckt von der Entwicklung immer unverändert die gleiche bleibt. Das Auftreten des faschistischen Deutschland hat die Rolle des Völkerbundes verändert; die praktische Anwendung der marxistischen Lehre hat es den Führern der Sowjetunion zur Pflicht gemacht, der gewandelten Funktion des Völkerbundes gegenüber eine geänderte Stellung einzunehmen. Stalin hat am 25. Dezember 1933 in einem Interview mit dem Korrespondenten der „New York Times", Duranty, den kommenden Stellungswechsel der Sowjetunion gegenüber dem Völkerbund angekündigt und begründet. Auf die Frage Durantys: „Ist Ihre Haltung gegenüber dem Völkerbund stets nur ablehnend?" antwortete Stalin (siehe „Die Sowjetunion und die Sache des Friedens", Seite 24):
„Nein, nicht immer und nicht unter allen Umständen. Sie verstehen vielleicht nicht ganz unseren Standpunkt. Trotz dem Austritt Deutschlands und Japans aus dem Völkerbund — oder vielleicht eben deswegen — kann der Völkerbund zu einem gewissen Hemmschuh werden, um den Ausbruch kriegerischer Handlungen aufzuhalten oder zu verhindern. Falls dem so ist, falls sich der Völkerbund als ein gewisses Hügelchen auf dem Wege dazu erweisen sollte, die Sache des Krieges, wenn auch nur einigermaßen, zu erschweren und die Sache des Friedens in einem gewissen Grade zu erleichtern, dann sind wir nicht gegen den Völkerbund. Ja, wenn dies der Verlauf der geschichtlichen Ereignisse sein wird, so ist es nicht ausgeschlossen, daß wir den Völkerbund trotz seiner kolossalen Mängel unterstützen werden."
Über den später dann erfolgten Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund und die Gründe für diesen Schritt sagte der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, Molotow, auf dem VII. Sowjetkongreß im Februar 1935:
„In letzter Zeit steht die Frage der Beziehungen zum Völkerbund vor uns in neuer Beleuchtung. Bekanntlich wurde der Völkerbund seinerzeit von den Staaten geschaffen, die dem Arbeiter- und Bauernstaat das Existenzrecht absprachen und sich dafür an der sowjetfeindlichen, bewaffneten Intervention beteiligten. Seinerzeit waren die Bestrebungen stark, den Völkerbund in ein gegen die Sowjetunion gerichtetes Geschütz zu verwandeln. Zu diesem Zwecke sollte er die Verständigung zwischen den Imperialisten sichern. Dieser Versuch scheiterte jedoch. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigten die Veränderung im Lager des Völkerbundes. Die kriegerischsten, aggressivsten Elemente begannen den Völkerbund zu verlassen. Unter den gegebenen Verhältnissen war er ihnen hinderlich. Die Mehrheit der Teilnehmer des Völkerbundes ist heute aus den einen oder anderen Gründen an der Entfesselung eines Krieges nicht interessiert. Wir mußten aus dieser Situation die konkreten bolschewistischen Schlüsse ziehen. Daher zeigten wir uns geneigt, den Vorschlag der dreißig Staaten, die UdSSR möge in den Völkerbund eintreten, anzunehmen. Insofern der Völkerbund heute bei der Sicherung des Friedens eine gewisse positive Rolle spielen kann, mußte die Sowjetunion die Zusammenarbeit mit ihm auf diesem Gebiete als zweckmäßig anerkennen, obwohl uns die Überschätzung der Rolle einer derartigen Organisation nicht eigen ist. Es ist garnicht davon zu reden, daß selbstverständlich die Einladung der Sowjetunion zum Beitritt in den Völkerbund durch dreißig Staaten das internationale Ansehen der Sowjetunion nicht geschwächt, sondern umgekehrt, gestärkt hat. Wir rechnen diese Tatsache zu unseren Aktiven." Die Außenpolitik der Sowjetunion unterscheidet zwischen den aggressiven und weniger aggressiven Staaten, zwischen denen, die aus ihren nationalen und sonstigen Interessen an der Erhaltung des Friedens interessiert sind, und denen, die planmäßig auf den Krieg hinarbeiten. Es wäre weder konsequente internationalistische, noch revolutionäre, sondern Wahnsinnspolitik gewesen, wenn die Sowjetunion den Versuch der Faschisten, sie in der Welt zu isolieren, unterstützt und sich nicht bemüht hätte, den Spieß umzudrehen und die Kriegstreiber nach Möglichkeit zu isolieren.
Die Aktion gegen die Isolierung der Sowjetunion forderte aber nicht nur eine veränderte Stellungnahme gegenüber dem in seiner Funktion gewandelten Völkerbund, sondern zwang zur Bündnis-Politik mit den nichtfaschistischen Staaten, deren Bestand durch die aggressive Kriegspolitik des faschistischen Blockes gleichfalls bedroht wird. Auch diese Bündnispolitik, deren eindeutiges Ziel die Verhinderung des Interventionskrieges gegen die Sowjetunion, die Sicherung des ungestörten Fortganges des sozialistischen Aufbaues in der UdSSR und damit die reale Stärkung der revolutionären Kräfte in der ganzen Welt ist, wird vom Trotzkismus als Verrat am proletarischen Internationalismus gebrandmarkt. Trotzki behauptet, die Bündnisse mit nichtfaschistischen Staaten dienen nur dem Interesse eines engstirnigen russischen Nationalsozialismus, dem die proletarischen Klasseninteressen der Arbeiter in den anderen Ländern untergeordnet werden. Die Bündnispolitik mit kapitalistischen Staaten verlange von den Arbeitern in diesen Ländern den Burgfrieden mit den herrschenden kapitalistischen Klassen, die Preisgabe des Klassenkampfes. Sie führe darum zur Entmachtung der Arbeiterklasse in den Ländern, von deren siegreicher Revolution das Schicksal der Weltrevolution und damit auch das Schicksal der Sowjetunion abhänge.
Die Aufgabe der Proletarier der faschistischen Länder im Kriege ist ganz eindeutig und einfach, sie darf keinesfalls durch die schwierigere Fragestellung für die Arbeiter in den nichtfaschistischen Ländern kompliziert werden. Die Arbeiter in Hitlerdeutschland dienen ihrem Klasseninteresse, ihrem Befreiungskampf und dem Sozialismus, wenn sie alle Kraft für die Verhinderung des Interventionskrieges einsetzen und — wenn diese ihre Bemühungen nicht zum Ziele führen und Hitler die Welt in einen wahnsinnigen Krieg stürzt — zielbewußt und planmäßig für die Niederlage der faschistischen Diktatur arbeiten. Die Position der Arbeiter in den Ländern, die im Kriegsfalle gegen die faschistischen Staaten stehen, ist viel komplizierter, sie kann keinesfalls schematisch nach einer alten Schablone bestimmt werden. Die trotzkistische Parole, im Kriegsfalle zum Beispiel die Massen in dem mit der Sowjetunion verbündeten Frankreich zur Revolution gegen die Volksfrontregierung zu führen, ist eine Empfehlung zum Selbstmord. Es besteht die Gefahr, daß in den faschistischen Staaten bei Kriegsbeginn der verschärfte totale Terror jede offene Widerstandsaktion zunächst unmöglich macht. Die unterirdisch arbeitende Gegenbewegung wird erst dann wirksam in Erscheinung treten und zum Sturze der faschistischen Diktatur beitragen können, wenn dem Faschismus Siege auf dem Schlachtfeld versagt bleiben, wenn die ersten Schwierigkeiten offenkundig werden und die Volksmassen in Gärung geraten. Dagegen ist — objektiv gewertet — die Entfachung revolutionärer Aktionen in demokratischen Ländern zweifellos leichter als unter dem Druck des faschistischen Terrors. Könnten die Massen in demokratischen Ländern den von Trotzki empfohlenen Bürgerkrieg sofort bei Kriegsausbruch entfachen, würden sie die Stoßkraft der vom Faschismus überfallenen Staaten ganz empfindlich hemmen. Es bestände dann die Gefahr, daß in den faschistischen Staaten der Zustand der Depression, der die offensive revolutionäre Gegenaktion der unterirdischen Bewegung erst ermöglicht, nicht eintritt. Die erfolgreiche Befolgung der trotzkistischen Parole in den nichtfaschistischen Ländern würde nicht den proletarischen, sondern den faschistischen Kräften die Oberhand verschaffen. Sie würde dem Faschismus den Sieg ermöglichen; sie ist darum konterrevolutionär und muß auf das Entschiedenste bekämpft werden.
Bis zur Niederwerfung der faschistischen Kriegstreiber müssen die Proletarier in den mit der Sowjetunion verbündeten Ländern an der Seite der aus anderen Gründen gegen den faschistischen Imperialismus kämpfenden Kräfte marschieren — allerdings ohne einen Burgfrieden einzugehen, ohne ihre eigene Politik aufzugeben. Der gemeinsame Kampf gegen den gemeinsamen faschistischen Feind hebt vorhandene Gegensätzlichkeiten der zur zeitweiligen Interessengemeinschaft gezwungenen Kräfte nicht auf. Er zwingt die proletarischen Kräfte zur besonderen Wachsamkeit, damit der Krieg nach der Niederwerfung des faschistischen Feindes nicht in einen Krieg gegen die Sowjetunion umschlägt, sondern in den revolutionären Krieg zur Befreiung auch von den Kräften, die das Heranwachsen der faschistischen Gefahr erst ermöglicht haben. Das zeitweilige Zusammengehen der proletarischen und der nationalen Gegner des deutschen Faschismus ohne Burgfrieden ist gewiß schwierig. Es erfordert eine zielbewußte revolutionäre Avantgarde, geschulte qualifizierte Kader, die die Massen in den entscheidenden Situationen in die richtige Kampffront zu führen vermögen. Das Proletariat muß im Kriege mit allen Gegnern der faschistischen Diktaturen gegen den gemeinsamen Feind kämpfen. Aber es darf in diesem Kampfe nicht zum willenlosen Anhängsel seiner zeitweiligen Bundesgenossen werden; es muß seine Politik vertreten, zur führenden Kraft im Kampfe gegen den Faschismus werden und dabei die Halbheiten und Schwächen seiner Bundesgenossen aufdecken. Gegen den gemeinsamen Feind neben den von diesem gleichfalls bedrohten Kräften zu kämpfen, ohne im Burgfrieden das eigene Wollen zu ersticken und die eigene Aufgabe zu verraten — „dieser Unterschied ist ziemlich fein, aber höchst wesentlich, und man darf ihn nicht vergessen". Auf die Notwendigkeit, diese „feine Unterscheidung" zu machen, hat Lenin verwiesen, als es während der Regierung Kerenskis galt, den konterrevolutionären Putsch Kornilows niederzuschlagen. Die Aufgaben des internationalen Proletariats sind nach dem Auftreten eines aggressiven faschistischen Blocks in der Weltpolitik viel komplizierter und viel schwieriger zu lösen als die Aufgaben des russischen Proletariats zur Zeit des kornilowschen Putsches, aber die Konsequenzen, die sich aus dem Handeln der Bolschewiki bei der Niederwerfung Kornilows ergaben, sind trotzdem lehrreich für die Stellungnahme, die das internationale Proletariat im Kampfe gegen die vordringliche akute Gefahr des Weltfaschismus beziehen muß. Hätten damals die Bolschewiki erklärt, daß sie der kornilowsche Vorstoß gegen Kerenski nichts anginge, hätten sie unbeschadet um die veränderte Situation sofort den Hauptstoß gegen Kerenski durchgeführt, so wäre zwar Kerenski gestürzt worden, aber Sieger wären nicht die Bolschewiki, sondern die Konterrevolutionäre gewesen, die einen furchtbaren Vernichtungskrieg vor allem gegen die Bolschewiki durchgeführt hätten. Die Konterrevolution damals, die kriegerischen faschistischen Diktaturen heute, sind der vordringlichste, gefährlichste Feind. Dieser Feind muß geschlagen werden — vom Proletariat zusammen mit den nichtproletarischen Kräften, die der faschistische Imperialismus bedroht. Wenn dabei der von Lenin vorgeschlagene „ziemlich feine, aber höchst wesentliche" Unterschied beachtet wird, so bedeutet die Verneinung der trotzkistischen Parole des Bürgerkrieges in den vom Faschismus überfallenen Staaten keinen Verrat am proletarischen Internationalismus, sondern reale revolutionäre Politik.
Die unverrückbare revolutionäre Perspektive der sowjetischen Außenpolitik und der revolutionären proletarischen Kräfte in der Welt — das ist es ja gerade, was die Haltung der herrschenden Mächte in den demokratischen Staaten den faschistischen Diktaturen gegenüber kompliziert. Wären diese davon überzeugt, daß Trotzki mit seinen Behauptungen die wahre politische Zielsetzung der stalinschen Außenpolitik kennzeichnet, so wäre ihre Haltung sicher weniger schwankend. Die demokratischen bürgerlichen Schichten stehen dem Treiben der faschistischen Diktaturen zweifellos mit einer gewissen Abneigung gegenüber. Aber die herrschenden kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten sehen hinter der unmittelbaren Bedrohung ihrer nationalen Interessen durch Hitler und Mussolini über den Tag hinaus die mittelbare Bedrohung ihrer Klasseninteressen nach dem Siege eines antifaschistischen Blockes.
Die Sowjetunion ist im Kampfe gegen die kriegstreiberische imperialistische Politik des Faschismus eine zuverlässige Größe. Sie ist der tragende, feste, unerschütterliche Eckpfeiler in der Kampffront gegen Krieg und Faschismus. Je größere Fortschritte der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion macht, je stärker und mächtiger die UdSSR wird, je erfolgreicher ihre Außenpolitik den Isolierungsbestrebungen des faschistischen Deutschland entgegenwirkt. um so größere Kräfte kann die Arbeiterbewegung in den anderen Ländern im Kampf gegen Faschismus und Krieg entwickeln, um so erfolgreicher kann der Einfluß der Arbeiterbewegung für das Einschwenken ihres Landes in die antifaschistische Kampffront geltend gemacht werden. Andererseits wird der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion, wird die Machtposition des ersten Arbeiterstaates in der Welt und seine für den Frieden und den Sozialismus wirkende Außenpolitik unterstützt, wenn die Arbeiterbewegung aller Länder — ohne Unterschied der Parteirichtung — mit ihrer tätigen Sympathie hinter der Sowjetunion steht. Das Erstarken der Arbeiterbewegung in allen Ländern, die Steigerung des Einflusses auf die Volksmassen und den Staat — das ist es, woran die Sowjetunion in ihrem Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus ebenso interessiert ist, wie an der engen Bundesgenossenschaft mit der gesamten internationalen Arbeiterbewegung. Die Parole der Einheits- und Volksfront, die vom VII. Kominternkongreß mit viel Nachdruck verkündet wurde, dient darum nicht irgendwelchen taktischen Manövern, sondern der in der heranreifenden Phase der Entscheidung bitter notwendigen unerschütterlichen gemeinsamen Kampffront gegen den gemeinsamen Feind.
Sozialdemokraten und Kommunisten — im nationalen Rahmen irgendeines Landes oder in der Ebene des internationalen Kampfes gesehen — werden vom Faschismus ohne Unterscheidung bekämpft, verfolgt, gemartert, gemordet; nach dem Wunsche von Hitler und Mussolini sollen beide Flügel der Arbeiterbewegung vernichtet, sollen die sozialistischen Ideen, gleichviel wer sie vertritt, ausgerottet werden.
Der Weg, den Hitler zur Erreichung dieses Zieles gehen will, ist der Weltanschauungskrieg gegen die zu isolierende Sowjetunion. Die innige Verbindung der internationalen Arbeiterbewegung mit der Sowjetunion, das richtige kameradschaftliche Verhältnis der sozialistischen Arbeitermassen in allen Ländern zur UdSSR kann Hitlers Absichten verhindern und einen starken, kampfbereiten und kampffähigen Block gegenüber den faschistischen Kriegstreibern schaffen. Steht dem faschistischen Deutschland ein übermächtiger Friedensblock gegenüber, wird dadurch der imperialistische Interventionskrieg für Hitler zu einem sicheren Verlustspiel, dann wird der Menschheit nicht nur der furchtbarste aller Kriege erspart, sondern dann kann der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion, der dem sozialistischen Vormarsch in der ganzen Welt verstärkten Anstoß gibt, ungestört vollendet werden.
Der Sinn des Kampfes der Sowjetunion um die Verhinderung des Krieges ist also unschwer zu erkennen. Die Außenpolitik der UdSSR, die der Welt Frieden erhalten will, ist nicht — wie die sektiererischen Gegner Stalins behaupten — von Schwäche diktiert. Die Sowjetunion ist dank den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus militärisch stark und mächtig; die Quantität und die Qualität der ihr zur Verfügung stehenden Menschen und Materialien macht sie allen ihren Gegnern militärisch nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Wahrlich nicht aus Schwäche sind die führenden Männer der UdSSR gegen den Krieg, sondern weil sie wissen, daß die friedliche, ungestörte Vollendung des sozialistischen Aufbaus in ihrem Lande den siegreichen Vormarsch des Sozialismus in der ganzen Welt erleichtert.
Trotzki und die Trotzkisten bekämpfen die Außenpolitik der Sowjetunion und deren zielbewußten Kampf um die Verhinderung des Krieges mit besonderer Heftigkeit. Sie sabotieren die bitter notwendige Einheitsfront der internationalen Arbeiterbewegung mit der Sowjetunion gegen die faschistischen Kriegstreiber. Die fanatische Hetzpolitik der Trotzkisten gegen die Sowjetunion erschwert die Mobilisierung der proletarischen Massen in den anderen Ländern für die Organisierung einer starken Friedensfront. Der Trotzkismus wirkt überall, wo er praktisch in Erscheinung zu treten vermag, wie Sprengpulver gegen die gemeinsame Kampffront des Proletariats, er stört die revolutionäre Entwicklung in den ändern Ländern, den internationalen Vormarsch zur Revolution und damit zum endgültigen Sieg des Sozialismus.
Die Außenpolitik, die Trotzki von der Sowjetunion verlangt, würde die UdSSR in der ganzen Welt isolieren und sie in einen aussichtslosen Krieg gegen alle hineinhetzen. Wenn Trotzki an der Stelle Stalins stände und wenn er als Mitlenker der Geschicke des Sowjetlandes in den letzten Jahren die Politik praktisch hätte durchführen können, die er von Stalin verlangt, wäre die Sowjetunion schon längst vernichtet. Das aber haben die Massen in der UdSSR sehr gut begriffen, und nicht zuletzt darum hat Trotzki jede politische Wirkungsmöglichkeit in der Sowjetunion verloren. Diese Tatsache wiederum bestimmt die Strategie Trotzkis in seinem weiteren Kampfe gegen die Bolschewistische Partei und die Sowjetunion. So wie fatalistische Gegner des Hitlersystems nicht daran glauben, daß sie den Sturz der faschistischen Diktatur mit den eigenen Kräften erzwingen können und die Überwindung des faschistischen Regimes nur noch von Hitlers Niederlage im Kriege erwarten, so sieht auch Trotzki als einzige, verzweifelte Chance für die Eroberung der Macht in Rußland durch den Trotzkismus die Kriegsniederlage der UdSSR. In Trotzkis strategischem Plan steht darum der Krieg gegen die Sowjetunion als ein notwendiges Faktum. Schon im Juni 1932 schrieb Trotzki in einem Artikel in den „Europäischen Heften":
„Der Krieg ist nicht nur nicht ausgeschlossen, er ist fast unabwendbar." Später hat er auch das „fast" noch fallen lassen und immer deutlicher eine Politik propagiert, deren Konsequenz der Krieg sein muß. Trotzki macht gar kein Hehl daraus, daß er im Kriege den Bürgerkrieg gegen die Sowjetmacht entfachen will. Er ist in der Tat so verblendet, daß er hofft, der Krieg, der den sozialistischen Aufbau unterbinden, Mangel und Not und unabsehbare Leiden über das Volk bringen müsse, werde die Massen gegen das herrschende Regime aufbringen. Diese Situation will der Trotzkismus dann ausnützen, um die „stalinsche Diktatur" zu stürzen. Um seine Konterrevolution theoretisch zu „rechtfertigen", behauptet Trotzki, daß die Volkskräfte durch Stalin und die „stalinsche Bürokratie" gefesselt seien und erst durch eine „neue Revolution“ für einen erfolgreichen „Revolutionskrieg" gegen die faschistischen und kapitalistischen Mächte entfesselt werden müssen. Die „Rechtfertigung" Trotzkis für sein schädliches Tun ist illusionär und unreal — sie ist vollkommen falsch. Muß die Sowjetunion sich gegen einen Interventionskrieg verteidigen, so werden unter dem jetzigen Regime ohne Zweifel alle menschlichen und materiellen Kräfte des Landes restlos für die Niederwerfung der Angreifer mobilisiert werden. Jegliche Aktion gegen die in einen Krieg verwickelte Sowjetmacht würde gegen die Sowjetunion, gegen die Interessen der internationalen Arbeiterbewegung wirken.
Die Hoffnung auf die Niederlage der UdSSR im Kriege, der Wille, diese Niederlage für den Bürgerkrieg auszunützen, ist Hochverrat. Die Sowjetmacht würde ihre Pflicht auch dem internationalen Proletariat gegenüber versäumen, wenn sie nicht mit aller Energie und Rücksichtslosigkeit die Durchführung des trotzkistischen Hochverrats, der kein anderes Ergebnis als den Sieg des Faschismus haben könnte, unmöglich machen würde.
Der Kampf der Sowjetunion um die Verhinderung des imperialistischen Interventionskrieges ist realistische revolutionäre Außenpolitik. Sie wird um so revolutionierender auf die Volksmassen in allen Ländern wirken, je stärker und unerschütterlicher die Machtposition der Sowjetunion, je enger in diesem Kampfe die Gemeinschaft der Sowjetunion mit der Weltarbeiterklasse ist.

DIE INTERESSEN DER WELTARBEITERKLASSE UND DIE INTERESSEN DER SOWJETUNION

Nach dem Auftreten der kriegstreiberischen faschistischen Diktaturen in der Weltpolitik ist die vollkommene Übereinstimmung der proletarischen Interessen in allen Ländern mit denen der Sowjetunion unbestreitbar. Diese Identität muß zu einer festgeschlossenen gemeinsamen Kampffront führen, deren Ergebnis die Vernichtung des Faschismus und der Sieg der Weltarbeiterklasse ist.
Das internationale proletarische Klasseninteresse verlangt die Überwindung der Kräfte und Stimmungen, die die bitter notwendige gemeinsame Kampffront hindern oder unterbinden wollen. Der Trotzkismus, der sich selbst zum Vorkämpfer des unverfälschten proletarischen Internationalismus ernannt hat, stört mit seinem fanatischen Kampf gegen die herrschende Sowjetmacht die Entwicklung der gemeinsamen Kampffront. Seine Stimmungsmache gegen die angeblich nationale russische Machtpolitik Stalins erschwert manchem sozialistischen Arbeiter außerhalb Rußlands das richtige kameradschaftliche Verhältnis zur Sowjetunion. Die Unterscheidung zwischen Stalin und der Sowjetunion ist Demagogie im schlechtesten Sinne; wer so wie der Trotzkismus Stalin und die herrschende Sowjetmacht bekämpft, wirkt damit auch zugleich gegen die UdSSR.
Einige sozialistische Führer, die sich zwar die trotzkistische Unterscheidung zwischen Stalin und der Sowjetunion nicht zu eigen machen, verneinen ganz allgemein die Interessen-Identität zwischen UdSSR und Weltarbeiterklasse. Im „Neuen Vorwärts" (6. Dezember 1936) hat Dr. Richard Kern, einer der hervorragendsten ehemaligen Führer der deutschen Sozialdemokratie, in einem grundsätzlichen Artikel über „Die Politik der Sowjetunion" auseinanderzusetzen versucht, daß die UdSSR nur russische Machtpolitik betreibe:
„Immer mehr diente die kommunistische Ideologie der russischen Machtpolitik, nicht die russische Macht der kommunistischen Idee. Vor die Wahl zwischen Machtinteresse und Idee gestellt, entschied das Machtinteresse." Das ist ungefähr dasselbe, was auch Trotzki sagt. Dr. Kern begründet seine Behauptung damit, daß in der Vergangenheit überall dort, wo in anderen Staaten (z.B. in Ungarn und den Balkanstaaten) die Arbeiterbewegung blutig unterdrückt wurde, die Sowjetregierung die Intervention, in der Konsequenz also den Interventionskrieg, gegen diese Staaten unterlassen habe. „Das Verbot das Interesse der Selbsterhaltung und so überließ die Sowjetregierung die Armen ihrer Pein..." Ein solcher Interventionskrieg hätte die Sowjetunion isoliert in einen Krieg gegen die ganze Welt gestürzt, dessen Ende die Vernichtung der Sowjetunion sein konnte. Damit wäre der einzige Arbeiterstaat, der für die kommunistische Ideologie zu wirken vermochte, vernichtet worden Als nach dem Siege der 1848er Februarrevolution in Frankreich der Dichter Georg Herwegh aus revolutionären Flüchtlingen in Paris eine Legion aufstellen wollte, die als revolutionäre Interventionstruppe nach Deutschland und Österreich marschieren sollte, um dort die „revolutionäre Ideologie" mit Waffengewalt lebendig zu machen, war es niemand anders als Karl Marx, der diesen Plan leidenschaftlich bekämpfte. Gerade Dr. Richard Kern, der in Deutschland immer vor dem Einsatz der Minister-Machtpositionen warnte, weil er davon ihre Vernichtung befürchtete, müßte mehr Verständnis dafür haben, daß man Macht nicht aufs Spiel setzt, ehe nicht einige Gewißheit besteht, daß man sie nicht verspielt. Dr. Kern übersieht scheinbar außerdem vollkommen die Wechselwirkung, die zwischen Macht und Idee besteht. Je schwächer die Machtposition der Sowjetunion im Verhältnis zur kapitalistischen Umwelt ist, um so weniger kann sie — um mit Dr. Kern zu reden — für die „kommunistische Ideologie" eingesetzt werden, aber je stärker sie ist, um so erfolgreicher kann sie für die Interessen der Proletarier aller Länder wirken. Die Veränderung der Machtverhältnisse der Sowjetunion zu der kapitalistischen Umwelt hat auch die Einsatzfähigkeit der sowjetischen Macht verändert. Der lebendigste Beweis dafür ist die zielbewußte Stellungnahme der UdSSR für die spanischen Freiheitskämpfer. Stärken die Proletarier in den anderen Ländern die Macht der Sowjetunion, so dienen sie damit nicht dem Machtinteresse irgendeines Staates, sondern ihrem unmittelbaren ureigensten Interesse.
Dr. Kern sieht jedoch nicht nur in der Vergangenheit die Unterordnung der kommunistischen Ideologie unter die russische Machtpolitik. Er schreibt an anderer Stelle seines Artikels:
„Als Instrument der Außenpolitik mußten die kommunistischen Parteien sich selbst umstülpen, als Verteidiger der Demokratie, als von jetzt an wirklich aufrichtige Vorkämpfer der Einheitsfront und Volksfront antreten. Es waren Gründe der Machtpolitik, der Selbstbehauptung, nicht Gründe der sozialistischen Ideologie oder kommunistischer Selbsterkenntnis, die diesen völligen Umsturz der russischen Politik bewirkten."
Dr. Richard Kern ist ein geschulter Marxist. Als solcher muß er wissen, daß Politik nicht nach ätherischen, im luftleeren Raum schwebenden Prinzipien gemacht werden kann. Die Ideologie einer Bewegung muß im festen Erdreich des wirklichen Lebens verwurzelt sein, wenn sie Massen in Bewegung setzen soll. Theorie und Praxis müssen in lebendiger Wechselwirkung miteinander stehen. Widerspricht es den marxistischen Grundprinzipien und der sozialistischen Ideologie, wenn die Dritte Internationale angesichts der Vorbereitungen des faschistischen Interventionskrieges gegen die Sowjetunion und auch gegen die anderen Festungen der internationalen Arbeiterbewegung von ihren Anhängern verlangt, daß sie die Demokratie gegen den faschistischen Ansturm verteidigen, daß sie sich zu „wirklich aufrichtigen Vorkämpfern der Einheitsfront und Volksfront" entwickeln? Keinesfalls! Die nach dem Siege des deutschen Faschismus herangereifte tatsächliche Situation in der Welt verlangt von allen Teilen der Arbeiterbewegung eine Stellungnahme, die gleicherweise der sozialistischen Ideologie und den Interessen des ersten Arbeiterstaates entspricht. Die Situation für den großen Machtkampf ist herangereift, für den Marx und Engels schon im „Kommunistischen Manifest" die Parole ausgegeben haben: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Der Erfüllung dieser Parole für den Entscheidungskampf können sich weder die Sowjetunion noch die verschiedensten Teile der internationalen Arbeiterbewegung entziehen: entweder sie siegen gemeinsam oder sie werden gemeinsam vernichtet. Es ist in der Tat so, wie der Präsident der Zweiten Internationale, de Brouckere, Ende 1936 sagte: „Entweder einigen wir uns oder wir gehen unter." Am Schlusse seines Artikels schreibt Dr. Richard Kern:
„Besagt aber der Nachweis, daß die Politik der Sowjetregierung nicht im Dienste einer proletarischen sozialistischen oder kommunistischen Ideologie steht, etwas gegen die Übereinstimmung ihrer Politik mit der der sozialistischen Parteien? Ist nicht umgekehrt die Ableitung der Friedenspolitik der Sowjetunion aus ihren machtpolitischen Interessen das stärkste Argument für die Aufrichtigkeit dieser Politik und ist damit nicht eine Solidarität, ja Identität dieser Politik mit der der sozialistischen Parteien gegeben? Darauf ist zunächst zu antworten, daß die auswärtige Politik der sozialistischen Parteien gegenüber jeder staatlichen Machtpolitik ihre volle Selbständigkeit bewahren, sie nicht ideologisch als ihre eigene akzeptieren kann, auch wenn sie streckenweise mit der ihren zusammenfällt. Denn die russische Machtpolitik entspricht eben anderen Motiven als den Interessen der Arbeiterbewegung und hat deshalb andere eigene Gesetze." Dr. Richard Kern unterscheidet zwischen der sozialistischen Ideologie und der sowjetrussischen Machtpolitik, die nichts miteinander gemein haben sollen. Er unterschiebt der Sowjet-Außenpolitik Motive, die grundverschieden von denen der sozialistischen Arbeiterbewegung und eines sozialistischen Staates sind. Er behauptet, daß die Gesetze, denen die internationale Arbeiterbewegung zu folgen hat, wesentlich andere sind als die, die das Handeln der Sowjetunion bestimmen. Dr. Kern verneint also die Identität der Interessen der sozialistischen Arbeiterbewegung mit denen der UdSSR. Er begründet das vor allem auch damit, daß die auswärtige Politik der sozialistischen Parteien gegenüber jeder staatlichen Machtpolitik ihre volle Selbständigkeit bewahren muß. Dieser Grundsatz ist zweifellos richtig gegenüber den kapitalistischen Staaten, deren Machtpolitik in jedem Falle in schroffem Widerspruch zu den Klasseninteressen der internationalen Arbeiterbewegung steht. Aber gerade diejenigen, die jetzt mit so starkem Nachdruck die volle Selbständigkeit der auswärtigen Politik sozialistischer Parteien gegenüber der Sowjetunion verlangen, haben in der Vergangenheit nur zu oft die selbständige Politik gegenüber der Machtpolitik kapitalistischer Staaten vermissen lassen. Im letzten Weltkrieg war leider von dieser Selbständigkeit wenig zu spüren, und nicht zuletzt die Identifizierung der Politik sozialistischer Parteien mit der Machtpolitik ihres kapitalistischen Heimatlandes hat die internationale Arbeiterbewegung so weit zurückgeworfen, hat die Spaltung verursacht, hat nicht unwesentlich mit zum Vormarsch des Faschismus beigetragen.
Gegenüber der Machtpolitik kapitalistischer Staaten muß also die Selbständigkeit der auswärtigen Politik aller sozialistischen Parteien immer gewahrt werden, wenn die Weltarbeiterklasse keinen Schaden nehmen soll. Aber der große Irrtum Kerns ist, daß er die sozialistische Sowjetunion den kapitalistischen Staaten gleichsetzt. Jeder sozialistische Arbeiter muß begreifen: sein Klasseninteresse diktiert ihm, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegenüber eine grundlegend andere Stellung einzunehmen als gegen kapitalistische Staaten. Von seinem individuellen Standort aus mag der Einzelne noch so viel Mängel an der Sowjetunion sehen, nie darf diese individuelle Einstellung ihn zu einer Gegnerschaft zur Sowjetunion bringen. Sie muß ihn vielmehr veranlassen, in seiner Heimat für die revolutionäre Entwicklung zu wirken, die der UdSSR in schnellerem Tempo die Vollendung des sozialistischen Aufbaus und die Überwindung der letzten Mängel ermöglicht. Die Sowjetunion, in der die ausbeutenden Klassen liquidiert und die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, ist ein sozialistischer Staat, dessen Politik zur Erhaltung und steten weiteren Stärkung seiner Macht nicht den engen nationalen Interessen der sowjetischen Völker dient, sondern dem Sozialismus, der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt. Die Macht der Sowjetunion und die Macht der internationalen Arbeiterbewegung — dienen einem gemeinsamen Ziele, sie ergänzen einander. Wenn die Sowjetunion und die internationale Arbeiterbewegung in enger kameradschaftlicher Kampfgemeinschaft zusammenarbeiten, erhöht die gestärkte Position der einen die Stoßkraft der anderen. Die selbständige auswärtige Politik einer sozialistischen Partei, konsequent im Interesse der Arbeiterklasse geführt, wird automatisch identisch mit der Außenpolitik der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Sie wird sich von dieser nur dann unterscheiden, wenn sie ihre Selbständigkeit gegenüber der Machtpolitik kapitalistischer Staaten aufgibt und die Interessen der Arbeiterklasse in den Hintergrund schiebt. Die Motive und die Gesetze, die die Außenpolitik der sozialistischen Sowjetunion bestimmen, sind identisch mit den Motiven und Gesetzen, die die selbständige Außenpolitik der sozialistischen Parteien bestimmen müssen. Es besteht also auch prinzipiell eine Identität der Interessen der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung, die nach dem Auftreten des aggressiven faschistischen Imperialismus — angesichts ihres zielbewußten Kampfes gegen Krieg und Faschismus — besonders aktuell und offenkundig in Erscheinung tritt. So eindringlich, daß Dr. Richard Kern feststellen muß, die Außenpolitik der Sowjetunion falle mit der der sozialistischen Parteien streckenweise, das heißt in dieser Gegenwart, zusammen. Diese „streckenweise" Übereinstimmung aber ist eine dauernde. Entweder endet sie mit dem internationalen Siege des Faschismus — dann gibt es keine Außenpolitik der Sowjetunion und keine der sozialistischen Parteien mehr. Oder sie endet mit der Niederwerfung des internationalen Faschismus — dann gibt es eine gewaltige Entfaltung der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt, den Sieg der proletarischen Revolution in den entscheidenden Ländern und eine Gemeinschaft sozialistischer Republiken weit über die Grenzen der heutigen UdSSR hinaus. Darum müssen in dieser großen geschichtlichen Epoche die Sozialisten in allen Ländern sich für die gemeinsame Kampffront mit der Sowjetunion entscheiden. Es ist unbestreitbar so, wie Otto Bauer im „Kampf" (Nr. 3, 1937, Seite 93) schreibt, „daß die Sowjetunion, wie ihr Eingreifen in Spanien beweist, das stärkste Bollwerk proletarischer Macht in der Welt ist und daß das Schicksal des Sozialismus in der Welt von ihrem Schicksal, ihrer Selbstbehauptung, ihrem Sieg in den drohend nahenden großen Weltentscheidungen abhängen wird".
Am deutlichsten erscheint die Identität der Interessen zwischen der deutschen sozialistischen Bewegung und der Sowjetunion. Gelingt es Hitler, in dem von ihm propagierten weltanschaulichen Interventionskrieg gegen den Bolschewismus die Sowjetunion zu schlagen, dann ist für absehbare Zeit der Befreiungskampf des deutschen Proletariats aussichtslos. Behauptet sich dagegen die Sowjetunion siegreich, kann sie den sozialistischen Aufbau in ihrem Lande erfolgreich beenden, dann erwachsen daraus Kräfte, die dem deutschen Proletariat die Niederwerfung der faschistischen Diktatur wesentlich erleichtern. Das deutsche Proletariat — ohne Unterschied der Parteirichtung — ist unmittelbar daran interessiert, daß in dem Ringen zwischen der Sowjetunion und dem Faschismus die UdSSR siegt. Das deutsche Proletariat muß darum alle seine ideologischen und materiellen Kräfte für den einheitlichen Kampf zur Unterstützung der Sowjetunion mobilisieren.
Hängt das Schicksal des Sozialismus in der Welt — wie Otto Bauer feststellt — von dem Schicksal und dem Siege der Sowjetunion ab, dann muß man aus dieser Tatsache auch Konsequenzen ziehen, dann muß die sozialistische Bewegung in allen Ländern in ihrem eigenen Interesse eine einheitliche Kampffront mit der Sowjetunion gegen die gemeinsamen Feinde bilden. Die Schwankungen der demokratischen Staaten zwischen der faschistischen und der antifaschistischen Front werden zuverlässig nur dann zugunsten der letzteren, zugunsten der übereinstimmenden Interessen der Sowjetunion und der sozialistischen Parteien entschieden, wenn die Macht und der Einfluß der Arbeiterbewegung in diesen Ländern stark genug ist. Macht und Einfluß der Arbeiterbewegung hängen aber von ihrer Einigkeit und Geschlossenheit ab. Darum ist die praktische Durchführung einer aktionsfähigen Einheitsfront und Volksfront, die die letzten Reserven für den Kampf um den Frieden und die Niederwerfung des Faschismus mobilisiert, eine brennend aktuelle Aufgabe, deren Erfüllung ebenfalls gleicherweise den Interessen der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung und der Sowjetunion dient.
Die Einheits- und Volksfrontpolitik wird von zwei Seiten angegriffen: von den Sozialdemokraten, die sie noch oft als ein unehrliches Manöver betrachten, und von den Trotzkisten, die sie im Gegensatz dazu als eine opportunistische Preisgabe der kommunistischen Grundsätze bezeichnen. Angesichts der Identität der Interessen der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung ist die Fragestellung Verrat oder Manöver sinnlos; die Hauptsache ist, daß die Ehrlichkeit bei der praktischen Durchführung der Einheits- und Volksfrontpolitik überall so unverkennbar ist, daß die Gegner der gemeinsamen Kampffront keinerlei wirkungsvolle Argumente dagegen mehr vorzubringen vermögen. Wird aber durch die erfolgreiche Einheits- und Volksfront erreicht, daß der gesteigerte Einfluß der Arbeiterbewegung die demokratischen Staaten zum zuverlässigen Einschwenken in die antifaschistische Front zwingt, dann wird dadurch nicht nur die Machtposition der Sowjetunion gestärkt, sondern über diese hinaus werden die Machtpositionen der geeint marschierenden internationalen Arbeiterbewegung und die realen Aussichten der Weltrevolution erheblich verbessert. Damit werden auch die trotzkistischen Einwände widerlegt, denen gegenüber immer wieder betont werden muß, daß wegen der Identität der Interessen der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung jede Politik, die der Sowjetunion nutzt, unmittelbar auch der Arbeiterbewegung in den anderen Ländern dient.
Der Sinn der Volksfrontpolitik ist nicht, einer zweifelhaften, unklaren, breiteren Front wegen die Prinzipien der revolutionären Bewegung preiszugeben. Gerade die Beispiele der französischen und der spanischen Volksfront beweisen, daß unter Aufrechterhaltung der eigenen revolutionären Zielsetzung das Zusammengehen mit anderen Kräften gegen den gemeinsamen, zunächst zu schlagenden Feind möglich ist. In diesem gemeinsamen Kampf, in dem die revolutionäre Vorhut ihre Isolierung von den Volksmassen überwindet gewinnt sie wachsenden Einfluß auf die Massen, die sie in einem längeren Entwicklungsprozeß immer mehr zu beeindrucken vermag. Die Folge wird sein, daß die Masse in revolutionären Situationen in einem viel schnelleren Tempo lernen wird, mit der zielbewußten Vorhut zu marschieren.
Die aktuellste Aufgabe der Außenpolitik der UdSSR ist die Beseitigung der vom Faschismus drohenden Gefahren, die Überwindung des Faschismus. Schon allein darum ist die Sowjetunion am Vormarsch der sozialistischen Bewegung, am Siege des Sozialismus in der ganzen Welt interessiert — aber auch weil davon der endgültige, der vollständige, nicht mehr zu erschütternde Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion abhängt.

 

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DAS PROBLEM DER BÜROKRATIE

 

GIBT ES IN DER SOWJETUNION EINE "DIKTATUR DER BÜROKRATIE"?

Die Kritiker der Sowjetunion behaupten, in der UdSSR herrsche nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur der stalinschen Bürokratie. Die Trotzkisten können nicht bestreiten, daß in der Sowjetunion die Vergesellschaftung der Produktionsmittel durchgeführt, also die Voraussetzung für eine sozialistische Gesellschaft geschaffen ist. Aber sie behaupten, daß die Entwicklung zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft durch die Herrschaft der Bürokratie unmöglich gemacht werde. Die Produktionsmittel gehören zwar dem Staat, aber der Staat gehöre gewissermaßen der Bürokratie, behauptet Trotzki in „La revolution trahie". Wäre der Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion gelungen, — so argumentieren die Trotzkisten — so dürfte es dort keine Bürokratie, keinen Gendarmen mehr geben, so müßte der staatliche Machtapparat „abgestorben" und eine vollkommen gleiche Verteilung des Volkseinkommens garantiert sein. Das aber sei keineswegs der Fall. Vielmehr habe eine immer mächtiger gewordene Bürokratie, die sich auf das stehende Heer stütze (das sie nicht stärker gemacht habe, um den faschistischen Interventionskrieg zu verhindern, sondern um ihre Diktatur zu sichern), das Volk ihrer Herrschaft unterworfen. Die Sowjetunion sei in einer gefährlichen Zwitterstellung. Sozialistisch sei sie insofern, als sie die Produktionsmittel vergesellschaftet habe, bürgerlich aber sei sie, weil die vergesellschafteten Produktionsmittel nicht vom Volk, sondern von der über das Volk herrschenden Bürokratie verwaltet werden, die die bürgerlichen Grundsätze der verschiedenen Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens, also die Ungleichheit, aufrechterhalte. Diese Zwitterstellung müsse bei dem Überhandnehmen der Macht der Bürokratie zur Konterrevolution führen. Der bürokratische Gewaltapparat übe eine immer größer werdende Macht aus, er entwickle sich zu einet neuen privilegierten herrschenden Klasse, die sich alle Errungenschaften der Revolution dienstbar mache. Wenn die Sowjetunion leben und sich zum Sozialismus entwickeln solle, müsse die Herrschaft dieser Bürokratie vernichtet werden. Der Weg zum Sozialismus gehe nur über den Sturz der Bürokratie, der nicht mit demokratischen Mitteln, sondern nur durch eine „neue Revolution" erreicht werden könne.
Diese Argumentation soll Trotzkis Kampf gegen die Bolschewistische Partei und die Sowjetunion einen Schein von Berechtigung geben. Da sie auch in sozialistischen Kreisen außerhalb der UdSSR Widerhall gefunden hat, ist es notwendig, klarzustellen, wie es in Wirklichkeit um die in der Sowjetunion angeblich herrschende „Diktatur der Bürokratie" gestellt ist.
Gibt es in der Sowjetunion eine Bürokratie? Konnte diese Bürokratie sich zu einer privilegierten Klasse entwickeln, die die Herrschaft über das Volk ausübt?
Die neue Verfassung der UdSSR spricht eindeutig aus, daß die klassenlose Gesellschaft noch nicht erreicht ist, daß der Sowjetstaat sich darum auch noch nicht in eine selbstverwaltende Gesellschaft auflösen konnte, und daß bis zur Erreichung dieses Zieles die Diktatur der Arbeiterklasse als Herrschaftsform aufrechterhalten werden müsse. Solange aber die klassenlose Gesellschaft noch nicht geschaffen ist, solange noch ein Staat existiert, noch Klassen vorhanden sind, braucht er eine Verwaltung, eine Bürokratie. Solange die klassenlose Gesellschaft noch nicht existiert, solange werden einzelne Klassen die Herrschaft im Staate ausüben. Der Verwaltungsapparat des Staates wird aber in keinem Falle eine selbständig herrschende Klasse, sondern er wird immer nur das Instrument der herrschenden Klasse sein. Er ist — wie Karl Marx lehrte — im kapitalistischen Klassen-Staat das Organ der herrschenden kapitalistischen Klasse. Unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats wird er der Beauftragte der herrschenden Arbeiterklasse sein. Die Behauptung, daß die Bürokratie eine selbständige Klasse sei, die zwischen oder über den anderen Klassen stehe, die als selbständige Kraft im kapitalistischen Staat über die kapitalistischen Klassen, im proletarischen Staat über die Arbeiter- und Bauernklasse herrsche, ist vollkommen unmarxistisch. Im Jahre 1933 schrieb Trotzki in „Die 4. Internationale und die UdSSR" (Seite 13 usf.):
„Eine Klasse wird bestimmt nicht durch den Anteil am Nationaleinkommen allein, sondern durch eine selbständige Rolle in der allgemeinen Wirtschaftsstruktur, selbständige Wurzeln im ökonomischen Fundament der Gesellschaft. Jede Klasse (Feudaladel, Bauern, Kleinbürgertum, kapitalistische Bourgeoisie, Proletariat) arbeitet ihre Grundformen des Eigentums heraus. All dieser sozialen Züge ist die Bürokratie bar. Sie nimmt keinen selbständigen Platz im Produktions- und Verteilungsprozeß ein. Sie hat keine selbständigen Eigentumswurzeln. Ihre Funktionen betreffen im Grunde die politische Technik der Klassenherrschaft. Das Vorhandensein einer Bürokratie charakterisiert, bei allen Unterschieden in Form und spezifischem Gewicht, jedes Klassenregime. Ihre Kraft trägt widergespiegelten Charakter. Die Bürokratie ist unlöslich verknüpft mit der wirtschaftlich herrschenden Klasse, nährt sich aus deren sozialen Wurzeln, steht und fällt mit ihr...
Es wäre zum Beispiel nicht uninteressant, auszurechnen, welchen Anteil am Volkseinkommen in Italien oder in Deutschland die faschistischen Heuschrecken verschlingen! Aber diese an sich nicht unwichtige Tatsache reicht ganz und gar nicht aus zur Verwandlung der faschistischen Bürokratie in eine selbständige herrschende Klasse. Sie ist ein Kommis der Bourgeoisie... (Kommis = veraltet Handlungsgehilfe)
Nichtsdestoweniger ändern die Privilegien der Bürokratie für sich allein noch nichts an den Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie schöpft ihre Privilegien nicht aus irgendwelchen besonderen, ihr als „Klasse“ eigentümlichen Besitzverhältnissen, sondern aus den Eigentumsformen, die von der Oktoberrevolution geschaffen wurden und im Grunde der Diktatur des Proletariats adäquat sind." Abgesehen von einigen Schiefheiten wird hier von Trotzki selbst zugegeben, daß in der Sowjetunion eine „Diktatur der Bürokratie" unmöglich ist. Die Bürokratie kann nie und nirgendwo eine selbständige Klasse sein. Sie ist darum auch nicht imstande, eine selbständige Diktatur auszuüben. Das ist der eindeutige marxistische und leninistische Standpunkt, und wenn Trotzki später gegen die angeblich vorhandene „Diktatur der Bürokratie" wettert, so ist auch das nur ein Beweis dafür, wie er um seines persönlichen Machtkampfes willen marxistische Erkenntnisse über Bord wirft und sich gegen den Marxismus wendet. In der gleichen Schrift, in der Trotzki auseinandersetzt, daß die Bürokratie keine selbständige Klasse sei und darum auch nicht die Funktionen einer herrschenden Klasse — die Diktatur — auszuüben vermag, behauptet er aber auch gleich wieder das ungefähre Gegenteil (Seite 16/17):
„Aber die Weiterentwicklung des bürokratischen Regimes kann zur Entstehung einer neuen herrschenden Klasse führen; nicht auf dem organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution." Was bedeutet das? Es wird eine neue Klasse entstehen, die die Herrschaft übernimmt und die Diktatur ausübt. Soll die Bürokratie sich zu der neu entstehenden herrschenden Klasse entwickeln? Wie wird sie zur herrschenden Klasse werden? Trotzki sagt, nicht auf dem organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution. Wer aber soll die Konterrevolution durchführen? Die Bürokratie? Zu welchem Zwecke wohl? Angeblich Übt sie doch die Diktatur über das Volk bereits aus. Soll sie die Konterrevolution machen, um ihre eigene Herrschaft zu beseitigen? Das alles sind sehr komplizierte Rätsel. Jedoch wir wissen, daß die Bürokratie unter der Diktatur des Proletariats ebensowenig eine selbständige Klasse ist wie unter dem Kapitalismus. Wie soll sie also, die immer nur Hilfsmittel einer herrschenden Klasse sein kann, aus eigner Kraft eine Konterrevolution durchführen, und wie soll sie nach dem Siege ihrer Konterrevolution eine selbständige Klasse werden? Von Trotzki selbst wissen wir doch, daß die Bürokratie auch unter dem Faschismus nur der Kommis der Bourgeoisie ist. Das Gerede, daß die Bürokratie ausgerechnet in der Sowjetunion Konterrevolution machen oder nach dem Siege ihrer Konterrevolution zur herrschenden Klasse werden müsse, ist vom marxistischen Standpunkt aus gewertet ein ausgemachter Unsinn. Aber Trotzki braucht solche verzwickte Konstruktionen, um seinen Kampf gegen die UdSSR zu rechtfertigen. Das, wogegen Trotzki zu kämpfen vorgibt, existiert nicht. Sein Kampf gilt der Bolschewistischen Partei, dem ersten Arbeiterstaat, sein Kampf dient dem Rückschritt, der Konterrevolution.
Ist die Bürokratie — wie Marx lehrt — ein Organ der herrschenden Klassen, ist sie keine selbständige Kraft, so ergeben sich daraus auch besondere Konsequenzen. Die Bürokratie ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern sie hat Aufgaben zu erfüllen, die ihr von ihrem Auftraggeber, der jeweils herrschenden Klasse, vorgeschrieben werden. Sie dient der herrschenden Klasse, sie muß für die Erreichung der von der herrschenden Klasse erstrebten Ziele wirken. Ein Autobesitzer läßt seinen Wagen vom Chauffeur nicht in Fahrt bringen, nur damit das Auto sich bewege, sondern um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Genau so wird auch der Bürokratie die Richtung vorgeschrieben. Das Ziel, dem sie zustreben soll, wird je nach der herrschenden Klasse, in deren Auftrag sie handelt, verschieden sein. Das Ziel, das die Bürokratie im kapitalistischen oder faschistischen Staat erreichen soll, ist die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, die fortdauernde Unterdrückung und störungslose Ausbeutung der arbeitenden Massen; das Ziel, das die Bürokratie in der Sowjetunion unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats erreichen soll, ist die Aufhebung der Klassengesellschaft, die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, die den Staat, die Gendarmen und die Bürokratie überflüssig macht. Mit den Augen des Marxisten besehen ist also in jedem Falle die Bürokratie in der Sowjetunion etwas grundlegend anderes als die Bürokratie im kapitalistischen Staate. Die Existenz der beiden kann nicht als etwas Gleiches gewertet werden, ihr Handeln muß mit verschiedenen Maßen gemessen werden. Die Wandlung der Bürokratie der Sowjetunion und die Überwindung ihrer Schwächen liegt in der Hand der über weitgehende politische und wirtschaftliche Rechte verfügenden Arbeiter- und Bauernmassen, deren Beauftragte die Herrschaft In der Sowjetunion ausüben.
Die Allmacht der Bürokratie in der Sowjetunion ist eine Legende, die sich im Kampfe der sozialistischen Parteien in West- und Mitteleuropa im Zusammenhang mit der falschen Kritik der Diktatur des Proletariats herausgebildet hat und die zerstört werden muß, damit die sozialistischen Arbeiter außerhalb der UdSSR den wirklichen Zustand des ersten Arbeiterstaates deutlicher sehen und durch nichts mehr gehindert werden, das enge kameradschaftliche Verhältnis zur Sowjetunion zu finden. Die fortschreitende Demokratisierung von unten, die Schulung der Massen und ihre aktive Teilnahme an der Gestaltung der Produktion und des ganzen Lebens wird wesentlich mithelfen, die verwirrende Legende zu zerstören.
Lenin hat sehr exakt nachgewiesen, daß der Charakter jeder Bürokratie nicht nur von den herrschenden Klassen im Staate, sondern auch von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen abhängt. Die Vollendung einer vollkommenen sozialistischen Produktionsordnung wird der Bürokratie, wird jedem Apparate die Grundlage für seine Mängel und Fehler entziehen und dann — nach der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft — die ganze Bürokratie überflüssig machen. Die Frage ist also, ob die Sowjetunion sich auf dem Wege zur Vollendung einer vollkommen sozialistischen Produktionsordnung und zur klassenlosen Gesellschaft befindet. Und da diese Frage nach dem objektiven Studium der Tatbestände in der UdSSR und nach den Erfahrungen der zwei Jahrzehnte Sowjetherrschaft unbedingt bejaht werden kann, braucht es zur Überwindung vorhandener Mängel des in der jetzigen Phase noch notwendigen Verwaltungsapparates keine trotzkistische „Revolution", sondern vielmehr eine Ausschaltung der trotzkistischen Störungsversuche, die auch die revolutionäre Entwicklung in anderen Ländern hindern und damit den endgültigen Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion und in der ganzen Welt verzögern.

TROTZKIS STANDPUNKT

Sehr aufschlußreich ist die historische Erinnerung an eine Diskussion, die vor anderthalb Jahrzehnten innerhalb der Bolschewistischen Partei über das Thema Bürokratie geführt wurde. Bei dieser Auseinandersetzung um die Jahreswende 1920/1921 hat Lenin gemeinsam mit Stalin sehr heftig gegen Trotzkis Auffassungen über den Aufbau der Gewerkschaften Stellung genommen.
Die Auseinandersetzung ist auch Beweis dafür, wie starke Gegensätze es zwischen Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution immer wieder gab.
Kein anderer als derselbe Trotzki, der heute gegen die „Diktatur der Stalinschen Bürokratie" wettert, war es, der damals vorschlug, die Gewerkschaften nach militärischen Gesichtspunkten, bürokratisch von oben zu organisieren und zu kommandieren — ohne den Mitgliedern ein demokratisches Mitbestimmungsrecht zu gewähren.
Gegen diesen bürokratischen Standpunkt Trotzkis, der im Grunde nichts anderes war als eine Stellungnahme gegen den Standpunkt der Bolschewistischen Partei, ist Lenin sehr energisch zu Felde gezogen. In der Rede, die er am 30. Dezember 1920 vor den kommunistischen Delegierten des VIII. Sowjetkongresses und den gewerkschaftlichen Vertretern über Trotzkis Vorschläge zur Gewerkschaftsfrage hielt, sagte er u.a. (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 3 usf.):
„... Mein Hauptmaterial ist die Broschüre des Genossen Trotzki ,Über die Rolle und die Aufgaben der Gewerkschaften'. Wenn ich diese Broschüre mit den Thesen, die er im Zentralkomitee vorgelegt hat, vergleiche und mich in sie vertiefe, staune ich, welch eine Menge theoretischer Fehler und schreiender Unrichtigkeiten in ihr zusammengetragen ist. Wie konnte man, wenn man sich zu einer großen Parteidiskussion über diese Frage anschickte, anstatt etwas gründlich Durchdachtes vorzulegen, so etwas Mißratenes fertig bringen? ....
Einerseits sind die Gewerkschaften, die die industriellen Arbeiter restlos erfassen und in die Reihen der Organisation einbeziehen, eine Organisation der herrschenden, machtausübenden, regierenden Klasse, jener Klasse, die die Diktatur verwirklicht, jener Klasse, die den staatlichen Zwang ausübt. Aber sie sind keine staatliche Organisation, keine Organisation des Zwanges, sie sind eine erzieherische Organisation, eine Organisation zur Heranziehung, zur Schulung; sie sind eine Schule, eine Schule der Verwaltung, eine Schule der Wirtschaftsführung, eine Schule des Kommunismus..."
Nach diesen Feststellungen polemisierte Lenin sehr heftig gegen Trotzki, der seiner Meinung nach das ganze Problem nicht erfaßt habe. Trotzki bezichtigte andere des ideologischen Wirrwarrs, aber „der ideologische Wirrwarr" — sagte Lenin (siehe die gleiche Quelle, Seite 6) — „ergibt sich gerade bei Trotzki, weil er eben in der Grundfrage nach der Rolle der Gewerkschaften unter dem Gesichtswinkel des Überganges vom Kapitalismus zum Kommunismus außer acht gelassen, nicht berücksichtigt hat, daß hier ein kompliziertes System mehrerer Zahnräder vorliegt."
Lenin stellte im weiteren Verlauf seiner Rede die tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten fest, die in der Gewerkschaftsfrage zwischen ihm und Trotzki bestanden. Verschärft wurden diese Meinungsverschiedenheiten nach der Meinung Lenins noch dadurch, daß Trotzki Fehler machte, die mit dem Wesen der Diktatur des Proletariats, also mit einer entscheidenden Grundfrage, zusammenhingen. Lenin wirft Trotzki vor, daß das, was dieser in der Gewerkschaftsfrage vorschlug, übelster Bürokratismus sei. Nach einer Polemik gegen die von Trotzki und Bucharin aufgestellte „falsche Losung der Produktionsdemokratie" fährt Lenin in seiner Rede fort (Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 20):
„Man muß die Bedeutung dieser Losung besonders in einem derartigen politischen Moment begreifen, wo der Bürokratismus den Massen in einer für sie anschaulichen Form gegenübergetreten ist und wo wir die Frage des Bürokratismus auf die Tagesordnung gesetzt haben...
...Es gibt eine wertvolle militärische Erfahrung: Heroismus, Genauigkeit der Ausführung usw. Es gibt etwas Übles in der Erfahrung der übelsten Elemente unter den Militärs: Bürokratismus, Hochnäsigkeit. Die Thesen Trotzkis haben sich .... als eine Unterstützung nicht des Besten, sondern des Übelsten aus den militärischen Erfahrungen erwiesen ...." (Seite 24.)
Schließlich verwies Lenin in seiner Rede auf die Thesen von Rudsutak, die nach seiner Meinung unendlich viel besser waren als die Trotzkis. Sie wurden nur nicht beachtet, weil Rudsutak „den Mangel hat, daß er nicht laut, imponierend und schön zu reden versteht" - wie zum Beispiel Trotzki. Lenin verglich auch im Einzelnen die Thesen Rudsutaks mit denen Trotzkis. Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß im Gegensatz zu Rudsutak Trotzki die Funktionäre und Führer der Gewerkschaften nicht von den Mitgliedern wählen, sondern diktatorisch und bürokratisch bestimmen lassen wollte.
„Da habt ihr den echten Bürokratismus" — sagte Lenin (siehe die vorstellende Quelle, Seite 28) — „Trotzki und Krestinski werden das teilende Personal der Gewerkschaften aussuchen."
Lenin kam schließlich in dieser Rede zu folgendem Schluß (Seite 29):
„Das Fazit: Die Thesen Trotzkis und Bucharins enthalten eine ganze Reihe theoretischer Fehler. Eine Reihe prinzipieller Unrichtigkeiten. Politisch ist die ganze Art, an die Sache heranzugehen, eine ausgesprochene Taktlosigkeit. Die „Thesen“ des Genossen Trotzki sind eine politisch schädliche Sache. Seine Politik ist im Endeffekt eine Politik bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften. Und unser Parteitag wird, davon bin ich überzeugt, diese Politik verurteilen und ablehnen."
In voller Übereinstimmung mit diesen Ausführungen Lenins schrieb Stalin in einem Artikel „Unsere Meinungsverschiedenheiten" am 19. Januar 1921 in der „Prawda":
„Unsere Meinungsverschiedenheiten liegen auf dem Gebiete der Methoden der Festigung der Arbeitsdisziplin in der Arbeiterklasse, der Methoden des Herangehens an die Arbeitermassen, die in die Wiederaufrichtung der Industrie einbezogen werden, der Wege der Umwandlung der gegenwärtig schwachen Gewerkschaften in mächtige, wirkliche Produktionsgewerkschaften, die fähig sind, unsere Industrie wieder aufzurichten.
Es gibt zwei Methoden: die Methode des Zwanges (militärische Methode) und die Methode der Überzeugung (gewerkschaftliche Methode). Die erste Methode schließt keineswegs Elemente der Überzeugung aus, aber die Elemente der Überzeugung sind hier den Anforderungen der Methode des Zwanges untergeordnet und bilden für sie ein Hilfsmittel. Die zweite Methode schließt ihrerseits nicht die Elemente des Zwanges aus, aber die Elemente des Zwanges sind hier den Anforderungen der Methode der Überzeugung untergeordnet und bilden für sie ein Hilfsmittel. Diese beiden Methoden zu verwechseln ist ebenso unzulässig, wie es unzulässig ist, die Armee und die Arbeiterklasse in einen Topf zu werfen.
Eine Gruppe von Parteifunktionären mit Trotzki an der Spitze ist, berauscht durch die Erfolge der militärischen Methoden in der Sphäre der Armee, der Meinung, daß es möglich und notwendig sei, diese Methode in die Arbeitersphäre, in die Gewerkschaften zu verpflanzen...
Die Armee ist keine homogene Größe .... Hieraus erwuchsen solche rein militärischen Methoden der Einwirkung wie das System der Kommissare und der politischen Abteilungen, wie die Revolutionstribunale, die Disziplinarstrafen, das allgemein gültige Prinzip der Ernennung usw. ....
Im Gegensatz zur Armee stellt die Arbeiterklasse eine homogene soziale Sphäre dar, die kraft ihrer ökonomischen Stellung für den Sozialismus von vornherein empfänglich ist, leicht auf die kommunistische Agitation eingeht, sich freiwillig in den Gewerkschaften organisiert und infolge alles dessen die Grundlage, den Kern des Sowjetstaates bildet. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der praktischen Arbeit unserer Produktionsgewerkschaften vorwiegend die Anwendung der Methoden der Überzeugung zugrunde liegt. Hieraus erwuchsen jene rein gewerkschaftlichen Methoden der Einwirkung wie Aufklärung, Massenpropaganda, Entwicklung der Initiative und der Selbsttätigkeit der Arbeitermassen, Wählbarkeit usw.
Der Fehler des Genossen Trotzki besteht darin, daß er den Unterschied zwischen der Armee und der Arbeiterklasse unterschätzt, die militärischen Organisationen und die Gewerkschaften auf eine Ebene stellt und versucht ... die militärischen Methoden von der Armee auf die Gewerkschaften, auf die Arbeiterklasse zu übertragen ....
Man kann es jetzt für erwiesen halten, daß die Methoden des Zektran (Zentralkomitee der vereinigten Gewerkschaft der Eisenbahner und Schiffahrtsarbeiter. D.V.), das vom Genossen Trotzki geleitet wird, durch die Praxis des Zektran selbst verurteilt wurden .... Was hat er (Trotzki) in Wirklichkeit erreicht? Einen Konflikt mit der Mehrheit der Kommunisten innerhalb der Gewerkschaften, einen Konflikt der Mehrheit der Gewerkschaften mit dem Zektran, eine faktische Spaltung des Zektran, eine Erbitterung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter „unten“ gegen die ,Kommissare' ....
Um ein solches Land (die Sowjetunion. D. V.) zu regieren, ist es notwendig, auf der Seite der Sowjetmacht das feste Vertrauen der Arbeiterklasse zu haben .... Um aber das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiter aufrechtzuerhalten und zu festigen, muß man die Bewußtheit, die Selbsttätigkeit, die Initiative der Arbeiterklasse systematisch entwickeln ....
Diese Aufgaben mit den Methoden des Zwanges und der „Durchrüttelung" der Gewerkschaften von oben her zu verwirklichen, ist offensichtlich unmöglich, denn diese Methoden spalten die Arbeiterklasse (Zektran) und erzeugen Mißtrauen gegen die Sowjetmacht. Außerdem ist leicht zu verstehen, daß es mit den Methoden des Zwanges überhaupt undenkbar ist, die Bewußtheit der Massen sowie das Vertrauen zur Sowjetmacht zu entwickeln.
Es ist klar, daß es nur mit den ,normalen Methoden der proletarischen Demokratie innerhalb der Gewerkschaften', nur mit den Methoden der Überzeugung möglich sein wird, die Aufgabe der Zusammenschließung der Arbeiterklasse, der Hebung ihrer Selbsttätigkeit und der Festigung ihres Vertrauens zur Sowjetmacht zu erfüllen..." Diese historische Erinnerung ist im Zusammenhang mit den Diskussionen um die „Diktatur der Bürokratie" und der angeblich mangelnden demokratischen Mitbestimmung der Massen außerordentlich interessant. Trotzki, der in seiner feindseligen Stellung gegen die Sowjetunion überall die Herrschaft der Bürokratie und die Ausschaltung des demokratischen Mitbestimmungsrechtes der Arbeitermassen zu sehen behauptet, ist damals, als er noch in verantwortlicher Position war, bei dem Aufbau der Gewerkschaften für eine Bürokratie eingetreten, die die Arbeiterschaft von oben dirigieren wollte, Lenin und Stalin haben sich gemeinsam, gestützt auf die überwiegende Mehrheit der Bolschewistischen Partei, gegen die Einführung dieser kommandierenden Bürokratie gewandt und die demokratische Mitbestimmung der Massen durchgesetzt, die in Verbindung mit dem erfolgreichen sozialistischen Aufbau in immer breiterer Form verwirklicht wurde.

DIE MÄNGEL DER BÜROKRATIE UND IHRE ÜBERWINDUNG

Zu der unmarxistischen These von der „Diktatur der Bürokratie" ist zusammenfassend zu sagen: In der UdSSR herrscht nicht die Diktatur der Bürokratie, sondern die Diktatur des Proletariats. In der Revolution wurde der Staatsapparat des zaristischen Staates zerbrochen und aus dem Proletariat ist ein neuer Machtapparat herausgewachsen, der von der Masse des Volkes kontrolliert und aus ihr immer wieder ergänzt und erneuert wird. Die Sowjetunion ist — wie im IV. Teil dieses Buches über den sozialistischen Aufbau dargelegt wird — in ihrem Wesen ein sozialistischer Staat mit einem sozialistischen Fundament, in dem jedoch — wie Stalin in seiner Rede über die neue Verfassung auf dem VIII. Sowjetkongreß ausführte — die höchste Phase des Kommunismus noch nicht erreicht ist, in dem es zwar keine ausgebeuteten Klassen mehr, aber doch noch verschiedene Klassen und keine klassenlose Gesellschaft gibt. Ist aber der endgültige Sieg des Sozialismus noch nicht da, bestehen noch verschiedene Klassen, so ist der von Marx und Lenin vorausgesagte Zustand, in dem der Staat abstirbt, keinen Verwaltungsapparat, keine Gendarmen und keinen Machtapparat mehr braucht, noch nicht erreicht. In dieser Periode ist trotz dem unbestreitbaren Vormarsch zum Sozialismus die Diktatur des Proletariats noch immer unerläßlich und diese Herrschaftsform braucht wie jede andere ihren Verwaltungs- und Machtapparat. Aber die Bürokratie in der Sowjetunion ist nicht ein Fremdkörper im Volke, sie ist aus diesem hervorgegangen und mit ihm verwachsen, sie wird nach der Annahme der demokratischen Verfassung stärker noch als vorher vom Volke bestimmt und kontrolliert. Die sozialistischen Kritiker der sowjetischen Bürokratie, die den angeblichen Mangel an demokratischem Mitbestimmungsrecht des Volkes beklagen, wissen aus ihrer Praxis in den demokratisch-kapitalistischen Staaten, daß dort die Mitbestimmung des Volkes nur alle vier Jahre einmal bei der Neuwahl des Parlaments zum Ausdruck kommt, daß in der Zwischenzeit der direkte Einfluß des Volkes auf den Verwaltungs- und Machtapparat des Staates gleich Null ist. Die scharfe Trennung zwischen Legislative und Exekutive in den demokratisch-kapitalistischen Staaten macht den Einfluß des Volkes auf die Bürokratie so gut wie unmöglich, während unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats, unter der Legislative und Exekutive eine Einheit sind. die Einflußnahme des Volkes auf die Bürokratie eine viel größere ist.
Jede Verwaltung, jede Bürokratie hat ihre Mängel, deren Größe und Bedeutung je nach dem Charakter der herrschenden Klasse, in deren Auftrage sie wirkt, verschieden ist. Die führenden Männer der Sowjetmacht haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß auch die zur Verwaltung in der UdSSR notwendige Bürokratie Mängel hat. Sie haben selbstkritisch diese Mängel aufgezeigt und die Volksmassen zur positiven Kritik und zur aktiven Mitarbeit an der Beseitigung sichtbar werdender Schwächen aufgefordert. Jedoch zwischen der Bürokratie eines kapitalistischen Staates und dem Verwaltungsapparat der Sowjetunion besteht ein grundlegender Unterschied, der sich aus der völligen Gegensätzlichkeit der die Bürokratie dirigierenden herrschenden Klassen z.B. in Hitlerdeutschland und in der Sowjetunion ergibt. Ebenso ist auch ein großer prinzipieller Unterschied zwischen dem, was Trotzki Bürokratie und Bürokratismus in der Sowjetunion nennt und dem, was die Bolschewistische Partei unter Mängeln der Bürokratie versteht. Im schroffsten Gegensatz zu der Auffassung Trotzkis vertritt die Bolschewistische Partei die Meinung, daß der Staats- und Verwaltungsapparat der Diktatur des Proletariats keinerlei Diktatur ausüben kann, sondern nur ein brauchbares Hilfsmittel im Kampf um den sozialistischen Aufbau ist, und dessen auftretende Mängel die Diktatur des Proletariats und die Partei jederzeit zu korrigieren vermag. Der Unterschied, der zwischen dem Kampf der Bolschewistischen Partei zur Überwindung der Mängel der Bürokratie und der trotzkistischen Hetze gegen die „Diktatur der Bürokratie" besteht, geht klar aus einer Rede Molotows auf dem VII. Sowjetkongreß (Februar 1935) hervor:
„Unser Staatsapparat, der bei allen Mangeln uns die Möglichkeit der Verwirklichung des großen Planes des sozialistischen Aufbaus gibt, wird von unseren Feinden als ein bürokratischer Überbau hingestellt, der mit den Interessen der Entwicklung des einzelnen Menschen und seiner Fähigkeiten unvereinbar sei. Doch verdeckt diese ,Kritik' am Bürokratismus nur die tatsächlichen Absichten des Feindes, den Apparat der Sowjetmacht zu unterwühlen, diesen Apparat, der die gigantische Wirtschaft des Landes im Interesse der Werktätigen verwaltet, der an die Stelle der großen und kleinen Unternehmer getreten ist, die es sich früher wirklich gut sein ließen, aber auf Kosten der Arbeiter und Bauern, durch die Ausbeutung der Werktätigen. Wir begreifen sehr wohl, daß der wirkliche Kampf gegen den Bürokratismus vom Kampf um den Sieg des Sozialismus nicht zu trennen ist und daß mit den Erfolgen in der Entfaltung der Großproduktion in Stadt und Land und dem Wachstum der Kultur der Massen unsere Möglichkeiten zur Überwindung des Bürokratismus ungeheuer steigen. Die werktätigen Massen müssen noch enger an die Arbeit unserer Organe herangezogen werden und unter der Führung unserer Partei zu noch aktiverer Teilnahme am Kampf gegen bürokratische Abweichungen in unserem Apparat veranlaßt werden. Darin erblicken wir eine der wichtigsten Aufgaben, im Bewußtsein, daß dies der richtige Weg zum Siege des Sozialismus ist."
Ohne einen funktionierenden Verwaltungsapparat hätte der sozialistische Aufbau nicht die Erfolge gezeitigt, die von niemandem bestritten werden können. Zumal dieser Aufbau begonnen und in der ersten Zeit durchgeführt wurde mit Menschen, die keine qualifizierten Industriearbeiter waren, sondern direkt vom Hakenpflug an die Maschine gestellt werden mußten. Es ergab sich aus dieser Situation ganz zwangsläufig, daß zur erfolgreichen Durchführung der gestellten Aufgaben der Verwaltungsapparat in der ersten Zeit eine stärkere Bedeutung hatte. Aber Molotow hat vollkommen recht, wenn er feststellt, daß in dem Maße, wie sich die Großproduktion in Stadt und Land entfaltete, wie aus Bauern qualifizierte Facharbeiter und Landwirte wurden, wie die Kultur der Massen wuchs, die Mängel des Bürokratismus immer mehr überwunden werden konnten. Die Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mit allen ihren großen Vorteilen für die Menschen ist ein Entwicklungsprozeß, in dem die Menschen selbst aktiv mitarbeiten müssen, um die der Verwirklichung des Endzieles entgegenstehenden Hindernisse zu beseitigen. Für den objektiven Beurteiler ist unverkennbar, daß gerade in den letzten Jahren des erfolgreichen sozialistischen Aufbaus die Arbeiter in Stadt und Land in viel stärkerem Maße zur demokratischen Mitbestimmung im Betriebe und zur Beseitigung der Mängel der Bürokratie herangezogen wurden. Der Verwaltungsapparat ist noch in mancher Fabrik in der Sowjetunion größer als in einer gleichartigen Fabrik des Auslands, aber die Arbeiter in allen Sowjetbetrieben benutzen ihre zahlreichen Betriebsversammlungen und ihr Mitbestimmungsrecht immer wieder zu dem Hinweis, daß im Betriebe noch zu viele Leute mit irgendwelchen Druckposten herumlaufen, die keine produktive Arbeit leisten und die liquidiert werden müssen. Dieser demokratische Druck von unten, der von der Sowjetmacht nicht etwa gehemmt, sondern gefördert wird, trägt sehr wesentlich zum Abbau der Mängel und zur Reinigung des bürokratischen Verwaltungsapparates bei. Er führt dazu, daß die tatsächliche Initiative und Verwaltung allmählich direkt auf die Volksmassen übergeht.
Der amtliche Bericht der staatlichen Plankommission über den zweiten Fünfjahrplan gibt auch eine zahlenmäßige Übersicht über die Verminderung des Verwaltungsapparates. Von 1932 bis 1937 hat sich das prozentuale Verhältnis der in der Industrie Beschäftigten sehr zu Ungunsten des Verwaltungsapparates verändert. Der prozentuale Anteil der Arbeiter in der Industrie stieg von 74.1% (1932) auf 78.2% (1937), der Anteil der produktiv tätigen Ingenieure und Techniker von 5.2 auf 6.4 %. Dagegen sank der Anteil der in der Hauptsache zum Verwaltungsapparat zählenden Angestellten in der gleichen Zeit von 8.2 auf 6.2%. Im Bauwesen stieg der prozentuale Anteil der Arbeiter von 79.3 auf 83.0%, der Anteil der Angestellten sank von 7.3 auf 4.7%. Aber nicht nur in den einzelnen Produktionszweigen ist im Laufe des zweiten Fünfjahrplans der prozentuale Anteil des Verwaltungsapparates wesentlich vermindert worden, auch der Staatsapparat wurde vereinfacht. In dem Bericht der Staatlichen Plankommission der UdSSR heißt es darüber (467):
„Der zweite Fünfjahrplan sieht eine Verringerung der Zahl der Angestellten des administrativen und Verwaltungsapparates um 20% vor, wobei er von der Notwendigkeit ausgeht, daß der Staatsapparat vereinfacht, die ein großes Arbeitsquantum erfordernden Buchhaltungs- und sonstigen Arbeiten mechanisiert und an die Arbeit des Staatsapparates die Arbeiteröffentlichkeit herangezogen werden muß- (unentgeltliche Bekleidung von Ämtern im Staatsapparat usw.)" In der gesamten Sowjetunion ist nach der gleichen Quelle der prozentuale Anteil der Verwaltung von 8% im Jahre 1932 auf 5% im Jahre 1937 herabgedrückt worden. Diese planmäßige Verminderung der Zahl der im Verwaltungsapparat beschäftigten Menschen bedeutet praktisch eine greifbare Beseitigung der Mängel und eine organisch fortschreitende Schwächung der Bürokratie.
Gerade im Zusammenhang mit der praktischen Durchführung der auf dem VIII. Sowjetkongreß beschlossenen neuen Verfassung, die Trotzki als eine Kapitulation vor bürgerlichen Prinzipien bezeichnet, wird den Mängeln, die die demokratische Mitbestimmung der Massen hemmten, energisch zu Leibe gegangen. Nach dem VIII. Sowjetkongreß wird in der breiten Öffentlichkeit vor den Augen des ganzen Volkes eine Kampagne gegen die in den Reihen der Bolschewistischen Partei auftretenden bürokratischen Fehler durchgeführt. Auf der Anfang März 1937 abgehaltenen Tagung des Plenums des Zentralkomitees der KPdSU wurde eine Resolution angenommen, die von allen Organisationen eine konsequente demokratische Praxis verlangt, eine innerparteiliche Demokratie, wie sie in keiner anderen Partei in der Welt existiert. Es wird gefordert, daß im inneren Parteileben die Grundlagen des demokratischen Zentralismus bis zu Ende realisiert werden. Keinem Parteimitglied kann das Recht auf Kritik genommen werden, die Parteiinstanzen sind der Masse der Parteimitglieder gegenüber vollkommen verantwortlich. Nirgendwo dürfen Parteiinstanzen und Parteisekretäre ernannt, sie müssen überall von der Masse der Mitglieder in freier demokratischer und geheimer Wahl gewählt werden. Die Resolution des Zentralkomitees kritisiert, daß in einzelnen Organisationen Parteisekretäre ohne die Mitwirkung der Mitgliedschaft ernannt wurden, wodurch sich eine Bürokratie herausbilden konnte, die unabhängig von den Massen ohne deren direkten Auftrag handelt. Die Resolution des Zentralkomitees verpflichtete alle Parteiorganisationen, bis zum 20. Mai 1937 die organisatorischen Maßnahmen durchzuführen, die entsprechend dem Parteistatut die demokratische Wahl aller Parteiinstanzen garantiert. Listenwahlen sind verboten, es wird über die einzelnen Kandidaten abgestimmt. Die Wahlen müssen geheim sein und jedem Mitglied muß das Recht der Kritik und der Ablehnung jedes Kandidaten garantiert werden. Die gleichen Bestimmungen gelten für die Durchführung der Sowjetwahlen.
Diese Praxis wirkt unmittelbar gegen noch vorhandene Mängel der Bürokratie, sie gibt dem Volke einen noch stärkeren unmittelbaren Einfluß auf den Verwaltungsapparat im Staat und im Betriebe, den das Volk in keinem der demokratischen kapitalistischen Länder hat.
Das politische Leben in den Betrieben in der Sowjetunion, die demokratische Mitwirkung der arbeitenden Menschen an der Produktion ihres Werkes und der Gesamtwirtschaft ist in der UdSSR in so starkem Maße gegeben, daß die zur Durchführung der Verwaltungsaufgaben noch notwendige Bürokratie keinerlei Diktatur über die Massen auszuüben vermag. Wo Wirtschaftsleiter sich von der engen Verbindung mit den Massen abkapseln, wo sie versuchen, die Arbeiter nicht mitbestimmen zu lassen, wird das von der Sowjetpresse heftig kritisiert. Den wirklichen Zustand in den Sowjetbetrieben charakterisiert recht lebendig der Privatbrief eines deutschen Arbeiters, der seit 1936 in einem Moskauer Betriebe arbeitet und der seinen Freunden seine Eindrücke folgendermaßen schildert:
„Unsere Belegschaft zählt 3000 Köpfe, die Hälfte ungefähr sind Frauen. Wir stellen Meßinstrumente her. Das politische und gesellschaftliche Leben in unserem Betrieb ist nach meiner Ansicht sehr gut, dabei ist er keineswegs einer der besten Betriebe. Durchschnittlich zweimal im Monat finden Betriebsversammlungen statt, Anfang Oktober berichtete unser Direktor über das Ergebnis der Septemberarbeit. 105% des Planes wurden erfüllt. In der Diskussion, die hier immer lang und ausführlich ist, wurden die Lehren aus dem Septemberplan gezogen. Der Oktoberplan war so aufgestellt, daß zur Novemberfeier der gesamte Jahresplan fertiggestellt war. Er wurde schon in den letzten Tagen des Oktober erfüllt. Wir hatten damit einen Wettbewerb mit einem anderen Betrieb unseres Rayons gewonnen. Wettbewerbe, Planerfüllung usw. haben natürlich hier eine ernste Bedeutung, der gesamte Betrieb wird darauf eingestellt. Kommt man durch den Betriebseingang, dann hängt neben den sonstigen Ausschmückungen, die dauernd wechseln, eine Tafel, wo die einzelnen Abteilungen (Zechen) namentlich aufgeführt sind und ihre erfüllten Prozente des Monatsplanes täglich mit Kreide angeschrieben werden. In allen Versammlungen bis zur Beratung der einzelnen Brigade, in den Wandzeitungen der Abteilungen und in unserer gedruckten Betriebszeitung, die alle drei bis fünf Tage erscheint, wird oft genug kritisch dazu Stellung genommen .... Ende November erstattete der Vorsitzende unseres Rayonsowjets einen Bericht über die geleistete Arbeit. Zum Schluß, nach der Diskussion, wie in allen Versammlungen Beantwortung der schriftlich gestellten Fragen, die natürlich hier besonders zahlreich, ungefähr 40 Stück, waren. Über die Verkehrsverhältnisse, Straßenzustände, Beleuchtung, Bauten, Kindergärten, Anlagen usw. Und die Fragesteller waren nicht so einfach zufriedenzustellen. Es kam öfter vor, daß der Referent unterbrochen wurde und sich dann Zwiegespräche entspannen. Zum Schluß wurden die Vorschläge für den zukünftigen Rayonsowjet aus den Reihen der Belegschaft gemacht .... Eine interessante Versammlung hatten wir im Dezember. Sie war vom Komsomol organisiert. Referent ein ZK-Mitglied der Partei. Thema: Spanien. Drei Tage vorher stellte jede einzelne Brigade des Betriebes Fragen zum Referat auf, die vom Komsomol eingesammelt und dem Referenten übermittelt wurden. Er stellte danach sein Referat zusammen ... Nach dem Referat noch weiter Fragebeantwortung und am Schluß rollte der euch ja sicher auch bekannte Spanienfilm. Anfang Januar: Lenin-Feier, Ende Januar sprach unser Direktor über das verflossene Jahr und über den Plan 1937. Diese Versammlung war deshalb interessant, weil hier die Probleme, die für alle Sowjetbetriebe bezeichnend sind, behandelt wurden. Die Kaderabteilung stritt gegen die Direktion und umgekehrt. Die Kaderabteilung, das ist die Personalabteilung, die verantwortlich für die Heranbringung neuer Arbeiter ist und für die politische und technische Qualifikation der Gesamtbelegschaft. Die Stachanowleute ritten eine Attacke gegen die Natschalniks (Leiter der Zechen) und die Natschalniks übten Kritik untereinander ... Betriebsversammlungen sind hier natürlich ganz anders als bei uns. Ich denke oft an unsere rauchgeschwängerten Versammlungsräume, wenn ich mich in unserem Klub befinde, der ein ganzes Haus für sich ist und neben dem Betrieb liegt. In der unteren Etage sind die Betriebsküche, die Speiseräume, Friseurraum und Garderobe. In der ersten Etage ist unser großer Saal mit 800 bis 1000 Sitzplätzen und moderner Kinoeinrichtung. Und zwei kleinere Tanzsäle. Im obersten Stock Bibliothek, Lese-, Spielzimmer und verschiedene Sitzungsräume. Alle Räume modern ausgestattet und mit vielen Blumen und Pflanzen geschmückt. Außer den Betriebsversammlungen haben wir noch jede Woche ein paar Zechenversammlungen. Entweder in der zweiten Hälfte der Mittagspause oder nach Arbeitsschluß, 30 bis 60 Minuten dauernd. Zum Besuch der Versammlungen wird nicht der geringste Druck ausgeübt. Auch die Geldsammlungen für Spanien zum Beispiel sind zwanglos. Bei Beteiligung an Demonstrationen, Aufnahme in die Gewerkschaft ist es ähnlich .... Ich könnte euch noch viel erzählen von den 15 bis 20 verschiedenen Zirkeln unseres Betriebes, von den Sport- und Wehrsportkursen und von der politischen Schulungsarbeit der Partei und des Komsomol. Außerdem ist an jedem Tag vor und an unserem freien Tag selbst bei uns im Klub gratis Kino- oder Theatervorstellung und Tanz. Jetzt im Winter werden jede Woche ein paar Schlittschuh- und Skiexkursionen organisiert. Hinzu kommen Theater-, Konzert- und Museenbesuche, die von den Zechen organisiert werden. Jedenfalls pulsiert hier das Leben in einem Tempo, daß man nicht weiß, wo die Monate bleiben. Ich will Euch noch von dem Beschluß der Komsomol - Gruppe unserer Zeche berichten, der seit Anfang Dezember durchgeführt wird, täglich eine Wandzeitung herauszugeben. Die Sache ist sehr interessant. Für jeden Tag unserer fünftägigen Arbeitswoche ist ein Redakteur bestimmt. Die Zeitungen haben täglich 3 bis 5 Artikel, klein, aber sehr lebendig. Wenn Ihr mich aber fragen solltet, was gefällt Dir am besten im Betrieb, dann werde ich antworten, am besten gefallen mir die Menschen. Ich will euch keine Reklameleute aus dem Betrieb schildern, sondern versuchen, euch ein Bild vom Durchschnitt meiner Zeche zu geben. Zum Beispiel meine Brigade. Wir sind jetzt mit Brigadier fünf Mann. Ich bin der einzige, der politisch organisiert ist. Mein Brigadier Alexander ist 40 Jahre alt. Als Student eingezogen, von 1917 bis 1919 in deutscher Kriegsgefangenschaft. (Er spricht gut deutsch.) Nach Rußland zurückgekehrt kämpfte er in der Roten Armee. Dann war er an vielen Orten der SU am Aufbau tätig, er ist ein theoretisch äußerst geschulter Elektrofachmann. Seit zwei Jahren arbeitet er in unserem Betrieb, weil hier eine Brigade von Elektrofachleuten nötig wurde. Alexander ist wirklich der Idealtyp eines parteilosen Bolschewiki. In seinem Rayon ist er Inspektor von „Ossoaviachim", außerdem macht er noch im Betrieb viel gesellschaftliche Arbeit. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder. Persönlich ist er ein äußerst bescheidener Mensch und sehr gefühlsmäßig eingestellt. Er liest uns Öfters Gedichte vor. Er gehört zum ingenieurtechnischen Personal und verdient 800 Rubel monatlich. Slav, 26 Jahre alt. Er hat Mittelschulbildung und hat zwei Jahre eine elektrotechnische Schule besucht. Seit zwei Jahren ist er in unserem Betrieb und verdient 400 Rubel. Vom Betrieb ist er in den Rayonsowjet delegiert. Er tanzt gern und liest viel Belletristik. Roman, 24 Jahre. Ebenfalls Mittelschule und dann zwei Jahre Elektrotechnik. Seit eineinhalb Jahren im Betrieb und 400 Rubel. Er ist leidenschaftlicher Fußballer und außerdem großer Kunstliebhaber, spielt gut Klavier und besucht viele Konzerte und Kunstausstellungen. Mischa, 24 Jahre. Seine Eltern waren früher Armbauern in einem Dorf, eine Stunde von Moskau entfernt. Er wohnt noch in dem Dorf, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er braucht jeden Tag zweimal ein und eine halbe Stunde Fahrzeit, er macht keinerlei gesellschaftliche Arbeit und besucht nur die wichtigsten Betriebsversammlungen. Geistig und kulturell unterscheidet er sich natürlich von den Genossen meiner Brigade. Beruflich ist er sehr interessiert und für jeden Tip dankbar. Er hat keinerlei theoretische Ausbildung und verdient 300 Rubel. Er macht die einfachsten Arbeiten in unserer Brigade. Ich habe monatlich 450 Rubel fest, hinzu kommen bei mir, ebenso wie bei den anderen noch Prämien, im Oktober habe ich 522, im November 566, im Dezember 538 Rubel verdient. Abzüge betragen monatlich 15 bis 20 Rubel, jetzt gehen noch 45 Rubel Anleihe ab, die ich zeichnete. Ich habe immer noch mein altes Magenleiden: einen unheimlichen Appetit, der noch weiter angeregt wird, wenn ich mit meiner gefüllten Brieftasche durch unsere prachtvollen Magazine gehe. Die kollektive Zusammenarbeit in unserer Brigade ist glänzend. Unsere Arbeit ist auf freiwillige Disziplin aufgebaut und ich muß sagen, unser Brigadier kann sich auf jeden einzelnen von uns verlassen. Ich könnte Euch noch viel von den einzelnen Menschen erzählen .... in meiner Zeche arbeiten 50 bis 60 Menschen, drei Viertel davon sind Mädchen, von denen über die Hälfte im Komsomol ist. Nicht im ganzen Betrieb ist der Komsomol prozentual so stark vertreten, trotzdem ich schätze, daß zwei Drittel unserer Belegschaft unter dreißig Jahre alt sind. Mitglieder der Partei sind in meiner Zeche drei oder vier Genossen. Das politische Leben und viele andere Dinge hatte ich mir ja immerhin so ähnlich vorgestellt. Völlig überrascht bin ich aber von dem geselligen Leben im Betriebe. In unserer Zeche zum Beispiel wird jeden Tag etwas organisiert, in der zweiten Hälfte der Mittagspause. Wenn keine offizielle Versammlung ist, dann beginnt unser Partorg mit einem 10-Minutenreferat über ein aktuelles Thema und es wird diskutiert. Oder es wird aus der Zeitung vorgelesen. Manchmal hat jemand einen Grammophon für mehrere Tage da, dann wird getanzt. Am lustigsten aber geht es zu, wenn unser Kulturarbeiter zu uns kommt, das ist ein Ziehharmonikaspieler, der vom Betrieb für unseren Klub angestellt ist. Mittags kommt er abwechselnd in die Zechen. Jedenfalls sitzen wir jeden Mittag, nachdem wir im Speisesaal gegessen haben, zusammen. Es ist selten, daß sich jemand absondert und allein an seinem Platz sitzt. Denn es ist immer interessant und abwechselnd. Die Sowjetmenschen sind einfacher, unkomplizierter, natürlicher als wir Westeuropäer."
In welchem Betriebe eines kapitalistischen Landes gibt es so ein aktives gesellschaftliches und politisches Leben und eine solche unmittelbare allgemeine Teilnahme der Arbeiter an der Produktion? Berichte aus vielen anderen Sowjetbetrieben lauten ähnlich. Würde in der Sowjetunion, wie der Trotzkismus behauptet, eine starre Diktatur der Bürokratie herrschen, so würde es in keinem der Betriebe solche politische Aktivität und Stimmung geben und nirgendwo würden die Arbeiter wagen, Kritik an den von der Verwaltung getroffenen Maßnahmen zu üben und selbst Vorschläge über die Gestaltung der Produktion und des Lebens in den Betrieben zu machen. Otto Bauer, der Trotzki in der Frage der bürokratischen Herrschaft Zugeständnisse macht, schreibt in einem in Nr. 3 (März 1937) des „Kampf" veröffentlichten Artikel zu dem Thema „Der Trotzkismus und die Trotzkistenprozesse" (auf Seite 92):
„Die Betriebsversammlungen sehen in den Riesenbetrieben der neuen Sowjetindustrie heute schon ganz anders aus als vor wenigen Jahren. Damals noch Arbeitermassen, die eben erst aus den Dörfern zugeströmt waren, noch ohne Selbstbewußtsein, noch ohne jede Routine der Betriebsdemokratie, stumm und gläubig die Referate der Betriebsführer hinnehmend. Heute schon Industriearbeiter, die seit einigen Jahren die fruchtbare Schule der Fabrik durchgemacht haben und es allmählich lernen, der Betriebsführung ihre Kritik, ihre Beschwerden, ihre Forderungen entgegenzustellen. Dieselbe Wandlung vollzieht sich in den Kolchosen. Der Bauer, der allmählich die moderne Technik zu beherrschen lernt, lernt auch allmählich die Rechte demokratischer Selbstverwaltung zu gebrauchen, die das Statut der Kolchosen ihm gibt. Dieselbe Wandlung wird sich, durch die neue Verfassung beschleunigt, in der Lokalverwaltung vollziehen ... In den lokalen Sowjets, in der lokalen Selbstverwaltung wird das geheime Wahlrecht, wird die Möglichkeit der freien Auslese zwischen gegeneinanderstehenden Kandidaten sehr schnell die Elemente demokratischer Selbstverwaltung entwickeln. So wächst die Sowjetdemokratie von unten auf. Wenn sie erst die Massen mit erhöhtem Selbstbewußtsein, mit verstärktem Willen zur Selbstbestimmung erfüllt, wird sich die Bürokratie, die sich in der SU — ganz anders als in den kapitalistischen Ländern — ständig aus dem Proletariat ergänzt und ständig um das Vertrauen des Proletariats zu werben gezwungen ist, ihrem Wachstum nach oben nicht wirksam widersetzen können. Unter den konkreten historischen Bedingungen, die in der Sowjetunion durch die Oktoberrevolution geschaffen worden sind, braucht die notwendige gesellschaftliche Evolution zu einer sozialistischen Demokratie keineswegs die Form einer politischen Revolution anzunehmen."
Otto Bauer ist einer der wenigen Führer der Zweiten Internationale, die die sachliche Entwicklung in der Sowjetunion sehr aufmerksam verfolgen. Die Tatsache, daß nach den Wiener Februarkämpfen des Jahres 1934 eine große Anzahl österreichischer Schutzbündler nach der Sowjetunion gekommen sind, die als Arbeiter in den vergesellschafteten Sowjetbetrieben mitten unter der einheimischen Arbeiterschaft stehen, gibt Otto Bauer wahrscheinlich Gelegenheit, auch durch unmittelbare Berichte dieser Arbeiter einen Einblick in das Leben des Volkes zu gewinnen. Auch Bauers Ausführungen über Betriebsversammlungen, über die Betriebsdemokratie und die Entwicklung der Elemente demokratischer Selbstverwaltung widerlegen die Behauptung von der „Diktatur der Bürokratie", der Otto Bauer selbst oft Konzessionen macht. Otto Bauer kündigt erst das Heranreifen eines Zustandes an, der in Wirklichkeit schon existiert. Er breitet sich nur immer weiter aus, so daß in der Tat auf dem Wege der Entwicklung von unten (allerdings in voller Übereinstimmung mit der Bolschewistischen Partei und Führung) sich die sozialistische Demokratie bis in die höchsten Verwaltungsstellen praktisch durchsetzt. Dieses immer größer werdende direkte Mitbestimmungsrecht der Massen, ihre aktive Selbstbetätigung entzieht der Selbstherrlichkeit der Bürokratie den Boden, beseitigt deren Mängel und bereitet den Zustand vor, in dem sie vollständig überflüssig sein wird.
Die „Diktatur der Bürokratie" ist ein Popanz, den der Trotzkismus aufgeputzt hat, um vor den ungenügend orientierten Menschen außerhalb der UdSSR einen Vorwand für seinen Kampf gegen die Bolschewistische Partei und gegen die Sowjetunion zu haben.

 

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NEUE KLASSENBILDUNG?

 

KARL MARX UND DIE ,NEUE KLASSENBILDUNG' IN DER SOWJETUNION

Die Kritiker der Sowjetunion behaupten, daß nicht nur die Bürokratie sich zu einer besonderen privilegierten Klasse entwickle, sondern daß sich auch aus der Intelligenz, der Arbeiter und Bauernschaft eine neue bevorrechtigte Klasse herausbilde. In der Sowjetunion — sagen die Trotzkisten — werde nicht die vom Marxismus verlangte völlige Gleichheit verwirklicht; im Gegenteil, es entwickle sich eine neue Form der Klassenherrschaft.
„In Wirklichkeit — sagt Trotzki in der im September 1936 erschienenen Broschüre über die ,Terroristenprozesse' (Seite 8) — genügt es nicht, die Klassen administrativ zu ,vernichten', man muß sie auch wirtschaftlich überwinden. Solange die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung noch in Not lebt, behält das Streben nach individueller Aneignung und Anhäufung von Gütern Massencharakter bei und stoßt beständig mit den kollektivistischen Strömungen der Wirtschaft zusammen. Es ist richtig, daß die Anhäufung unmittelbar ausgesprochenen Verbrauchsbedürfnissen entspringt. Wenn man jedoch nicht acht gibt, wenn man die Anhäufung gewisse Grenzen überschreiten läßt, wird sie zur ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation und könnte in der Folge die Kolchose und darauf die Trusts sprengen. ,Vernichtung der Klassen' im sozialistischen Sinne bedeutet, allen Mitgliedern der Gesellschaft derartige Lebensbedingungen zu gewährleisten, daß jeder Anreiz zur individuellen Akkumulation beseitigt wird. Davon ist man noch weit entfernt."
Trotzki schlußfolgert also: die Voraussetzungen für neue Klassenbildungen sind gegeben, weil die Gesellschaft noch nicht allen ihren Mitgliedern die gleichen Lebensbedingungen gewährleistet, die jeden Anreiz zur persönlichen Bereicherung beseitigen.
Otto Bauer schildert in seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" in ähnlicher Weise die Gefahren, die sich seiner Meinung nach aus den Differenzierungen ergeben. Er schreibt dort (Seite 164/65):
„Andererseits war die Sowjetunion gezwungen, die Einkommen aller Volksklassen, der Arbeiter, der Angestellten, der Bauern, der Beamten wesentlich zu differenzieren. Sie mußte intensivere Arbeit, Arbeit höherer Qualifikation und Arbeit höherer Qualität höher entlohnen, um den Antrieb zur Produktivierung, zur Intensivierung, zur Qualifizierung der Arbeit zu steigern. Daher hob sich aus allen Volksklassen eine privilegierte Schicht der ,vornehmen Leute' heraus, die, durch besonders tüchtige Arbeitsleistung ausgezeichnet, besonders hohe Einkommen hat, besonders großes soziales Ansehen und mancherlei Privilegien genießt. Aus dieser Schicht ergänzt sich die industrielle Bürokratie. Ihre Kinder werden bei der Aufnahme in die höheren Schulen bevorzugt. Sie ist mit der herrschenden Partei, mit dem regierenden bürokratischen Apparat besonders eng verknüpft.
Diese an sich unvermeidliche Entwicklung schließt eine ernste Gefahr in sich: .... Es wäre nicht eine sozialistische Gesellschaft, sondern eine Art Technokratie, eine Herrschaft der Ingenieure, der Wirtschaftsführer und der staatlichen Bürokratie, die in diesem Falle aus dem großen revolutionären Prozeß hervorginge.
Diese Gefahr kann nicht anders überwunden werden, als durch die Demokratisierung der Staatsverfassung der Sowjetunion und der Betriebsverfassung ihrer Unternehmungen." Der Vorwurf der Bevorrechtigung einzelner Schichten und die damit angeblich verbundene Entwicklung einer neuen Klassenbildung spielt also auch in sozialistischen Kreisen eine wesentliche Rolle. Eine besondere Ursache für die neue Klassenbildung ist nach der Argumentation Trotzkis der Widerspruch, der zwischen dem Zustand der vergesellschafteten Produktion und der niedrigen Produktivität der Arbeit besteht. Trotzki behauptet, daß die Arbeitsproduktivität noch außerordentlich niedrig sei. Darum stehen nicht genügend Güter zur Verfügung und die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse können nur für eine bevorrechtete Minderheit voll befriedigt werden. Diese Minderheit aber — das ist einerseits die Bürokratie und andererseits der Teil der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz, der zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu besonderen Leistungen angespornt und dafür hoch bezahlt wird — entwickle sich zu einer gehobeneren sozialen Stellung, die sich von der Masse wesentlich unterscheide. Trotzki versucht die Gegensätze besonders drastisch zu schildern:
„Die Lebensbedingungen einer Hausfrau, angesehenen Kommunistin, die eine Hausgehilfin, ein Telefon für die Besorgung ihrer Bestellungen in den Warenhäusern, ein Auto für ihre Wege zur Verfügung hat, haben wenig Ähnlichkeit mit denen einer Arbeiterin, die sich vor den Läden anstellt, die ihre Mahlzeiten selbst bereitet, die ihre Kinder aus dem Kindergarten nach Hause führt, — vorausgesetzt, daß es für sie einen Kindergarten gibt."
In ähnlicher Weise argumentieren auch die Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion. Auf dem Nürnberger Parteitag 1936 haben Göbels und Rosenberg die „soziale Ungleichheit" in demagogischer Weise zur Aufhetzung des deutschen Volkes gegen die Sowjetunion auszunutzen versucht. In der Broschüre „Die 4. Internationale und die UdSSR" (1933) hat Trotzki seine oben zitierte demagogische Argumentation selbst widerlegt. Dort schrieb er:
„Doch die größten Wohnungen, die saftigsten Beefsteaks und selbst Rolls-Royces verwandeln die Bürokratie (und also auch die Mehrverdiener. D.V.) nicht in eine selbständig herrschende Klasse."
Der Versuch Trotzkis, die noch vorhandene Differenzierung und Ungleichheit der Einkommen als neue Klassenbildung zu deuten, steht im offenen Gegensatz zum Marxismus. Der Marxismus lehrt, daß die Klassenbildung von den Produktionsverhältnissen abhängig ist. In einer Gesellschaft, in der die Produktionsmittel vergesellschaftet sind, in der kein Privatmann sich Produktionsmittel aneignen kann, um durch die Ausbeutung anderer Menschen Kapital anzusammeln, ist die Bildung neuer bevorrechtigter Klassen unmöglich. Die Behauptung, daß sich unter sozialistischen Produktionsverhältnissen neue Klassen herausbilden müssen, wenn die Güterverteilung nach der geleisteten Arbeit erfolgt, widerspricht dem Marxismus.
Der Marxismus hat die Gleichheitsforderung nie so verstanden, daß jede Individualität vernichtet und alle Menschen gleich gemacht werden müßten. Solche Vorstellungen hatten nur die Vorläufer des wissenschaftlichen Sozialismus, die Utopisten, die das Wesen der Klassengesellschaft und die Notwendigkeit, die Klassen zu beseitigen, nicht erkannt hatten. Marx und Engels haben gelehrt, daß die Gleichheitsforderung nur durch die Aufhebung der Klassen verwirklicht werden kann. „Jede Gleichheitsforderung, die darüber hinausgeht", sagte Engels, „führt unvermeidlich zu Unsinnigkeiten". Im „Kommunistischen Manifest" schrieben Marx und Engels:
„Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht."
Dieses bürgerliche Privateigentum, diese Ausbeutung muß abgeschafft und die Klassenungleichheit beseitigt werden. Doch — so steht weiter im „Kommunistischen Manifest" zu lesen:
„Wir wollen diese persönliche Aneignung der Arbeitsprodukte zur Wiedererzeugung des unmittelbaren Lebens keineswegs abschaffen, eine Aneignung, die keinen Reinertrag übrig läßt, der Macht über fremde Arbeit geben könnte. Wir wollen nur den elenden Charakter dieser Aneignung aufheben, worin der Arbeiter nur lebt, um das Kapital zu vermehren, nur so weit lebt, wie es das Interesse der herrschenden Klasse erheischt.
In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu erweitern, zu bereichern, zu befördern ....
Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte anzueignen, er nimmt nur die Machte sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu unterjochen." Der Sinn der marxschen Gleichheitsforderung besteht in der Aufhebung der Klassenungleichheit. Ist diese Forderung - wie in der Sowjetunion — verwirklicht, dann wird die alte Gleichheitsforderung gegenstandslos, dann kann, dann muß zunächst die Verteilung der Güter nach den Leistungen der einzelnen Menschen erfolgen.
Die höchste Form der Gleichheit wird erst in der höchsten Form der kommunistischen Gesellschaft verwirklicht. Die Kritiker der Sowjetunion, die jetzt bereits eine vollkommene Gleichmacherei, vollkommen gleiche Verteilung der Güter verlangen, übersehen, daß in der UdSSR die höchste Phase der Entwicklung, die kommunistische Gesellschaft, noch nicht erreicht ist. Um Stalin angreifen zu können, unterschieben die Trotzkisten Stalin Auffassungen, die er nie vertreten hat. So schreibt Trotzki z.B. in der Broschüre „Die Terroristenprozesse" (1936) auf Seite 8: „Wollen wir die Ereignisse richtig verstehen, müssen wir vor allem die offizielle Theorie verwerfen, nach der in der USSR bereits die sozialistische, klassenlose Gesellschaft besteht". Nie war die offizielle Theorie, daß die klassenlose Gesellschaft bereits besteht. Stalin und die anderen Führer der Sowjetmacht haben vielmehr immer eindeutig gesagt, daß in der Sowjetunion zwar die ausbeutenden Klassen nicht mehr existieren, daß es aber immer noch verschiedene Klassen, die Arbeiterklasse, die Bauernklasse und die Intelligenz, gibt, und daß darum der Zustand der klassenlosen Gesellschaft noch nicht erreicht ist. In der Rede, mit der Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß (1936) die neue Verfassung begründete, hat er klar, einfach, für jeden verständlich, auseinandergesetzt, daß „die Sowjetgesellschaft noch nicht die Verwirklichung der höchsten Phase des Kommunismus erreicht hat, in der das herrschende Prinzip die Formel sein wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen — sondern erst die untere Phase, in der das Grundprinzip die Formel: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen ist. Das stimmt vollkommen überein mit dem, was Karl Marx gelehrt hat. In der Kritik zum Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie (1875) setzte Marx auseinander, daß eine kommunistische Gesellschaft sich nicht auf ihrer eigenen Grundlage, sondern aus der kapitalistischen Gesellschaft entwickle, und daß sie, von dieser Grundlage ausgehend, in jeder Beziehung — Ökonomisch, sittlich, geistig — mit den Fehlern der alten Gesellschaft, „aus deren Schoß sie herkommt", behaftet sei. Die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine kommunistische ist nicht ein einmaliger Akt, sondern ein langwieriger Entwicklungsprozeß in dem mehrere Stadien zu durchlaufen sind. In den Stadien vor der Erreichung der höchsten Phase des Kommunismus muß nach der Voraussage von Marx genau das geschehen, was jetzt in der Sowjetunion geschieht. Im Anschluß an die oben wiedergegebenen Gedanken schreibt Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm über die Verteilung der Güter in den ersten Phasen der sozialistischen Gesellschaft (siehe Ausgabe Internationaler Arbeiter-Verlag, Seite 25 usf.):
„Demgemäß erhält der einzelne Produzent — nach den Abzügen — exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden; die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages, sein Teil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er so und so viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück.
Es herrscht hier offenbar das Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist, Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andererseits nichts in das Eigentum der Einzelner übergehen kann, außer individuellen Konsumtionsmitteln.
Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird gleichviel Arbeit in einer Form gegen gleichviel Arbeit in einer anderen umgetauscht."
Das ist eine vollkommene Charakterisierung der Sowjetgesellschaft in der gegenwärtigen Phase, in der das von Marx nur mit anderen Worten ausgedrückte Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen" gelten muß. Im Anschluß an die oben zitierten Sätze sagt Marx (Seite 26), daß in dieser Phase „die Gleichheit darin besieht, daß am gleichen Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeiten oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hört sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andere; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an." Dabei gibt es natürlich — wie Marx sagt — auch noch „Mißstände", die sich auch daraus ergeben, daß der eine Arbeiter verheiratet sei, der andere nicht, daß der eine mehr Kinder habe als der andere. Erfolgt die Verteilung der Güter nach der Maßgabe der geleisteten Arbeit, so kann also der Arbeiter mit der größeren Familie sozial benachteiligt sein.
„Aber — fährt Marx fort (Seite 27) — diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die Ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft." Das ist die trefflichste Widerlegung des Vorwurfs, daß die Güterverteilung nach der Arbeitsleistung unsozialistisch, unmarxistisch sei und zur neuen Klassenbildung führe. Karl Marx wettert gegen die kleinbürgerlichen „Gleichmacher", als hätte er bei dieser Abkanzlung die heutigen Kritiker der Sowjetunion vor Augen. Er schreibt (Seite 27) weiter:
„Ich bin weitläufiger auf den ,unverkürzten Arbeitsertrag' einerseits, ,das gleiche Recht', die ,gerechte Verteilung' andererseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden, unserer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andererseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühevoll beigebracht worden, die aber jetzt Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Recht- und andere, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen verdreht.
Abgesehen von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sogenannten Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen." Das Wesentliche ist in der gegenwärtigen Phase nicht die Verteilung, sondern das Entscheidende sind die Produktionsverhältnisse. Diese aber sind in der Sowjetunion sozialistisch. Die neue Klassenbildung ist unmöglich, weil ihre „ökonomische Gestaltung" die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Gesellschaft ohne ausbeutende Klassen ist. Wenn man allerdings in der Sowjetunion nach den Vorschlägen der „Gleichmacher" das abstrakte „Recht" höher stellen würde „als die ökonomische Gestaltung und die dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft", wenn man in der gegenwärtigen Phase die vorhandenen Güter unbeschadet um die Arbeitsleistung an alle vollkommen gleich verteilte, müßte die bisher erreichte sozialistische ökonomische Grundlage zusammenbrechen und dann erst würde die neue Klassenbildung, die neue Klassengesellschaft automatisch folgen. Also: in der Konsequenz führt gerade die Forderung, in der dafür noch nicht reifen Entwicklungsphase die Güterverteilung nach den Bedürfnissen vorzunehmen, zum Zusammenbruch der sozialistischen Produktion und zur „rettenden Wiederaufrichtung des Kapitalismus". Als in der Sowjetunion die Kollektivierung der Bauernwirtschaften durchgeführt wurde, haben die „Gleichmacher" gefordert, daß die kollektivwirtschaftlichen Einkünfte nach der Zahl der Esser und nicht nach der Arbeitsleistung verteilt werden. Hätte sich diese Auffassung durchgesetzt, so wäre es nicht gelungen, die große Masse der Bauern für die Kollektivierung zu gewinnen. Die vorhandenen Kollektivwirtschaften wären wegen des dauernden Unfriedens über die Güterverteilung, die nicht dem derzeitigen Zustand der Gesellschaft, nicht der Lebensauffassung der Menschen, die noch mit den „Muttermalen" des Kapitalismus behaftet sind, entsprochen hätten, zusammengebrochen. Die Gewinnung der Bauern für den sozialistischen Aufbau wäre gescheitert, die Annäherung zwischen Arbeiter- und Bauernklasse wäre nicht erreicht und der Bestand der Sowjetunion wäre gefährdet worden. Die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht haben darum durchaus im Sinne des Marxismus gehandelt, als sie die kurzsichtigen oder der Sowjetmacht feindlichen „kleinbürgerlichen Gleichmacher" bekämpften und die Verteilung der in den Kollektivwirtschaften erzeugten Güter nach der Menge und der Qualität der geleisteten Arbeit durchsetzten. In dem Kampf um die Durchsetzung dieses richtigen Prinzips sagte Stalin 1932 („Neue Lage — neue Aufgaben", siehe „Probleme des Leninismus", 2. Folge, Ringverlag, Seite 440 usf.):
„Marx und Lenin sagen, daß der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit sogar im Sozialismus bestehen wird, sogar nach der Aufhebung der Klassen, daß dieser Unterschied erst im Kommunismus verschwinden wird, so daß auch unter dem Sozialismus der ,Arbeitslohn' nach Leistung und nicht nach Bedürfnissen bemessen werden muß. Unsere Gleichmacher unter den Wirtschaftlern und Gewerkschaftlern sind aber damit nicht einverstanden und glauben, daß dieser Unterschied in unserem Sowjetsystem nicht mehr besteht. Wer hat Recht: Marx und Lenin oder die Gleichmacher? Man muß doch wohl annehmen, daß Marx und Lenin recht haben. Daraus folgt aber, daß wer heute das Tarifsystem auf gleichmacherischen ,Prinzipien' aufbaut, ohne den Unterschied zwischen gelernter und ungelernter Arbeit zu berücksichtigen, mit dem Marxismus, mit dem Leninismus bricht."
Die gesellschaftlichen Zustände in der Sowjetunion geben jedem die Möglichkeit, seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Jedem ist also das gleiche Recht gegeben, seine Qualifikation zu steigern, seine Arbeitsleistung und seinen Anteil an den vorhandenen Gütern zu erhöhen. In der „ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft" kann — wenn das bisher Erreichte nicht gefährdet werden soll — wie Karl Marx lehrt, nur die geleistete Arbeit der Maßstab für die Güterverteilung sein. Marx fahrt in der zitierten Kritik am Gothaer Programm fort (Seite 27):
„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!" Für die Erreichung dieser höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft wird in der Sowjetunion planmäßig gearbeitet. In seiner Rede über die neue Verfassung hat Stalin in voller Übereinstimmung mit den marxschen Gedanken auf die verschiedenen Phasen der Entwicklung verwiesen. Er hat dargelegt, daß in jeder Phase die ihr entsprechenden Maßnahmen durchgeführt werden müssen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Das Anwachsen der Produktivkräfte, daß „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen" — das sind die Voraussetzungen für die Erreichung der höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaft. Und dazu ist der Ansporn, die Güterverteilung nach der geleisteten Arbeit, der Anreiz zu immer weiterer Steigerung der Arbeitsproduktivität in der gegenwärtigen Phase unerläßlich. Das ist wahrlich kein Verrat am Marxismus. Den Geist des Marxismus vergessen und verleugnen nur diejenigen, die Entwicklungsstufen überspringen wollen und aus der notwendigen Verteilung der Güter nach der Arbeitsleistung eine neue Klassenbildung und den Untergang der Sowjetunion prophezeien. Gerade wenn man die Entwicklung in der UdSSR anhand der marxistischen Lehre überprüft, ergibt sich folgendes Bild: Lenin und Stalin sind die Baumeister, die getreu nach den genialen Plänen von Marx und Engels den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft vollziehen.

DIE STEIGERUNG DER ARBEITSPRODUKTIVITÄT

Die Trotzkisten bezeichnen die vorhandene Ungleichheit der Lebensbedingungen in der Sowjetunion als den Beweis für die von ihnen behauptete Bildung einer neuen Klassengesellschaft. Trotzki jedoch sagt, diese Ungleichheit der Lebensbedingungen erwachse nicht aus der Konstruktion der Produktionsverhältnisse — die er als sozialistisch anerkennen muß —, sondern aus dem Mangel an Gütern, aus der noch zu niedrigen Arbeitsproduktivität. Ist das richtig, so ist unbestreitbar, daß die Ungleichheit der Lebensbedingungen nichts Endgültiges ist und beseitigt werden kann. Das Mittel zu ihrer Beseitigung ist die Überwindung der niedrigen Arbeitsproduktivität. Aus dieser Erkenntnis heraus führen die Sowjetmacht und die Bolschewistische Partei seit Jahren einen planmäßigen Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Senkung der Produktionskosten. Die Arbeitsproduktivität kann aber in der ersten Phase der sozialistischen Gesellschaft, die in der UdSSR erreicht ist, nur durch die Heranbildung qualifizierter technischer Kader, durch die Verteilung der Güter nach der geleisteten Arbeit, durch den Ansporn, den Anreiz, durch die Höherbezahlung des Produzenten, der Arbeit in größerer Quantität und in besserer Qualität liefert, gesteigert werden. Der Ansporn ist nicht Selbstzweck. Der Anreiz ist keine neueingeführte Dauereinrichtung.
Die Trotzkisten verdächtigen und bekämpfen die Mittel, die zur Steigerung der Arbeitsproduktivität angewandt werden müssen. Sie wenden sich gegen die Maßnahmen, durch die allem die Ursache der Differenzierungen und diese selbst überwunden werden können. Die Trotzkisten versuchen den Kampf zu sabotieren, den die Sowjetmacht um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um die Liquidierung der Einkommensdifferenzierung fuhrt. Jeder, der die Entwicklung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion marxistisch wertet, sieht vollkommen klar: der der gegenwärtigen Entwicklungsphase vollkommen entsprechende Zustand der differenzierten Güterverteilung nach der Arbeitsleistung ist nicht die Endlösung, er ist in dem gewaltigen Entwicklungsprozeß von der kapitalistischen Gesellschaft zur höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaft nur ein notwendiges Zwischenstadium. Allerdings eines, das wegen der unbestreitbar vorhandenen sozialistischen Produktionsverhältnisse keinesfalls zur neuen Klassenbildung überleiten kann, sondern nur zur vollendeten sozialistischen Gesellschaft.
Der gewaltige sozialistische Aufbau, der die Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland in ein fortgeschrittenes Industrieland mit der mechanisiertesten Landwirtschaft umwandelte, hat alle Voraussetzungen geschaffen, die UdSSR zu einem reichen Lande zu machen, in dem die kulturellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse aller 180 Millionen Einwohner vollkommen befriedigt werden können. Auf dem Wege zu diesem Ziele sind ganz außergewöhnliche Erfolge in einer erstaunlich kurzen Zeit erreicht worden. Buchstäblich mit jedem Tage verbessert sich die Arbeitsproduktivität, wird die Menge der erzeugten Güter vergrößert. Nachdem der neue gewaltige Produktionsapparat geschaffen war, konzentrierte die Sowjetmacht ihre Kraft auf die planmäßige Hebung der Arbeitsproduktivität, auf die Heranbildung von Kadern, die den qualifizierten Produktionsapparat bedienen und mit den vorhandenen Maschinen in der gleichen Arbeitszeit eine unvergleichlich größere Menge von Gütern produzieren können als unmittelbar nach der ersten Periode des industriellen Aufbaus. In der Resolution des XVII. Parteitages (1934), die auch die Richtlinien für den zweiten Fünfjahrplan aufstellte, wurde als nächste Aufgabe der Partei und der Massen die Steigerung der Arbeitsproduktivität verkündet:
„Die entscheidende Bedingung für die Vollendung der technischen Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft in der zweiten Fünfjahrperiode muß die Beherrschung der neuen Technik und der neuen Produktionszweige werden. Das Pathos des neuen Aufbaus ... muß in der zweiten Fünfjahrperiode durch das Pathos der Meisterung der neuen Betriebe und der neuen Technik, durch wesentliche Hebung der Arbeitsproduktivität, wesentliche Senkung der Produktionskosten ergänzt werden..."
„Der Arbeiter und Kollektivbauer“ — heißt es an anderer Stelle der Resolution des XVII. Parteitages — „steht jetzt mit voller Zuversicht dem morgigen Tag gegenüber, und lediglich von der Quantität und der Qualität der von ihm geleisteten Arbeit hängt die immer größere Hebung seines materiellen und kulturellen Lebensniveaus ab." Immer wieder wird diese Parole in den Massen popularisiert, werden Arbeiter und Bauern aufgerufen, den Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu unterstützen.
Diese Losung der Partei und der Sowjetmacht wurde im ganzen Lande leidenschaftlich diskutiert. Aber es wurde nicht nur diskutiert. Von unten her setzten gewaltige Anstrengungen ein, wurden Wettbewerbe organisiert, deren Ziel die Steigerung der Produktion und der Arbeitsproduktivität war. Die gemeinsamen Bemühungen der Bolschewistischen Partei, der Sowjetmacht und der Arbeiter- und Bauernmassen um die Steigerung der Arbeitsproduktivität haben sehr schnell große Erfolge gezeitigt. Die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter hat sich seit 1928 fast verdreifacht, ihre absolute Steigerung ist gerade in den letzten Jahren besonders groß. Eine Übersicht über die tatsächliche Erhöhung der Arbeitsproduktivität gibt die nachfolgende Tabelle:

Durchschnittsproduktion je Arbeiter in der Großindustrie:
(in Rubeln, in den Preisen der Jahre 1926/27)

Jahre

Gesamte Industrie

in % des Vorjahres

1928

4764

112.2

1929

5378

112.9

1930

5900

109.7

1931

6348

107.6

1932

6513

102.6

1933

7080

108.7

1934

7837

110.7

1935

9060

115.6

1936 (Plan)

11017

121.6


Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, daß die Arbeitsproduktivität in der Sowjetunion von Jahr zu Jahr wächst. Molotow, der zum Jahrestag der Oktoberrevolution 1936 diese Tabelle veröffentlichte, schrieb dazu:
„Sie zeigt auch, daß nach den verhältnismäßig niedrigen Indexen des Anwachsens der Arbeitsproduktivität während einer Reihe von Jahren die Losung Stalins von der Aneignung der Technik erfolgreich verwirklicht zu werden beginnt, und daß die durchschnittliche Produktion des Sowjetarbeiters schnell in die Hohe zu gehen begonnen hat. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität wird im laufenden Jahre höher sein als in den vergangenen Jahren. Darin zeigt sich die Bedeutung des „Stachanowjahres“, in dem sich bereits die neuen, in den letzten Jahren geschaffenen Kader qualifizierter Arbeiter wirklich zu zeigen begonnen haben. Die leitenden Organe der Industrie sind, so viele Mängel es in unseren produktiv-technischen Stäben auch geben möge, näher an die Sache herangekommen und haben neue Vorbilder bolschewistischer Arbeit geliefert.
Und dennoch ist auch hier das Wichtigste noch vor uns. Mit den erzielten Ergebnissen können wir uns nicht zufrieden geben. Wir sind von einer wirklichen sozialistischen Arbeitsproduktivität noch weit entfernt. Mehr noch. Wir haben in bezug auf die Arbeitsproduktivität, von der Qualität der Produktion ganz zu schweigen, die gut organisierten Betriebe der kapitalistischen Länder noch nicht überholt. Die Durchschnittsproduktion des Sowjetarbeiters ist vorläufig noch niedriger als die Durchschnittsproduktion des Arbeiters in den technisch vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
Dies bedeutet, daß wir noch viel an der Organisierung der Industrie, an der Organisierung der Wirtschaft, an uns zu arbeiten haben. Von dieser Erkenntnis sind die fortgeschrittensten Leute des Sowjetlandes und vor allem unsere Stachanow-Arbeiter durchdrungen. Sie liefern immer wieder neue Vorbilder prächtiger Arbeit, die nicht nur hinter den ausländischen Durchschnittsnormen nicht zurückbleiben, sondern manchmal auch die besten ausländischen Vorbilder übertreffen. Sie begreifen unsere entscheidende Aufgabe: in kurzer Frist die technisch hochentwickelten kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen!...
... Unsere Kraft besteht darin, daß wir auf dem richtigen Wege sind."
Die Führer der Sowjetunion geben ganz offen zu, daß die durchschnittliche Arbeitsproduktivität des sowjetrussischen Arbeiters noch hinter der des Arbeiters in den kapitalistischen Ländern zurücksteht. Sie sagen aber ebenso deutlich, daß alle Anstrengungen gemacht werden müssen, um die durchschnittliche Arbeitsproduktivität in den kapitalistischen Ländern zu überholen. Und bei diesen Bemühungen ist — wie Molotow sagt — die Sowjetunion durchaus auf dem richtigen Wege.
Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Vermehrung der zur Verteilung zu stellenden Güter und die Überwindung noch vorhandener Widersprüche könnten viel schneller erreicht werden, wenn nicht die Feinde und die falschen Freunde der Sowjetunion so viel Hindernisse errichten würden. Die Kriegsgefahr zwingt die Sowjetunion, enorme Mittel und Gütermengen, die der produktiven Verteilung an die Sowjetbürger zugeführt werden könnten, für die Landesverteidigung zu verwenden. Auf anderen Gebieten, wie z.B. im Verkehrswesen, ist das vom Zarismus übernommene Erbe so schäbig, daß für den Ausbau des Verkehrsnetzes viel Kräfte und Materialien eingesetzt werden müssen, die nicht unmittelbar der Vermehrung der zu verteilenden Güter dienen. Und auch die Stimmungsmache, die außerhalb der Sowjetunion gegen die UdSSR betrieben wird, hemmt die Entwicklung der gemeinsamen Kampffront, die den Sowjetmenschen ihren Kampf um den vollständigen Sieg des Sozialismus erleichtern würde.
Die Entwicklung in der UdSSR ist noch lange nicht abgeschlossen; je größer die Zahl der qualifizierten Arbeiter wird, die selbst die kompliziertesten Maschinen zu handhaben verstehen, um so größer wird die Arbeitsproduktivität. Die Grenzen, die der Steigerung der Arbeitsproduktivität im kapitalistischen System aus den Klassengegensätzen immer wieder erwachsen, sind in der Sowjetunion gefallen. Wenn alle beteiligten Kräfte die Bedeutung der Steigerung der Arbeitsproduktivität für den sozialistischen Endsieg erkennen, sind die Voraussetzungen gegeben, daß die Arbeitsproduktivität in der UdSSR in absehbarer Zeit größer sein wird als in allen kapitalistischen Ländern. Dann können auch die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse aller Sowjetbürger befriedigt werden, dann fällt die Differenzierung, dann fallen die Ursachen fort, die von den Trotzkisten und anderen fälschlich als der Ausgangspunkt für eine neue Klassenbildung in der Sowjetunion bezeichnet werden.

DIE HERANBILDUNG QUALIFIZIERTER KADER

Die bisher erreichte Steigerung der Arbeitsproduktivität ist nur durch die umfassende Mobilisierung der Menschen ermöglicht worden. Die Arbeiter und Bauern mußten das Erbe der alten zaristischen Wirtschaft restlos überwinden, sie mußten zu qualifizierten Arbeitskräften werden, die den modernen Industrieapparat und die landwirtschaftlichen Maschinen voll auszuwerten verstehen. Nachdem die Erfolge der Fünfjahrpläne nicht mehr aus der Welt zu lügen waren, sagten die Kapitalisten, daß es den Bolschewiki zwar gelungen sei, eine große Industrie aufzubauen, daß es ihnen aber nicht gelingen werde, aus den russischen Menschen die Kader zu schaffen, die mit den neuen Maschinen umzugehen und die neue Technik zu meistern verstehen. Die Verluste an Maschinen und technischem Material, die in der ersten Zeit dadurch entstanden, daß die vom Pflug an die Maschine gestellten Menschen mit der neuen Technik nicht gleich fertig zu werden vermochten, wurden als unwiderlegliche Beweise für die Richtigkeit dieser Behauptung angesehen. Dazu kam, daß Sabotageakte von Spezialkräften, die der Sowjetunion feindlich gegenüberstanden, die Meisterung der Technik und die Steigerung der Arbeitsproduktivität hemmten. Die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht sahen diese Schwierigkeiten. Aber mit der Energie und der Planmäßigkeit, mit der in der Sowjetunion immer das „nächste Kettenglied" gepackt wird, gingen sie an die Überwindung auch dieser Schwierigkeiten. In einer Unterredung, die Stalin am 26. Dezember 1934 mit den Vertretern der Hüttenindustrie hatte, sagte er:
„Wir standen vor einem Dilemma: entweder mit der Ausbildung der Leute in Schulen für technisches Elementarwissen anzufangen und die Produktion und die massenweise Verwendung der Maschinen um 10 Jahre zu verschieben, bis in den Schulen technisch gebildete Kader erzogen werden, oder sofort an die Herstellung von Maschinen heranzugehen und ihre massenweise Verwendung in der Volkswirtschaft in Angriff zu nehmen, um im Produktionsprozeß und bei der Verwendung der Maschinen selbst den Menschen die Technik beizubringen und die Kader auszubilden. Wir haben den zweiten Weg gewählt. Wir waren uns bewußt, daß dadurch unvermeidlich Unkosten und Mehrausgaben in Erscheinung treten werden. Dafür haben wir aber das Kostbarste erhalten: Wir haben Zeit gewonnen und das Wertvollste für unsere Wirtschaft geschaffen: die Kader. Das, was in Europa Jahrzehnte erforderte, haben wir im wesentlichen und in der Hauptsache binnen drei bis vier Jahren zu leisten vermocht. Die Unkosten und Mehrausgaben für Maschinenbrüche und andere Verluste haben sich mehr als bezahlt gemacht." Nachdem ein großer Industrieapparat geschaffen war, nachdem die Menschen beim Aufbau direkt an den für die Produktion notwendigen Maschinen mit diesen umzugehen gelernt hatten, begann die großzügige Ausbildung der qualifizierten Kader. Gleichfalls 1934 sagte Stalin zu dieser Frage:
„Die Menschen sorgfältig heranzubilden und sie qualifiziert zu machen, sie in der Produktion richtig an den Platz zu stellen und zu organisieren, den Lohn so zu organisieren, daß er die entscheidenden Kettenglieder der Produktion festige und die Menschen zu einer höheren Qualifikation ansporne, das ist es, wessen wir bedürfen, um eine zahlreiche Armee produktiv-technischer Kader zu schaffen." In allen Reden der Sowjetführer, in allen Proklamationen der Bolschewistischen Partei dieser Zeit wird die Heranbildung qualifizierter Kader als eine der wichtigsten Aufgaben bezeichnet.
„Die technische Qualifikation dieser Kader — sagte Molotow auf dem VII. Sowjetkongreß (1935) — muß auf die gebührende Höhe gebracht werden und darf nicht hinter der Qualifikation der ausländischen Spezialisten zurückbleiben. Der Qualifikation, d.h. der wissenschaftlich technischen Ausbildung, müssen wir jetzt so viel Aufmerksamkeit widmen, wie erforderlich ist, um in der Tat die in technischwirtschaftlicher Beziehung vorgeschrittensten kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen, um dies in der kürzesten Frist zu erreichen. Die Kader zu züchten, besonders aus den Reihen der Parteijugend und der parteilosen Jugend heraus, indem wir sie zu ihrer Sache ergebenen und bewußten Erbauern des Sozialismus machen, so eine neue Armee von Spezialisten zu züchten, das ist unsere Aufgabe. Dafür darf man weder mit Mitteln noch mit Kräften sparen. Jetzt wird sich nichts so bezahlt machen, und nichts anderes wird solche Früchte tragen, wie eine erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe."
Neben dem Unterricht in den immer zahlreicher werdenden Schulen zur Heranbildung von Spezialisten, werden in steigendem Maße Kurse veranstaltet, in denen die Arbeiter eine höhere technische Qualifikation erwerben. 1935 wurden von den technischen Kursen in den Betrieben 4.4 Millionen Personen erfaßt, 1936 rund 7 Millionen und 1937 ungefähr 8.4 Millionen. Leistungsfähige Kader von Spezialisten und qualifizierten Arbeitern sind herangewachsen, eine täglich größer werdende Masse von Arbeitern und Bauern lernt mit den kompliziertesten Maschinen umzugehen und qualifizierte Arbeit zu leisten. Die ausländischen Spezialisten, die im ersten Fünfjahrplan unentbehrlich waren, sind heute überflüssig geworden. Die im Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität notwendige Erziehung qualifizierter technischer Kader hat bereits entscheidende Erfolge gezeitigt.

DER SOZIALISTISCHE ANSPORN ALS MITTEL ZUR STEIGERUNG DER ARBEITSPRODUKTIVITÄT

Um aber die Arbeitsproduktivität auf breiter Basis zu steigern, waren auch noch andere Mittel notwendig: Die sozialistischen Wettbewerbe, der gegenseitige Ansporn, die Mobilisierung eines gesunden Ehrgeizes der für die sozialistische Gemeinschaft wirkenden Menschen, die Stachanowbewegung. Hilfsmittel wie die Stachanowbewegung sind in der Sowjetunion aus vielerlei Gründen notwendig. In USA, England oder Deutschland z.B. die einen alten, qualifizierten Industrieapparat seit langem haben, stehen durch Generationen hindurch schon hochqualifizierte Industriearbeiter zur Verfügung, die in dem ehemaligen rückständigen zaristischen Agrarland erst erzogen werden mußten. Die Schwierigkeit, aus Dorfbewohnern, die früher vielleicht nie eine Maschine gesehen haben, in kurzer Zeit qualifizierte Industriearbeiter zu machen, war aber nicht die einzige, die überwunden werden mußte. Die Sowjetunion hat auf zu vielen Gebieten ein sehr schlechtes Erbe vom zaristischen Rußland übernehmen müssen. Lenin geißelte nach der Machteroberung „die Lotterwirtschaft, die Nachlässigkeit, die Schlamperei, die Oberflächlichkeit, die nervöse Hast, das Neigen dazu, anstelle der Sache die Diskussion zu setzen, anstelle der Arbeit zu schwätzen, die Neigung, alles auf der Welt zu beginnen und nichts zu Ende zu führen." Der alte Oblomow, die auch in der Literatur festgehaltene Volkstype des zaristischen Rußland mit allen seinen Schwächen, Unzulänglichkeiten und seiner Unproduktivität, „dieser alte Oblomow lebt und leibt noch", sagte Lenin, und es ist klar, „daß man ihn noch lange waschen, reinigen, rütteln und schütteln muß, bis endlich etwas Vernünftiges herauskommt." Diesen alten Oblomow hat Stalin auf dem XVII. Parteitag (1934) in seiner Rede klassisch geschildert (siehe Broschüre über diese Rede, Seite 93 usf.):
„Ich hatte im vergangenen Jahr ein Gespräch mit einem solchen Genossen, einem sehr achtbaren Genossen, aber einem unverbesserlichen Schwätzer, der fähig ist, jede beliebige lebendige Sache im Geschwätz zu ertränken...
Ich: Wie steht es bei euch mit der Aussaat?
Er: Mit der Aussaat, Genosse Stalin? Wir haben uns mobilisiert. (Lachen.)
Ich: Und wie?
Er: Wir haben die Frage sehr scharf gestellt. (Lachen.)
Ich: Und was weiter?
Er: Wir haben einen Umschwung zu verzeichnen, Genosse Stalin, bald wird ein Umschwung eintreten. (Lachen.
) Ich: Wie denn?
Er: Bei uns machen sich schon Fortschritte bemerkbar.(Lachen.)
Ich: Wie steht es aber nun bei euch mit der Aussaat?
Er: Zunächst ist bei uns mit der Aussaat nichts los, Genosse Stalin. (Allgemeines Gelächter.)
Da habt ihr das Bild eines Schwätzers. Sie haben sich mobilisiert, haben die Frage scharf gestellt, sehen einen Umschwung und Fortschritte, aber die Sache kommt nicht vom Fleck.
Ganz genau so hat unlängst ein ukrainischer Arbeiter den Zustand einer Organisation charakterisiert, als man ihn nach dem Vorhandensein einer Linie in dieser Organisation fragte. ,Nun ja, eine Linie ... eine Linie ist natürlich da, man sieht nur keine Arbeit.' (Allgemeines Lachen.) Es ist offensichtlich, daß diese Organisation ebenfalls ihre ehrlichen Schwätzer hat.
Und wenn man solche Schwätzer von ihren Posten absetzt, sie von der operativen Arbeit möglichst weit entfernt, dann machen sie große Augen und fragen bestürzt: ,Weshalb setzt man uns ab? Haben wir nicht alles getan, was für die Sache notwendig ist, haben wir nicht ein Treffen der Stoßarbeiter organisiert, haben wir nicht auf der Konferenz der Stoßarbeiter die Losungen der Partei und der Regierung verkündet, haben wir nicht das ganze Politbüro ins Ehrenpräsidium gewählt (allgemeines Lachen), haben wir nicht ein Begrüßungsschreiben an Genossen Stalin geschickt? Was will man noch mehr von uns?' (Allgemeines Gelächter) ... Für Schwätzer ist kein Platz in der operativen Arbeit."
Dieser alte Oblomow mußte auch überwunden werden, wenn die notwendige Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht werden sollte. Auch dazu war der Ansporn, die Weckung eines gesunden Ehrgeizes nötig. Eine allgemeine Gleichmacherei, gleiches Einkommen für jeden ohne Unterschied der Leistungen hätte den „alten Oblomow" nicht „gerüttelt und geschüttelt, bis endlich etwas Vernünftiges herausgekommen" wäre.
Zum ständigen Material derer, die die Sowjetunion nicht als die Sache der gesamten Arbeiterklasse, sondern als die Angelegenheit einer gegnerischen Partei betrachten, gehört der Hinweis auf die Akkordarbeit, die in der UdSSR auch nicht anders gehandhabt werde als in den kapitalistischen Ländern. Dort werde ebenso wie hier die Steigerung der Arbeitsleistung des einzelnen Arbeiters zur Senkung der Akkordlöhne benutzt. Die Stachanowbewegung sei nichts anderes als eine raffinierte Methode, die Arbeiter ebenso bis zur letzten Kraft auszupressen, wie das in den kapitalistischen Ländern die Kapitalisten mit Hilfe der Rationalisierung tun. Ein Beispiel für die Art, wie die außerordentlichen Bemühungen um die Steigerung der Arbeitsproduktivität betrachtet werden, lehrt ein Ende 1936 in der österreichischen „Arbeiterzeitung", dem Blatt der christlichen Gewerkschaften, veröffentlichter Bericht „eines aus Rußland zurückgekehrten Arbeiters", in dem u.a. zu lesen steht:
„Schwarze und rote Tafeln in jeder Werkstätte und Abteilung üben einen moralischen Zwang aus. Auf der schwarzen Tafel werden öffentlich alle jene Arbeiter namentlich vermerkt, die In der Planerfüllung im Rückstände sind, auf der roten Tafel jene Arbeiter, die den Tagesplan übererfüllten. Außerdem sind in jeder Abteilung noch die Wandzeitungen, worauf in verschiedenen Karikaturen jene Arbeiter festgehalten sind, die ihr Zwangspensum an Produktion nicht eingehalten haben.
Bemerkenswert ist noch das Prämiensystem, welches auf spekulativer Basis aufgebaut ist und im Produktionsprozeß eine bedeutende Rolle spielt. Indem man dieses System mit Wettbewerbs-Ausbeutungsmethoden verbindet, Wettbewerbs-Verträge von Abteilung zu Abteilung, von Betrieb zu Betrieb mit der Arbeiterschaft abschließt, erzielt man die gewünschten Resultate. Als schärfste Maßnahme der Ausbeutung der Arbeiter ist jene anzusprechen, daß man einfach alle jene Arbeiter, die ihr Tagespensum mehrmals nicht einhalten, als Schädlinge und Saboteure erklärt."
Im Zusammenhang mit einer Charakterisierung der Stachanowarbeit schreibt der gleiche Berichterstatter:
„Den Sowjetarbeitern steht die Freiheit zu, Rationalisierungsvorschläge für den Arbeitsprozeß zu machen, die Zeit- und Materialersparnis ergeben; dafür gewährt man den Arbeitern einen einmaligen kleinen Prozentanteil an der Ersparnissumme, wenn dieser Vorschlag nach kommissioneller Begutachtung angenommen wurde.
Diese Methode ist für die Betriebe von großem Vorteile, da erstens große Materialersparnisse erzielt werden, andererseits wird die Ausbeutungsmethode auf eine Höhe gebracht, die in der Privatwirtschaft nie erreicht werden kann. Solche rationalisierte Arbeitszeitnormen gelten dann für die Betriebe als Zeitnormen und werden auch auf andere Betriebe übertragen."
Diese Kritik zeigt wie alle Kritiken ähnlicher Art die Unfähigkeit, den Unterschied zwischen der Stellung des Arbeiters im sozialistischen und im kapitalistischen Betrieb zu erkennen. Dieser Unterschied ist aber von entscheidender Bedeutung. Der Verfasser hat schon im Jahre 1926 in einem Artikel „Das Problem" sehr eindeutig darauf hingewiesen, welcher Unterschied in der Beurteilung der Arbeitsleistung der Arbeiter im kapitalistischen Betriebe und der Arbeiter in den schon vorhandenen sozialistischen Betrieben und Genossenschaften besteht. In diesem Artikel, der in einem großen Teil der deutschen sozialdemokratischen Presse und im Zentralorgan der deutschen Konsumgenossenschaften abgedruckt wurde, hieß es u.a.:
„Hier entsteht für den sozialistischen Betrieb die Frage, ob er zuerst seine Arbeiter und Angestellten besser stellen soll oder ob um der Sache, um des größeren Zieles willen nicht zuerst die bessere und billigere Produktion erreicht werden muß, und dann erst, dank dieser besseren und billigeren Produktion die Besserstellung der Arbeiter und Angestellten kommen kann. Betrachten wir diese Frage vom Standpunkt des sozialistischen Vorwärtsschreitens, dann muß die bessere und billigere Produktion als das Vordringlichere betrachtet werden. Bei dem Kampf, den wir Sozialisten führen, geht es nicht darum, für einige Wenige die soziale Frage zu lösen oder bessere soziale Arbeitsbedingungen zu schaffen, sondern vielmehr darum, die soziale Lage der ganzen proletarischen Klasse zu bessern .... Im Kampf um dieses Ziel sind die heute schon vorhandenen sozialistischen Betriebe wichtigste Kampfmittel, sie müssen intakt sein, mit ihnen muß bewiesen werden können, daß der sozialistische Betrieb leistungsfähiger ist als der kapitalistische, daß der Sozialismus den Menschen die Güter geben kann, die ihnen der Kapitalismus vorenthält. Dieser großen Aufgabe müssen die Arbeiter und Angestellten in den sozialistischen Betrieben sich unterordnen, sofern sie Sozialisten und Mitkämpfer für die Befreiung der proletarischen Klasse sein wollen.... Sie müssen durch ihre größeren Leistungen, durch ihre Hingabe ihre Arbeitsfreude und Arbeitsintensität es ermöglichen daß der sozialistische Betrieb trotz der höheren Löhne besser und billiger produzieren kann als der kapitalistische Betrieb. Wir Sozialisten verfechten überall den Gedanken, daß bessere Entlohnung und bessere Behandlung des Arbeiters sein Menschsein und seine Leistungsfähigkeit steigert, daß der Arbeiter, der frei und froh für eine gute Sache schaffen kann, mehr leistet als der, hinter dem immer die Knute steht und der nur für den Profit des Kapitalisten schafft.
Die Arbeiter und Angestellten in den sozialistischen Betrieben müssen aller Welt sichtbar machen, daß unsere sozialistischen Behauptungen richtig sind, sie werden damit wirksamer als mit all den schönen Reden unserer Agitatoren ihren Arbeitsbrüdern in den kapitalistischen Betrieben bessere Arbeitsbedingungen und bessere Löhne erstreiten.
Vielleicht gibt es heute in sozialistischen Betrieben noch Arbeiter und Angestellte, die offen der Meinung Ausdruck geben, sie dürften in sozialistischen Betrieben nicht so schuften und so ausgebeutet werden wie im kapitalistischen Betriebe. Denen .... muß immer wieder gesagt werden, daß die erzwungene Mehrleistung im kapitalistischen Betrieb dem Profit des Einzelkapitalisten zugute kommt, daß dagegen die freiwillige Mehrleistung im sozialistischen Betrieb, die Anspannung aller Kräfte, der proletarischen Organisation, dem proletarischen Aufstieg zugute kommt .... Von den für die sozialistische Idee begeisterten Menschen, von den Leistungen der Arbeiter und Angestellten in den sozialistischen Betrieben hängt es ab, ob in der Praxis die Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsform bewiesen werden kann, ob es uns gelingt, alle Argumente gegen den Sozialismus zu zerschlagen und zu beweisen, daß die sozialistischen Betriebe besser und billiger produzieren und ihre Arbeiter und Angestellten besserstellen können als die kapitalistischen Betriebe."
In diesem Artikel ist das Problem der sozialistischen, genossenschaftlichen Betriebe im kapitalistischen Lande behandelt. Es ist natürlich selbstverständlich, daß durch die Genossenschaftsbetriebe der Sozialismus nicht verwirklicht wird, daß vielmehr die Voraussetzungen dafür die grundlegende Änderung der Ökonomischen Verhältnisse, die Vernichtung der Ausbeuterklasse als Klasse ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet gilt das, was in dem vor mehr als einem Jahrzehnt geschriebenen Artikel über die Steigerung der Arbeitsproduktivität, über die Aufgaben der Arbeiter in den genossenschaftlichen Betrieben im damaligen kapitalistischen Deutschland gesagt wird, in einem viel stärkeren Maße für die Werktätigen in den sozialistischen Betrieben der sozialistischen Sowjetunion. In der UdSSR gibt es keine kapitalistischen Betriebe mehr, in ihr ist die Gesamtproduktion vergesellschaftet. In der Sowjetwirtschaft ist die gesteigerte Arbeitsleistung der Arbeiter, die Erhöhung der Leistungsnormen und der Einsatz der ganzen Persönlichkeit für die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ganz anders zu bewerten als die Arbeit der Proletarier in den kapitalistischen Betrieben.
Für die Richtigkeit der verschiedenen Einschätzung der Arbeit kann sich die Sowjetmacht auch auf Karl Marx und auf August Bebel berufen. August Bebel hat in seinem Buche „Die Frau und der Sozialismus" mancherlei über die Steigerung der Arbeitsproduktivität gesagt, was einige Jahrzehnte später in der Sowjetunion praktisch angewandt wurde. Der Führer der alten deutschen Sozialdemokratie hat im voraus die Argumente derer widerlegt, die die Stachanowbewegung und die Wettbewerbe als unsozialistisch kritisieren und sie mit kapitalistischer Ausbeutung vergleichen. August Bebel schrieb in dem Kapitel über „Die Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft" (50. Auflage, Seite 375 usf.) u.a.:
„Sobald die Gesellschaft im Besitze aller Arbeitsmittel sich befindet, wird die Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne Unterschied des Geschlechts, Grundgesetz der sozialisierten Gesellschaft. (Die Sowjetverfassung drückt das in dem Satz aus: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! D.V.) Die Gesellschaft kann ohne Arbeit nicht existieren. Sie hat also das Recht, zu fordern, daß jeder, der seine Bedürfnisse befriedigen will, auch nach Maßgabe seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten an der Herstellung der Gegenstände zur Befriedigung der Bedürfnisse aller tätig ist ....
Ferner haben alle das Interesse, da sie gegenseitig für einander arbeiten, daß alle Gegenstände möglichst gut und vollkommen und mit möglichst geringem Aufwand an Kraft und Arbeitszeit hergestellt werden, sei es um Arbeitszeit zu sparen, oder um Zeit für Erzeugung neuer Produkte zur Befriedigung höherer Ansprüche zu gewinnen. Dieses gemeinsame Interesse veranlaßt alle, auf Verbesserung, Vereinfachung und Beschleunigung des Arbeitsprozesses zu sinnen. Der Ehrgeiz, zu erfinden und zu entdecken, wird im höchsten Grade angeregt, einer wird an Vorschlägen und Ideen den anderen zu überbieten suchen." In einer Fußnote fügte August Bebel noch hinzu:
„Die Wetteifernden werden allerdings vom Ehrgeiz getrieben, sich auszuzeichnen, von der Sucht, der gemeinsamen Sache zu nützen. Diese Art Ehrgeiz ist aber eine Tugend, er betätigt sich zum Wohle aller, bei dem auch der Einzelne seine Befriedigung findet. Ehrgeiz ist nur schädlich, wo er zum Schaden des Ganzen oder auf Kosten anderer sich betätigt."
Die gesteigerte Leistung des Arbeiters in der „sozialistischen Gesellschaft" ist also schon nach der Lehre August Bebels etwas grundsätzlich anderes als die Leistungssteigerung des Arbeiters in der kapitalistischen Gesellschaft. Der Ehrgeiz des Stachanowarbeiters ist eine Tugend, die sich zum Wohle aller betätigt. Und wozu führt die gesteigerte Leistung des Arbeiters in der „sozialisierten Gesellschaft"? August Bebel sagt an der gleichen Stelle:
„Erhöhte Produktion gereicht allen zum Vorteil; der Anteil des Einzelnen am Produkt steigt mit der Produktivität der Arbeit und die steigende Produktivität ermöglicht wieder die als gesellschaftlich notwendig bestimmte Arbeitszeit herabzusetzen."
Der grundlegende Unterschied, der zwischen den Produktionsverhältnissen in der Sowjetunion und in den kapitalistischen Ländern besteht, zwingt zu einer grundverschiedenen Einschätzung der Arbeit unter den beiden Wirtschaftssystemen. Im kapitalistischen Betrieb kommt jede Mehrleistung des Arbeiters, jede Rationalisierungsmaßnahme, jede Steigerung der Arbeitsproduktivität schließlich nur dem Kapitalisten zugute. Leistet der Arbeiter mehr, so erhält er zunächst auch einen höheren Lohn, der ihm ein höheres Lebensniveau gewährt als seinen weniger leistungsfähigen Arbeitskollegen. Den Mehrwert aber, den er durch geschicktere Ausnützung der Maschine erzeugt, steckt der Kapitalist ein. In dem Bestreben, seinen Profit zu erhöhen, versucht der Unternehmer anhand der Arbeitsergebnisse der leistungsfähigsten Arbeiter die Akkordsätze herabzusetzen, was alle Arbeiter zu gesteigerter Anstrengung zwingt, um nur den alten Lohn zu verdienen. Wollen die leistungsfähigeren Arbeitskräfte ihren Lohnvorsprung halten, so müssen sie noch mehr Kraft anwenden, müssen sie für den Unternehmer einen noch größeren Mehrwert erzeugen. Das Endergebnis dieser Steigerung der Arbeitsproduktivität im Kapitalismus ist eine Überproduktion, die zur Krise und zur Arbeitslosigkeit großer Massen der Arbeiter führt, die auch in Zeiten der Konjunktur keine Garantie eines stabilen höheren Lohnes und keine gesicherte Lebensexistenz erreichen können.
In der gesellschaftlichen Organisation dagegen, in der alle Produktionsmittel Eigentum der Gesamtheit sind, in der es keine ausbeutenden Klassen und keine Ausbeuter mehr gibt, hat die Steigerung der Arbeitsleistung einen ganz anderen Sinn. Der qualifizierte Arbeiter, der seine ganze Kraft für eine erhöhte Arbeitsleistung einsetzt, verbessert zunächst natürlich auch sein persönliches Lebensniveau. Aber nicht nur das, er hilft damit unmittelbar das Lebensniveau des ganzen Volkes zu erhöhen. Von seiner Mehrleistung profitiert kein Kapitalist, kein Ausbeuter kann dadurch reicher werden. Die Verbesserung der Arbeitsmethoden führt zu einer allen zum Vorteil gereichenden allgemeinen Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Ablauf der Dinge in der Sowjetunion beweist, daß dort ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der Wirtschaft und der ständigen Verbesserung der Lebensverhältnisse der werktätigen Massen besteht.
Die bewußte Aktivität der Stachanowarbeiter für die Steigerung der Arbeitsleistung wirkt unmittelbar für die Verbilligung der Produktion, für die Vermehrung der Güter, für die Senkung der Preise und für die Erhöhung des Reallohnes. Die Sowjetarbeiter selbst haben sehr aktiv an der Erhöhung der Leistungsnormen mitgewirkt. Sie wissen, daß die Steigerung der Leistungsfähigkeit für die Hebung der Arbeitsproduktivität notwendig ist; sie wissen, daß z.B. im Jahre 1937 jedes Prozent Hebung der Arbeitsproduktivität eine Zunahme der industriellen Produktion um 674 Millionen Rubel bedeutet. Sie wissen schließlich, daß die Mehrproduktion unter sozialistischen Produktionsverhältnissen nicht wie in der kapitalistischen Gesellschaft zu Absatzschwierigkeiten, Krisen und Arbeitslosigkeit führt, sondern umgekehrt zu einer unbestreitbaren besseren Befriedigung der wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse aller Bürger, zu einer allgemeinen Vermehrung des Wohlstandes.
Unter dem Kapitalismus ist die Arbeit eine anstößige Sache, eine unangenehme Verpflichtung, eine Fron, eine Last. Unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen in der UdSSR hat die Arbeit alle diese unangenehmen Charaktereigenschaften verloren, sie wird zu einem Bedürfnis, zu einer Freude, sie wird geachtet, sie wird geehrt. Der Arbeiter, der in einem kapitalistischen Betriebe über die Tarifnorm hinaus schuftet, erhöht den Profit seines Ausbeuters und schädigt seine Klassengenossen. Der Arbeiter, der in den vergesellschafteten Betrieben der sozialistischen Sowjetunion seine Leistungen über die Norm hinaus steigert, wirkt unmittelbar für die Hebung des Lebensniveaus seiner Klasse und des ganzen Volkes. Er hilft zu seinem Teil aktiv mit, den Sieg des Sozialismus zu vollenden und die klassenlose Gesellschaft zu errichten. Darum ist die Akkordarbeit in der Sowjetunion etwas grundsätzlich anderes als die Akkordarbeit in den kapitalistischen Ländern, ebenso wie die Stachanowbewegung in keiner Weise mit der Rationalisierung und der Stoßarbeit in kapitalistischen Betrieben verglichen werden kann.
Der Einsatz der vollen Kraft und Intelligenz eines Arbeiters in der Sowjetunion kann niemals als eine Ausbeutung dieses Arbeiters bezeichnet werden, sondern ist in der Tat — wie man in der UdSSR sagt — „eine Sache der Ehre und des Ruhmes".
Der Arbeiter, der in der Sowjetunion bei seiner Arbeit das Letzte herausholt, ist ein qualifizierter Sozialist, der an seinem Platze mithilft, die Überlegenheit der sozialistischen über die kapitalistische Produktion praktisch zu beweisen. Unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen wird der Mensch, der im Kapitalismus der Sklave der Maschine ist, zum Herrn, zum Beherrscher der Maschine. Unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen werden zum ersten Male in der Geschichte die Fortschritte der Technik in des Wortes wahrster Bedeutung der Lebensbereicherung der Menschheit dienstbar gemacht. Durch diese Veränderung des Charakters der Arbeit in der Sowjetunion wird allmählich auch der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit völlig beseitigt, ebenso auch der Gegensatz zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Arbeit. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen der Arbeiter- und Bauernklasse, kommen auch dadurch immer mehr zum Verschwinden.
Millionen arbeitende Menschen in Stadt und Land wissen, daß unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen in der Sowjetunion das Volk nur für sich selbst arbeitet, daß von der Fruchtbarkeit, der Ergiebigkeit der Arbeit die Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes und die Überwindung noch vorhandener Mängel abhängt. Die vielen Millionen Teilnehmer der sozialistischen Wettbewerbe, die zahlreichen Stoßbrigadler und Stachanowarbeiter sind von diesem Gedanken erfüllt. Sie sehen ihre sozialistische Gegenwartsaufgabe: die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Deren nächstes Ergebnis ist die Übererfüllung der Fünfjahrpläne, das weitere Ergebnis jedoch wird die Liquidierung des von Trotzki kritisierten Widerspruches zwischen den sozialistischen Produktionsverhältnissen und der Arbeitsproduktivität sein. Da — nach Trotzkis Argumenten — dieser Widerspruch die Ursache der Einkommensungleichheit, der zur neuen Klassenbildung führenden Differenzierung sein soll, hilft die Stachanowbewegung unmittelbar mit, die Ungleichheit zu überwinden und die höchste Phase der kommunistischen Gesellschaft vorzubereiten.
Der vollständige Sieg des Sozialismus muß erst noch erkämpft werden, der Kampf um die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft ist noch im Gange. In diesem Kampfe ist der Arbeiter im Sowjetbetrieb und der Bauer in den Kolchosen ein Soldat, von dessen heroischem Einsatz, von dessen dem großen Ziel dienenden Leistungen der Ausgang dieses gewaltigen — auch im Interesse der ganzen Weltarbeiterklasse geführten — Ringens abhängt. Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion hat die ihr an ihrem Arbeitsplatz gestellte Aufgabe voll begriffen. Die sozialistischen Arbeiter in den anderen Ländern müssen ebenso begreifen, daß die Stachanowbewegung nicht gegen sozialistische Prinzipien verstößt, sondern der heldenmütige Kampf des wirklichen sozialistischen Menschen ist, der alle seine Kraft und alle seine Intelligenz einsetzt, um den Weg zur vollen Verwirklichung des Sozialismus zu verkürzen.

 

Zum Inhaltsverzeichnis

 


 

 

KONFORMISMUS UND MEINUNGSFREIHEIT

 

UNTERDRÜCKUNG DER MEINUNGSFREIHEIT?

„Das verbreitetste, populärste und auf den ersten Blick unwiderlegliche Argument für den nicht-proletarischen Charakter des heutigen Sowjetstaates ist der Hinweis auf die Erstickung der Freiheit der proletarischen Organisationen“
So schrieb Trotzki in der Ende 1933 erschienenen Broschüre „Die 4. Internationale und die UdSSR". Später hat er diesen Vorwurf noch schärfer formuliert. In der 1936 erschienenen Schrift über „Die Terroristenprozesse“ behauptet er, „daß sich die Stalinfraktion über die Partei und sogar über die Bürokratie erhebe" und. „das neue bonapartistische Prinzip der Unfehlbarkeit des lebenslänglichen Führers" verkünde.
Der Vorwurf, daß in der Sowjetunion die Meinungsfreiheit unterdrückt sei, kehrt in den Diskussionen über die UdSSR in den verschiedensten Variationen immer wieder. In Andre Gides „Retour de FURRS" spielt der Konformismus, der in der Sowjetunion herrschen soll, eine große Rolle. Der Zwang von oben, der jede Meinungsfreiheit gewaltsam unterdrücke, ertöte jede selbständige, freie geistige Regung und erzwinge die völlige Gleichschaltung der Gesinnung. Die Folge davon sei, daß junge Menschen, die sich von diesem geisttötenden Konformismus nicht bedrückt fühlen, von einem sträflichen Selbstbewußtsein und von einer Überheblichkeit gegenüber allem, was in der kapitalistischen Welt vollbracht werde, seien. Andre Gide selbst vergleicht die UdSSR mit Hitlerdeutschland. Er bezweifelt, ob in irgendeinem anderen Lande heute, es sei denn in Hitlerdeutschland, der Geist weniger frei, niedergedrückter, furchtsamer (eingeschüchterter), verknechteter sei.
Vom marxistischen Standpunkt ist ein solcher Vergleich undiskutabel. An anderer Stelle dieses Buches wird auseinandergesetzt, daß und warum zwischen faschistischer und proletarischer Diktatur ein grundlegender Unterschied besteht. Die faschistische Diktatur dient der Erhaltung der kapitalistischen Klassenherrschaft und der gewaltsamen Unterdrückung jeder freiheitlichen Regung gegen diese Klassenherrschaft. Die Aufgabe der faschistischen Diktatur ist die gewaltsame Niederhaltung der arbeitenden Klassen; sie würde diese ausrotten, wenn die kapitalistische Klassengesellschaft ohne arbeitende Klassen existieren konnte. Die Diktatur des Proletariats dagegen dient der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft, die jede Unterdrückung und die Diktatur des Proletariats selbst überflüssig macht. In keiner Weise können also Maßnahmen der beiden Herrschaftsformen gleichgesetzt werden, auch dann nicht, wenn sie äußerlich gleich scheinen. Andre Gide aber vergleicht ein Gebiet, auf dem die unter den beiden Herrschaftsformen vorhandenen Zustände nicht einmal äußerlich gleich scheinen.
In Hitlerdeutschland gibt es keinerlei Meinungs- und Geistesfreiheit, das deutsche Volk, besonders die Arbeiterklasse, wird mit dem furchtbarsten Terror für jedes kritische Wort bestraft. Die Arbeiter in den Betrieben sind nichts als „Gefolgschaft", die stumm und willig den Anweisungen des „Betriebsführers", des Unternehmers, zu folgen hat. Die Arbeiterschaft hat keine Möglichkeit, in regelmäßigen Betriebsversammlungen frei ihre Meinung über die Gestaltung der Produktion des Betriebes, über die wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse an ihrem Arbeitsplatze zu sagen. Die Arbeiter und Angestellten haben keine erlaubte Möglichkeit, für die Erhöhung ihres Lohnes, für die Verbesserung ihres Lebensniveaus zu wirken. Sie sind, nach dem Willen der herrschenden faschistischen Diktatur, ewige Sklaven, die nie aus der zermürbenden Tretmühle der Lohnarbeit für den Profit des Privatkapitalisten herauskommen, still und geduldig für das reibungslose Funktionieren des kapitalistischen Betriebes zu schuften haben.
In der Sowjetunion ist den ehemals herrschenden Klassen alle Meinungs- und Bewegungsfreiheit genommen worden. Sie wurden als Klasse vernichtet, weil sie für die sozialistische Wirtschaft ebenso überflüssig wie schädlich sind. Die Arbeiter in den Betrieben und die Bauern in den Kolchosen aber haben dagegen Diskussions- und Bestimmungsrecht bei der Gestaltung der Arbeit ihres Betriebes und der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse. Auf diesem für das Leben der arbeitenden Menschen sehr wichtigen Gebiete haben die Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion eine weitgehende Demokratie, die sich wie der Tag von der Nacht von dem Zustand in den Betrieben in Hitlerdeutschland unterscheidet, und die auch unendlich weiter geht als die Betriebsdemokratie in den demokratisch-kapitalistischen Ländern. Die Betriebsversammlungen, die Versammlungen einzelner Abteilungen in den Betrieben, die Arbeit der vielen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zirkel und die umfassende gesellschaftliche Arbeit innerhalb der Betriebe — das ist lebendiger Beweis für reges geistiges Leben unter den arbeitenden Menschen, für eine weitgehende geistige Bewegungsfreiheit und für die Möglichkeit, daß jeder Einzelne seine geistigen und sonstigen Fähigkeiten zur Hebung des allgemeinen Niveaus der Gesellschaft frei entfalten kann. Da ist nichts von Niedergedrücktheit, Furchtsamkeit, Verknechtung zu spüren.

WER ENTSCHEIDET?

Aber — so sagen die Kritiker — in der Politik werde auch Arbeitern und Bauern die freie Meinungsäußerung und das demokratische Mitbestimmungsrecht verweigert. Politisch herrsche — wie Trotzki behauptet — die Diktatur Stalins, Auch Otto Bauer spricht von der zeitweilig völligen Ausschaltung der Demokratie in der Sowjetunion. In seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" versucht er bestimmte Wandlungen der Diktatur aufzuzeigen und diese aus der jeweiligen wirtschaftlichen Situation zu erklären. Er schreibt dort (155/156):
„In dieser Phase veränderte sich abermals die Funktion der Diktatur. Indem die Diktatur dem Bauern schwere Opfer auferlegte, um den industriell-proletarischen Sektor der Gesellschaft, das Klassengewicht der Arbeiterklasse innerhalb der Gesellschaft zu vergrößern, indem sie die Bauernwirtschaften kollektivierte, um die Macht des Staates über die Bauernwirtschaft und über die Erträge ihrer Arbeit zu sichern, wurde die Diktatur in dieser Phase zur Diktatur des Proletariats über die Bauern, setzte sie gegen die Bauern die Entwicklungsnotwendigkeiten des Proletariats durch. Aber wenn die Diktatur in diesem Prozeß die Zukunftsnotwendigkeiten des Proletariats durchsetzte, so zwang sie zugleich das Proletariat selbst, heute die schwersten Opfer zu bringen, um für die Zukunft die Sicherung der Errungenschaften seiner Revolution und die Möglichkeit einer wesentlichen Erhöhung seiner Lebenshaltung zu erobern. Sie setzte gegen die Tagesbedürfnisse der einzelnen Proletarier die Erfordernisse der Zukunft des Proletariats durch. Diese Aufgabe konnte freilich nicht eine Diktatur von Sowjets erfüllen, deren Mitglieder jeden Tag von ihren Auftraggebern abberufen werden können, damit sie jeden Tag nach den jeweiligen egoistischen Wünschen, nach den jeweiligen Auffassungen und jeweiligen Tagesbedürfnissen ihrer Wähler entscheiden. Diese Aufgabe konnte nur eine über einen allmächtigen bürokratisch-militärisch-polizeilichen Machtapparat verfügende Parteidiktatur bewältigen, die sich ihr Ziel aus der Erkenntnis der Entwicklungs-, der Zukunftsinteressen des Proletariats setzt, aber die notwendigen Mittel zu diesem Ziele auch widerstrebenden Proletarierschichten, vor allem den sich eben erst aus der Bauernschaft herauslösenden, in die Industrie überführten, auch in der Industrie noch die Lebens-, Arbeits- und Denkgewohnheiten der Bauernschaft mitschleppenden Proletariern aufzwingt.
Zugleich veränderte sich aber damit auch neuerlich die innere Struktur der Parteidiktatur. In einer Zeit, in der der Notschrei hungernder, verhungernder Massen auch in die Parteizellen drang, in der auch innerhalb der Partei viele wankend und mutlos wurden, in der sich die Widerstände proletarischer Massen auch innerhalb der Partei spiegelten, konnte nur eine stählerne Diktatur über die Partei selbst sichern, daß die Partei zäh, unbeugsam, unerschütterlich die Erreichung des gesteckten Zieles erzwang. In dieser Phase hat Stalin innerhalb der Partei eine Opposition nach der anderen niedergerungen und mit den Mitteln des staatlichen Terrors vernichtet. In dieser Phase hat er jede Diskussion innerhalb der Partei unmöglich gemacht, die Partei selbst aus einem Organ der Willensbildung in ein blind gehorchendes Organ seines Willens verwandelt."
Falsch an dieser Darstellung ist vor allem die Behauptung, daß zuzeiten die persönliche Diktatur Stalins alle anderen Einflüsse ausgeschaltet habe. Otto Bauer gibt dieser Feststellung allerdings einen ganz anderen Ton als Trotzki. Er fährt im Anschluß an das oben wiedergegebene Zitat fort:
„Aber so furchtbar die Opfer waren, mit denen der große Industrialisierungs- und Kollektivierungsprozeß erkauft werden mußte, so berauschend groß sind seine Erfolge." Aus Otto Bauers Darstellung ist zu schlußfolgern, daß die zeitweilige persönliche Diktatur Stalins notwendig war, um über die vorhandenen Schwierigkeiten hinwegzukommen, um die berauschend großen Erfolge zu ermöglichen, um die Voraussetzungen für das demokratische Mitbestimmungsrecht der Massen zu schaffen. Aber die persönliche Diktatur eines Mannes hat nie bestanden; sie ist unvereinbar mit dem Organisationsprinzip der leninschen Partei. Gewiß ist Stalins Einfluß in der Bolschewistischen Partei sehr groß. Trotzdem ist niemals und in keiner Situation sein Wille allein maßgebend gewesen. So sehr auch in manchen schwierigen Situationen das Funktionieren der Demokratie in den Parteiorganisationen gehemmt gewesen sein mag, entschieden hat immer die Partei. Alle wichtigen Entscheidungen sind von der Partei und deren Instanzen herbeigeführt worden.
Das leninsche Organisationsprinzip ist so fest in der Bolschewistischen Partei verankert, daß es von niemandem über den Haufen geworfen werden kann. Die Partei ist das Wichtigste, dem sich jede, auch die führendste Einzelperson, unterzuordnen hat. Innerhalb der Partei, bei den Diskussionen in der Organisation, war Gelegenheit zur Willensbildung. Aber nach der Entscheidung der Partei durfte keine Einzelperson die Durchführung der gefaßten Beschlüsse durchkreuzen. Nach Abschluß der Diskussionen wurde energisch gegen Oppositionen vorgegangen, die Mehrheitsbeschlüsse der Partei nicht anerkannten und Aktionen der Partei öffentlich zu stören versuchten.
Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß alles, was in den letzten Jahren als diktatorische Maßnahmen Stalins „gebrandmarkt" wurde, ausnahmslos auf Mehrheitsbeschlüssen von Parteitagen oder des Zentralkomitees beruhte, die in jedem Falle erst nach einer mehr oder weniger ausführlichen Diskussion zustande kamen. Um die allgemeine, in den sozialistischen Kreisen außerhalb der Sowjetunion weit verbreitete Meinung von der „Diktatur Stalins" über die Partei zu widerlegen, wäre es sehr nützlich, in einer besonderen Schrift einmal alle im letzten Jahrzehnt durchgeführten Maßnahmen daraufhin nachzuprüfen, inwieweit sie eigenmächtige Handlungen Stalins oder Beschlüsse der Partei waren. Das Ergebnis würde sein, daß jede Maßnahme von der Partei beschlossen wurde. In der Sowjetunion ist die Partei die entscheidende Kraft. Allerdings haben starke Persönlichkeiten mit Führerqualitäten wie überall so auch in der Bolschewistischen Partei erheblichen Einfluß auf Entscheidungen. Lenin war eine solche außergewöhnliche Persönlichkeit. Heute wird das allgemein anerkannt. Jedoch vor seinem Tode war auch seine Person durchaus nicht unumstritten. Es gibt eine Fülle von Beweisen, daß seine Gegner aus den verschiedensten Lagern auch noch nach 1917 seine große geschichtliche Leistung bestritten. Aber das ändert nichts an der Größe der Persönlichkeit Lenins, die natürlich dazu beitrug, daß die Entscheidungen der Partei meist im Sinne seiner Vorschläge ausfielen. Trotzdem ist Lenin — vor und nach der Oktoberrevolution — auch im Zentralkomitee der Partei gelegentlich in der Minderheit geblieben. Sogar in ihm so wichtig erscheinenden Fragen, daß er seinen Rücktritt aus dem Zentralkomitee ankündigte.
Im Lager der Gegner des Bolschewismus ist Stalin eine nicht minder umstrittene Persönlichkeit als es Lenin bis zu seinem Tode war. Die Polemiken gegen Stalin sind jedoch oft noch schärfer und gehässiger als früher gegen Lenin, weil sie von dem besonderen Haß der Trotzkisten vergiftet werden. Die Hetze der Trotzkisten hat Stalin zu einem intriganten, blutdürstigen, unfähigen Allerweltsscheusal gemacht, das für alle Verbrechen und Schicksalsschläge in der ganzen Welt verantwortlich ist. In Wahrheit ist Stalin ebenso wie Lenin eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit, deren große geschichtliche Leistung schon heute jeder vorurteilsfreie Beobachter anerkennen muß. Nur darum hat Stalin — ebenso wie früher Lenin — einen erheblichen Einfluß auf die Beschlüsse der Bolschewistischen Partei. Die großen Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben zweifellos das Ansehen Stalins und den Wert seines Wortes bei Entscheidungen der Partei gesteigert. Aber nicht Stalin — die Bolschewistische Partei entscheidet.
Diesen Tatbestand geben zuweilen — wenn auch unfreiwillig — die erbittertsten Feinde Stalins zu. Ein Beispiel dafür ist in einem Brief eines angeblichen „Alten Bolschewiken" enthalten, den der menschewistische „Sozialistische Bote" im Februar 1937 „Zur Vorgeschichte der Moskauer Prozesse" veröffentlichte. Diesen Brief hat auch die „Internationale Information" der II. Internationale verbreitet, und über diese hat er Eingang in sozialdemokratischen Zeitungen, unter anderem auch im „Neuen Vorwärts" des deutschen sozialdemokratischen Parteivorstandes gefunden, Dem ganzen Ton nach stammt der Brief von einem fanatischen Gegner Stalins aus dem menschewistischen Lager. Inmitten der heftigsten Angriffe gegen die Sowjetmacht erzählt der Verfasser eine lange Geschichte über Kirows politische Aktivität. Dabei wird unter anderem mitgeteilt, daß Kirow im Zentralkomitee eine eigene politische Linie vertrat und daß sich die Mehrheit des Zentralkomitees gelegentlich gegenüber dem in den zur Entscheidung stehenden Fragen angeblich „zurückhaltenden" Stalin für Kirows Linie entschied. Das Wesentliche an dieser ganzen mit den schärfsten Angriffen gegen Stalin und die Sowjetmacht gespickten Darstellung ist die von dem Verfasser wahrscheinlich nicht gewollte, aber doch richtige prinzipielle Feststellung, daß im Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei ein freier Meinungsaustausch stattfindet, daß im Rahmen der Gesamtkonzeption jeder seinen selbständigen Standpunkt vertreten und für diesen die Mehrheit der Partei gewinnen kann. Faktisch bedeutet das, daß in jedem Falle die Mehrheit der Partei entscheidet. Es ist also nicht richtig, daß Stalin die Partei aus einem „Organ der Willensbildung in ein blind gehorchendes Organ seines Willens" verwandelt hat. Die Bolschewistische Partei ist stets ein Organ der Willensbildung geblieben.

DIE ENTWICKLUNG DER DEMOKRATIE IN DER BOLSCHEWISTISCHEN PARTEI

Die Diktatur in der Sowjetunion wird nicht von einer Person, sondern vom Proletariat durch seine führende Partei ausgeübt. Diese allerdings hat in den verschiedenen Phasen des Kampfes um den sozialistischen Aufbau harte Maßnahmen ergreifen müssen, um gegen Kurzsichtige und Widerspenstige, die — wie Otto Bauer schließlich feststellt — so berauschend großen Erfolge durchzusetzen. In der Periode des erbitterten Ringens um den Aufbau und wegen der vielfach widerstreitenden Interessen einzelner Gruppen konnte die Ausnutzung des formalen demokratischen Mitbestimmungsrechtes nicht immer restlos gewährt werden. In dem gewaltigen Prozeß der revolutionären Umwandlung eines kapitalistischen Landes in ein sozialistisches sind sehr verschiedenartige Perioden zu durchschreiten, die sehr unterschiedliche Maßnahmen erfordern. So stellte auch in der russischen Revolution nach 1917 jede Periode ihre bestimmten vordringlichen Aufgaben. Die Durchführung der ersten Fünfjahrpläne erforderte die Konzentrierung aller Kräfte auf den wirtschaftlichen Aufbau. In dieser Periode standen die Fragen der industriellen Entwicklung, der Elektrifizierung und der Meisterung der Technik im Vordergrund. Nachdem das Fundament der sozialistischen Wirtschaft gelegt ist, nachdem breite Massen die Maschinen, die Technik und die Wirtschaftsführung beherrschen, und ein Stamm qualifizierter Arbeiter und Spezialisten das Funktionieren des industriellen und agrarischen Wirtschaftsapparates garantiert, wird die intensive politische Schulung der Massen und die Demokratisierung der Wirtschaft und des politischen Lebens zur vordringlichsten, zur wichtigsten Aufgabe der Gegenwart. Aber um das zu ermöglichen, mußte erst der wirtschaftliche Aufbau erfolgreich durchgeführt werden, und diese Aufgabe war nur zu lösen, wenn zunächst vordringlich alle Kräfte für sie eingesetzt wurden. Nunmehr erst ist das Fundament für die — wie Stalin sagt — Meisterung der Politik vorhanden. Zwischen der politischen Schulung und der demokratischen Mitbestimmung der Massen besteht eine unmittelbare Wechselwirkung. Die demokratische Mitwirkung der Massen an der Vollendung des sozialistischen Aufbaus erfordert die politische Erziehung des Volkes, politisch geschulte Massen aber können in einem Staat ohne Ausbeuterklassen von der demokratischen Mitentscheidung nicht mehr ausgeschaltet werden.
Wenn in früheren Perioden in kritischen Situationen das demokratische Mitbestimmungsrecht um der zu erreichenden nächsten Etappe willen zeitweilig eingeschränkt werden mußte, so bestand doch niemals ein Zweifel darüber, daß das kein gewellter Dauerzustand sein konnte, sondern eben nur eine durch die besonderen Verhältnisse erzwungene Übergangslösung, die zur gegebenen Zeit liquidiert wird.
In der nunmehr erreichten Phase der Entwicklung verlangt das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei die intensivere politische Schulung der Massen und im Zusammenhang damit die Durchführung der Demokratie innerhalb der Partei und bei den Wahlen zu den Sowjets. In der Anfang März 1937 abgehaltenen Sitzung des Plenums des Zentralkomitees wurden die Mängel in der Organisation sehr offenherzig kritisiert und der Kampf um die volle Verwirklichung der Demokratie innerhalb der Partei als wichtige Tagesaufgabe proklamiert. Auf dieser Tagung hielt Stalin — am 3. März 1937 — eine für die Beurteilung der weiteren Entwicklung in der Sowjetunion sehr beachtenswerte Rede „Über die Mängel der Parteiarbeit". In dieser Rede legte er dar, daß in der Periode des ersten wirtschaftlichen Aufbaus die Frage der politischen Schulung hinter der technischen und wirtschaftlichen Schulung zurückgetreten ist. Im Anschluß daran sprach er auch ganz offen von den Gefahren, die aus den Erfolgen des wirtschaftlichen Aufbaus entstanden sind. Er sagte darüber u.a.: „Aber es gibt Gefahren anderer Art, Gefahren, die mit Erfolgen verbunden sind. Gefahren, die mit Errungenschaften verbunden sind. Diese Gefahren bestehen darin, daß die Gegebenheit der Erfolge — Erfolg auf Erfolg, Errungenschaft auf Errungenschaft, Überbietung der Pläne auf Überbietung — bei Menschen, die in der Politik wenig erfahren sind und nicht sehr viel gesehen haben, Stimmungen der Sorglosigkeit und Selbstzufriedenheit hervorruft, eine Atmosphäre paradeartiger Festlichkeiten und gegenseitiger Begrüßungen schafft, die das Gefühl für das richtige Maß tötet und das politische Feingefühl abstumpft, die die Menschen magnetisiert und sie veranlaßt, auf ihren Lorbeeren auszuruhen.
Kein Wunder, daß die Menschen in dieser betäubenden Atmosphäre der Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit, in dieser Atmosphäre paradeartiger Manifestationen und geräuschvollen Eigenlobs einige wesentliche Tatsachen vergessen, die für das Schicksal unseres Landes von erstrangiger Bedeutung sind, die Menschen beginnen solch unangenehme Tatsachen nicht zu bemerken, wie die kapitalistische Umwelt, die neuen Formen der Schädlingsarbeit, die Gefahren, die mit unseren Erfolgen verbunden sind, usw. Die kapitalistische Umwelt? Aber das ist doch Unsinn! Welche Bedeutung kann irgend eine kapitalistische Umwelt haben, wenn wir unsere Wirtschaftspläne erfüllen und überbieten?" Um diese Gefahren zu beseitigen, empfiehlt Stalin in seiner Rede die Erfüllung einer Reihe von Aufgaben. Dabei u.a.:
„Man muß unseren Parteigenossen klar machen, daß mit den wirtschaftlichen Erfolgen, deren Bedeutung zweifellos sehr groß ist, und die wir auch weiterhin Tag für Tag, Jahr für Jahr zu erzielen suchen werden, dennoch die ganze Sache unseres sozialistischen Aufbaus nicht völlig erschöpft ist.
Man muß klar machen, daß die Schattenseiten, die mit den wirtschaftlichen Erfolgen verbunden sind und sich in Selbstzufriedenheit, Sorglosigkeit und in der Abstumpfung des politischen Fingerspitzengefühls äußern, nur dann beseitigt werden können, wenn die wirtschaftlichen Erfolge mit den Erfolgen des Parteiaufbaus und entfalteter politischer Arbeit unserer Partei Hand in Hand gehen.
Man muß klar machen, daß die wirtschaftlichen Erfolge selbst, ihre Festigkeit und ihre Beständigkeit voll und ganz von den Erfolgen der parteiorganisatorischen und der parteipolitischen Arbeit abhängen, daß beim Fehlen dieser Voraussetzung sich herausstellen kann, daß die wirtschaftlichen Erfolge auf Sand gebaut sind.
Man muß daran denken, und darf niemals vergessen, daß die kapitalistische Umwelt die grundlegende Tatsache ist, die die internationale Lage der Sowjetunion bestimmt ...
Man muß unseren Parteigenossen klar machen, daß keinerlei wirtschaftliche Erfolge, so groß sie auch sein mögen, die Tatsache der kapitalistischen Umwelt und die sich aus dieser Tatsache ergebenden Folgen aus der Welt schaffen können.
Man muß die faule Theorie zerschlagen und von sich werfen, daß mit jedem unserer Schritte vorwärts der Klassenkampf angeblich bei uns immer mehr und mehr erlöschen muß, daß in dem gleichen Maße, wie wir Erfolge erzielen, der Klassenfeind angeblich immer zahmer und zahmer wird." Die Schlußfolgerung, die Stalin zieht, ist: Überall in allen Gruppierungen der Partei — bis zur höchsten Spitze — eine intensive politische Schulungsarbeit durch zu führen.
„Man muß", sagt Stalin, „die alte Losung von der Meisterung der Technik, die der Periode der Schachty-Zeit entsprach, durch die neue Losung der politischen Erziehung der Kader, der Meisterung des Bolschewismus und der Liquidierung unserer politischen Vertrauensseligkeit ergänzen, durch eine Losung, die im vollen Ausmaß der Periode, in der wir heute leben, entspricht."
Die Entwicklung des wirtschaftlichen Aufbaus auf eine höhere Stufe, die Vollendung des sozialistischen Aufbaus erfordert völlige Demokratisierung der Partei und des ganzen öffentlichen Lebens. So wie im Kampf um die Umwandlung von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft verschiedene Phasen eintreten, so wechseln auch die Aufgaben, die in diesem Kampfe an die Menschen gestellt werden. Menschen, die in der Periode des wirtschaftlichen Aufbaus Hervorragendes geleistet haben und die darum in dieser Zeit fortschrittliche Elemente waren, können in der neuen Phase zu rückschrittlichen, hemmenden Elementen werden, wenn sie sich zu ihrer wirtschaftlichen Qualifikation nicht die notwendige politische Qualifikation aneignen und sich der notwendigen Demokratisierung entgegenstellen. Die Durchführung der Demokratisierung zwingt zur Entfernung auch von solchen bürokratischen Kräften, die wegen ihrer Leistungen in der Periode des wirtschaftlichen Aufbaus auf einflußreiche Posten gestellt wurden. Eine solche im Interesse der Demokratisierung notwendige Reinigung des Staats- und Wirtschaftsapparates bedeutet nicht Rückschritt, sondern Fortschritt. Die Notwendigkeit der völligen Demokratisierung in der neuen Phase der Entwicklung begründete als Hauptreferent auf dem Plenum des Zentralkomitees, auf dem Stalin die oben zitierte Rede hielt, der Nachfolger Kirows, Shdanow. Er sprach sehr ausführlich über die Vorbereitung der Parteiorganisation zu den Wahlen in den obersten Sowjet der UdSSR nach dem neuen Wahlsystem und die entsprechende Umgestaltung der parteipolitischen Arbeite Shdanow forderte im Auftrage des Zentralkomitees restlose Durchführung des demokratischen Zentralismus in der Partei, die Innehaltung des Statuts und die völlige Demokratisierung. Dabei stellte Shdanow fest, daß in der Vergangenheit die demokratischen Prinzipien vielfach nur mangelhaft angewandt wurden. Er verwies darauf, daß einzelne Organisationen in der Praxis „das Parteistatut und die Grundsätze des innerparteilichen Demokratismus" verletzten. Er kritisiert offen und scharf die vorhandenen Mängel. Besonders gegen den Paragraphen 18 des Statuts sei vielfach verstoßen worden. Er besagt:
„Das leitende Prinzip des organisatorischen Aufbaus der Partei ist der demokratische Zentralismus, der bedeutet:
a) Wählbarkeit der leitenden Organe der Partei von oben bis unten;
b) periodische Rechenschaftslegung der Parteiorgane vor ihren Parteiorganisationen;
c) strengste Parteidisziplin und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit;
d) unbedingte Pflicht der unteren Organe und aller Mitglieder der Partei, die Beschlüsse der höheren Parteiorgane durchzuführen.
Nach dem Hinweis auf das Statut sagte Shdanow:
„... In den letzten zwei bis drei Jahren wurden Wahlen der Gebiets- und Gaukomitees und der Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien nur in jenen Organisationen vorgenommen, die neu gebildet wurden, nur anläßlich der Bildung neuer Gebiete (der Organisation von Kalmin, Kraßnojarsk, Omsk, Orenburg und Jaroslawl). Unsere Gebietsund Gaukomitees und die Zentralkomitees, die Rayonkomitees und die primären Parteikomitees bestehen in ihrer Mehrzahl seit der Periode des XVII. Parteitages, d.h. seit der Periode, da eine allgemeine Kampagne der Wahlen der Parteiorgane durchgeführt wurde ...
Das heißt, die Gesetze unserer Partei wurden umgeworfen, obwohl wir auf das Statut schwören, es in Zirkeln auswendig lernen und bei der Prüfung und dem Umtausch der Parteidokumente von den Parteimitgliedern fordern, daß sie das Statut kennen. Bei einer Prüfung ergibt sich, daß wir uns selbst unseren eigenen Parteigesetzen gegenüber unzulässig liberal verhalten ...
Eine solche äußerst ernsthafte Verletzung des Statuts unserer Partei bezüglich des Wahlprinzips ist die durch nichts zu rechtfertigende Verbreitung der Kooptierung verschiedener führender Funktionäre in die Plenums der Parteikomitees, der Rayonkomitees, der Stadtkomitees, der Gebietskomitees, der Gaukomitees und der Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien.
Die dem ZK der KPdSU(B) zur Verfügung stehenden Materialien besagen, daß die schädliche Praxis der Kooptierung sich weitgehend eingebürgert hat. Die Praxis der Kooptierung verletzt das gesetzliche Recht der Parteimitglieder, an den Wahlen ihrer führenden Organe teilzunehmen. Werden die Parteimitglieder bei der Kooptierung doch der Möglichkeit beraubt, an den Wahlen teilzunehmen, der Möglichkeit, ungeeignete Kandidaten abzulehnen; sie werden überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt, weil die Kooptierung auf dem Plenum erfolgt."
Weil die Kooptierung der Demokratie widerspricht, soll mit ihr Schluß gemacht werden. Aber es haben sich in der vergangenen Periode noch andere Gebräuche eingebürgert, die das demokratische Mitbestimmungsrecht der Massen hinderten. Bei der Kritik, die von den Gegnern der Sowjetunion geübt wird, spielt der Hinweis auf das sogenannte „Dreieck", daß die demokratische Entfaltung in den Betrieben hemmte, eine große Rolle. Auch diese „Dreiecke" werden liquidiert. Zu dieser Frage sagte Shdanow in seinem Referat:
„Ich möchte noch ein Beispiel der Verletzung der Prinzipien der kollektiven Leistungen erwähnen. Es handelt sich um die sogenannten ,Dreiecke'. In Gestalt des ,Dreiecks! — bestehend aus dem Sekretär des Parteikomitees, dem Leiter des Betriebes oder der Institution und dem Vorsitzenden der örtlichen Gewerkschaftsorganisation — gibt es bei uns eine Reihe Organisationen abseits von den normalen gewählten Organen (Parteikomitee und Betriebskomitee) eine eigenartige, offiziell und regulär tätige, in keinen Partei- und Sowjetgesetzen vorgesehene Organisation. Sie tritt zusammen, faßt Beschlüsse, erteilt Direktiven zur Ausführung usw.. Vom Standpunkt der kollektiven Führung aus, vom Standpunkt der richtigen Beziehungen zwischen den Partei-, Wirtschaftsund Gewerkschaftsorganisationen stellt das Dreieck eine absolut unstatthafte Form dar. Das ist Vetternwirtschaft, das ist ein Abkommen, um das Kritisieren zu erschweren. Wenn diese drei sich einmal einig geworden sind, da versuche mal einer, sie zu kritisieren! Die Gewerkschafts- und die Parteiorganisation werden dadurch ihrer Verantwortung enthoben, sie werden im Kampfe gegen die Mängel der wirtschaftlichen Führung entwaffnet und andererseits wird der Wirtschaftsführer selbst entwaffnet, weil das Dreieck gewissermaßen ein kollegiales Verwaltungsorgan bildet, während unsere Wirtschaftsführung ganz anders aufgebaut ist.
Die Dreiecke stellen eine Parodie, eine Karikatur, ein Surrogat einer kollektiven Führung dar ...
Meiner Ansicht nach ist es Zeit, die Liquidierung der Dreiecke in Erwägung zu ziehen."
Die Liquidierung der „Dreiecke" geht natürlich auch nicht reibungslos vor sich. Wer in so einem „Dreieck" eine einflußreiche Position innehat und die Notwendigkeit der Demokratisierung nicht begreift, muß von seinem Posten entfernt werden. Aber die allgemeine Besserung der Verhältnisse zeigt sich darin, daß inzwischen genügend qualifizierte Ersatzkräfte herangewachsen sind. Das ermöglicht die durchgreifende Beseitigung undemokratischer Einrichtungen, die aus der Not der früheren Zeit erwachsen waren. Die klare und scharfe Kritik, die in der führenden Parteiinstanz und vom Zentralkomitee in seiner Resolution geübt wurde, offenbart den entschlossenen Willen, alle vorhandenen Mängel abzustellen und das reibungslose Funktionieren der Demokratie zu ermöglichen. Das Plenum des Zentralkomitees nahm nach dem Referat von Shdanow eine Resolution an, die vorschrieb, daß die demokratischen Grundgesetze in allen Organisationen bis zum 20. Mai 1937 durchgeführt sein müssen. In dieser Resolution heißt es:
„Das Plenum des ZK der KPdSU(B) erachtet es für notwendig, die folgenden Maßnahmen zu verwirklichen und verpflichtet alle Parteiorganisationen, diese Maßnahmen durchzuführen:
1. Beseitigung der Praxis der Kooptierung von Mitgliedern in die Parteikomitees — und in Übereinstimmung mit dem Parteistatut — Wiederherstellung der Wählbarkeit der führenden Organe der Parteiorganisationen.
2. Verbot der Abstimmung nach Listen bei den Wahlen der Parteiorgane. Die Abstimmung hat nach einzelnen Kandidaturen zu erfolgen, wobei allen Parteimitgliedern das unbeschränkte Recht sicherzustellen ist, Kandidaten abzulehnen und sie zu kritisieren.
3. Einführung der geschlossenen (geheimen) Abstimmung über die Kandidaten bei den Wahlen der Parteiorgane.
4. Durchführung der Wahlen der Parteiorgane in allen Parteiorganisationen, angefangen von den Parteikomitees der primären Parteiorganisationen und endigend mit den Gau-, Gebietskomitees und den Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien, wobei die Wahlen spätestens bis zum 20. Mai zu beendigen sind.
5. Alle Parteiorganisationen sind verpflichtet, die Fristen der Wahlen der Parteiorgane in Übereinstimmung mit dem Parteistatut streng einzuhalten: in den primären Parteiorganisationen einmal im Jahre, in den Rayon- und Stadtorganisationen einmal im Jahre, in den Gebiets-, Gauorganisationen und in den Organisationen der Republiken einmal in anderthalb Jahren.
6. Sicherstellung der strengsten Einhaltung der Wahlordnung der Parteikomitees in den primären Parteiorganisationen auf den allgemeinen Fabriksversammlungen, wobei eine Ersetzung der letzteren durch Konferenzen nicht zuzulassen ist.
7. Beseitigung der in einer Reihe von primären Parteiorganisationen vorhandenen Praxis der faktischen Abschaffung der allgemeinen Versammlungen und der Ersetzung der allgemeinen Versammlungen durch Werkstattversammlungen und Konferenzen."
Die Durchführung dieser Resolution verwirklicht die Demokratie in allen Parteiorganisationen. In der Formulierung der Aufgaben enthält die Resolution zugleich eine starke Selbstkritik der bisher vorhandenen demokratischen Mängel. Für die Untersuchung der Frage, ob der Vorwurf eines geistlosen Konformismus berechtigt ist, ist nicht unwichtig, ob an vorhandenen Mängeln Kritik geübt werden kann und Kritik geübt wird. Auf dem XI. Parteitag prägte Lenin eine wichtige Richtlinie für die Bolschewistische Partei:
„Alle revolutionären Parteien, die zugrunde gegangen sind, gingen darum zugrunde, weil sie zu sehr von sich eingenommen waren, und nicht zu sehen verstanden, worin ihre Kraft bestand und sich fürchteten, von ihren Schwächen zu sprechen. Wir aber werden nicht zugrunde gehen, weil wir uns nicht fürchten, von unseren Schwächen zu sprechen, und lernen werden, die Schwächen zu überwinden.“ Das offene Hinweisen auf vorhandene Schwächen, der immer wieder verstärkte Anstoß zur Überwindung dieser Schwächen ist auch ein Beweis für die geistige Regsamkeit einer Bewegung, die schon darum nicht in einem geisttötenden Konformismus erstickt ist.
Der Kurs in der Sowjetunion geht klar auf die Demokratisierung der Partei und des ganzen öffentlichen Lebens. Dieser scharfe Kurs auf die Demokratisierung ist nicht vom Himmel gefallen, er entspricht vollkommen der inzwischen ökonomisch erreichten Phase der neuen Gesellschaft. Diese Phase erfordert eine immer größere geistige und politische Mitarbeit breiter Volksmassen, erfordert Kritik und Meinungsfreiheit, die mithelfen, die von Marx gezeichnete höchste Form der kommunistischen Gesellschaft zu erreichen. Die durchgreifende Demokratisierung ermöglicht die bessere Überwindung noch vorhandener bürokratischer Mängel. Es ist darum durchaus kein Zufall, daß- alle Führer der Sowjetunion immer dann, wenn sie von der Verwirklichung der demokratischen Rechte sprechen, ausdrücklich betonen: Die Arbeit der Partei wird dadurch verbessert werden, die Partei wird aktiver und noch besser als vorher in der Masse arbeiten und durch ihre Leistungen als Führerin von der Masse anerkannt werden. So wie in gewissen Phasen des Kampfes um den wirtschaftlichen Aufbau die Vernachlässigung oder Einschränkung der Demokratie vorübergehend vielleicht nicht zu umgehen war, so sehr ist in der gegenwärtigen und nächsten Phase der Aufwärtsentwicklung in der UdSSR die Anwendung weitgehender demokratischer Rechte auf breitester Basis unerläßlich.

DER KONFORMISMUS UND DIE JUNGE GENERATION

Konformismus — die völlige Übereinstimmung — wird verlangt in der Frage der Grundrichtung aller politischen und öffentlichen Arbeit. Das Ziel ist die klassenlose Gesellschaft, die höchste Phase der sozialistischen Gesellschaft. Wer gegen dieses Ziel verstößt — wird mit Recht als Feind der Sowjetunion gebrandmarkt. Wer gegen die von der Partei zu diesem Ziele hingesteuerte grundlegende Politik verstößt wird bekämpft. Die in der Sowjetunion gestellte Aufgabe, inmitten der kapitalistischen Umwelt eine neue Welt zu gestalten, ist so gewaltig und so schwierig, daß jeder Hemmungs- und Störungsversuch mit aller Energie rücksichtslos unterdrückt werden muß. Über Ziel und Generallinie muß eine einheitliche Auffassung, — muß Konformismus herrschen. Aber über die einzelnen, besten Wege zu diesem Ziele, über die praktisch richtig anzuwendende Generallinie herrscht eine weitgehende Meinungsfreiheit und kein Gesinnungszwang. Wahrlich — in keinem andern Lande der Welt wird über die das unmittelbare Schicksal der Menschen entscheidenden Maßnahmen so frei und so lebhaft diskutiert wie in der Sowjetunion. In den zahlreichen Betriebs- und Abteilungsversammlungen, in den unzähligen Wandzeitungen, in den Arbeiter- und Bauernredaktionen der Zeitungen und in diesen Zeitungen selbst. Daß bei diesen Diskussionen immer ein gemeinsamer, übereinstimmender Wille — die Entwicklung zum Endziel vorwärts zu treiben — zu spüren ist, ist nicht der Nachteil eines „beklagenswerten Konformismus", sondern der große Vorteil einer mitreißenden, herrlichen Idee, die im Kampf Millionen und Abermillionen Menschen ohne besonderen Befehl in eine Richtung vorstoßen läßt.
Andre Gide beklagt neben dem Konformismus das Selbstbewußtsein und die Überheblichkeit der sowjetrussischen Jugend. Die junge Generation in der UdSSR ist in der Tat sehr selbstbewußt. Ist das ein Unglück? Oder ist es nicht vielmehr ein für die Zukunft des Landes begrüßenswertes Plus? Das Selbstbewußtsein — Andre Gide bezeichnet es als Überheblichkeit — der Sowjetjugend ist gewachsen aus der freien Entfaltungsmöglichkeit, die den jungen Menschen nach dem Sturze der kapitalistischen Klassengesellschaft gegeben wurde. Jeder kann unabhängig vom Geldbeutel seiner Eltern alles werden, wozu ihn Begabung und Fleiß befähigen. Junge Menschen, die nicht mehr unterdrückt werden, die ihre Fähigkeiten frei entfalten können, müssen selbstbewußter werden als ihre Kameraden, die in anderen Ländern unter dem Druck der kapitalistischen Klassengesellschaft leben, und die während Krise und Arbeitslosigkeit den Weg in die Zukunft versperrt sehen. Das ausgeprägte Selbstbewußtsein der Sowjetjugend ist zugleich auch eine Widerlegung des Vorwurfes, daß in der Sowjetunion geisttötender Konformismus und Unterdrückung des Geistes herrschen. Wäre es um die geistigen Dinge in der UdSSR so bestellt, wie Gide behauptet, dann gäbe es dort keine selbstbewußte Jugend. Junge Menschen brauchen freie geistige Entfaltungsmöglichkeit, sie brauchen auf Geist und Seele wirkende Vorbilder und freie Betätigung für ihr Sehnen, wenn sie an sich selbst und ihre Zukunft glauben sollen. Der Sturz der kapitalistischen Klassengesellschaft hat die junge Generation der Arbeiter und Bauernklasse befähigt, ihre unter dem Zarismus niedergehaltenen Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten. Und diese Freiheit macht die junge Generation in der Sowjetunion zukunftsgläubig und darum selbstbewußt.
Zu der gigantischen Aufgabe, die die Sowjetjugend erfüllen soll, braucht sie Zutrauen zu sich selber. Eine Generation von inneren Zweifeln zerfressener, ewig schwankender junger Menschen müßte unter den gegebenen Umständen scheitern; die jungen Menschen der Sowjetunion müssen innerlich gefestigt sein und zupacken — sonst geht es rückwärts. Sie brauchen Selbstbewußtsein. Unwissende, zweifelnde, unbewußte Menschen verfallen in kritischen Situationen der Panik, werden kopflos. Selbstbewußte, von der Richtigkeit ihrer Sache überzeugte, wissende Menschen sind standhafte, zuverlässige Kämpfer, die auch über die kompliziertesten Situationen hinwegkommen. Ist diese Jugend zum Selbstbewußtsein berechtigt? Die Kritiker sagen, gemessen an der alten humanistischen Bildung der kapitalistischen Länder ist diese Sowjetjugend ungebildet oder nur oberflächlich gebildet. Vielleicht ist das richtig. Aber das ist nicht das Entscheidende. Diese Jugend hatte in den schwierigen Aufbaujahren für sie zunächst wichtigere, dringendere Dinge zu lernen. In dem, was sie sich dabei angeeignet hat, fühlt sie sich der Jugend in den kapitalistischen Ländern überlegen. Sie hält das, was sie für den Aufbau gelernt hat, und täglich praktisch verwenden kann, für erstrangiger als die vielen geistigen und kulturellen Güter aus vergangenen Jahrhunderten, die sie sich allmählich und auch mit viel Eifer anzueignen beginnt. Und daß diese Jugend, die den Kapitalisten nicht mehr aus eigenem Erleben, sondern nur noch aus geschichts- und politischen Lehrbüchern kennt, sich überlegen fühlt über die Menschen, die sich noch immer den Druck der kapitalistischen Klassenherrschaft gefallen lassen, ist. durchaus begreiflich. Den jungen Menschen der Sowjetunion, die Arbeiterfakultäten, Mittel- und Hochschulen besuchen, fehlt noch manches von dem Wissen um alte, schöne Dinge, die wesentliche Lehrgegenstände an den höheren Bildungsstätten der kapitalistischen Länder sind, aber sie haben vor der jungen Generation dieser Länder unendlich viel voraus, was wichtiger ist: sie sind freie, von keiner Klassenherrschaft unterdrückte Menschen, sie können ihre Fähigkeiten ungehemmt entfalten, sie sind eine wirklich junge, neue Generation, die praktisch mitarbeitet, eine ganz neue Welt zu gestalten.

 

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REVOLUTI0N ODER KONTERREVOLUTION

 

TROTZKI UND DER RÜCKMARSCH ZUM KAPITALISMUS

Tatsachen sind stärker als die schönsten Proklamationen. Die tatsächlichen Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR haben Trotzkis Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande praktisch widerlegt; sie haben die Bürger der Sowjetunion davon überzeugt, daß der von Trotzki vorgeschlagene Weg, um dessen Durchsetzung der Trotzkismus seinen erbitterten Kampf gegen den Bolschewismus führte, falsch ist.
Theorien sind keine abstrakten Lehrsätze, die losgelöst von dem realen Leben zu existieren vermögen. Aus jeder Theorie ergeben sich praktische Konsequenzen für das Handeln ihrer Verfechter im Tageskampfe. Die logische Konsequenz der Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande ist der Rückzug des Proletariats, das vorwärtsstürmend als erstes in seinem Lande die politische Macht erobert hat. Nutzt das Proletariat die in einem Lande eroberte politische Macht nicht für die Zerschlagung der kapitalistischen Klassengesellschaft, für die Schaffung einer neuen gesellschaftlichen Grundlage, das heißt also nicht für den Aufbau des Sozialismus aus — dann bleibt ihm schließlich kein anderer Weg als der Rückmarsch zu den Zuständen, deren Sturz es erst in opfervollem, aber siegreichem Kampfe herbeigeführt hat. Die siegreiche proletarische Revolution kann vielleicht kurze Zeit ohne all zu großes Risiko für ihre Existenz auf derselben Stelle treten und auf die Unterstützung von außen warten, aber sie kann nicht ohne Gefahr für ihr Leben jahrelang stillstehen und untätig den Sieg der Weltrevolution abwarten.
Die konkrete Situation für die Sowjetunion ist ganz eindeutig: Die proletarische Revolution in den anderen Ländern ist ausgeblieben und die reaktionären Kräfte in der übrigen Welt haben ihre 1918 erschütterte Position wieder festigen können. Hätte die Sowjetunion in der ganzen Zeit, in der sich dieser Tatbestand entwickelte, nur untätig gewartet, hätte sie ihre Position nicht ausgebaut und gegen alle möglichen Angriffe stark gemacht, dann wäre sie nicht nur zum Rückzug gezwungen, sondern von den alten reaktionären Gewalten vernichtend geschlagen worden. Rückzug und Niederlage konnten überhaupt nur durch die rechtzeitige Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus und die erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe verhindert werden. Wer also im Lande der siegreichen proletarischen Revolution sich dem sozialistischen Aufbau entgegenstellte, der wirkte faktisch für den Rückzug und die Niederlage, deren Ergebnis schließlich nichts anderes sein konnte als die Wiederherstellung des Kapitalismus. So ist in der Tat die unerbittliche Konsequenz der trotzkistischen Theorie von der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion der Rückzug, das heißt der Rückmarsch zum Kapitalismus. Trotzki selbst hat mehr als einmal ganz offen diesen Rückzug verlangt; auch die Forderungen, die Trotzki und die trotzkistischen Organe in ihrem Kampfe gegen den sozialistischen Aufbau öffentlich publizierten, ließen keinen Zweifel an der Bereitschaft und dem Willen des Trotzkismus zum Rückmarsch. Auf die Konsequenzen, zu denen die trotzkistische Theorie zwangsläufig führen mußte, wies Stalin in dem namens des Zentralkomitees erstatteten politischen Bericht an den XVII. Parteitag (1934) hin (siehe Broschüre über diesen Bericht, Seite 85):
„Wir haben stets erklärt, daß die „Linken“ ganz dasselbe wie die Rechten sind, die ihre rechte Politik mit „linken“ Phrasen verbrämen. Jetzt bestätigen die „Linken“ selbst diese unsere Behauptung. Man nehme die Nummern des trotzkistischen „Bulletin“ vom vorigen Jahre. Was fordern, worüber schreiben dort die Herren Trotzkisten, worin besteht ihr „linkes“ Programm? Sie fordern die Auflösung der Sowjetwirtschaften, weil sie nicht rentabel seien, die Auflösung des größten Teils der Kollektivwirtschaften, weil sie künstliche Gebilde seien, den Verzicht auf die Liquidierung der Kulaken, die Rückkehr zur Konzessionspolitik und die Übergabe einer ganzen Reihe unserer Industriebetriebe, weil sie nicht rentabel seien, an Konzessionäre.
Da habt ihr das Programm der verächtlichen Feiglinge und Kapitulanten, ein konterrevolutionäres Programm der Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion!" Stalin begründet seine Behauptung mit dem Hinweis auf Publikationen im trotzkistischen Bulletin. Auf die gleiche Quelle bezog sich Staatsanwalt Wyschinski, der in seiner Anklagerede im Pjatakowprozeß aus Nr. 10 vom April 1930 folgende Stellen (siehe Prozeßbericht Seite 538) zitierte:
„... Der Rückzug ist sowieso unvermeidlich. Man muß ihn so schnell als möglich vollziehen .... Die „kompakte“ Kollektivierung aufhalten .... Das Preisrennen der Industrialisierung unterbrechen. Die Fragen des Tempos im Lichte der Erfahrung überprüfen ....
... Auf die „Ideale“ einer geschlossenen Wirtschaft verzichten. Eine neue Planvariante ausarbeiten, die auf möglichst umfassende Wechselwirkungen mit dem Weltmarkt berechnet ist ...
... Den notwendigen Rückzug vollziehen und dann strategische Umrüstung ...
... Ohne Krisen und Kampf gibt es aus den heutigen Widersprüchen keinen Ausweg ...."
Es gibt eine ganze Reihe nachprüfbarer Äußerungen aus Trotzkis Schriften, die Stalins und Wyschinskis Feststellungen bestätigen. In dem Kapitel über die Kollektivierung (Seite 278) ist ein Zitat aus Trotzkis im Jahre 1932 erschienenen Broschüre „Sowjetwirtschaft in Gefahr" abgedruckt, in dem ganz unzweideutig die Aufhebung des größten Teils der Kollektivwirtschaften gefordert wird. In der gleichen Broschüre sagt Trotzki ebenso deutlich, welchem Zwecke diese Forderung dienen soll. Er schreibt (Seite 26, 27, 28):
„Die linke Opposition ... muß ... sagen: Der zweite Fünfjahrplan muß verschoben werden. Schluß mit der schreihälsigen Hasardspielerei! Ruckzug? Ja, zeitweiliger Rückzug ....
... Der zeitweilige Rückzug ist notwendig in der Industrie sowohl, wie auch in der Landwirtschaft. Die letzte Linie für den Rückzug ist im voraus nicht zu bestimmen.
Nur durch die Erfahrungen der allgemeinen wirtschaftlichen Wiederherstellung wird sie sich zeigen ...
Der Rückzug ist vor allem auf dem Gebiete der Kollektivierung unvermeidlich."
Trotzkis Forderung, den zweiten Fünfjahrplan zu verschieben, wurde nicht beachtet. Entgegen seinen Voraussagen ist auch der zweite Fünfjahrplan erfolgreich durchgeführt worden. Was aber heißt es, wenn Trotzki vom Rückzug auf der ganzen Linie spricht? Nichts anderes, als den sozialistischen Aufbau einstellen, den Sozialismus abbauen und Konzessionen an den Kapitalismus machen. Es ist sehr bezeichnend, daß Trotzki in diesem Zusammenhange ganz offen ausspricht, daß die letzte Linie für den Rückzug im voraus nicht bestimmt werden könne. Wie weit soll der Rückzug gehen? Kann nicht Trotzkis „letzte Linie" die Wiederherstellung des Kapitalismus sein?
Gerade in der Frage des Rückzuges bestand eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Trotzki und den Rechten, die schließlich auch zu ihrem Block gegen die Bolschewistische Partei führte. Trotzki hat die Übereinstimmung zwischen Trotzkisten und Rechten in der Frage des Rückzuges zugegeben. In der gleichen Schrift schrieb er (Seite 39):
„Das Bestreben der Stalinisten, Rechte und Linke auf einen Haufen zu werfen, wird bis zu einem gewissen Grade dadurch erleichtert, daß die einen wie die anderen in der gegebenen Etappe vom Rückzug reden."
Der Rückzug — das heißt in der Konsequenz die Einleitung der Entwicklung zum Kapitalismus — spielte in der trotzkistischen Literatur eine gewichtige Rolle. Wer diese kennt, der ist durch die Aussagen der Angeklagten im Pjatakow-Radek-Prozeß über Trotzkis Absichten, Konzessionen an den Kapitalismus zu machen, nicht überrascht worden. Im Prozeß sagte Pjatakow über die Konzeption, die ihm Trotzki unterbreitet hatte (Prozeßbericht Seite 6):
„Das heißt, daß man wird zurückweichen müssen. Das muß man klar eingehen. Den Rückzug zum Kapitalismus antreten. Wie weit, in welchem Umfange, das laßt sich jetzt schwer sagen — das kann man erst nach dem Machtantritt konkretisieren."
Das stimmt fast wörtlich mit den vorher zitierten Äußerungen aus Trotzkis eigenen Schriften überein. Nach dem Prozeßbericht (Seite 42) sagte Pjatakow noch zu diesem Thema, daß er und Radek besorgt waren, „der sinowjewtistische Teil des Blocks werde bei dem ökonomischen Rückzug nach unserer Machtergreifung zu weit gehen". Darauf habe ihnen Trotzki geantwortet:
„Was den Rückzug anbelangt ... Radek und ich seien im Irrtum, wenn wir annehme, der Rückzug werde geringfügig sein, man werde einen weitgehenden Rückzug antreten müssen."
Wohin aber sollte dieser weitgehende Rückzug gehen? Zum Sozialismus oder zum Kapitalismus? Bei der Beantwortung dieser Frage ist wichtig, wo, unter welchen Umständen der Rückzug gefordert wird. Trotzki verlangt den Rückzug nicht in irgendeinem kapitalistischen Lande, sondern in dem ersten Arbeiterstaat, und nicht etwa in einem Augenblick der Erschöpfung, sondern während des erfolgreichen Aufbaus des Sozialismus. Unter solchen Umständen kann der Rückzug nur in der Richtung zum Kapitalismus gehen. Trotzkis „letzte Linie" dieses weitgehenden Rückzuges müßte die Wiederherstellung des Kapitalismus sein.
Es ist ganz offenkundig: das aus seiner falschen Theorie logisch sich ergebende Handeln Trotzkis stört die sozialistische Aufwärtsentwicklung, es wirkt für die Wiederherstellung des Kapitalismus und darum zwangsläufig gegen die Interessen der Arbeiter- und Bauernmassen.
„Man lese die erschütternde Schlußrede Radeks vor Gericht", schreibt Otto Bauer im Märzheft 1937 des „Kampf", Seite 41/42. „Das ist nicht die Rede eines Mannes. der unter dem Druck der Folter falsche Geständnisse ablegt. Das ist die Rede eines Mannes, der sich zu der Überzeugung bekehrt hat, daß der Trotzkismus zur Gefahr für die Sache des Sozialismus geworden ist .... Die Entwicklung der UdSSR im letzten Jahrzehnt hat die Völker der Sowjetunion von der Verkehrtheit und Schädlichkeit der trotzkistischen Theorie überzeugt. Trotzkis Prophezeiungen über die Verewigung des Hungers und Elends und der Arbeitslosigkeit, über immer neue Krisen und den Niederbruch des ersten Arbeiterstaates sind nicht in Erfüllung gegangen. Dagegen ist alles das, was Partei und Sowjetmacht zu der Zeit, als vom Volke große Opfer gefordert werden mußten, verheißen haben, Schritt um Schritt erfüllt worden. Die von jedem Sowjetbürger kontrollierbaren Tatsachen, der große wirtschaftliche Aufschwung, die Festigung der Sowjetmacht gegenüber allen Bedrohungen in Ost und West, die stete Verbesserung aller Verhältnisse, die immer reichlicher werdende Versorgung des ganzen Volkes mit allen Lebensmitteln und Bedarfsgütern — das alles hat die Massen fest davon überzeugt, daß die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht im Kampf gegen den Trotzkismus in allen Fragen sachlich recht behalten haben. Tatsachen haben den Massen bewiesen, daß die Sowjetunion nur durch die Realisierung der leninschen Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande zu einem gewaltigen Machtfaktor in der Weltpolitik, zu einer unerschütterlichen Kraft gegenüber allen reaktionären Anstürmen werden konnte. Tatsachen haben bewiesen, daß das Beschreiten des von Trotzki vorgeschlagenen Weges den ersten Arbeiterstaat in ewiger politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von der kapitalistischen Umwelt gehalten hätte, zu immer neuen Konzessionen zwingen und schließlich zurück zum Kapitalismus und zum Zusammenbruch der UdSSR hätte führen müssen.
Die erfolgreiche Entwicklung des sozialistischen Aufbaus hat den Trotzkismus in den Augen der breiten Volksmassen in der Sowjetunion restlos widerlegt. Die Arbeiter und Bauern, die die Früchte der sozialistischen Wirtschaft zu genießen beginnen, wollen nie mehr zurück zum Kapitalismus; sie betrachten jeden, der direkt oder indirekt für die Wiederherstellung des Kapitalismus wirkt, als einen Feind, mit dem man nicht mehr diskutiert.
Angesichts dieser Entwicklung der Volksstimmung hat der Trotzkismus in der UdSSR keine politische Wirkungsmöglichkeit mehr; er hat für die werktätigen Arbeiter- und Bauernmassen den Charakter einer politischen Bewegung verloren. Die letzte Möglichkeit für einen politischen Kampf ist Trotzki genommen; es ist ihm unmöglich geworden, mit politischen Argumenten Massen für die Unterstützung seines Wollens zu gewinnen, für seine Pläne zu mobilisieren. Diese Tatsache hat Trotzkis weitere Taktik im Kampfe gegen die Sowjetmacht weitgehend bestimmt. Die Lage für den Trotzkismus in der UdSSR ist objektiv durchaus so, wie sie der Angeklagte Schestow im Pjatakowprozeß charakterisierte:
„Wir- sind in eine Sackgasse geraten. Man müsse daher entweder die Waffen strecken oder neue Wege des Kampfes vorzeichnen."
Ist einem ehrgeizigen, machtlüsternen Menschen durch die ablehnende Haltung der Volksmassen die Basis für den politischen Kampf um seine Ziele entzogen, fehlt es ihm an der moralischen Kraft, die Schädlichkeit seines Tuns einzusehen, seine Niederlage einzugestehen, die Waffen zu strecken, und sich in die große Kampffront einzuordnen — dann bleibt ihm kein anderer Weg, als durch Einsatz anderer als politischer Mittel, auch durch Terror und Sabotage einer kleinen Gruppe rechthaberischer, vom Volke isolierter verbissener Sektierer die Sowjetmacht zu schädigen, und sich der Illusion hinzugeben, auf diesem Wege die herrschende Diktatur des Proletariats zu untergraben und die Macht zu erobern.
Der auf dem politischen Boden vor den Massen endgültig geschlagene Trotzki hat sich so in die Sackgasse verrannt, daß er die Waffen nicht strecken wollte; er ist darum in seinem Kampf gegen die UdSSR verbissen „neue Wege" gegangen.

TROTZKIS WAHLSPRUCH

Trotzki hat seine taktische Haltung im Kampf gegen die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht im Laufe der Jahre mehrfach geändert. Er hat vor den großen Erfolgen des sozialistischen Aufbaus nicht die Waffen gestreckt, er hat nicht versucht, sich in die Kampffront für den endgültigen Sieg des Sozialismus einzuordnen, sondern er ist „neue Wege" gegangen. Just in der Zeit, in der die aggressiven faschistischen Diktaturen zum Generalangriff gegen den ersten Arbeiterstaat trommeln, verschärfte er „seinen Kampf" gegen die Sowjetmacht. Da jedoch der Trotzkismus im Volke absolut keine politische Basis mehr hat, da es ihm unmöglich geworden ist, die Massen zur Unterstützung seines Wollens mit politischen Argumenten zu mobilisieren, ist er zwangsläufig zur Anwendung anderer Mittel gekommen. Und diese anderen Mittel sind — wie ihm die Sowjetmacht vorwirft — Terror, Schädlingsarbeit und Bündnis mit sowjetfeindlichen Kräften. Ist eine ursprünglich politische Opposition politisch vollkommen widerlegt, erkennt sie diesen Tatbestand nicht an, dann verliert sie den Charakter einer politischen Bewegung. Man kann sie dann nicht mehr nur mit politischen Argumenten bekämpfen, man muß auch die Mittel gegen sie einsetzen, die sie zur Erreichung ihrer Ziele anwendet.
Um den Weg des Trotzkismus von einer politischen Strömung der Arbeiterbewegung zu einer konterrevolutionären Gruppe verständlich zu machen, muß man die Entwicklung des Trotzkismus in den letzten Jahren aufzeigen. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution kämpfte Trotzki gegen die Theorie des Sozialismus in einem Lande. Er behauptete, daß der Versuch, diese Theorie zu realisieren, zum Zusammenbruch der Sowjetunion führen müsse. Das war ein politischer Kampf, der solange auch ein gewisses politisches Echo finden konnte, solange Trotzkis These noch nicht durch die Tatsachen widerlegt war, solange noch Mangel und Not herrschten, solange noch Zweifel über das Gelingen des sozialistischen Aufbaus im Volke vorhanden waren. In dieser Phase der Entwicklung hatte der Trotzkismus noch die Hoffnung, die mit den notwendigen Opfern der Aufbauperiode belasteten Massen mit politischen Argumenten zu beeinflussen. Der Situation entsprach auch die damalige Taktik Trotzkis; Organisierung einer Opposition innerhalb der Bolschewistischen Partei, um die Mehrheit in der Partei und damit die Macht im Staate gewissermaßen auf demokratischem Wege zu erringen. In dieser Phase der Entwicklung sprach Trotzki noch nicht von der Revolution gegen die Sowjetmacht, er betonte vielmehr immer wieder, daß die trotzkistische Opposition ihre Ziele in der Sowjetunion nur auf dem Wege der Reform erreichen wolle. Noch in der im Jahre 1931 veröffentlichten Broschüre „Probleme der Entwicklung der USSR" schrieb Trotzki in einem Kapitel unter der Überschrift „Der Weg der linken Opposition in der UdSSR -bleibt der Weg der Reform" (Seite 23, 24):
„Die Anerkennung des heutigen Sowjetstaates als eines Arbeiterstaates bedeutet nicht nur, daß die Bourgeoisie nicht anders die Macht erobern könnte als durch einen bewaffneten Aufstand, sondern auch, daß das Proletariat der UdSSR die Möglichkeit nicht eingebüßt hat, sich die Bürokratie zu unterwerfen, die Partei wieder zu beleben und das Regime der Diktatur zu heilen — ohne neue Revolution, mit den Methoden und auf dem Wege der Reform." Lange jedoch hat Trotzki diesen Standpunkt nicht aufrecht erhalten. Die Widerlegung der trotzkistischen Theorie durch die Tatsachen, die wachsenden Erfolge des sozialistischen Aufbaus, die stete Festigung der Sowjetmacht, das alles hat die Argumente Trotzkis wirkungslos gemacht und dem Trotzkismus die letzte Chance, innerhalb der Bolschewistischen Partei die Mehrheit zu gewinnen, endgültig genommen. Von da an vollzieht sich die entscheidende Wendung des Trotzkismus. Trotzki verkündet offen die Spaltung der leninschen Partei, die Gründung einer neuen Partei in der Sowjetunion und die Gründung einer neuen, der 4. Internationale. Es ist ganz gleichgültig, welche Gründe Trotzki für die Parteispaltung und die Gründung einer neuen Partei in der Sowjetunion anführt, aus dem Versuch, neben der herrschenden Bolschewistischen Partei eine zweite zu begründen, ergibt sich im Staate der proletarischen Diktatur ganz zwangsläufig als Konsequenz die Förderung der Konterrevolution. Lenins Konzeption von der Rolle der Partei im Kampf um den Sozialismus läßt in der Periode der Diktatur des Proletariats keine zweite Partei zu. Lenin sah allein schon in der Bildung von Fraktionen innerhalb der Bolschewistischen Partei eine unmittelbare Gefährdung der Existenz des Sowjetstaates. Gelänge gar die Abspaltung eines Teiles von der Bolschewistischen Partei und die Schaffung einer zweiten Partei, so müßte die Folge davon der Bürgerkrieg und das Ergebnis desselben der Sieg der Konterrevolution sein. Gerade weil die Bolschewistische Partei unter der Führung Stalins die alte leninistische Partei geblieben ist, hat sie im Sinne Lenins die Abspaltungsversuche Trotzkis rücksichtslos bekämpft und die Bildung einer neuen trotzkistischen Partei unterbunden, um in der Sowjetunion den Bürgerkrieg und den Sieg der Konterrevolution zu verhindern. Trotzki selbst hat später zugegeben, daß die Gründung einer trotzkistischen Partei zum Bürgerkrieg führen würde. Gleichzeitig mit der Propagierung der neuen Partei hat er denn auch „den Weg der Reform" verworfen, sich für die Anwendung aller Mittel im Kampf um die Eroberung der Macht ausgesprochen, und als Aufgabe des Trotzkismus die Revolution gegen die Sowjetmacht proklamiert.
Sehr aufschlußreich für Trotzkis letzte entscheidende Wendung und für seine weitere Haltung ist die im November 1932 unter dem Titel „Sowjetwirtschaft in Gefahr" veröffentlichte Schrift. In ihr steht ein besonderer Teil unter der Überschrift „Die Stalinisten ergreifen Maßnahmen zum Ausschluß Sinowjews, Kamenews u.a.", in dem Trotzki klar ausspricht, daß der Trotzkismus vor dem Bürgerkrieg in der Sowjetunion nicht zurückschreckt, daß er diesen Bürgerkrieg will, unbeschadet der konterrevolutionären Konsequenzen, die sich daraus ergeben können, oder vielmehr ergeben müssen. In den Moskauer Prozessen gegen Trotzkisten und Sinowjewisten ist festgestellt worden, daß sich diese beiden — sehr verschiedene Auffassungen vertretenden — Gruppen zusammen mit den Rechten zu einem Block gegen die Partei und die Sowjetmacht zusammengeschlossen haben. Aus der Geschichte des Trotzkismus ist bekannt, daß Trotzki des öfteren einen prinzipienlosen Block (vor allem den ,„Augustblock" 1912) gegen den Bolschewismus organisierte, zu dem die einzelnen Teile nicht gemeinsame Auffassungen, sondern nur ihre Gegnerschaft gegen den Bolschewismus zusammengeführt hatte. Als man in den Moskauer Prozessen auf den neuerlichen Block der widersprechendsten Strömungen unter Trotzkis Führung verwies, wurde das Bestehen dieses Blockes bestritten. Aber Trotzki selbst hat in der vorgenannten, im Jahre 1932 erschienenen Broschüre zugegeben, daß schon damals zwischen den verschiedenen oppositionellen Strömungen Verhandlungen um die Bildung eines Blockes gegen die Sowjetmacht stattfanden, Trotzki schrieb darüber (Seite 36):
„Im Jahre 1928 hat Kamenew sogar geheime Verhandlungen mit Bucharin über die Möglichkeit eines Blocks geführt. Die Protokolle dieser Verhandlungen wurden von der ,Linken Opposition' damals veröffentlicht." Diese für die weitere Entwicklung nicht unwichtigen Verhandlungen wurden also nicht von der GPU „erfunden", sondern die Trotzkisten selbst haben sie aufgedeckt und sogar die Protokolle veröffentlicht. Doch Trotzki berichtet in der gleichen Schrift weiter, daß in dieser Zeit bereits ein fester Block zwischen Trotzkisten und Sinowjewtsten (die damals auch schon in Verbindung mit den Rechten standen) bestand. Über die Beratungen der Trotzkisten mit den Sinowjewisten erzählt Trotzki (Seite 37, 38):
„In ihren schwersten Stunden, am Vorabend der Kapitulation, beschworen sie (Sinowjew und Kamenew. D.V.) uns, ihre damaligen Verbündeten, der Partei entgegenzukommen ... Aber das ist doch Spaltung! Das ist doch die Gefahr des Bürgerkriegs und des Sturzes der Sowjetmacht? — Wir antworteten: ... Es siegen die Prinzipien. Die Kapitulation siegt nicht .... Jedoch kann man nicht alle Varianten dieser Entwicklung voraussehen. Aber mit der Revolution Versteck zu spielen, List gegenüber Klassen, Diplomatie gegenüber der Geschichte anzuwenden, ist unsinnig und verbrecherisch. In derart schwierigen und verantwortungsvollen Situationen muß man sich von der Regel leiten lassen, die die Franzosen durch die herrlichen Worte ausgedrückt haben: Fais ce que doit, advienne que pourra! (Tue was du mußt, und komme, was da kommen mag!)" Hier wird vollkommen eindeutig die abenteuerliche Konzeption des Trotzkismus aufgezeigt. Im Kampfe gegen die Partei lehnt Trotzki auf alle Fälle die Kapitulation ab. Wenn auch die Tatsachen die Verkehrtheit seines Wollens klarlegen und der Partei in ihrem Kampfe um den sozialistischen Aufbau vollkommen recht geben, Trotzki wird nicht die Waffen strecken, er wird sich nicht den von der Partei gefaßten Beschlüssen unterordnen, denn „es siegen die Prinzipien", von denen Trotzki überzeugt ist, weil er ja die Erkenntnis von ihrer Richtigkeit in Suchum gleich nach dem Tode Lenins „mit der Meeresluft eingeatmet" hat. Nach der Darstellung Trotzkis wiesen in den damaligen Besprechungen Sinowjew und Kamenew auf die Konsequenzen des von den Trotzkisten vorgeschlagenen Kampfes gegen die Partei hin. Sie sagten ganz richtig, daß dieser Kampf zur Spaltung der Partei führen und daß — wenn die Spaltung gelange — dies den Bürgerkrieg bedeuten würde, der mit dem Sieg der Konterrevolution enden müsse. Da Sinowjew und Kamenew im Gegensatz zu ihrem Verbündeten einige Jahrzehnte Mitglieder der Bolschewistischen Partei und mit dem leninistischen Organisationsprinzip vertrauter waren, sträubten sie sich damals noch gegen das Beschreiten des von Trotzki vorgeschlagenen Weges, wahrscheinlich auch wegen der daraus sich zwangsläufig ergebenden Konsequenzen. Erst später, als sie den Boden für ihr politisches Wirken immer mehr unter den Füßen verloren, vergaßen sie ihre Bedenken und gingen mit Trotzki den damals (nach Trotzkis Darstellung) von ihnen selbst aufgezeigten Weg der Konterrevolution. Jedoch aus noch einem Grunde ist das vorstehend angeführte Zitat Trotzkis für die Beurteilung der weiteren Entwicklung des Trotzkismus von einer politischen Strömung der Arbeiterbewegung zu einer konterrevolutionären Gruppe wichtig. Trotzki bestreitet nicht, daß „sein Kampf" den Bürgerkrieg und den Sturz der Sowjetmacht herbeiführen könne. Er sagt ausdrücklich, „daß man nicht alle Varianten dieser Entwicklung", daß man die Ergebnisse dieses Kampfes nicht voraussehen könne. Trotzdem aber müsse man den Kampf gegen die Sowjetmacht durchführen — auch wenn an seinem Ende der Sieg der Konterrevolution stehe. Denn: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen mag!"
Der Trotzki, der nach diesem Wahlspruch handelt, hat sich vom Marxismus losgesagt, er läßt sein Tun nicht mehr von den Interessen der Arbeiterklasse, sondern nur von den Eingebungen bestimmen, die er „mit der Meeresluft eingeatmet" hat. Welcher wirkliche Marxist wird bei seinem Tun nicht danach fragen, was das Ergebnis seiner Handlungen sein wird? Wer und welche Kraft bestimmt, was einer unbedingt „tun muß"? Den Bonapartes sagt es ihr „Genius" oder ihr persönlicher Machtwille, in einer marxistischen Partei entscheidet die Mehrheit, was zu geschehen hat. Aber gerade deren Entscheidungen erkannte Trotzki nicht an, im Gegensatz zu den Mehrheitsbeschlüssen der leninistischen Partei bestimmte er selber aus eigener Machtvollkommenheit „was er tun muß“. Die praktische Anwendung von Trotzkis Wahlspruch gegenüber dem ersten Arbeiterstaat, der unter den schwierigsten Umständen inmitten der kapitalistischen Umwelt für den sozialistischen Aufbau, für den Sieg des Sozialismus kämpft, ist nicht nur verantwortungslos, sie schädigt die Interessen der Weltarbeiterklasse und dient unmittelbar der Konterrevolution, „Tue, was du mußt" — das heißt, schrecke vor keinem Mittel und keinem Bündnis zurück. „Vor einzelnen taktischen Übereinstimmungen mit den Rechten nicht zurückschrecken", sagt Trotzki in derselben Schrift (Seite 40), der sein Wahlspruch entnommen ist. Er gibt damit zu, was er anläßlich der Prozesse besonders heftig in Abrede gestellt hat, daß er mit jedem zusammengehen wird, der ihm hilft, Stalin zu stürzen, daß er keinerlei Bedenken hat, den Block mit den Sinowjewisten und den Rechten zu bilden, den er seinerzeit selbst denunziert hat.
„Komme, was da kommen mag!" — das heißt, Trotzki fragt nicht danach, was bei seinem Kampf gegen die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht herauskommt. Wenn auch die Sowjetunion dabei zum Teufel geht, er tut um jeden Preis, „was er muß".
Trotzkis Wahlspruch ist der Wahlspruch eines gewissenlosen Vabanquespielers, der soweit gekommen ist, daß er in seinem Machtkampf buchstäblich vor nichts zurückschreckt. Dieser Wahlspruch ist nicht die „erpreßte oder erlogene Aussage" eines vor dem Moskauer Gericht stehenden Angeklagten, sondern er ist von Trotzki frei und unbeeinflußt niedergeschrieben und veröffentlicht worden.
Trotzkis Wahlspruch charakterisiert die weitere Entwicklung des Trotzkismus. Da Trotzki auf dem „Wege der Reform" nicht zum Ziele kam, da er seine Bemühungen, innerhalb der Bolschewistischen Partei die Mehrheit zu gewinnen und auf diesem Wege die Macht zu erobern, als vollkommen aussichtslos aufgeben mußte, hat er sehr bald den „Weg der Reform" aufgegeben und dafür die Parteispaltung, die Gründung einer 4. Internationale und einer neuen Partei in der Sowjetunion verkündet, als deren Aufgabe er von nun an ganz offen die Revolution, die Organisierung des Bürgerkrieges, den bewaffneten Aufstand gegen die Sowjetmacht bezeichnet. Ganz deutlich hat Trotzki dieses neue trotzkistische Programm unter anderem auch in der Ende 1933 erschienenen Broschüre „Die 4. Internationale und die UdSSR" niedergeschrieben. In dieser Schrift bezeichnet er es als unmöglich, die herrschende Sowjetmacht auf friedlichem, demokratischem Wege zu beseitigen. Da sie aber seiner Meinung nach unbedingt gestürzt werden müsse, sei die revolutionäre Aktion gegen sie notwendig. Trotzki schrieb in der vorgenannten Broschüre (Seite 18 und 19):
„... Es wäre eine Kinderei, zu glauben, daß die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei- oder Sowjetkongresses abzusetzen wäre ... Zur Beseitigung der regierenden Clique sind keine normalen „konstitutionellen“ Wege geblieben. Die Bürokratie zwingen, die Macht in die Hände der proletarischen Vorhut (der Trotzkisten. D.V.) zu legen, kann man nur mit Gewalt...
Die sozialen Wurzeln der Bürokratie liegen, wie wir wissen, im Proletariat: Wenn nicht in seiner aktiven Unterstützung, so wenigstens in seiner ,Tolerierung'. Geht das Proletariat zur Aktivität über, so wird der stalinsche Apparat in der Luft hängen. Versucht er jedoch, sich zu widersetzen, so werden gegen ihn nicht Bürgerkriegs-, sondern eher Polizeimaßnahmen zu ergreifen sein.“
In allen seinen späteren Schriften propagiert Trotzki gleichfalls den Aufstand gegen die Sowjetmacht. Das ist unter anderem nachzulesen in der 1935 geschriebenen Broschüre „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus" und in „La revolution trahie" (Die verratene Revolution, 1936). Dort sagt er ganz eindeutig: Der Weg der Reformen verwandelt sich in den Weg der Revolution. In der erstgenannten Schrift schrieb Trotzki (Seite 17/18):
„Das Geschick der Sowjetunion als sozialistischer Staat hängt von jenem politischen Regime ab, das den Stalinbonapartismus ablösen wird...
Der unvermeidliche Zusammenbruch des stalinschen politischen Regimes wird nur dann zur Wiederherstellung der Sowjetdemokratie führen, wenn die Beseitigung des Bonapartismus ein bewußter Akt der proletarischen Vorhut sein wird."
Die „proletarische Vorhut" sind nach Trotzki natürlich die Trotzkisten, und der „bewußte Akt" zur Beseitigung des „Stalin-Bonapartismus" ist die „Revolution" gegen die Sowjetmacht. In allen diesen Schriften kommt Trotzki immer wieder zu demselben Schluß: „Die Bürokratie kann nur auf dem Wege der Revolution entfernt werden."
Um „seine Revolution" zu rechtfertigen, behauptet Trotzki, daß die revolutionäre Aktion nicht die Diktatur des Proletariats sondern die angeblich herrschende „Diktatur der Bürokratie" gewaltsam stürzen solle. In dem Kapitel über „Das Problem der Bürokratie" ist auseinandergesetzt, daß die Bürokratie keine selbständige Kraft, sondern immer nur das ausführende Organ der herrschenden Klasse sein kann. In der Sowjetunion gibt es keim „Diktatur der Bürokratie", die gestürzt werden müßte, und darum richtet sich jede revolutionäre Aktion in dem ersten Arbeiterstaat gegen die dort allein herrschende Diktatur des Proletariats. Die wirkliche Lage in der Sowjetunion ist keineswegs so, wie sie von Trotzki zur „Rechtfertigung" seiner sowjetfeindlichen „Revolution" dargestellt wird. Hinter der herrschenden Sowjetmacht stand bei allen Auseinandersetzungen mit Trotzki die überwiegende Mehrheit der Bolschewistischen Partei und hinter dieser die Masse des Volkes. Wenn Trotzki 1933 schrieb, daß er seine revolutionäre Aktion nur durchführen werde, wenn dafür die Mehrheit der Arbeiterklasse gewonnen ist, so war das nichts anderes als eine Irreführung. Schon damals lehnten die sowjetischen Massen den Trotzkismus ab und inzwischen haben die weiteren immer mehr spürbaren Erfolge die Möglichkeit einer Massenmobilisierung für die trotzkistische „Revolution" endgültig vernichtet. Wenn Trotzki diese Tatsache nicht respektiert, wenn er trotzdem die „Waffen nicht streckt", dann beweist das eben, daß er einen konterrevolutionären Putsch gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse, gegen die Massen und die Sowjetmacht beabsichtigt.
Unmittelbar nach der Presseveröffentlichung der später in der Broschüre Trotzkis über „die 4. Internationale und die UdSSR" gesammelten Aufsätze hat die sozialdemokratische Presse die Bedeutung dieser Schrift ganz richtig eingeschätzt. Eine Reihe sozialdemokratischer Zeitungen zitierte daraus die vorstehend wiedergegebenen Äußerungen und das Züricher „Volksrecht" z.B. versah sie mit der Überschrift: „Trotzki predigt den Aufstand gegen Stalin" (Nr. vom 16. Dezember 1933.) Das war eine durchaus zutreffende Beurteilung der Äußerungen Trotzkis. Wenn aber Trotzki „den Aufstand gegen Stalin predigt", so ist anzunehmen, daß er sich nicht auf das Predigen beschränkt, sondern alle Mittel zu mobilisieren versucht, um diesen Aufstand auch praktisch durchzuführen. Dann aber hat die Sowjetmacht auch das Recht, mit allen Mitteln die Durchführung des trotzkistischen Putschversuches zu verhindern. Schuld an dem scharfen Vorgehen gegen den Trotzkismus ist also nicht die Sowjetmacht, sondern schuldig sind diejenigen, die durch ihren Hochverrat gegen den ersten Arbeiterstaat dessen radikaie Abwehrmaßnahmen herausgefordert haben. Die Aktion zur Ausmerzung der letzten trotzkistischen Reste in der Sowjetunion ist nur die Antwort auf die trotzkistischen Putschvorbereitungen. Beklagen können diese Antwort nur Menschen, die Anschläge Trotzkis gegen die Sowjetmacht für berechtigt halten und ihre Verhinderung bedauern.
Der Trotzkismus ist, nachdem er einmal die schiefe Bahn der konterrevolutionären Aktion gegen die Sowjetmacht betreten hat, zwangsläufig immer tiefer gesunken. Die Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben den Trotzkisten die Möglichkeit und sogar die Hoffnung genommen, bei weiterer friedlicher Entwicklung in der Sowjetunion auch nur ein paar tausend Menschen für den von ihnen gewollten „bewußten Akt" gegen die Sowjetmacht zu gewinnen. Darum hat Trotzki seine letzte verzweifelte Hoffnung auf den Krieg gesetzt. Die Niederlage der Sowjetunion im Kriege erst wird ihm — so glaubt er — eine Chance für die Machteroberung geben. Radek sagte in dem gegen Pjatakow, Sokolnikow und Genossen in Moskau geführten Prozeß (Prozeßbericht Seite 10), daß Trotzki ihm in einem Brief über seine politische Perspektive geschrieben habe:
„Man muß feststellen, daß die Machtfrage am realsten erst im Ergebnis einer Niederlage der UdSSR in einem Kriege vor dem Block stehen wird. Hierzu muß sich der Block energisch vorbereiten ... Da die Hauptvoraussetzung des Machtantritts der Trotzkisten, falls es ihnen nicht gelingen wird, dies durch Terror zu erreichen, eine Niederlage der UdSSR wäre, muß man, soweit dies möglich, den Zusammenstoß zwischen der UdSSR und Deutschland beschleunigen."
In einem Brief an Radek von 1934 stellte Trotzki nach der Aussage Radeks (Prozeßbericht Seite 11 6) die Frage folgendermaßen:
„Der Machtantritt des Faschismus in Deutschland ändert die Situation von Grund aus. Er bedeutet den Krieg, um so mehr, als sich gleichzeitig die Lage im fernen Osten verschärft. Trotzki zweifelt nicht daran, daß dieser Krieg zu einer Niederlage der Sowjetunion führen wird. Diese Niederlage, schrieb er, schafft die reale Situation für den Machtantritt des Blockes; er zog daraus den Schluß, daß der Block an einer Verschärfung des Konfliktes interessiert ist. Er machte Sokolnikow und mir Vorwürfe, daß wir uns persönlich im Kampf für den Frieden zu sehr exponieren..." Pjatakows und Sokolnikows Aussagen über Trotzkis Stellung zum Kriege stimmen mit den Aussagen Radeks überein. In seinem Schlußwort im Prozeß verwies dieser darauf, daß Trotzki schon früher den Gedanken der Entfachung des revolutionären Krieges gegenüber der Sowjetmacht vertreten habe (Seite 542 des Prozeßberichtes):
„Man muß in Erinnerung rufen, daß Trotzki schon vor 10 Jahren seine defaitistische Stellungnahme gegenüber der UdSSR unter Berufung auf die bekannte These von Clemenceau rechtfertigte, Trotzki schrieb damals: Es muß die Taktik Clemenceaus wieder hergestellt werden; wie bekannt, lehnte sich Clemenceau gegen die französische Regierung in dem Augenblick auf, als die Deutschen 80 Kilometer vor Paris standen. Genosse Stalin verspottete bissig Trotzki, diesen ,Operetten - Clemenceau', und seine ,Don Quichote-Gruppe'. Trotzki und seine Komplizen haben nicht zufällig diese Clemenceau-These aufgestellt. Sie haben erneut auf diese These zurückgegriffen, jetzt aber nicht mehr im Sinne theoretischer, sondern vielmehr tatsächlicher, praktischer Vorbereitung..."
Radek, Pjatakow und Sokolnikow haben vor Gericht ausgesagt, daß sie anfänglich die Konzeption Trotzkis billigten, weil sie nur auf diesem Wege die Rettung der Sowjetunion erhofften. Zu der Zeit, wo die Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaus noch nicht überwunden waren, erschien ihnen die Niederlage der Sowjetunion im Kriege gegen Deutschland und Japan unvermeidlich. Nur der Sturz der stalinschen Herrschaft, die Verständigung der neuen revolutionären Macht mit den Angreifern und Konzessionen an diese im Sinne der leninschen Taktik von Brest-Litowsk hätten die Sowjetunion vor der völligen Vernichtung bewahren können. Erst später — so betonte insbesondere Radek — als der Erfolg des sozialistischen Aufbaus unbestreitbar, als die Sowjetunion ökonomisch und militärisch so stark geworden war, daß sie mit ihren Feinden fertig werden konnte und eine Niederlage darum nicht mehr zu befürchten hatte, erschien den Hauptangeklagten des Moskauer Prozesses die Herbeiführung der Niederlage als ein hochverräterisches Verbrechen zugunsten der faschistischen Kriegsgegner.
Was Radek und Genossen über Trotzkis Absichten aussagten, ist ungeheuerlich. Es muß also untersucht werden, ob sie ihrem Freunde Trotzki eine falsche Konzeption angedichtet, oder ob sie seine Pläne richtig charakterisiert haben. Wer die Entwicklung Trotzkis und seine eigenen Publikationen in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, dem waren die Aussagen von Radek, Pjatakow und Sokolnikow keine Überraschung. Was über Trotzkis Konzeption im Moskauer Prozeß ausgesagt wurde, kann in den Schriften Trotzkis nachgelesen werden.
Daß Trotzki nicht vor dem Bürgerkrieg zurückschreckt, daß er um jeden Preis den Aufstand gegen die Sowjetmacht durchführen will, ist in diesem Kapitel schon mit Zitaten aus Trotzkis Schriften bewiesen worden. In den gleichen Schriften ist aber auch nachzulesen, wie sehr Trotzki damit rechnet, daß die Voraussetzungen für seinen konterrevolutionären Anschlag gegen die Sowjetmacht erst im Kriege und nach der Niederlage der Sowjetunion im Kriege heranreifen werden. In dem 1936 erschienenen Buche „La revolution trahie" spricht Trotzki wiederum von der Unvermeidlichkeit des Krieges. „Die Gefahren des Krieges und einer Niederlage der UdSSR ist Realität", sagt er dort. Nach seinen Behauptungen sind wegen der Schuld der „stalinschen Bürokratie" die Armeen der kapitalistischen Staaten der Roten Armee in technischer, ökonomischer Beziehung und in der Beherrschung der militärischen Kunst unendlich überlegen. Das steht zwar im Widerspruch mit der Wahrheit und mit dem, was Trotzki selbst in einer 1934 in den „ Europäischen Heften" veröffentlichten Artikelserie „Über die Aussichten und den Stand der Roten Armee im Verhältnis besonders zu der Armee Japans" schrieb. In einem dieser Artikel unter der Überschrift „Japan wird verlieren" war zu lesen:
„Die Vorteile der Lage, vervielfacht durch die mächtigere Technik, werden der Roten Armee ein Übergewicht verleihen, das sich kaum durch einen genauen Koeffizienten ausdrücken läßt."
Seit dieser Zeit hat die Rote Armee in technischer, ökonomischer Beziehung und in der Beherrschung der militärischen Kunst gewaltige Fortschritte gemacht; nach dem Urteil sehr vieler Fachleute größere Fortschritte, als die Armeen in den kapitalistischen Ländern. Nicht das Verhältnis der Roten Armee zu anderen Armeen hat sich zuungunsten der Sowjetmacht gewandelt, sondern Trotzki hat seinen Standpunkt geändert, weil die Entwicklung seiner Gegnerschaft zur Sowjetmacht ihn zwangsläufig zu immer abenteuerlicheren Spekulationen treibt, zur verzweifelten Hoffnung auf die Machteroberung in einem für die Sowjetunion unglücklichen Kriege.
Zu dem gleichen Thema schrieb Trotzki in der 1933 erschienenen Schrift „Die 4. Internationale und die UdSSR" (Seite 19):
„Was steht näher bevor: die Gefahr des Zusammenbruchs der vom Bürokratismus zernagten Sowjetmacht, oder die Stunde des Zusammenschlusses des Proletariats zu einer neuen Partei, fähig das Oktobererbe zu retten? Auf diese Frage gibt es keine aprioristische Antwort; entscheiden wird der Kampf. Das Kräfteverhältnis wird festgestellt werden bei einer großen geschichtlichen Probe, die auch ein Krieg sein kann. Klar ist jedenfalls, daß mit den inneren Kräften allein bei weiterem Niedergang der proletarischen Weltbewegung und der Ausbreitung der faschistischen Herrschaft man die Sowjetmacht nicht lange halten kann." Hier ist ausgesprochen, daß Trotzki die Erhaltung der Sowjetunion gegenüber den faschistischen Mächten für unmöglich hält. Ebenso deutlich ist gesagt, daß die Entscheidung zwischen Trotzkis „neuer Partei" und „der vom Bürokratismus zernagten Sowjetmacht" bei einer großen geschichtlichen Probe, im Kriege erfolgen wird. Das ist das Gleiche, was Radek im Prozeß aus dem Briefe Trotzkis mitteilte. In der gleichen Schrift (Seite 22/23) sagte Trotzki:
„An dem Tage, wo die neue Internationale den russischen Arbeitern nicht in Worten, sondern in der Tat — beweisen wird, daß sie und nur sie für die Verteidigung des Arbeiterstaates einsteht, wird die Stellung der Bolschewiki-Leninisten innerhalb der Union sich in 24 Stunden gewandelt haben." Das heißt also, wenn nach Rückschlägen und Niederlagen im Kriege die trotzkistische neue Partei „ihre Revolution" „zur Entfesselung der Widerstandskräfte" durchführt, werden die heute dem Trotzkismus ablehnend gegenüberstehenden Massen in der Sowjetunion ihren Standpunkt „innerhalb 24 Stunden" ändern und den Trotzkisten folgen. Damals — Ende 1933 — wollte Trotzki die „Stalinbürokratie" noch nicht sofort vernichten, sondern er wollte zunächst eine Einheitsfront mit ihr machen. Er fährt in der genannten Schrift fort:
„Die neue Internationale wird der Stalin-Bürokratie die Einheitsfront gegen den gemeinsamen Feind vorschlagen. Und wenn unsere Internationale eine Kraft darstellt, wird die Bürokratie in der Minute der Gefahr die Einheitsfront nicht verweigern können...
Die Einheitsfront mit der Stalin-Bürokratie wird auch im Kriegsfalle keine ,heilige nationale Einheit' bedeuten, nach dem Beispiel der bürgerlichen und sozialdemokratischen Parteien, die während des imperialistischen Gemetzels die gegenseitige Kritik einstellten, um desto gewisser das Volk zu betrügen. Nein, auch im Kriegsfalle würden sie die politische Unversöhnlichkeit in bezug auf den bürokratischen Zentrismus bewahren, der seine Unfähigkeit, einen wahrhaft revolutionären Krieg zu führen, wird offenbaren müssen." Der Gedanke, den Krieg zum Sturze der Sowjetmacht auszunutzen, spukt also schon lange bei Trotzki umher. In dem politischen Bericht, den Stalin im Auftrage des Zentralkomitees im Dezember 1927 auf dem XV. Parteitage erstattete, wies der Berichterstatter auf die von Trotzki vertretene (von Radek im Prozeß erwähnte) Clemenceau-These hin:
„Darauf gründet sich die bekannte These Trotzkis von Clemenceau. Wenn die Staatsmacht entartet ist oder entartet, lohnt es sich da, sie zu schonen, sie zu verteidigen? Es ist klar, daß sich das nicht lohnt. Wenn eine günstige Situation eintritt, diese Macht ,abzusetzen', sagen wir, wenn zum Beispiel der Feind 80 Kilometer vor Moskau stehen würde, — ist es dann nicht klar, daß man die Situation ausnützen müßte, um diese Regierung wegzufegen und eine neue Clemenceau-Regierung, das heißt eine trotzkistische Regierung einzusetzen?"
Die Richtigkeit dieses Vorwurfes bestätigt Trotzki in der oben zitierten Broschüre über die 4. Internationale. Wenn die deutschen Faschisten 80 Kilometer vor Moskau stehen, will er seine Pläne gegen die Sowjetmacht durchführen. Auch später hat er wiederholt die Überzeugung geäußert, daß für die Verwirklichung seiner Absichten der Vormarsch der deutschen Faschisten auf Moskau notwendig ist, das heißt, daß die Sowjetunion im Kriege geschlagen werden muß, wenn der Trotzkismus eine letzte verzweifelte Chance zur Machteroberung haben soll. Aber auch dann wird er diese Chance nicht nützen können. Selbst wenn es Trotzki nur auf die Machteroberung ankommt, wenn er nicht böswillig lieber den Faschismus als Stalin in Rußland herrschen sehen will, würde sein Treiben, wenn es erfolgreich wäre, den Faschismus zur Herrschaft führen. In der Sowjetmacht werden alle materiellen und menschlichen Kräfte zur Verteidigung der UdSSR in einem Ausmaße mobilisiert, wie das in keinem Lande und unter keiner anderen Regierung möglich ist. In einem Kriege gegen das faschistische Deutschland und Japan wird diesen Mächten die geschlossene Macht eines 180 Millionenvolkes gegenüberstehen, die größtmögliche Macht, die überhaupt von einer Regierung mobilisiert werden kann. Jeder Versuch, im Kriege eine trotzkistische Clemenceau-Regierung zu errichten, mußte die geschlossene Widerstandsfront gegen die faschistischen Angreifer schwächen und könnte nur deren Aktionen unterstützen. Gelänge es dem Trotzkismus im Kriege — wofür glücklicherweise alle Voraussetzungen fehlen — Teile aus der Verteidigungsfront der Sowjetmacht herauszubrechen, gelänge es, in der Zeit der entscheidenden Kriegshandlungen die Front gegen die faschistischen Angreifer zu schwächen, zu zersetzen, zu demoralisieren, so würde dadurch auf keinen Fall der Trotzkismus zur Macht kommen, sondern die Folge eines Sieges der faschistischen Diktaturen würde nichts anderes sein als die Errichtung einer konterrevolutionären faschistischen Diktatur in Rußland. Ist es Trotzkis Konzeption, die Niederlage der Sowjetunion im Kriege zur Entfesselung des Bürgerkriegs auszunutzen —- und da das von Trotzki in seinen Schriften publiziert wurde, kann es von niemandem weggeleugnet werden, — so ist es sehr schwer festzustellen, welche Mittel die unkontrollierbare konspirative und illegale Bewegung der Trotzkisten und die einzelnen Teile derselben für zweckmäßig halten, um die fanatisch verfochtene falsche Konzeption zu verwirklichen. Die sozialistischen Hitlergegner werden in ihrem Kampf um den Sturz der faschistischen Diktatur gewiß jedes geeignete Mittel anwenden, um die günstigsten Voraussetzungen für ihre, allerdings im Gegensatz zu Trotzki, sich auf die Massen stützende, revolutionäre Aktion zur Eroberung der politischen Macht zu schaffen. Betrachten die Trotzkisten Stalin ebenso als den Feind der Sowjetunion, wie die deutschen Sozialisten in Hitler den Feind Deutschlands sehen, so ergibt sich daraus konsequent die gleiche unerbittliche Haltung. Da aber der Trotzkismus sich nicht auf die Massen stützen kann, greift er zu den letzten, verzweifelten (terroristischen) Mitteln. Der große Unterschied ist; so berechtigt die sozialistischen Hitlergegner zur Anwendung aller geeigneten Kampfmittel für den Sturz der faschistischen Diktatur sind, so unberechtigt sind Trotzkis naturgemäß anders geartete Kampfmethoden und Kampfmittel gegen die Sowjetmacht, denn der Sturz Hitlers bedeutet die Befreiung Deutschlands, der Sturz der Sowjetmacht im Kriege bedeutet den Untergang der Sowjetunion und der stärksten Festung des Weltproletariats im Kampfe gegen den Faschismus.
Otto Bauer hat nach dem Pjatakow-Radek-Prozeß in der „Arbeiterzeitung" (17. Februar 1936) die Politik Trotzkis folgendermaßen charakterisiert:
„Aber es kommt nicht auf die Absichten, sondern auf die Wirkungen einer politischen Konzeption an. Wenn die Sowjetunion mitten im Kriege gegen zwei riesenhafte Militärmächte stände, gegen Deutschland im Westen, gegen Japan im Osten, dann würde jede neue Revolution, was immer die Absichten ihrer Urheber wären, die furchtbarste Gefahr hervorrufen, daß die Kriegsführung der Sowjetunion desorganisiert würde und dadurch ihre Niederlage, der Sieg Hitlerdeutschlands und Japans herbeigeführt würde. Dann würde freilich die neue Revolution mit der Abtretung der Ukraine und des Amurgebietes und mit der Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion enden. Das ist nicht der Wunsch Trotzkis; aber das könnte die Wirkung seines Rufes zu einer zweiten Revolution sein, wenn er von den Volksmassen der Sowjetunion gehört würde. Er ist nicht subjektiv ein Bundesgenosse Hitlerdeutschlands und Japans; aber seine Parolen würden, wenn sie während des Krieges von breiteren Massen aufgenommen würden, objektiv nur Hitlerdeutschland und Japan helfen."
Im politischen Machtkampf kommt es wahrlich nicht auf die Absichten eines Politikers, sondern auf die Wirkung seiner Politik an, Noske und seine Freunde haben in der Blütezeit der Weimarer Republik leidenschaftlich beteuert, daß die Absicht ihrer Politik die Rettung der Republik gewesen sei. Die Geschichte hat bewiesen, daß die Wirkung der Politik Noskes die Mobilisierung der Konterrevolution, der Sieg des Faschismus und die Vernichtung der Weimarer Republik war. Das Treiben des Trotzkisten ist konterrevolutionär, es dient den faschistischen Feinden der Sowjetunion: Hitlerdeutschland, Japan und dem Weltfaschismus. Die von Trotzki propagierte „Revolution" ist Hochverrat gegen die Sowjetunion. Die Sowjetunion wehrt sich gegen diesen Hochverrat, sie bekämpft mit unerbittlicher Härte den Trotzkismus, weil er die Feinde der Sowjetunion und der Arbeiterklasse unterstützt. Der Kampf der Sowjetmacht um die Verhinderung der trotzkistischen Hilfsdienste für die Feinde der Sowjetunion ist moralisch und politisch berechtigt. Die Sowjetmacht dient mit diesem Kampf der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Die geschichtliche Entwicklung wird davon auch jene objektiv urteilenden Menschen überzeugen, die aus mangelnder Kenntnis der politischen Zusammenhänge in ihrer ersten gefühlsmäßigen Entscheidung die harten Maßnahmen der Sowjetjustiz nicht begriffen haben.
Unbestreitbar ist jedenfalls: Trotzki will den Kampf um die Eroberung der Macht in der Sowjetunion um jeden Preis führen. Er selbst schreibt, „es wäre eine Kinderei zu glauben, daß die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei - oder Sowjetkongresses - abzusetzen wäre". Demokratische Mittel hält er für aussichtslos, die Macht zu erobern sei den Trotzkisten nur mit Gewalt möglich. Die Äußerungen Trotzkis in seinen eigenen Schriften, alles, was er selbst über,„seine Revolution" niedergeschrieben hat, stimmt weitgehend mit dem überein, was Pjatakow, Radek, Sokolnikow und andere Angeklagte vor dem Moskauer Gericht über Trotzkis Konzeption aussagten. Revolution gegen die herrschende Sowjetmacht — „komme, was da kommen mag!"
Wie aber will Trotzki seine Pläne verwirklichen? Darüber gibt er in seinen Schriften keine nähere Auskunft. Wahrscheinlich scheint es ihm nicht zweckmäßig, das „Wie" öffentlich zu konkretisieren. Die Geschichte lehrte daß zwar die Konterrevolution gestützt nur auf die Bajonette — auch auf die der konterrevolutionären Bundesgenossen eines anderen Landes — siegen kann, daß aber zum Erfolg jeder wirklich revolutionären Erhebung die weitgehende Unterstützung breiter Volksmassen notwendig ist. Diese Unterstützung durch die Massen in der Sowjetunion fehlt aber Trotzki vollkommen. An anderer Stelle ist ausführlich dargelegt, warum die Sowjetvölker nach den Erfolgen des sozialistischen Aufbaus, nach der politischen Widerlegung der trotzkistischen Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in der Sowjetunion, den Trotzkismus, ablehnen. Es fehlen also in der UdSSR alle Voraussetzungen für eine trotzkistische Aktion. Wenn Trotzki den Aufstand gegen die Sowjetmacht predigt, so verkündet er damit nicht, was er kann, sondern was er will. Dieses Wollen jedoch, so unreal es auch ist, schafft innerhalb der Weltarbeiterklasse Verwirrung und hilft der faschistischen Vorkriegslügenpropaganda gegen den ersten Arbeiterstaat. Gerade weil die „Revolution" des von den Massen isolierten Trotzkismus illusionär ist, weil sie mit politischen Mitteln nicht realisiert und gefördert werden kann, muß Trotzki zu anderen Mitteln greifen, um die Sowjetmacht zu erschüttern. Diese anderen Mittel können unter den gegebenen Umständen nichts anderes sein als Terror und Schädlingsarbeit, durch die allein noch die Sowjetmacht geschädigt und ihre Position im Kriege geschwächt werden kann. Will Trotzki um jeden Preis die Macht erobern, dann schreckt er auch vor nichts zurück, dann gilt auch bei der Auswahl der Kampfmittel sein Wahlspruch: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen mag!"
Es ist jedenfalls eine unbestreitbare Tatsache, daß Kirow ermordet wurde, daß man mit terroristischen Aktionen und Sabotageakten die Widerstandskraft der UdSSR zu schwächen versuchte. In seinen letzten Schriften hat Trotzki zwar nie versäumt den individuellen Terror abzulehnen. Aber er hat dabei keinesfalls das Vorhandensein terroristischer Tendenzen bestritten. In „Arbeiterstaat und Thermidor" (1935) schrieb er in seinen Schlußfolgerungen (Seite 17 und 18):
„Die terroristischen Tendenzen unter der kommunistischen Jugend gehören zu den schwersten Krankheitssymptomen für die Erschöpfung der politischen Möglichkeiten des Bonapartismus und seinen Eintritt in die Periode des erbittertsten Kampfes um die Selbsterhaltung...
Die politische und moralische Verantwortung für das Auftauchen des Terrorismus in den Reihen der kommunistischen Jugend liegt beim ,Totengräber der Partei', Stalin." In der im September 1936 veröffentlichten Broschüre über „Die Terroristen-Prozesse" schrieb Trotzki (Seite 11):
„Nikolajew (Der Mörder Kirows d.V.) wird in der Sowjetpresse als Teilnehmer einer aus Parteimitgliedern bestehenden Terrororganisation dargestellt. Wenn die Mitteilung richtig ist (und wir haben keinen Grund, sie als eine Erfindung anzusehen, denn die Bürokratie hat das nicht leichten Herzens zugegeben), dann stehen wir vor einer neuen Tatsache, der man große symptomatische Bedeutung beimessen muß. Ein Revolverschuß, abgegeben von einem persönlich gekränkten Menschen, ist immer möglich. Aber ein Terrorakt, planmäßig vorbereitet und im Auftrage einer bestimmten Organisation durchgeführt, ist, wie uns die gesamte Geschichte der Revolutionen und Konterrevolutionen lehrt, undenkbar ohne Vorhandensein einer günstigen politischen Atmosphäre. Die Feindschaft gegen die obersten Vertreter der Macht mußte weitgehend verbreitet sein und scharfe Formen annehmen, damit in der kommunistischen Jugend, oder besser, in ihrer höheren städtischen Schicht, die mit den Kreisen der unteren und mittleren Bürokratie eng verbunden ist, sich eine Terroristengruppe herauskristallisieren konnte." Trotzki bestreitet also nicht, daß Terrororganisationen in der Sowjetunion entstanden sind. Da nach seiner These Stalin an allem schuld ist, ist er natürlich auch der geistige Urheber der Terrororganisationen. Trotzki betrachtet ihr Vorhandensein sogar als den Beweis für eine seiner „Revolution" günstige politische Atmosphäre. Will man Trotzkis Behauptung, daß Stalin die Ursache der Terrororganisationen sei, prüfen, so muß man zunächst untersuchen, ob die von Trotzki behauptete günstige politische Atmosphäre für sein Wollen vorhanden ist, ob die Volksmassen sich in großer Erregung über die „stalinsche Bürokratie" befinden. Die offensichtlichen Tatsachen widersprechen dieser Behauptung. Um sie vollkommen zu widerlegen, soll hier ein Zeuge aus dem Lager der Stalingegner angeführt werden, der nicht im Verdacht steht, die Stimmung zugunsten Stalins zu beschönigen. Der menschewistische „Alte Bolschewik" erzählt in seinem Briefe an den menschewistischen „Sozialistischen Boten" — aus dem schon in anderem Zusammenhange zitiert wurde — über die Volksstimmung in der Sowjetunion:
„Der Sommer und Herbst 1933 waren für die Sowjetunion eine entscheidungsvolle Zeit, sowohl für die innere, wie für die Außenpolitik.
Die Ernte war über Erwarten gut. Fast niemand hatte gehofft, daß es bei der damals herrschenden Verwirrung gelingen werde, die Feldarbeiten durchzuführen und das Getreide einzubringen. Daß dies gelang, war Stalins Verdienst. Er entfaltete selbst eine für ihn ungeheure Energie und erreichte, daß alle bis zur Erschöpfung arbeiteten. Er verstand, daß dieser Sommer für ihn entscheidend war; sollte sich die wirtschaftliche Lage nicht bessern, so müßte sich die Erregung gegen ihn in irgend einer Weise bahnbrechen. Sobald sich aber zeigte, daß die Ergebnisse der Ernte gut waren, trat ein Umschwung in der Stimmung der Parteikreise ein. Erst jetzt glaubten die breiten Massen der Parteimitglieder, daß die Generallinie siegen könne, und aus dieser Umstellung heraus änderte sich auch ihr Verhalten gegen Stalin, mit dessen Namen die Generallinie unzertrennlich verknüpft war. Stalin hat gesiegt, hieß es auch bei den Leuten, die noch kurz zuvor sich für die Plattform Rjutins interessierten."
Dieses dem stalinfeindlichen „Alten Bolschewiken" entschlüpfte Geständnis ist sehr beachtlich. Aus ihm geht hervor, daß zumindestens von 1934 an „Stalin gesiegt" hat, daß von einer Mißstimmung gegen Stalin in der Parteimitgliedschaft und im Volke nichts zu spüren ist. Der „Alte Bolschewik" führt den Umschwung auf die „gute Ernte" des Jahres 1933 zurück. Das ist ein wenig naiv, aber schließlich doch nur der Versuch des Gegners, einen nicht mehr wegzuleugnenden Tatbestand plausibel zu begründen. Die wirkliche Ursache der allgemeinen Stimmung für Stalin ist der große wirtschaftliche Aufschwung, der das Ergebnis der planmäßigen sozialistischen Aufbauarbeit ist. Seit 1933 konnten die Früchte der im Kampf um den sozialistischen Aufbau gebrachten Opfer geerntet und das Lebensniveau der Massen ständig gehoben werden. Den Arbeitern und Bauern ist restlos klar geworden, daß die Politik Stalins erfolgreich war, für sie hat Stalin in der Tat gesiegt. Ist aber die Stimmung in der Partei und im Volke so, wie sie der „Alte Bolschewik" schildert, dann gibt es in den Massen keine Mißstimmung gegen Stalin, dann fehlt die „günstige politische Atmosphäre" für Trotzkis „Revolution"; sind die Parteimitglieder mit Stalin einverstanden und es bestehen trotzdem Terrororganisationen, dann ist nicht Stalin schuld an ihrer Existenz. In den Moskauer Prozessen wurde nachgewiesen, daß Trotzki und die Trotzkisten in ihrer verzweifelten politischen Isolierung diese Terrorgruppen organisiert haben, um mit ihrer Hilfe die Sowjetmacht zu schwächen und die Voraussetzungen für den Aufstand zu schaffen. Die ständige Propaganda Trotzkis für die Revolution gegen die Sowjetmacht, seine immer wiederkehrende Aufforderung, Stalin und die „Stalin-Bürokratie" mit Gewalt zu stürzen kann in die Irre gegangene, politisch isolierte Menschen für terroristische Aktionen gewinnen, — weil sie kein anderes Mittel zum Sturz Stalins mehr sehen. In den „Materialien zum Moskauer Prozeß", die unter dem Titel „Für Recht und Wahrheit" von Trotzkisten herausgegeben wurden, steht auf Seite 6:
„Der erwähnte Appell, ein ,Offener Brief' aus dem Jahre 1932, liegt vor uns. Dort findet sich weder der von Olberg behauptete Satz, ,Stalin muß aus dem Wege geräumt werden!', noch eine andere terroristische Formulierung." Die Verteidiger Trotzkis wollen damit scheinbar sagen, daß Trotzki niemals Formulierungen gebraucht habe, die seine Anhänger als geistige Aufforderung zum Terror betrachten könnten.
In deutscher Übersetzung ist der besagte „Offene Brief" Trotzkis im Mai 1932 in der oppositionellen Zeitung „Der Kommunist" veröffentlicht worden. Dort heißt die fragliche Formulierung wörtlich (unter Bezugnahme auf ein gefälschtes Lenin-Zitat):
„Man muß, endlich, den letzten nachdrücklichen Rat Lenins ausführen: Stalin hinwegräumen". „Stalin hinwegräumen" ist nichts anderes als „Stalin muß aus dem Wege geräumt werden". Wenn diese Formulierung selbst von den Verteidigern Trotzkis als eine terroristische betrachtet wird, dann hat Trotzki allerdings schon in seinem „Offenen Brief" Sätze geschrieben, die Terroristen ermuntern können. Schließlich aber bestanden Terrororganisationen, und es war die Pflicht der Sowjetregierung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Lenin hat die Partei gelehrt, daß Gruppen, die sich zur Ausführung von Terrorakten zusammenschließen, vernichtet werden müssen. Das rücksichtslose Vorgehen gegen Terrorgruppen ist also ein von Lenin aufgestelltes Prinzip, das seit der Periode des Bürgerkrieges immer angewandt wurde. Die Sowjetmacht — als die Repräsentantin des in der Vorkriegsatmosphäre von äußeren Feinden stärker denn je bedrohten ersten Arbeiterstaates — hat viel mehr als irgend eine andere Macht das Recht, gegen Terrorgruppen, die gegen sie zu arbeiten versuchen, rücksichtslos durchzugreifen und sie auszurotten. Bestanden also Terrorgruppen — und Trotzki selbst hat ihr Vorhandensein zugegeben, dann waren die scharfen, auf ihre Vernichtung abzielenden Maßnahmen der Sowjetregierung zweifellos berechtigt.
In unmittelbarer Verbindung mit der Tätigkeit der Terrorgruppen steht die Schädlingsarbeit. Sie ist ein Kampfmittel, das im Verlaufe der russischen Revolution und während des Kampfes um den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion mehr als einmal gegen die Sowjetmacht angewandt wurde. In der Broschüre „Probleme der Entwicklung der UdSSR" (1931) schrieb Trotzki (Seite 17/18):
„Zwei Gerichtsprozesse — gegen die Spezialistenschädlinge und die Menschewiki — haben ein äußerst grelles Bild des Kräfteverhältnisses der Klassen und Parteien in der UdSSR gezeigt. Von den Gerichtsorganen ist unwiderlegbar festgestellt worden, daß während der Jahre 1923 bis 1928 die bürgerlichen Spezialisten in engem Bündnis mit den ausländischen Zentren der Bourgeoisie erfolgreich eine künstliche Verlangsamung der Industrialisierung durchführten, in der Berechnung auf Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse. Die Elemente der Doppelherrschaft im Lande der proletarischen Diktatur bekamen ein solches Gesicht, daß die direkten Agenten der kapitalistischen Restauration gemeinsam mit ihren demokratischen Helfern, den Menschewiki, eine führende Rolle spielen konnten in allen Wirtschaftszentren der Sowjetrepublik!"
Die mittel- und westeuropäischen Sozialisten haben damals die Richtigkeit der Prozeßergebnisse, zumindest so weit sie die Mitwirkung von Menschewiki betrafen, nicht weniger leidenschaftlich bestritten, wie heute Trotzki die Mitwirkung von Trotzkisten an der Schädlingsarbeit bestreitet. 1931 aber schrieb Trotzki, daß von den Gerichtsorganen „unwiderlegbar festgestellt" wurde, daß „bürgerliche Spezialisten im engen Bündnis mit den ausländischen Zentren der Bourgeoisie" und mit den oppositionellen Kräften, die sie in der Sowjetunion fanden, Schädlingsarbeit betrieben haben.
Die Periode von 1923 bis 1928 war im Vergleich zu der Zeit nach Hitlers Machtantritt eine friedliche. Natürlich haben auch in dieser ruhigen Periode die Spionagezentralen der einzelnen Länder ihre Arbeit geleistet, den voraussichtlichen Gegner auszuforschen und zu schädigen versucht. Aber nach dem Auftreten der aggressiven faschistischen Diktaturen in der Weltpolitik sind wir in ein Stadium akuter Kriegsgefahr gekommen, in der die Spionagezentren mit Hochdruck arbeiten und eine Tätigkeit entfalten, die alles, was bisher bekannt war, weit übertreffen. Auf dieser Ebene der gegenseitigen Bekämpfung sind wir schon im Kriegszustand und vor allem das faschistische Deutschland versucht, auf diesem Gebiet die ersten Schlachten noch vor dem offiziellen Kriegsbeginn zu gewinnen. Es ist in der Tat phantastisch, wie die faschistische Spionage die Sabotage- und Schädlingsarbeit in anderen Ländern zu organisieren versucht. In Paris werden mit ausländischen Bomben Häuser in die Luft gesprengt, aus französischen Häfen werden Schiffe entführt, in englischen Kriegsmaterialfabriken werden Sabotageakte festgestellt, auf englischen Kriegsschiffen werden Mangel entdeckt, die gleichfalls durch Sabotage hervorgerufen wurden. Die Öffentlichkeit wird nur wenig über die Arbeit der deutschen Spionage in Frankreich, England und in anderen demokratischen Ländern unterrichtet und nur bei besonderen Anlässen wird der Schleier etwas gelüftet. So zum Beispiel, als die englische Regierung im Sommer 1937 drei deutsche Journalisten aus England auswies. Über die Gründe dieser Ausweisung hat die Weltpresse ausführlich berichtet. Die Prager „Närodni Politika", ein sehr weit rechtsstehendes Blatt, schrieb zum Beispiel (am 11. August 1937):
„Der britische Gegenspionagedienst hat sorgfältig die Tätigkeit der betreffenden Journalisten verfolgt und Beweise dafür erhalten, daß ihre Journalistentätigkeit nur ein Deckmantel für eine weit gefährlichere politische und Spionagetätigkeit sei. Die Aufmerksamkeit des britischen Geheimdienstes wurde gesteigert, als ihre Organe einige Fälle von Sabotage in den britischen Werften und in den für die Aufrüstung arbeitenden Fabriken feststellten, aus denen einige Angestellte entlassen werden mußten. Der damalige Marineminister Sir Samuel Hoare hat nähere Aufklärung über das genannte Einschreiten abgelehnt, er hat aber erklärt, daß die Gründe des strengen Schrittes ernst gewesen seien. Von kompetenten Stellen wurde uns auch mitgeteilt, daß es sich absolut nicht um eine kommunistische Umsturztätigkeit gehandelt habe. Daraus geht hervor, daß die umstürzlerische Irredenta mit dem deutschen Geheimdienst der Nationalsozialisten zusammenhing. Auf englischen Schiffen zeigten sich Störungen, die sich nur mit Sabotage erklären lassen .... Die britische Gegenspionage hat weiterhin festgestellt, daß eine Reihe von deutschen Berichterstattern sehr verdächtige politische Ziele verfolgt. Sie bemühten sich nämlich, in Kontakt mit den irischen revolutionären Republikanern zu kommen, denen sie den Weg zur Beschaffung von Waffen, Munition, Sprengstoffen und Bomben ebneten. Die Ereignisse in Belfast bei dem Besuch des Königs Georg VI. waren das Signal für den britischen Geheimdienst, sobald wie möglich einzugreifen!" Die Großzügigkeit der faschistischen Spionagezentralen ist besonders deutlich geworden bei der inzwischen aufgedeckten Verschwörung der französischen Cagoulards. Die deutsche Spionagezentrale hat mit großen Geldmitteln einen Staatsstreich französischer „Patrioten" gegen deren Vaterland organisiert, sie hat die Verschwörer mit Geld, Waffen und Mordwerkzeugen aller Art sehr reichlich versorgt — und französische Nationalisten und Faschisten mit einem General an der Spitze haben sich ohne Widerstreben mit ihren ausländischen Geldgebern gegen das eigene Volk verbündet. Auch dieser Vorgang, ebenso wie die Vorbereitung und weitest gehende Unterstützung des Franco-Putsches, charakterisiert sehr deutlich die intensiven Bemühungen der faschistischen Spionagezentralen, die in dieser Zeit kein Mittel unversucht lassen, um vermutliche Kriegsgegner empfindlich zu schädigen.
Wenn die Regierungen der demokratischen Länder alle Einzelheiten über die Terror-, Sabotage- und Schädlingsarbeit der faschistischen Spionage in ihren Ländern berichteten, würden den Zeitungslesern die Haare zu Berge stehen; wenn in der Weltpresse alle Verhaftungen von Staatsbürgern demokratischer Staaten, die zusammen mit der gegnerischen Spionage arbeiten, registriert wurden, wäre sehr bald klar, daß in dieser Zeit nicht nur die Sowjetregierung einen scharfen Kampf gegen Spionage, Sabotage und Schädlingsarbeit führen muß. Jedenfalls kann der aufmerksame Zeitungsleser feststellen, daß in der Presse seines Landes nahezu täglich Berichte über Gerichtsurteile gegen Staatsbürger stehen, deren Tätigkeit für den gegnerischen Spionagedienst nachgewiesen wurde, und zwar ohne Angabe irgendwelcher Details.
Es ist nur zu verständlich, daß die Spionagetätigkeit der faschistischen Länder sich ganz besonders gegen die Sowjetunion richtet, die sich daher auch entsprechend schärfer zur Wehr setzen muß. Unter den gegebenen Umständen sehen die faschistischen Spionageleitungen Deutschlands und Japans ihre Hauptaufgabe in der Schädigung der Sowjetunion, sie konzentrieren ihre stärksten Kräfte gegen ihren „Erbfeind". Und warum sollten in der vorgeschrittenen Situation, in der wir viel näher an entscheidende weltpolitische Konflikte herangerückt sind, in der die faschistischen Zentren viel intensiver arbeiten, diese weniger als in der friedlichen Periode von 1923 bis 1928 die Mithilfe oppositioneller Kräfte in der Sowjetrepublik suchen? Jedenfalls bemühen sich die Zentren der faschistischen Spionage sehr intensiv um die Gewinnung von Mitarbeitern in der Sowjetunion und es liegt dabei sehr nahe, daß sie sich in erster Linie auch an Elemente heranzumachen versuchen, die in Opposition zur herrschenden Sowjetmacht stehen. Unter dem Einfluß der Hetze Trotzkis hat sich ein Teil dieser Oppositionellen mit einem blinden Haß gegen Stalin vollgesogen, der zu Taten befähigt, die für den nüchtern urteilenden Menschen unmöglich scheinen. Ist ein von diesem Haß beseelter Oppositioneller, der nichts als nur Stalin stürzen will, dann noch so verblendet, daß er die Opposition für eine Macht hält, die Bündnisse mit ausländischen Kräften später zu ihrem Vorteil und Sieg auszuwerten vermag, dann wird er die Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften in einem anderen Lichte betrachten und sie von seinem angeblich „revolutionären" Standpunkt aus für berechtigt halten.
Von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung dieser Frage ist die moralische Verfassung der Opposition. Ist ihr moralischer Zustand so, daß sie selbst den Gedanken, ausländische Kräfte für ihren Kampf auszunützen, ablehnt? Oder ist ihre Demoralisierung schon so weit vorgeschritten, daß sich in ihren Reihen Leute finden, die sich von ausländischen Kräften gebrauchen lassen, und darin noch ein taugliches Mittel für die Erreichung ihrer Ziele sehen? Eine Gruppe, einmal auf die schiefe Bahn getreten, rutscht immer weiter ab, sie verliert den Maßstab für das erlaubte Handeln, und da sie nicht aus gleichartigen Elementen zusammengesetzt ist, wird der eine ohne das Wissen des anderen weitergehen und niemand mehr vermag die Grenze zu finden, bis zu der einzelne Teile — für die aber die ganze Gruppe verantwortlich ist — hinabsinken. Die Tatsache, daß es den Trotzkisten unmöglich geworden ist, auf die Massen mit politischen Argumenten einzuwirken, hat sicher zur Demoralisierung ihrer Anhänger beigetragen. Über die trostlose moralische Verfassung der Opposition schreibt der stalinfeindliche „Alte Bolschewik" in dem bereits zitierten Briefe an den menschewistischen „Sozialistischen Boten":
„... Man muß zugeben, daß vom Standpunkt der politischen Moral das Benehmen der Mehrzahl der Oppositionellen keinesfalls auf der Höhe war ... Wir alle waren genötigt, zu lügen; ohne das konnte man nicht auskommen. Immerhin gibt es gewisse Grenzen, die man auch im Lügen nicht überschreiten darf. Leider haben die Oppositionellen, insbesondere ihre Führer, diese Grenzen oft überschritten.
Diese neue Moral hat einen sehr zersetzenden Einfluß In den Reihen der Oppositionellen geübt. Es wurden dabei alle Grenzen des Zulässigen und Unzulässigen verwischt und sie führte viele zum direkten Verrat, zur direkten nackten Untreue, Gleichzeitig schöpfen aus ihr alle Gegner irgend welcher Abkommen mit gewesenen Oppositionellen die überzeugendsten Argumente: Kann man ihnen denn glauben, wenn sie doch prinzipiell die Möglichkeit, zu lügen, anerkennen? Wie soll man unterscheiden, wo sie die Wahrheit sagen und wann sie lügen? Ihnen gegenüber ist nur die einzige Linie richtig: Niemand von ihnen zu glauben, mögen sie sagen oder beschwören, was sie wollen."
So sieht die Opposition aus. Sie ist so demoralisiert, daß in ihren eigenen Reihen niemand mehr weiß, wann ihre Vertreter die Wahrheit sagen oder lügen. Eine so vollkommen unmoralische Opposition ist zu allem fähig, sie schreckt vor keinem Kampfmittel zurück, zumal ihr ja ihr Führer Trotzki für den Kampf gegen die Sowjetmacht gepredigt hat: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen mag!“
Eine solche Opposition ist keine politische Strömung der Arbeiterbewegung mehr.
Der von Trotzki gepredigte Putsch ist Hochverrat gegen die UdSSR. Er könnte — wenn er nicht im Keime erstickt wird — zu einem blutigen Bürgerkriege führen, dessen Ergebnis der Sieg der faschistischen Konterrevolution wäre. Die Geschichte aller Klassenkämpfe der letzten Jahrzehnte lehrt mit erschreckender Deutlichkeit, daß das Proletariat frühzeitig scharf zupacken muß, um spätere größere Opfer und Rückschläge zu vermeiden. Die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht haben darum richtig gehandelt, daß sie sich gegen die trotzkistische Aufstandsvorbereitung tatkräftig zur Wehr setzten und rechtzeitig ihre Macht gebrauchten, um einen Bürgerkrieg mit unendlichen Blutopfern zu verhindern, um jede Gefährdung für alle Zukunft gründlich zu beseitigen. Trotzki und seine Freunde erregen sich über das harte Zupacken der Sowjetmacht. Manche von ihnen begründen ihre Empörung auch damit, daß die Sowjetmacht doch außerordentlich stark sei, die Kreise dagegen, die Trotzkis Aufstandsparole durchführen könnten, schwach und bedeutungslos. Schon darum seien die harten Maßnahmen nicht gerechtfertigt.
Bei der Beurteilung dieser Maßnahmen spielt nicht nur das gegenwärtige Kräfteverhältnis, sondern auch die möglichen Störungsversuche einer zu allem bereiten Opposition im Kriege eine Rolle. In „La revolution trahie" schreibt Trotzki:
„Was können 20—30.000 Oppositionelle bedeuten bei einer Partei von 2 Millionen? Die nackte Gegenüberstellung der Zahlen sagt in dieser Frage gar nichts. Ein Dutzend Revolutionäre in einem Regiment genügen, um es in einer heißen politischen Atmosphäre auf die Seite des Volkes zu ziehen. Nicht von ungefähr fürchten die Stäbe auf den Tod die kleinen illegalen Zirkel, ja selbst Einzelgänger." Diese Chance haben die Trotzkisten bei dem Charakter der Roten Armee nicht. Wesentlich realistischer hat Stalin die Frage, ob auch schwache, konterrevolutionäre Gruppen im Kriege gefährlich werden können, in seiner am 3. März 1937 gehaltenen Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der Partei behandelt. Er sagte dort u.a.:
„Viertens passen gewöhnlich die Schädlinge ihre Hauptschädlingsarbeit nicht der Periode der Friedenszeit an, sondern der Periode am Vorabend eines Krieges oder des Krieges selbst. Gesetzt den Fall, wir hätten begonnen, uns von der faulen Theorie der ,systematischen Erfüllung der Wirtschaftspläne' einlullen zu lassen, und hätten die Schädlinge nicht angetastet. Stellen sich die Autoren dieser Theorie vor, welch kolossale Schäden die Schädlinge unserem Staate im Kriegsfalle zugefügt haben würden, wenn man sie im Schoße unserer Volkswirtschaft ... belassen hätte? ...
Daß die trotzkistischen Schädlinge von einzelnen unterstützt werden, die Bolschewiki dagegen von Dutzenden von Millionen Menschen, das ist natürlich richtig. Hieraus folgert jedoch absolut nicht, daß die Schädlinge unserer Sache nicht ernsthaftesten Schaden zufügen können. Um zu besudeln und zu schädigen, hierzu ist absolut keine große Anzahl von Personen erforderlich. Um Dnjeprostroi zu bauen, muß man zehntausende Arbeiter in Bewegung setzen. Um es jedoch zu sprengen, dazu sind vielleicht einige Dutzend Personen erforderlich, nicht mehr. Um während des Krieges eine Schlacht zu gewinnen, dafür können mehrere Rotarmistenkorps erforderlich sein. Um dagegen diesen Sieg an der Front zunichte zu machen, dazu genügen einige Spione irgendwo im Stab der Armee oder sogar im Stab einer Division, die den operativen Plan stehlen und ihn dem Gegner übermitteln können. Um eine große Eisenbahnbrücke zu bauen, dafür sind tausende Menschen erforderlich. Um sie jedoch zu sprengen, dazu genügen im ganzen einige Personen. Solche Beispiele könnte man Dutzende und Hunderte anführen." Stalin zog daraus die Schlußfolgerung, „man muß erreichen, daß es von ihnen, den trotzkistischen Schädlingen, überhaupt niemanden in unseren Reihen gibt." Auch die schwächste Bewegung, die Revolution und Aufstand will, kann in kritischen Situationen erstarken und eine unmittelbare Gefahr werden. Vorbeugend handeln ist darum politisch richtiger, als nachträglich jammern.
Trotzki ist auf seinem Weg von der politischen Opposition innerhalb der Arbeiterbewegung zur Konterrevolution gekommen. Als Konterrevolutionär muß er bekämpft und geschlagen werden — wenn die Sowjetunion leben und die Weltarbeiterklasse in den heranreifenden Entscheidungskämpfen den Faschismus überwinden und den endgültigen Sieg des Sozialismus erringen will.

DER WEG DER SOWJETUNION

Für die Stellungnahme der Weltarbeiterklasse zur UdSSR ist von entscheidender Bedeutung, ob der Weg, der in der Sowjetunion beschritten wird, zur höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaft, oder — wie Trotzki behauptet — zu einer bonapartistischen Diktatur führt. Einem bonapartistischen Rußland gegenüber könnte sich das Weltproletariat nur feindselig verhalten, der Sowjetunion gegenüber aber, die die erste Phase der sozialistisehen Gesellschaft erreicht hat und zielbewußt zur klassenlosen Gesellschaft vorwärtsschreitet, muß sich das Weltproletariat in jeder Situation als unerschütterlicher Bundesgenosse verpflichtet fühlen.
Zweifellos ist im Laufe der Jahre die Erkenntnis über das wahre Wesen des ersten Arbeiterstaates in den proletarischen Massen der anderen Länder gewaltig gewachsen, aber trotzdem ist der Weg zu einem festen positiven Bündnis der Weltarbeiterklasse mit der UdSSR nicht geradlinig. Immer wieder gibt es Schwankungen, immer wieder gelingt es der Feind-Propaganda, das klare Bild zu verdunkeln und irgendwelche — für die sichere Aufwärtsentwicklung zur klassenlosen Gesellschaft notwendige — Maßnahmen als Beweise gegen den sozialistischen Charakter des ersten Arbeiterstaates auszugeben. So ist denn auch die Reinigungsaktion, die im Anschluß an die Moskauer Prozesse durchgeführt wurde, zu einer neuen, allgemeinen Stimmungsmache und Hetze gegen die UdSSR ausgenützt worden. Das Ziel dieser Hetze ist, bei Schwankenden und Gutwilligen, die sich um ein richtiges Bild von der Sowjetunion bemühen und das Zusammengehen mit ihr bejahen, neue Zweifel zu erwecken.
Die faschistischen Diktaturen haben ein starkes Interesse daran, das Vertrauen der Volksmassen in ihren und in den demokratischen Ländern zur Sowjetunion zu untergraben. Ihre Hetze gegen den ersten Arbeiterstaat ist eine für sie sehr wichtige Waffe zur Durchführung ihrer Kriegspläne. Im modernen Kriege ist die Propaganda eine der wichtigsten Kampfwaffen, von deren richtigem Einsatz der Ausgang eines Krieges mehr denn je abhängig ist. Bei der Beurteilung der vielseitigen Hetze gegen die Sowjetunion darf nicht übersehen werden, daß wir uns bereits in einem Vorkriegsstadium befinden, in dem die faschistischen Diktaturen die Waffen der Propaganda schon in einem unvergleichlich größeren Ausmaße und viel raffinierter einsetzen, als das die Kriegführenden im letzten Weltkriege taten.
Hitler und Mussolini sind zwar Todfeinde jeder Demokratie; sie unterbinden mit dem brutalsten Terror das demokratische Mitbestimmungsrecht ihrer Untertanen, aber sie haben — offenbar besser als die Staatsmänner in den demokratischen Ländern — begriffen, welche große Bedeutung der Stimmung der Volksmassen im Kriege zukommt. Und weil die faschistischen Diktatoren wissen, daß ein festes Bündnis der Sowjetunion mit den breiten Volksmassen in den anderen Ländern die Kriegstreibereien des Anti-Komintern-Dreibundes stört und die Verwirklichung seiner imperialistischen Ziele unmöglich machen wird, versuchen sie mit allen Mitteln ihrer Lügenpropaganda, dieses Bündnis zu erschüttern. Hinter der Stimmungsmache gegen die UdSSR steht die Antikomintern; sie inspiriert und organisiert die Hetze, von deren Wirkung nur die Faschisten profitieren. Die Methoden sind sehr verschieden, aber ihr Ziel ist eindeutig: das Vertrauen der Massen in den anderen Ländern zu dem ersten Arbeiterstaat zu erschüttern, Zweifel und Schwankungen hervorzurufen, damit im Kriegsfalle das Bündnis anderer Staaten und der Weltarbeiterklasse mit der UdSSR nicht wirksam wird. Darum ist es die Pflicht aller Gegner des Faschismus, den Aktionen der Antikomintern energisch entgegenzutreten.
Die verschiedenen Methoden, die die Antikomintern in ihrem Kampfe gegen die UdSSR anwendet, ergänzen einander. Die Spionage- und Sabotagetätigkeit, die von den faschistischen Spionagezentralen in allen Ländern, besonders intensiv aber in der Sowjetunion, organisiert wird, zwingt die Sowjetmacht zu hartem Zupacken, zu scharfen Maßnahmen gegen die von den Faschisten beabsichtigte Schädigung und Schwächung der UdSSR. Die durch die Schädlingsarbeit erzwungene Reinigungsaktion wiederum wird von der Propaganda ausgenutzt zur moralischen Entrüstung über die Zustände in der Sowjetunion. Man beklagt die angebliche innere Schwäche des Staates, in dem die „blutige Diktatur eines Mannes" herrschen soll, der die Prinzipien des Sozialismus „verraten" und eine „bonapartistische Gewaltherrschaft" errichtet habe. In diesem Lügen-Propagandakrieg spielen die verschiedensten Kräfte einander bewußt oder unbewußt in die Hände, jedenfalls finden die Argumente der Trotzkisten in der Hetzkampagne der Faschisten eine sehr ausgiebige Verwendung. Die Faschisten, die bei ihrer Stimmungsmache gegen die Sowjetunion für jede Volksschicht andere Argumente verwenden, wissen sehr genau, daß sie die Arbeitermassen nicht für ihre Zwecke ausnützen können, wenn sie ihnen erzählen, daß in der Sowjetunion all die „Vorzüge" der faschistischen Diktaturen fehlen. Für die Irreführung der Arbeiterschaft erscheinen ihnen die trotzkistischen Argumente viel wirksamer. Die Behauptungen Trotzkis über die „Entartung" des Sowjetstaates, über die „soziale Ungleichheit" und die angebliche „Bildung neuer Klassen", über die „Preisgabe des Sozialismus" können die Arbeiter viel eher irreführen als offene faschistische Argumente.
Trotzki hat schon lange vor den Moskauer Prozessen den Vorwurf erhoben, daß in der Sowjetunion der Bonapartismus herrsche. Trotzki liebt geschichtliche Vergleiche, aber er nimmt es damit in der Regel nicht sehr genau. „Trotzki liebt es sehr", schrieb Lenin in dem Artikel „Über die Verletzung der Einheit" (1914) „mit der gelehrten Miene eines Kenners, mit üppigen und klangvollen Phrasen die historischen Erscheinungen auf eine für Trotzki schmeichelhafte Art zu erklären." Darum auch entsteht ein ganz falsches Bild, wenn Trotzki die Entwicklung der russischen Revolution mit der großen französischen Revolution vergleicht. Er behauptet, daß der Thermidor (der Umsturz, der den gemäßigteren und konservativen Jakobinern die Macht gab) in der UdSSR schon längst vollzogen sei.
„Der Thermidor der großen russischen Revolution" — schrieb Trotzki in der 1935 veröffentlichten Broschüre „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus" (Seite 17) — „liegt nicht vor, sondern schon lange hinter uns. Die Thermidorianer können annähernd ihr zehntes Siegesgedächtnis feiern. Das gegenwärtige politische Regime der Sowjetunion ist das Regime eines Sowjet-(oder Antisowjet-) Bonapartismus, seinem Typus nach näher dem Kaiserreich, als dem Konsulat."
Trotzki behauptet in der vorgenannten Broschüre weiter, daß der Zusammenbruch des „Stalin-Bonapartismus" unvermeidlich sei, und daß diesem Zusammenbruch der Sieg der Konterrevolution folgen müsse. Nach Trotzkis „Theorie" zwingt diese Gefahr die „proletarische Vorhut", d.h. die Trotzkisten, sich zu beeilen, noch vor dem Zusammenbruch in „Aktion" zu treten, um die Sowjetunion vor dem Siege der Konterrevolution zu retten. Angeblich um dieser „Rettungsaktion" willen wird das herrschende Sowjetregime von Trotzkisten angegriffen, werden von den Trotzkisten die verzweifeltsten Mittel angewandt, werden alle die Argumente gegen die Sowjetunion ins Feld geführt, die nicht genügend orientierte, schwankende Elemente irreführen können.
Alle von urteilsfähigen, objektiven Menschen geprüften und bestätigten Tatsachen widerlegen einwandfrei die trotzkistischen Behauptungen. Trotzkis geschichtlicher Vergleich ist vollkommen unzutreffend. Die Entwicklung der russischen Revolution kann in ihren entscheidenden Stadien überhaupt nicht mit der großen französischen Revolution verglichen werden. Die Oktoberrevolution ist die erste siegreiche proletarische Revolution in der Welt, die das Ökonomische Fundament der alten Gesellschaft grundlegend verändert hat. Ihr Ergebnis ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Schaffung eines sozialistischen Wirtschaftssystems, das eine entgegengesetzte Entwicklung des politischen Regimes nicht zuläßt, während die bürgerliche französische Revolution die kapitalistische Grundlage der Gesellschaft ausbaute, auf der allein das revolutionäre Regime zum Thermidor und Bonapartismus gelangen konnte. Erst wenn in der Sowjetunion die sozialistische Grundlage der Wirtschaft über den Haufen geworfen würde, erst wenn eine rückläufige ökonomische Entwicklung erzwungen würde (Wiederherstellung privatkapitalistischer Verhältnisse), wären Voraussetzungen für einen Bonapartismus gegeben. Da aber die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in der Sowjetunion eine unumstrittene Tatsache ist, da der sozialistische Charakter des Wirtschaftssystems unverrückbar feststeht, ist die „Entwicklung" zum Bonapartismus ausgeschlossen.
Ebenso unvereinbar ist der Bonapartismus mit dem in der Sowjetunion herrschenden politischen Regime. Gerade darum ist ja Trotzki, der sich mit seinen Auffassungen gegen die Partei, über sie stellen wollte, gescheitert. In Trotzki steckt mancherlei von einem Bonaparte. Er ist es, der die Mehrheit vergewaltigen wollte, um einen bonapartistischen Staatsstreich durchzuführen. Zum Glück der Sowjetunion und der Sowjetvölker blieb Trotzki ein verhinderter Bonaparte, dessen Machtstreben an einer Kraft zerbrochen ist, an der jeder andere Bonaparte in der Sowjetunion scheitern muß: an der Diktatur der Arbeiterklasse.
In der UdSSR herrscht die Diktatur der mit der Bauernklasse fest verbundenen Arbeiterklasse. Will man erforschen, ob der Weg von dieser Herrschaftsform zur klassenlosen Gesellschaft und zur vollkommenen Demokratie führt, so muß man die Vergangenheit des ersten Arbeiterstaates analysieren und die in zwei Jahrzehnten gemachten Erfahrungen zur Wertung der Gegenwartshandlungen verwenden. In diesem Buche ist der Versuch gemacht worden, den Werdegang der russischen Revolution und die Entwicklung der Sowjetunion nach der Machteroberung durch daß Proletariat aufzuzeigen. Bei der Rückschau ergibt sich ein gigantisches Bild des planmäßigen Aufbaus von Wirtschaft, Technik und Kultur. All den unvermeidlichen großen Schwierigkeiten zum Trotz wurde nach einem festen Plan sinnvoll am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gearbeitet und mit bewundernswerter Präzision Stein auf Stein gefügt, um den Aufbau zu vollenden. Jede der Etappen in diesem noch nicht vollendeten Aufbau hatte ihre besonderen Schwierigkeiten und ihre besonderen Aufgaben. Verschiedenartig waren die Anforderungen, die an die Menschen gestellt wurden; verschiedenartig waren die Maßnahmen, die ergriffen werden mußten, um die jeweils erreichte Etappe erfolgreich zu durchschreiten. Dabei gab es noch in jeder Situation Handlungen, die von Menschen in der kapitalistischen Umwelt (die den Erfordernissen des sozialistischen Aufbaus fremd gegenüberstanden) nicht begriffen wurden, und die den Kritikern Anlaß gaben, immer wieder von Entartung, vom Verrat der sozialistischen Prinzipien zu sprechen und den Untergang des ersten Arbeiterstaates zu prophezeien. Aber wenn dann wieder eine Etappe durchschritten war, wenn rückschauend die erst so scharf kritisierten Maßnahmen im geschichtlichen Zusammenhang gewertet wurden, dann ergab sich noch jedesmal, daß diese Maßnahmen notwendige Bausteine waren, die mühselig eingefügt werden mußten, um den Bau der sozialistischen Gesellschaft voranzubringen.
Die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische kann nirgendwo ein einmaliger Akt sein; sie ist ein langwieriger Prozeß, der sich über Jahrzehnte erstrecken muß. Er wurde in der Sowjetunion nicht zuletzt auch dadurch verzögert, daß die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern die Macht nicht eroberte. Das Proletariat in der Sowjetunion mußte darum seine schwierigen Aufgaben inmitten der kapitalistischen Umwelt lösen. Die Hemmungen und Fehler, die daraus erwuchsen, sind weniger auf das Konto des Sowjet-Proletariats zu buchen, als auf das Konto der Arbeiterklasse in den anderen Ländern, die den Kapitalismus in ihrer Heimat noch nicht zu überwinden vermochte.
In den einzelnen Phasen des langwierigen Prozesses der Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische gab und gibt es in der Sowjetunion verschiedenartige Gefahren zu überwinden, deren Charakter nicht unwesentlich von der jeweiligen Situation in der kapitalistischen Umwelt bestimmt wird. Mit dem Auftreten solcher Gefahren muß bis zum völligen Siege des Sozialismus gerechnet werden. Niemand bestreitet diese Gefahren, und gerade die führenden Männer der Sowjetmacht haben immer wieder auf sie verwiesen. Aber Gefahren sind keine Entartung. Gefahren sind kein Grund zum Jammern, sondern ein Anlaß zur besonders disziplinierten gemeinsamen Durchführung der von der Mehrheit der Partei gefaßten Beschlüsse. Zwei Jahrzehnte Geschichte der UdSSR beweisen jedenfalls, daß die Sowjetmacht entstandenen Gefahren immer rechtzeitig zu begegnen verstand. Die in zwanzigjähriger Praxis vollbrachten Leistungen berechtigen zu der Behauptung, daß die Sowjetmacht den richtigen Weg geht, daß ihr Kampf gegen neu auftretende Gefahren in der jeweiligen Situation auch dann zweckmäßig ist, wenn Fernerstehende die Zusammenhänge nicht gleich erkennen und die Notwendigkeit der Aktion nicht begreifen. Jedesmal haben viele Kritiker Maßnahmen der Sowjetmacht, die sie bei ihrer Anwendung heftig verurteilten, nach Abschluß einer Aktion und nach dem Sichtbarwerden ihrer Ergebnisse als notwendig und richtig anerkannt. Die in zwei Jahrzehnten gemachte Erfahrung berechtigt zu der Überzeugung, daß die Sowjetmacht auch mit allen neu auftauchenden Gefahren fertig werden wird und daß dann, bei einer späteren rückschauenden Wertung, alle objektiven, urteilsfähigen Menschen zugeben werden, daß die heute in der Sowjetunion ergriffenen Maßnahmen dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft dienten.
Die Reinigungsaktion, die die Sowjetmacht im Zusammenhang mit den Moskauer Prozessen durchführte, diente der Beseitigung neu entstandener Gefahren. Die Unterbindung jeglicher Schädlings- und Spionagetätigkeit ist eine Aufgabe, die erfüllt werden muß, auch wenn die Antisowjethetzer vorübergehend daraus Kapital schlagen. Die Prozesse gegen Trotzkisten und politische Abenteurer, gegen Schädlinge, Saboteure, Terroristen und Spione haben nichts mit Willkür und Zersetzung zu tun. Die Ausmerzung Tuchatschewskis und seiner Mitverschworenen z.B. hat die alten Verbindungen mit den deutschen Generalen, die seit der Machtübernahme des deutschen Faschismus zu einer außerordentlichen Gefahr geworden sind, zerschlagen und die bonapartistischen Ambitionen Tuchatschewskis vereitelt. Wie sehr diese Ambitionen zugleich Illusionen waren und auf einem vollständigen Verkennen der gesellschaftlichen Situation beruhten, beweist schon die eine Tatsache, daß keine der Erschütterungen eingetreten ist, die von gewissen Kritikern als Folge des Falles Tuchatschewski vorausgesagt, ja sogar in fetten Schlagzeilen einem ahnungslosen Publikum schon als Tatsache aufgetischt wurden. Das rücksichtslose Vorgehen gegen Tuchatschewski beweist, daß es in der leninschen Partei für einen Bonapartismus keinerlei Chance gibt.
Die Tatsache, daß in der Sowjetunion einige Generale als Verräter entlarvt wurden, hat in den demokratischen Ländern Zweifel an der Zuverlässigkeit der Roten Armee erweckt, Fälle von Verräterei durch ehrgeizige Militärs gibt es übrigens in der Geschichte häufig. Auch in der großen französischen Revolution wurden führende Revolutionäre und Generale der Armee, die zeitweise gut gekämpft hätten, als Verräter entlarvt. Dadurch wurde jedoch die Zuverlässigkeit und Schlagfertigkeit der französischen Armee, die damals noch eine Revolutionsarmee war, nicht beeinträchtigt. Das Gleiche gilt in einem viel stärkeren Maße für die Rote Armee, deren Soldaten aus der Masse begeisterter Anhänger der Sowjetmacht planmäßig ausgesucht und zu qualifizierten Kämpfern erzogen werden und mit denen ein treuloser General daher nicht nach Belieben operieren kann. Die Rote Armee ist nach wie vor die zuverlässigste Armee, über die jemals eine Regierung in der Welt verfügte.
Die Aktion, durch die im Jahre 1937 Funktionäre der Partei, des Staatsapparates und der Wirtschaft von ihren Posten entfernt und durch andere Kräfte ersetzt wurden, hängt unmittelbar mit der Demokratisierung des ganzen Sowjetlebens zusammen. Aufklärung über die Bedeutung dieser Aktion geben die Diskussionen und die Beschlüsse des Plenums des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei vom März 1937. Auf dieser Tagung wurde das Programm zur Durchführung der Demokratisierung festgelegt. In den Beschlüssen dieser Tagung wurde die Demokratisierung der Partei und des Staatsapparates als die Tagesaufgabe bezeichnet, deren Lösung in der neu erreichten Phase der Entwicklung dringend notwendig wurde. Jedoch auch die richtigste und vernünftigste Maßnahme läßt sich. nicht reibungslos durchführen. Manche der Menschen, die in der Periode des technischen Aufbaus, in der die Beherrschung der Technik und der Wirtschaft die vordringlichste Aufgabe war, Hervorragendes leisteten, und die darum in ihrem Bereich vielleicht eine selbstherrliche Stellung einnehmen konnten, haben nicht sofort begriffen, daß in der neuen Phase der Entwicklung, die — wie Stalin sagt — „Meisterung der Politik", das demokratische Mitbestimmungsrecht der Massen verwirklicht werden mußte. Wer sich der vollen Verwirklichung des demokratischen Mitbestimmungsrechtes der Massen widersetzt, der ist — mögen seine Verdienste in der vergangenen Periode noch so groß sein — den andersartigen Aufgaben in der neu erreichten Phase der Entwicklung nicht gewachsen. Er muß, wenn er sich in die neuen Notwendigkeiten nicht einzuordnen vermag, von seinem Posten entfernt werden. Er kann in der jetzt erreichten Phase der Entwicklung von diesem Posten ohne Gefährdung entfernt werden, weil inzwischen große Kader qualifizierter Kräfte ausgebildet wurden, aus deren Reihen vollwertiger Ersatz genommen werden kann. Die Reinigungsaktion dient also auch der Beseitigung vorhandener Mängel der Bürokratie und ist nicht reaktionär, sondern fortschrittlich, eine der fortschrittlichsten Maßnahmen, die im Laufe der letzten Jahre durchgeführt wurden; sie dient der Verwirklichung der in der neuen Verfassung niedergelegten Sowjetdemokratie. Dabei kommt allerdings sehr deutlich der Unterschied zwischen bürgerlicher und sozialistischer Demokratie zum Ausdruck: Erweiterung des demokratischen Mitbestimmungsrechtes für alle Freunde der UdSSR und der Sowjetdemokratie, konsequente Verweigerung dieser Demokratie und erbitterter Kampf ihren Feinden.
Das Ergebnis einer objektiven Untersuchung der Entwicklung in der Sowjetunion ist: planmäßiges Zurückdrängen der kapitalistischen Einflüsse in der Wirtschaft bis zu ihrer völligen Liquidierung, erfolgreicher Aufbau der sozialistischen Wirtschaft, fortschreitende Verbesserung der Lebenshaltung des Volkes, volle Entfaltung der politischen und wirtschaftlichen Demokratie und Schaffung einer gewaltigen Macht, die den ersten Arbeiterstaat gegen alle Angriffe zu schützen vermag.
Es gibt in der Geschichte keinen Vergleich mit der bisher einmaligen gewaltigen geschichtlichen Leistung der russischen Revolution. Sie ist die erste Revolution, die den wirtschaftlichen Unterbau der Gesellschaft grundlegend neu gestaltete, die ausbeutenden Klassen beseitigte, den arbeitenden Klassen nicht nur politische Freiheiten, sondern greifbare materielle Früchte und das unbestrittene Recht auf Arbeit brachte. Sie ist die erste Revolution in der Geschichte, die sich jahrzehntelang siegreich behauptet, ihre Herrschaft ständig mehr und mehr festigt und sich kontinuierlich vorwärts entwickelt, zu einer neuen, höheren Gesellschaftsform, zur höchsten Phase der Entwicklung, der kommunistischen Gesellschaft.
Der Weg der Sowjetunion ist klar vorgezeichnet, untermauert durch die Erfahrungen und Ergebnisse des zwei Jahrzehnte währenden Kampfes und Aufstiegs. Der Kurs geht unzweideutig auf die klassenlose Gesellschaft, den endgültigen Sieg des Sozialismus.
Dieses Ziel wird um so schneller erreicht werden. Je geschlossener und tatkräftiger die Weltarbeiterklasse die Sowjetunion in ihrem Kampfe unterstützt.

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