"Zeitschrift für Sozialismus und Frieden"
Max Seydewitz
VORWORT
Es ist notwendig, diesem Buche einige persönliche Bemerkungen vorauszuschicken.
Seit meiner frühesten Jugend, fast dreißig jähre lang, habe ich aktiv in der Deutschen
Sozialdemokratie gearbeitet, — als Funktionär, als Redakteur und als
Reichstagsabgeordneter — und ich bin ihr auch heute aufs engste verbunden.
Erschüttert von dem furchtbaren Zusammenbruch der einst so stolzen und starken
deutschen Arbeiterbewegung, aufgeschlossen durch das Geschehen, habe ich
versucht, die Ursachen der kampflosen Niederlage zu erforschen. Dabei bin ich
ganz zwangsläufig auf das Studium der ersten siegreichen proletarischen
Revolution gestoßen, deren gründliche Kenntnis notwendig ist, um den rechten
Weg für die Überwindung der Hitler-Diktatur und die Verhinderung einer
faschistischen Weltherrschaft zu finden.
Ein großes Versäumnis in der Vergangenheit war, daß man sich außerhalb der
Sowjetunion viel zu wenig mit der Geschichte der russischen Revolution, mit den
ihr zugrundeliegenden theoretischen Auseinandersetzungen und mit dem gewaltigen
Ringen um den Aufbau des ersten sozialistischen Arbeiterstaates beschäftigt
hat. Die im Kriege erfolgte Spaltung teilte die Internationale Arbeiterbewegung
in zwei feindliche Lager. Sozialdemokraten und Kommunisten lebten getrennt
voneinander wie in selbstgeschaffenen geistigen Ghettos, unfähig zum
sachlichen, fruchtbaren Meinungsaustausch. Die Mauern, die das
sozialdemokratische und kommunistische Lager trennten, waren so hoch, daß die
einen die Probleme, um die die anderen rangen, überhaupt nicht sahen,
geschweige denn sich mit ihnen ernsthaft auseinandergesetzt hätten. Nur zu
viele Sozialdemokraten übersahen den engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung
der Sowjetunion und dem internationalen Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Sie
sahen die Sowjetunion nur als eine Sache der Kommunisten, denen sie in ihrem
Lande in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden. Sie waren — befangen in der
Vorstellung, daß die Arbeiterklasse nur auf evolutionärem Wege, friedlich, in
die Macht hineinwachsen werde — Gegner der von der Partei Lenins siegreich
durchgeführten Revolution. Sie waren überzeugt davon, daß der in der
Sowjetunion beschrittene Weg mit dem Siege der Konterrevolution enden müsse.
Die Folge dieser Einstellung war die Negation des gewaltigen Ringens im Osten.
Die Sozialdemokratie war der Meinung, daß sie aus der Oktoberrevolution keine
positiven Lehren für ihren Kampf ziehen könne; und sie hielt es darum für
überflüssig, die Geschichte und die Probleme der russischen Revolution zu
studieren. Ihr Interesse an den Vorgängen in der Sowjetunion war durchaus
befriedigt, wenn sie diese oder jene Mängel agitatorisch gegen die
kommunistische Bewegung ausspielen konnte. Viele Sozialdemokraten wurden in
diesem Verhalten bestärkt, weil die kommunistischen Parteien die Sowjetunion
viel zu wenig als eine Sache der gesamten Arbeiterklasse herausstellten.
Das Verhalten der deutschen Nachkriegssozialdemokratie in diesen Fragen wird
treffend durch eine Äußerung Eduard Bernsteins charakterisiert. Im Jahre 1925
über seine Meinung zu den Vorgängen in der Sowjetunion befragt, antwortete er:
„Ich muß — um aufrichtig zu sein — gestehen, daß ich über die Lage in Rußland
im allgemeinen und über den Fall Trotzki im besonderen nur in sehr
unzureichendem Maße unterrichtet bin."
Eduard Bernstein war der bedeutendste Theoretiker des reformistischen Flügels
der Sozialdemokratie. Es war eine besondere Wesensart dieses Mannes, aufrichtig
seine Meinung auszusprechen. Diese Ehrlichkeit veranlaßte ihn, das zu sagen,
was für beinah die gesamte sozialdemokratische Bewegung galt: sie hatte sich
über die Lage in der Sowjetunion und über die Konflikte der Bolschewistischen
Partei mit Trotzki sehr unzureichend unterrichtet. Was wußten Sozialdemokraten
von den Differenzen zwischen Lenin und Trotzki? Von den Auseinandersetzungen um
die Organisationsprinzipien der Partei, um die permanente Revolution? Was
wußten sie von der Bedeutung des Kampfes um die Theorie des Sozialismus in
einem Lande? War es da ein Wunder, daß — unter der Einwirkung der Schriften
Trotzkis — in sozialistischen Kreisen mancherlei Legenden entstanden, unter
anderen die, daß der „beste Kampfgenosse Lenins" durch persönliche Intrigen
Stalins aus der Macht gedrängt worden sei.
Die Legendenbildung wurde noch erleichtert, weil es damals in deutscher Sprache
keine plastischen Darstellungen der Geschichte und der Probleme der
Oktoberrevolution gegeben hat.
Als Sozialdemokrat hatte ich in der Vergangenheit viele Auseinandersetzungen
mit den Kommunisten, übte Kritik an ihrer Politik und auch an Vorgängen in der
Sowjetunion. Wir sind auch jetzt nicht in allem gleicher Meinung, — aber kann
man heute zur Sowjetunion Stellung nehmen, ohne sie im Zusammenhang mit dem
weltgeschichtlichen Geschehen zu betrachten, als die stärkste Macht in der
Friedensfront, als die entscheidende Kraft gegen die Weltherrschaftspläne des
Faschismus!
Einer der Führer der Französischen Sozialistischen Partei, Jean Zyromski,
schrieb anläßlich des XX. Jahrestages der russischen Revolution:
„Es ist mir nicht unbekannt, daß man in 'revolutionären Kreisen', die sich als
die 'äußerste Linke' bezeichnen, ziemlich häufig auf die Meinung stößt, daß die
russische Revolution in voller Entartung begriffen sei und daß sich das
Sowjetrußland von 1937 inmitten einer bürokratischen Entartung befinde. Manche
gehen sogar noch weiter und werfen den Faschismus und den 'Stalinismus' in
einen Topf.
Eine geschickte Kampagne, die weitgehende Verzweigungen hat, wird zu dem Zweck
betrieben, die Arbeiterklasse der Westländer davon zu überzeugen, daß
Sowjetrußland nicht mehr das Rußland der Arbeiter- und Bauernrevolution sei.
Man muß sich energisch gegen derartige Manöver erheben und die schöpferische Bilanz
der Sowjetunion auf den verschiedenen Gebieten ihrer Betätigung aufzeigen.
Man darf nicht blindlings die Unvollkommenheiten und die Fehler abstreiten;
noch sind große Hindernisse da. Man muß sie aber sowohl vom Ausgangspunkt wie
auch von den vorhanden gewesenen Schwierigkeiten aus einschätzen....
Die Sowjetunion ist eine neue Welt im Werden. Mehr denn je gehören ihre
Verteidigung und ihre Beschützung zur internationalen Klassenpflicht des
Weltproletariats."
Aber es handelt sich nicht allein um Interessen des Weltproletariats. Das
Schicksal der Menschheit steht auf dem Spiel. Plutokratie und Faschismus — das
bedeutet den furchtbarsten Krieg aller Zeiten, Vertiefung und Verewigung des
geistigen und physischen Elends. Demokratie und Sozialismus — das bedeutet
Frieden, Rettung vor dem Untergang in die Barbarei, Entfaltung aller
wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte. Die Völker aller Erdteile stehen vor
dieser gewaltigen geschichtlichen Alternative. Und alle Länder sind durch sie
innerlich zerrissen und geschwächt. Nur die UdSSR nicht. Dort gibt es keinen
Faschismus, ihre Völker sind eine geschlossene Einheit angesichts der drohenden
Gefahren und im Kampf um den Aufstieg der Menschheit. Das Spuren mehr oder
minder bewußt die freiheitsliebenden Kreise aller Schichten in allen Ländern:
Arbeiter und Angestellte, Handwerker und Bauern, Intellektuelle und
Gewerbetreibende — kurz, alle jene, die den großen Organismus der Gesellschaft
lebendig erhalten. Aber viel zu wenige haben ein wirklich klares Bild vom Wesen
und von den Lebensnotwendigkeiten der Sowjetunion. Schuld daran trägt nicht
zuletzt der Trotzkismus, der, obwohl arm an Parteigängern, Verwirrung
anzurichten vermag, weil bürgerliche und oft sogar sozialdemokratische
Zeitungen ihm ihre Stimme leihen.
Um so notwendiger ist es, sich mit dem Trotzkismus auseinanderzusetzen. Diese
Aufgabe soll das vorliegende Buch erleichtern. Ich habe mich bemüht, zum
Trotzkismus mit sachlichen Argumenten Stellung zu nehmen, weil ich überzeugt
davon bin, damit der Klärung am besten zu dienen.
Der Verfasser
DIE WELTGESCHICHTLICHE ALTERNATIVE
FÜR ODER WIDER DIE SOWJETUNION
DER TROTZKISMUS NACH DER OKTOBERREVOLUTION
DIE WIRTSCHAFTLICHE UMWANDLUNG DER SOWJETUNION
DIE LÖSUNG DER WIDERSPRÜCHE ZWISCHEN ARBEITERN UND BAUERN
OPFER UND ERFOLGE DES SOZIALISTISCHEN AUFBAUS
SOZIALISMUS IN DER SOWJETUNION
DIE AUSSENPOLITIK DER SOWJETUNION
KONFORMISMUS UND MEINUNGSFREIHEIT
REVOLUTION UND KONTERREVOLUTION
Um das Lesen zu erleichtern, sind Fußnoten weggelassen worden. Anmerkungen und
Quellenangaben sind im Text selbst vermerkt.
Soweit bei den Zitaten nicht besondere Quellen angegeben sind, wurden sie
Broschüren oder (bei Reden) autorisierten Berichten entnommen.
Hervorhebungen in den zitierten Äußerungen sind ausnahmslos vom Verfasser
veranlaßt worden; was jedoch nicht ausschließt, daß die Hervorhebungen oft mit
denen übereinstimmen, die von den Zitierten selbst veranlasst wurden.
Die Menschheit steht an einem Wendepunkt. Krieg und Krise haben
die Grundfesten der kapitalistischen Welt erschüttert. In der Periode des
Niederganges der kapitalistischen Klassenherrschaft ist der Faschismus mobilisiert
worden, um als direkt eingesetzte Gewaltherrschaft oder als drohende Gefahr die
wirtschaftliche Diktatur der Trusts und des Monopolkapitals gegen alle Stürme
zu sichern. Der Faschismus ist keine aus der sozialen Entwicklung zwangsläufig
erwachsende neue Kraft, die zur Höherentwicklung der Menschheit notwendig wäre.
Die bürgerliche Revolution, die die Herrschaft des Feudalismus zerbrach, hatte
eine neue Epoche eingeleitet. Ebenso wird die proletarische Revolution eine
neue höhere Form der menschlichen Gesellschaft schaffen. Der Faschismus Jedoch
hat durch seinen Sieg in Italien und in Deutschland an den bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnissen nichts geändert. Weder Mussolinis
Schwarzhemdenmarsch auf Rom, noch Hitlers „nationale Revolution" haben die
herrschende kapitalistische Gesellschaftsordnung beseitigt. Das faschistische
Regime ist nur die letzte, die gewalttätigste Form zur Aufrechterhaltung der
kapitalistischen Klassenherrschaft; seine Funktion ist, durch brutale
Zerschlagung der Arbeiterbewegung und durch Unterbindung jeder freiheitlichen
Regung den Fortbestand der vom Monopolkapital dirigierten kapitalistischen
Gesellschaftsordnung zu garantieren. Der Faschismus führt die Menschheit in
ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht eine Stufe hinauf, er wirft sie im
Gegenteil weit zurück; er will eine zur Ablösung reife Gesellschaftsordnung
gewaltsam aufrechterhalten.
Im Jahre 1907 hat Jack London in der „Eisernen Ferse" mit einem am
Marxismus geschulten dichterischen Seherblick den Faschismus vorausgesagt. In
diesem Buche schildert der Dichter die Herrschaft der Oligarchie, das blutige
Gewaltregime der „Eisernen Ferse" bis in die Einzelheiten genau so, wie es
der Faschismus uns heute praktisch vorführt. In Jack Londons visionärer Schilderung
kann aber auch die „Eiserne Ferse" nicht auf die Dauer den Sieg des
Sozialismus verhindern. Der Dichter schickt seinem heute nicht mehr wie eine
Vision anmutenden Roman eine Betrachtung voraus, in der rückschauend von der
hohen Warte der sozialistischen Gesellschaft Über die Periode der „Eisernen
Ferse" gesagt wird:
„Die Erhebung der Oligarchie wird stets der Anlaß geheimer Verwunderung für
Historiker und Philosophen bleiben. Andere große historische Ereignisse haben
ihren Platz in der sozialen Entwicklung. Sie waren unvermeidlich, und ihr
Kommen hätte mit derselben Sicherheit vorausgesagt werden können, wie
Astronomen heute die Bewegung der Sterne voraussagen. Ohne diese anderen großen
Ereignisse hätte die soziale Entwicklung sich auch nicht vollziehen können.
Primitiver Kommunismus, Besitzsklaverei, Leibeigenschaft und Lohnsklaverei
waren die notwendigen Meilensteine auf dem Wege der menschlichen Entwicklung.
Es wäre jedoch lächerlich, zu behaupten, daß die Eiserne Ferse ein solcher
notwendiger Meilenstein gewesen sei. Heute wird sie vielmehr als ein Fehltritt
oder Rückschritt zu der gesellschaftlichen Tyrannei beurteilt, die die Erde
früher zur Hölle machte, die aber für die Zeit ebenso notwendig, wie die
'Eiserne Ferse' unnötig war.
So schwarz der Feudalismus auch war, sein Kommen war doch unvermeidlich. Was
sonst als Feudalismus konnte dem Zusammenbruch der großen zentralisierten
Regierungsmaschine folgen, die man als Römisches Kaiserreich kennt? Nicht so
jedoch die Eiserne Ferse. In dem ordnungsgemäßen Vorwärtsschreiten der sozialen
Entwicklung war kein Platz für sie. Sie war weder notwendig, noch
unvermeidlich. Sie wird immer die größte Merkwürdigkeit der Geschichte bleiben,
eine Laune, eine Phantasie, eine Erscheinung, etwas Unerwartetes, Ungeahntes;
und sie sollte den übereiligen politischen Theoretikern von heute, die mit
Gewißheit von sozialen Prozessen sprechen, zur Warnung dienen.
Nach dem Urteil der Soziologen jener Zeit bedeutete der Kapitalismus den
Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, die reife Frucht der bürgerlichen
Revolution. Und wir können dieses Urteil nur unterschreiben. Selbst geistige
Riesen und Kämpfer wie Herbert Spencer glaubten, daß auf dem Schutt des
selbstsüchtigen Kapitalismus die Blume des Zeitalters, die Brüderlichkeit der Menschheit,
erblühen werde. Statt dessen gebar der Kapitalismus, zum Entsetzen für uns, die
wir heute auf jene Zeit zurückblicken, wie für die, die damals lebten, in
seiner Überreife einen ungeheuren Sproß, die Oligarchie."
Die Herrschaft der Oligarchie, der „Eisernen Ferse", oder — wie wir heute
sagen — des Faschismus, ist wahrlich keine geschichtliche Notwendigkeit. Sie
kann verhindert werden. Aber sie ist nicht unmöglich, weil es in der Geschichte
keine zwangsläufigen Lösungen gibt. Der Niedergang einer Gesellschaftsordnung
führt nur dann zu Ihrem völligen Zusammenbruch, wenn die geschichtlich zu ihrer
Ablösung berufenen Kräfte sich dieser Berufung würdig erweisen; wenn sie stark
genug sind, in revolutionären Kämpfen die überholte Ordnung zu stürzen und die Bahn
für eine neue, höhere Gesellschaftsform freizumachen. Der fatalistische Glaube
von dem automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus, von der zwangsläufig
erfolgenden unmittelbaren Ablösung der kapitalistischen Klassenherrschaft durch
den Sozialismus ist durch die Siege des Faschismus in einzelnen Ländern
widerlegt worden. Aber andererseits ist durch den Sieg der proletarischen
Revolution in dem ehemaligen Zarenreich ebenso widerlegt, daß der Faschismus
unvermeidlich, daß er geschichtlich notwendig sei. Der Beweis ist erbracht, daß
der Faschismus verhindert, daß es dem Kapitalismus unmöglich gemacht werden
kann, seine wankende Herrschaft in veränderter Form durch den Einsatz des
Faschismus aufrechtzuerhalten. Wo die zum Bau einer neuen, höheren Gesellschaftsordnung
berufene geschichtliche Kraft — die Arbeiterklasse — sich in entscheidenden
Situationen als zielbewußt und stark genug erwies, hat sie das Aufkommen des
Faschismus verhindert und die kapitalistische Klassenherrschaft gestürzt. In
den Ländern jedoch, in denen die Arbeiterklasse in den für die kapitalistische
Klassenherrschaft kritischen Situationen ihrer geschichtlichen Aufgabe nicht
gewachsen war, hat der Faschismus gesiegt.
Die objektive Situation in unserer Zeit ist also: die Arbeiterklasse kann
ebenso siegen wie der Faschismus. Beiden war es möglich, Teilsiege zu erringen.
Der endgültige Ausgang der nächsten Phase des Kampfes wird von der Zielklarheit
und der Stärke der miteinander ringenden entscheidenden Gegner abhängen. Nach
den Teilsiegen der Arbeiterklasse auf der einen, und des Faschismus auf der
anderen Seite spitzen sich die Gegensätze zwangsläufig immer mehr zu. Die
Entwicklung drängt zu einer endgültigen, die Zukunft der ganzen Menschheit
bestimmenden Entscheidung. Die Frage, die die Geschichte den Menschen unserer
Epoche stellt, ist eindeutig: Soll die eiserne Ferse des Faschismus Freiheit
und Fortschritt zerstampfen, um die Diktatur des Trust- und Monopolkapitals
über entrechtete, in die Hölle der Barbarei gepferchte Sklavenherden gewaltsam
aufrechtzuerhalten, — oder soll nach dem Sturz der kapitalistischen
Klassenherrschaft die Bahn für den Sozialismus, für eine neue, höhere
Gesellschaftsform, freigemacht werden, die die Menschheit befreit und zu Glück
und Wohlstand führt.
In allen kapitalistischen Ländern wird darum gekämpft, ob die niedergehende
kapitalistische Klassenherrschaft vom Faschismus oder vom Sozialismus abgelöst
wird. Der historische Kampf zwischen Faschismus und Sozialismus wird aber nicht
in einem Lande entschieden, die endgültige Entscheidung fällt in der Arena der
Weltpolitik. Sie wird zugunsten des Sozialismus ausfallen, wenn die
Arbeiterbewegung aller Länder in diesem Kampfe zusammenwirkt, wenn sie einig
ist und zielbewußt handelt. Der Kampf für den Sozialismus ist nicht die Sache
eines Landes und einer Partei, er ist vielmehr die Sache der gesamten
internationalen Arbeiterbewegung, ohne Rücksicht auf ihre Partei- und
Fraktionsunterschiede.
„Die moderne Zivilisation kann sich eine neue Depression so wenig
leisten, wie einen neuen Krieg. Sie würde unter jener so sicher zusammenbrechen
wie unter dieser!"
Anfang 1937 standen diese Sätze in der „Times", dem führenden
konservativen Organ Englands. Trotz den furchtbaren Lehren, die der letzte
„große Krieg" der Menschheit erteilte, sind die Ursachen der Kriege nicht
beseitigt worden. Der Brand wurde nicht völlig gelöscht, der Brandherd nur
zugedeckt. Die Glut schwelte weiter, breitete sich aus, und es bedarf nur eines
scharfen Windstoßes, um aus der Glut ein loderndes, sengendes Flammenmeer zu
entfachen, das die Welt verbrennt. „Europa gleicht einem Pulvermagazin, in dem
die Diktatoren ununterbrochen Fackelzüge veranstalten." So hat Lloyd
George die Situation unserer Zeit charakterisiert. Die faschistischen
Diktatoren haben die Welt erst durch ihre wahnsinnige Aufrüstung in ein
Pulvermagazin verwandelt.
Sie sind die aggresivsten subjektiven Faktoren, die durch ihr Handeln die
objektiven Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß der Funke einer Fackel
genügt, um ganz Europa in die Luft zu sprengen. Es wird unter dem Druck der
akuten Kriegsgefahr in der Öffentlichkeit viel darüber orakelt, ob die
faschistischen Diktaturen überhaupt Krieg führen können, ob sie für eine
kriegerische Auseinandersetzung fertig sind. Alle diese Betrachtungen sind
müßig. Kriegsfertig ist ein Land nur, wenn es allen seinen Gegnern militärisch
absolut überlegen ist. Ob ein Land in diesem Sinne kriegsfertig ist, hängt
jedoch nicht nur von seinem Tun, sondern auch von dem Handeln seiner
eventuellen Kriegsgegner ab. Kriegsfertig sind die faschistischen Diktaturen
nicht; aber das ist nicht die geringste Garantie für die Erhaltung des
Friedens. Die Wahrheit ist, daß durch das Treiben der aggressivsten Kräfte die
objektive Situation für den Kriegsausbruch so reif geworden ist, daß der
Zeitpunkt des Losschlagens nicht einmal mehr von den subjektiven Faktoren
bestimmt werden kann, die Europa in ein Pulvermagazin verwandelt haben. Wenn
nicht stärkere Mächte die faschistischen Diktatoren endlich an der Fortführung
ihrer Fackelzüge im Pulvermagazin hindern, dann wird ein Funke eines Tages
zünden, und die Menschheit wird von dem furchtbarsten aller Kriege heimgesucht
werden.
Nicht minder groß ist die Krisengefahr. Hinter einer glänzenden Fassade der
Riesenprofite des Monopolkapitals lauert das Gespenst der neuen Krise. Der
konjunkturelle Aufschwung, der der tiefsten wirtschaftlichen Krise des
kapitalistischen Systems folgte, hat keine stabilen Verhältnisse geschaffen.
Währungsexperimente, Aufrüstung und Warenaufspeicherung für den Krieg haben das
Tempo der Konjunktur bestimmt oder beschleunigt. Die Steigerung der Produktion
erwächst auf einer schwachen, kranken Grundlage. Obwohl die industrielle
Produktion der kapitalistischen Länder im Jahre 1936 großer war als im letzten
Konjunkturjahr vor der großen Krise, war der Welthandel 1936 noch um 14%
niedriger als 1929. Auch die Zahl der Beschäftigten war 1936 noch erheblich
geringer als im letzten Konjunkturjahre. 1936 gab es in den kapitalistischen
Ländern, die Arbeitslose registrieren, schätzungsweise immer noch 18 Millionen
Erwerbslose. Die Spekulation prosperiert mehr als die Produktion. Börsenkrachs
inmitten der Konjunktur sind Symptome für die Unsicherheit des kapitalistischen
Systems, das es seinen Anhängern immer schwerer macht, stabilen, garantierten
Reichtum zu schaffen. Unter der Oberfläche gärt und brodelt es. Der Ausbruch
des Vulkans kann über Nacht das ganze schöne Gebäude der Konjunktur
verschütten, und die Welt in eine neue tiefe und nachhaltige Wirtschaftskrise
stürzen.
Krieg oder neue Wirtschaftskrise — die nach dem Urteil eines der führenden
Blätter des Kapitalismus den Untergang der modernen Zivilisation bringen würden
— können täglich wie ein verheerendes Sturmgewitter über die Völker losbrechen.
Der wachsende Druck der im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung
unlösbaren Widersprüche hat die Welt so in Unruhe und Unsicherheit versetzt,
daß die Menschen nur mit Bangen an die Zukunft denken.
Die herrschenden kapitalistischen Klassen fürchten zwar die unvermeidlichen
Auswirkungen ihrer einseitigen Klassenherrschaft, aber sie haben weder den Mut,
noch den Willen, noch die Fähigkeit, die Ursachen, die Krieg und Krise
heraufbeschwören, auszumerzen. Denn die beiden Übel, die die moderne
Zivilisation bedrohen, können nur durch weitgehenden Umbau der bestehenden
Gesellschaftsordnung beseitigt werden. Die Mächtigen dieser Erde aber wehren
sich gegen alle Änderungen, die ihre Herrschaftsstellung bedrohen. Ihr
Machtapparat, der zu schwach ist, Kriegs- und Krisengefahr zu bannen, ist aber
noch stark genug, die für den ruhigen, friedlichen Aufstieg der Menschheit
lebensnotwendigen Änderungen der bedrohten Gesellschaftsordnung zu verhindern.
Das eben ist die besondere Zwiespältigkeit in unserer Epoche, die die Welt in
eine stete Unruhe versetzt: der Kapitalismus kann sich nur an der Macht halten,
wenn er die einzig wirksamen Mittel zur Beseitigung der beiden Übel
unterbindet, deren Vorhandensein seine Herrschaftsstellung ständig in
wachsendem Maße bedroht.
Seit dem Jahre
1914 hat sich das Gesicht der Welt wesentlich verändert. Die Erschütterungen,
die der letzte Krieg auslöste, waren gewaltig, aber doch nicht so tiefgehend,
daß aus dem Chaos des Krieges in stürmischem Tempo eine neue bessere Welt
herausgewachsen wäre. Die Periode der Nachkriegszeit bekräftigt die Richtigkeit
der marxschen Lehre, daß es keine permanente Krise gibt, die automatisch zum
Zusammenbruch des kapitalistischen Systems führen muß. Der Kapitalismus hat in
allen seinen Krisen Auswegmöglichkeiten; sein Ende kann nur herbeigeführt
werden, wenn die Arbeiterklasse stark genug ist, ihm die Auswege zu versperren
und ihn im Kampfe zu überwinden. Die sozialistische Gesellschaft entsteht nicht
wie ein Phönix aus der Asche; sie entwickelt sich nur mühselig, in harten,
schweren Kämpfen aus dem Schoße der kapitalistischen Gesellschaft. Der Weg zum
Sozialismus ist nicht gradlinig.
„Proletarische Revolutionen ...", schrieb Karl Marx im 18. Brumaire,
„kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem
eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von
neuem anzufangen, verhöhnen grausam gründlich die Halbheiten, Schwächen und
Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur
niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge, und sich riesenhafter
ihnen gegenüber wiederaufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der
unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation
geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst
rufen: hie rhodus, hie salta!"
Die Nachkriegsperiode ist erfüllt von harten Kämpfen um den Weg in die
Freiheit. Und wahrlich: in diesen Kämpfen gab es Siege und Niederlagen, gab es
Aufstieg und Absturz, Vormarsch und Rückzug, — und allmählich erst bilden sich
festere Fronten für die unausweichlichen entscheidenden Kämpfe. Die Teilsiege,
die Arbeiterklasse und Faschismus an verschiedenen Frontstellen errangen, sind
wichtige Ergebnisse, die den weiteren Verlauf der Kämpfe entscheidend
beeinflussen.
In dem Teil der Welt, in dem die Arbeiterklasse zielbewußt die proletarische
Revolution vorbereitete, in dem sie die Erschütterungen der kapitalistischen
Klassenherrschaft durch den Krieg für ihren revolutionären Machtkampf
auswertete, hat das Proletariat die politische Macht erobert und in harten
Kämpfen gegen alle Widerstände und Interventionen gehalten. Der Sieg des
russischen Proletariats ermöglichte den Aufbau des ersten Arbeiterstaates. Die
Verwirklichung sozialistischer Prinzipien machte die Sowjetunion zu einem
kräftigen, sich planmäßig aufwärts entwickelnden Land, das zu einem mächtigen
Faktor in der Weltpolitik wurde.
Neben der gesunden UdSSR steht die kranke kapitalistische Welt. Die nach dem
Kriege in den kapitalistischen Ländern einsetzende, trotz vorübergehenden
Konjukturen sich immer mehr verschärfende Wirtschaftskrise hat die
strukturellen Fehler des kapitalistischen Systems aufgezeigt. Voraussetzungen für
die proletarische Revolution waren auch in anderen Ländern gegeben, aber die
Uneinigkeit und Zerrissenheit der Weltarbeiterklasse, der erbitterte Kampf, den
die einzelnen Gruppen gegeneinander führten, haben die proletarische Bewegung
in den Nachkriegsjahren aktionsunfähig gemacht. Ihr fehlte in entscheidenden
Situationen die Kraft, den herrschenden kapitalistischen Mächten den Ausweg aus
der tiefsten und nachhaltigsten Krise ihres Systems zu versperren. So war es
dem Kapitalismus — über alle seine Krisen hinweg — möglich, in wichtigen
Ländern seine Herrschaftsstellung zu behaupten.
In einzelnen dieser Länder, in denen die Erschütterung der Nachkriegskrisen die
tiefsten Wirkungen auslöste, in denen die objektive Situation für die soziale
Revolution am reifsten war, versagte die Arbeiterklasse; dort waren aber auch
die monopolkapitalistischen Mächte unfähig, ihre Herrschaft mit normalen
Mitteln zu behaupten. Sie haben darum den Faschismus mobilisiert und zur Macht
geführt, um mit Hilfe des faschistischen Terrorregimes den offenen Widerstand
der Arbeiterklasse gewaltsam zu zerbrechen und den Fortbestand der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu sichern.
Die Stabilisierung eines wirtschaftlich und militärisch mächtigen
sozialistischen Arbeiterstaates auf der einen, das Auftreten von rücksichtslos
die Arbeiterklasse niederknüppelnden faschistischen Diktaturen auf der anderen
Seite — das sind die neuen Fakten, die die weltpolitische Situation gegenüber
1914 wesentlich verändert haben.
Die veränderte weltpolitische Situation bestimmt die
Frontenbildung und die Haltung der verschiedenen Mächtegruppen. Der Sieg des
Faschismus in einzelnen Ländern hat zwar keine Epoche einer neuen
gesellschaftlichen Ordnung eingeleitet, aber er hat doch eine andere Note in
die Weltpolitik gebracht. Er bedroht durch die Entfesselung hemmungsloser
imperialistischer Tendenzen die nationalen Interessen aller nichtfaschistischen
Staaten; er hat durch seine aggressive provokatorische Außenpolitik die Welt in
eine Waffenfabrik verwandelt und die Menschheit an den Abgrund des Krieges
geführt. Die nächsten Entscheidungen fallen darum im Kampfe um die Verhinderung
des von den faschistischen Diktaturen systematisch vorbereiteten großen
Krieges. Die endgültigen Fronten für diesen Kampf sind noch nicht formiert.
Fest stehen jedoch bereits ihre tragenden Grundpfeiler: in der Friedensfront
die UdSSR, in der Kriegsfront die faschistischen Diktaturen. Zwischen diesen
beiden schwankt die Gruppe der demokratisch-kapitalistischen Staaten unsicher
hin und her.
Fest und unerschütterlich wie ein Fels im tosenden Meer steht der Friedenswille
der Sowjetunion in dieser von Kriegsgefahr umdrohten Zeit. Die Friedenspolitik
der UdSSR ist ehrlich und eindeutig. Ihre Außenpolitik ist weder aggressiv,
noch imperialistisch. Sie bedroht an keiner Stelle die nationalen Interessen
anderer Völker. Die UdSSR verfügt in ihrem riesigen Gebiete über
unerschöpfliche Rohstoffquellen. Sie produziert alles, was zur Befriedigung der
Bedürfnisse aller Bürger ihres Landes notwendig ist. Der Sozialismus, dessen
Beispiel die kapitalistischen Klassen in den anderen Ländern als eine Bedrohung
ihrer Herrschaftsstellung empfinden, hat die Welt von dem Druck der im zaristischen
Rußland stark vertretenen imperialistischen Tendenzen befreit. Die Vernichtung
der ausbeutenden Klassen und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel haben
die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß alle in der Sowjetunion erzeugten
Güter von den Erzeugern selbst verbraucht werden können. Die
Produktionsüberschüsse, die der Kapitalismus in anderen Ländern um meines
Profits willen nicht vom eigenen Volk verbrauchen laßt, und für die er
Absatzmärkte in den kapitalistisch noch nicht völlig erschlossenen Ländern zu
erzwingen versucht, werden in der Sowjetunion dem eigenen Volke zugänglich
gemacht. Für die UdSSR entfällt der aus dem kapitalistischen System erwachsende
Zwang, sich mit anderen Staaten um die Absatzmärkte zu raufen. Außerdem hat die
Umwandlung des ehemals rückständigen Agrarlandes in ein fortgeschrittenes
Industrieland mit einer hochmechanisierten Landwirtschaft es der Sowjetunion
ermöglicht, die gewaltigen Rohstoffquellen ihres Riesengebietes auszuwerten,
durch stete Steigerung der industriellen und agrarischen Produktion die Menge
der Lebens- und Bedarfsgüter zu erhöhen. Die UdSSR kann aus eigener Kraft, nur
mit den in ihrem Lande vorhandenen Mitteln, die wirtschaftlichen und
kulturellen Bedürfnisse der innerhalb ihrer Grenzen lebenden Menschen in
wachsendem Maße befriedigen. Das sozialistische Wirtschaftssystem, unter dem
die kapitalistischen Profitinteressen völlig ausgeschaltet werden, ermöglicht
zugleich mit der planmäßigen ungestörten Vermehrung der Güter auch die gerechte
Verteilung derselben. Der Beweis ist erbracht, daß unter dem Sozialismus ein
Volk glücklich und reich leben kann, ohne andere Völker zu bedrohen; der Beweis
ist erbracht, daß unter der Herrschaft des Sozialismus der Imperialismus, der
eine ständige Bedrohung für den Frieden der Welt ist, seine Lebensbasis
verliert und sterben muß. Die sozialistische Sowjetunion ist frei von allen
imperialistischen Interessen; sie braucht weder neuen Raum, noch
Rohstoffquellen zu erobern, sie braucht keinen ihrer Nachbarn mit Krieg zu bedrohen.
Die UdSSR kann den Wohlstand der auf ihrem Gebiet lebenden Völker ständig und
am sichersten dann steigern, wenn der Frieden erhalten bleibt, wenn sie ihre
friedliche sozialistische Aufbauarbeit ungestört fortsetzen kann. Der
sozialistische Staat, der die kapitalistische Klassenherrschaft überwunden hat,
kann im Frieden für sein Volk und die Menschheit viel größere Siege erringen
als in dem erfolgreichsten Kriege. Die Sowjetunion ist darum aus ureigenem
Interesse der stärkste Garant des Friedens; sie wirft ihre ganze Macht in die
Wagschale, um der Welt den Frieden zu erhalten.
Nicht zuletzt darum betrachten die faschistischen Diktaturen die UdSSR als
ihren gefährlichsten Gegner. Weil sie — gebunden an die kapitalistische
Gesellschaftsordnung — unfähig sind, in friedlicher Aufbauarbeit die
wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Arbeiter, Bauern und
Mittelständler ihrer Länder zu befriedigen, suchen sie die Unruhe und
Unzufriedenheit der von ihnen beherrschten Volksmassen durch siegreiche Eroberungskriege
zu Überwinden. Nach Hitlers Erzählungen ist die Ursache aller Leiden des
deutschen Volkes der Mangel an Raum und an eigenen Rohstoffquellen. Die
Wahrheit dagegen ist, daß auch Deutschland über genug Siedlungsland, über große
Reichtümer verfügt, und daß ein friedfertiges Deutschland im friedlichen
Güteraustausch mit anderen Völkern alle von ihm benötigten Rohstoffe bekommen
kann. Das deutsche Volk leidet nicht darum Mangel, weil es in seinem Vaterlande
an Lebens- und Bedarfsgütern fehlt, sondern weil unter der faschistischen
Diktatur mit den brutalsten terroristischen Mitteln ganz einseitig nur die
monopolkapitalistischen Klasseninteressen vertreten werden. In Deutschland
fehlen nicht Raum und Güter, es fehlen nur die richtige Verteilung des Bodens und
die gerechte Verteilung des Ertrages der von dem arbeitsamen deutschen Volke
geleisteten Arbeit. Die Anwendung sozialistischer Wirtschaftsmethoden würde in
dem wirtschaftlich und kulturell hochentwickelten Deutschland viel schneller
noch und viel reichlicher als in dem ehemals so rückständigen Zarenreich
ermöglichen, die Bedürfnisse Aller zu befriedigen. Nur die gewaltsame
Verhinderung der gerechten Verteilung schafft den Mangel, den das faschistische
Regime nicht durch Maßnahmen im Innern des Landes beseitigen kann und den es
darum durch das Hinübergreifen über die Landesgrenzen, durch Eroberungen,
beheben will.
Der Ruf nach Siedlungsland und nach Kolonien bedroht unmittelbar die nationalen
und imperialistischen Interessen der anderen Staaten. So scharf auch der
Gegensatz zwischen der kriegswütigen Hitlerdiktatur und der friedenswilligen
Sowjetunion im Kampf um die Verhinderung des Krieges ist, Hitlers
Eroberungspläne bedrohen viel unmittelbarer den Südosten und Westen Europas wie
auch das englische Imperium. Die „Verständigungs"-reden an die Westmächte
sind nichts als taktische Winkelzüge, die ebenso über die nächsten Absichten
hinwegtäuschen sollen, wie die ständigen Aufrufe zum heiligen Krieg gegen den
Bolschewismus. Könnte Hitler zuerst die ukrainische Kornkammer holen und die in
„Mein Kampf" aufgezählten Eroberungsabsichten im Osten verwirklichen, so
würde er angesichts seines abgrundtiefen Hasses gegen den sozialistischen
Arbeiterstaat seine Zeit nicht mit Hetzreden gegen die Sowjetunion vergeuden; er
hätte seinen Ritt gen Osten schon längst durchgeführt. Aber das heißt nicht,
daß Hitler seinen imperialistischen Raubkrieg gegen die Sowjetunion aufgibt. Er
hat ihn nur vertagt, weil die große militärische, wirtschaftliche und
ideologische Macht der UdSSR ihm zunächst noch als ein zu großes Hindernis
erscheint. Die Generale der Bendlerstraße wissen, daß ein nur auf die Kräfte
des faschistischen Deutschland gestützter Überfall auf die Sowjetunion an dem
gewaltigen Widerstand der Roten Armee und der sowjetischen Völker scheitern
würde. Darum will Hitler vorerst die - Hegemonie in Europa erzwingen, um ganz
Europa für seinen Kriegszug gegen den „Erbfeind" des Faschismus zu
mobilisieren. Der Drang zur faschistischen Vormachtstellung in Europa aber
bedroht unmittelbar alle anderen Länder.
Hitler und seine Paladine sehen in der Verwirklichung ihrer Eroberungspläne die
Voraussetzung für die Stabilisierung ihrer Diktatur in Deutschland. Sie hoffen,
vieles von ihren weitgehenden außenpolitischen Zielen durch Drohungen und
Provokationen zu erreichen. Aber sie werden — wenn Drohungen allein nicht mehr
genügen — losschlagen. Der Krieg ist ein unablösbares Kampfmittel der
faschistischen Diktaturen; sie sind die aggressivsten Verfechter
imperialistischer Eroberungspolitik, sie sind die Träger der Kriegsfront. Die
Durchsetzung ihrer Absichten kann nur durch die Bildung eines übermächtigen
Friedensblockes verhindert werden.
Zwischen Kriegs- und Friedensfront schwanken die demokratischen
Großmächte. Ihr Schwanken schafft eine unklare, völlig unberechenbare Situation
in der internationalen Politik. So fest und zuverlässig — allerdings aus völlig
entgegengesetzten ökonomischen, politischen und ethischen Interessen — die Sowjetunion
in der Friedensfront und die faschistischen Diktaturen in der Kriegsfront
stehen, so unsicher ist die Haltung der demokratischen Großmächte. Die Haltung
aller demokratischen Staaten wird weitgehend von England beeinflußt, von dem
Frankreich sich nicht trennen will, und von dem die kleineren Staaten die
Garantie ihres Bestandes gegenüber faschistischen Vorstößen erwarten. Englands
schwankende Politik wirkt gegen die Bildung eines festen Friedensblockes; es
wird wahrscheinlich bis zum letzten Augenblick unklar bleiben, in welcher Front
England kämpft, wenn es den für den Frieden wirkenden Kräften nicht gelingt,
den Krieg zu verhindern.
Die demokratischen Staaten wollen in der gegenwärtigen Situation keinen Krieg;
ihre schwache Haltung gegenüber den faschistischen Provokationen wird nicht
unwesentlich auch von dem Wunsche bestimmt, den Frieden zu erhalten. Die
demokratischen Großmächte haben für ihre kriegsgegnerische Haltung andere
Gründe als die Sowjetunion. Das ist jedoch nicht entscheidend. Wichtiger ist
die Tatsache, daß in der aktuellsten Frage der Weltpolitik, im Kampf um die
Verhinderung des Krieges, ein übereinstimmender Wille als gemeinsame Grundlage
für das Zusammengehen der demokratischen Großmächte mit der Sowjetunion gegeben
ist. Die demokratischen Staaten wissen, daß die faschistischen Diktaturen den
Weltkrieg vorbereiten, den sie vermeiden wollen, und den sie fürchten, weil er
ihren Bestand und die in ihren Ländern herrschende Ordnung bedroht. Trotzdem
sträuben sich die nichtfaschistischen Staaten, eindeutig an die Seite der
Sowjetunion zu treten und sich in die Friedensfront gegen die faschistischen
Kriegstreiber einzureihen; und so mußten sie Schritt um Schritt vor den
außenpolitischen Provokationen der faschistischen Diktaturen zurückweichen; sie
haben diese dadurch zu immer neuen Provokationen ermuntert.
Das schwächliche Verhalten der demokratischen Großmächte stärkt die Position
der faschistischen Kriegstreiber, es vergrößert die Kriegsgefahr, die die
moderne Zivilisation bedroht. Die Wirkung der schwankenden Politik Englands und
Frankreichs ist der Welt bei dem imperialistischen Vorstoß Mussolinis gegen
Abessinien und im Krieg um die Freiheit des spanischen Volkes plastisch
demonstriert worden. Das aktive Eingreifen der faschistischen Mächte in den von
ihnen entfachten spanischen Bürgerkrieg, die unverkennbaren imperialistischen
Eroberungsabsichten des italienischen und deutschen Faschismus im Mittelmeer
und in Marokko; der Versuch, sich durch den Sieg des Vasallen Franco Rohstoffe
zu sichern, Spanien mit seinem afrikanischen Hinterland zu einer Kolonie und zu
einer Aufmarschbasis der faschistischen Staaten für weitere imperialistische
Vorstöße zu machen, — das alles bedroht nicht nur den Weltfrieden, sondern ist
eindeutig gegen die nationalen Interessen Englands und Frankreichs gerichtet.
Vor 1914 hätte eine so offenkundige Attacke zweifellos zu energischen
Gegenmaßnahmen geführt, und, wenn diese nicht den gewünschten Erfolg gehabt
hätten, zum Abwehrkrieg. 1937 aber haben England und Frankreich die früher
selbstverständlich gewesene Energie vermissen lassen; sie haben alle Vorstöße
gegen ihre Interessen ohne tatkräftige Gegenwehr hingenommen.
Was aber sind die Gründe dafür, daß die demokratischen Großmächte sich die
faschistischen Vorstöße gefallen lassen, ohne sofort zu energischen
Gegenaktionen zu greifen? Warum schwanken die demokratischen Staaten noch am
Vorabend weltgeschichtlicher Entscheidungen unsicher hin und her?
Diese Fragen können nur dann zuverlässig beantwortet werden, wenn man den
Dingen auf den Grund geht. wenn man die inneren Zusammenhänge der
weltpolitischen Situation und der Herrschaftsverhältnisse in den demokratischen
Ländern klarlegt. Über die Ursache der Schwankungen wird viel orakelt. Einmal
soll die zeitweise Vernachlässigung der Rüstung und die dadurch bedingte
militärische Schwäche Großbritanniens zum Ausweichen gezwungen haben. Natürlich
ist die militärische Schlagkraft eines Landes nicht unwichtig für sein
außenpolitisches Handeln, aber sie ist nicht die letzte entscheidende Ursache
für Englands schwankende Haltung. Ein andermal sollen besonders raffinierte
Versprechungen und geschickte taktische Schachzüge der faschistischen
Diktatoren das Einschwenken der demokratischen Staaten in die Friedensfront
verhindern. Jedoch alle diese spekulativen Betrachtungen über die endgültige
Stellung der zwischen Kriegs- und Friedensfront hin- und herpendelnden Staaten
sind müßig. Die Analyse der internationalen Situation ergibt, daß das Schwanken
der demokratischen Staaten nicht nur taktischen Erwägungen entspringt, sondern
tiefere, grundsätzliche Ursachen hat, die nicht durch taktische Winkelzüge
aufgehoben werden können.
Das Entscheidende ist, daß sich seit dem letzten Kriege die weltpolitische
Situation grundlegend geändert hat, und daß auf dieser neuen Basis die
demokratischen Staaten, in denen der Kapitalismus noch herrscht, ihre
außenpolitischen Entscheidungen nach neuen, der veränderten Situation
angepaßten Prinzipien treffen. Vor 1914 war die Situation für die kapitalistischen
Staaten wesentlich unkomplizierter als heute; sie ließen ihre Aussenpolitik
eindeutig nur von ihren nationalen und imperialistischen Interessen bestimmen.
Nach dem Auftreten zweier neuer Fakten in der Weltpolitik — der faschistischen
Diktaturen auf der einen, und des sozialistischen Arbeiterstaates auf der
anderen Seite — spielen andere, auch weltanschauliche Interessen eine größere
Rolle; heute sind die kapitalistischen Machthaber in den demokratischen Staaten
unsicher, ob sie die Entscheidung ihrer Aussenpolitik von ihrem nationalen und
imperialistischen, oder von ihren engeren, besonderen kapitalistischen
Klasseninteressen bestimmen lassen sollen. Die Konsequenz, die die
kapitalistischen Machthaber in den demokratischen Staaten aus der veränderten
weltpolitischen Situation gezogen haben, ist ihr Schwanken zwischen Kriegs- und
Friedensfront. Die Konsequenz, die die Volker der demokratischen Staaten aus
der veränderten weltpolitischen Situation ziehen müssen, ist ihr festes und
einiges Auftreten für die Friedensfront, für das eindeutige Eintreten ihrer
Vaterländer in die Kampffront gegen die faschistischen Kriegstreiber.
Vor dem letzten Weltkrieg herrschte in allen Ländern der Kapitalismus. Die
verschiedenen Formen, unter denen er in den entscheidenden Staaten — in
England, Deutschland, Frankreich, Rußland und den USA — seine Herrschaft
ausübte, änderte nichts an der Tatsache, daß sich die wesentlichen Gegensätze
der Großmächte aus dem Kampf der Kapitalisten um den Weltmarkt herausbildeten.
Die Parolen, „Gegen den Zarismus", oder „Gegen den wilhelminischen
Absolutismus" Krieg zu führen, entsprangen nicht weltanschaulichen
Gegensätzen, sondern dem Bedürfnis, durch Vortäuschung weltanschaulicher
Gegensätze die Arbeitermassen der verschiedenen Länder leichter für die
gegenseitige Bekämpfung auf den Schlachtfeldern mobilisieren zu können. Die
blutige Knute des Zarismus hat die deutschen Kapitalisten ebensowenig gestört,
wie das undemokratische Regime des wilhelminischen Deutschland die Kapitalisten
der westeuropäischen Demokratien störte. Die Entente gegen Deutschland war
gewiß nicht aus weltanschaulichen Gründen zustande gekommen, den Anstoß zu
ihrer Bildung gab die imperialistische Politik des wilhelminischen Deutschland,
die — fast ebenso aggressiv wie Hitlers Außenpolitik — andere Großmächte
bedrohte. Damals führte diese Bedrohung zum Zusammenschluß und schließlich zum
Kriege. Der Feind wurde ganz eindeutig nur nach den nationalen und
imperialistischen Interessen der kapitalistischen Länder bestimmt. Gegen das Land,
das diese bedrohte, schlössen sich die anderen zusammen. Gleichgültig, welche
Staatsform in den feindlichen und in den verbündeten Ländern herrschte. Da die
Herrschaft der Regierenden in allen Ländern auf der gleichen ökonomischen Basis
beruhte, war die verschiedene Staatsform kein Hindernis für die klare Bildung
der Fronten nur nach den nationalen und imperialistischen Interessen. Darum war
es gar nicht verwunderlich, daß das zaristische Rußland und das wilhelminische
Deutschland sich im Kriege als Gegner gegenüber standen, während die Entente
zwischen dem republikanischen Frankreich und dem zaristischen Rußland ohne
große Schwierigkeiten wirksam werden konnte.
Die Geschichtsepoche, in der die kapitalistischen Staaten ihre außenpolitischen
Entscheidungen ausschließlich nach ihren nationalen und imperialistischen
Interessen bestimmten, ist mit dem endgültigen Siege der proletarischen
Revolution in einem Lande abgeschlossen. Jetzt beruht die Herrschaft der
Regierenden nicht mehr In allen Ländern auf der gleichen ökonomischen Basis.
Auf einem Sechstel der Erde existiert die kapitalistische Klassenherrschaft
nicht mehr. In einem riesigen Gebiet herrscht der Sozialismus, der aus dem
alten morschen Zarenreich einen wirtschaftlich und militärisch starken Staat gemacht
hat. Der erste Arbeiterstaat repräsentiert in der Weltpolitik eine gewaltige
Macht, mit der die Großmächte in allen Kontinenten ernsthaft rechnen müssen.
Der Sieg des Sozialismus in einem Lande hat aber nicht nur das Zarenreich
umgestaltet, die Funktion Rußlands in der Weltpolitik und damit die
weltpolitische Situation, er hat auch die Rolle der Arbeiterklasse in der
Weltpolitik entscheidend verändert.
Die internationale Arbeiterbewegung war ohne Zweifel auch schon vor 1914 eine
Macht, mit der die Kapitalisten bei den Klassenkämpfen in ihren Ländern
ernsthaft rechnen mußten. Jedoch die Weltarbeiterklasse war noch nicht reif und
stark genug, um selbständige internationale Politik zu betreiben und als
handelnde Macht in die weltpolitischen Ereignisse unmittelbar einzugreifen. Der
Zusammenbruch der sozialistischen Arbeiterinternationale im August 1914 bewies,
daß es ihr damals noch an theoretischer Klarheit, an Zielbewußtheit und an
Kraft fehlte, um die der Weltarbeiterklasse von der Geschichte gestellte
Aufgabe zu erfüllen. Die Voraussetzungen für die Überwindung der 1914 hemmenden
Mängel sind jetzt gegeben. Mit dem Auftreten eines mächtigen sozialistischen
Arbeiterstaates in der Weltpolitik ist die Arbeiterklasse weit über ihre
Bedeutung von 1914 hinausgeschritten. Erst jetzt wurde sie — zum ersten Male in
der Geschichte — zu einer unmittelbar geschichtsbildenden Kraft, die ihre Macht
auch in der internationalen Politik direkt einzusetzen vermag. Die
Weltarbeiterklasse kann heute den weiteren Verlauf der Weltgeschichte
entscheidend mitbestimmen. Die herrschenden kapitalistischen Mächte haben die
neue geschichtliche Rolle der Arbeiterklasse in der Weltpolitik viel besser
begriffen als viele Sozialisten; sie lassen darum bei ihren außenpolitischen
Entscheidungen neuerdings auch ihre unmittelbaren inneren Klasseninteressen und
weltanschauliche Gründe mitsprechen. Die internationale Arbeiterbewegung muß
aus den veränderten Verhältnissen ebenso Lehren ziehen wie ihr kapitalistischer
Gegenspieler.
Es ist nicht zwangsläufig, daß die Arbeiterklasse den weiteren Verlauf der
weltgeschichtlichen Entscheidung ausschlaggebend bestimmen muß; sie kann das
nur. wenn sie einig und geschlossen ist und in unzertrennlicher Verbundenheit
mit dem ersten sozialistischen Arbeiterstaat handelt. Nur dann wird sie ihre
volle Kraft ausnützen und die ihr von der Geschichte gestellte Aufgabe erfüllen
können: den Weltsieg des Faschismus zu verhindern, die niedergehende
Klassenherrschaft des Kapitalismus direkt abzulösen und die Menschheit auf eine
höhere Stufe der Entwicklung zu führen.
Die kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten empfinden das
Vorhandensein eines mächtigen Arbeiterstaates als eine Bedrohung ihrer
Klasseninteressen. Sie wissen, daß die bedeutende Rolle, die die Sowjetunion
als immer mächtiger werdender Staat in der Weltpolitik spielt, auch die
ideologische Wirkung der UdSSR auf die Arbeitermassen in allen Ländern erhöht
hat. Der gewaltige Aufstieg, der sich in der UdSSR inmitten der
Weltwirtschaftskrise vollzog, bewies in der Praxis die Überlegenheit des
sozialistischen Systems über das kapitalistische. Der erste Arbeiterstaat hat
bewiesen, daß der Sozialismus die Krise überwinden und die Produktion steigern
kann, ohne daß die Mehrproduktion zu neuen Krisen führt. Während in der
kapitalistischen Welt die Aufspeicherung des unverbrauchten Verdienstes der
Kapitalisten immer schwerere Wirtschaftskrisen erzeugte und so Millionen
Menschen arbeitslos machte und zum Hungern verurteilte, konnte die UdSSR alle
Hände beschäftigen und eine neue, bessere Wirtschaft aufbauen. Die Sowjetunion
hat die Richtigkeit der marxschen Theorie bewiesen, daß erst die Befreiung der
Produktionsmittel aus den Händen der Kapitalisten die gewaltigen Fortschritte
der Technik und des Geistes dem ganzen Volke dienstbar macht. Darum wirken die
Erfolge des sozialistischen Aufbaus in dem ersten Arbeiterstaat in steigendem
Maße revolutionierend auf die Proletarier in der ganzen Welt. Die bange Sorge
der Kapitalisten ist, daß die Arbeiter in ihren Ländern immer deutlicher das
aus dem Osten kommende Licht wahrnehmen und die aus der erfolgreichen
sozialistischen Wirklichkeit tönende Mahnung beherzigen: in ihrer Heimat ebenso
wie in dem damaligen Zarenreich den Kapitalismus zu überwinden, die Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen zu beseitigen und die Bahn frei zu machen für einen
stabilen, zukunftssicheren wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg.
Der Sieg des Faschismus in Deutschland hat die Situation für die
demokratisch-kapitalistischen Staaten noch mehr kompliziert. Während vor dem
Auftreten Hitlers normale, gleichwertige imperialistische Interessen der
imperialistischen Großmächte gegeneinander stießen, bedroht jetzt der
gesteigerte Überimperialismus machtlüsterner Diktatoren auf Schritt und Tritt
und in allen Ecken Europas die nationalen Interessen der demokratischen
Staaten. Würde die außenpolitische Stellungnahme der demokratischen Staaten
nicht auch noch von anderen als nationalen Interessen beeinflußt, so würden sie
zusammen mit der Sowjetunion den übermächtigen Friedensblock bilden, der jeden
Friedensstörer zur sicheren Niederlage verurteilt, der ihn zwingt, den Angriff
zu unterlassen, und den Frieden zu wahren. Die viel verbreitete Meinung, daß
die demokratischen Großmächte in den entscheidenden Situationen zwangsläufig im
demokratischen Staatenblock gegen den faschistischen stehen werden, beruht auf
trügerischen und darum gefährlichen Hoffnungen. Die demokratische Staatenfront
ist eine fiktive. Die noch so ernst gemeinte demokratische Verfassung eines
kapitalistischen Staates ist keine Garantie für die Stellungnahme der
demokratischen Staaten gegen die faschistischen Diktaturen. Die Politik der
kapitalistischen Klassen richtet sich nicht nach den in ihrem Vaterland
publizierten, und von ihnen auch anerkannten politischen Ideen, sondern nach
ihren materiellen Interessen.
Die demokratischen Staaten haben eine durchaus ehrliche Abneigung gegen die zum
Krieg treibende Politik der faschistischen Diktaturen. Ihre nationalen
Interessen verlangen ihre eindeutige Stellungnahme für die Friedensfront. Wäre
die Sowjetunion der aggressive Kriegstreiber, und wären die faschistischen
Diktaturen die Stützen der Friedensfront, so würden die kapitalistischen
Machthaber der demokratischen Staaten hemmungslos die Friedensfront verstärken.
Weil aber unzweifelhaft die faschistischen Diktaturen die Friedensstörer sind,
muß die Friedensfront naturnotwendig antifaschistisch sein. Die Identität der
Friedensfront mit der antifaschistischen Front erschwert den kapitalistischen
Machthabern in den demokratischen Staaten die eindeutige Stellungnahme. In der
antifaschistischen Front ist die Sowjetunion die stärkste Kraft. Die
Staatsmänner — besonders Englands — fürchten, daß die Sowjetunion zusammen mit
den ihr ideologisch oder (ohne Unterschied der Parteirichtung) gefühlsmäßig
verbundenen Arbeitermassen in der antifaschistischen Friedensfront eine
unüberwindbare Macht wird, die nach Niederwerfung der faschistischen Diktaturen
— auf die sie zunächst alle Kraft konzentriert — nicht stehen bleibt. Sie
fürchten, daß diese Macht nach der Erreichung des ersten entscheidenden Zieles
weiter vorwärts schreiten wird, um auch die Ursache von Krieg und Faschismus —
die kapitalistische Gesellschaftsordnung — zu überwinden.
Die kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten wollen um jeden Preis
ihre herrschende Stellung behaupten. Aber sie wissen nicht, durch welche
Entscheidung sie das am besten erreichen. Das eben ist der Zwiespalt, in den
sie die veränderte weltpolitische Situation gebracht hat. Sie sind unsicher, ob
sie ihre Herrschaftsstellung behaupten können, wenn sie in einer Front mit der
Sowjetunion zunächst den imperialistischen Vorstoß der aggressiven
faschistischen Diktaturen gegen ihre nationalen Interessen entscheidend zurückschlagen
und dadurch den Sturz der faschistischen Diktaturen herbeiführen helfen — oder
wenn sie in der Front mit Hitler und Mussolini den ersten Stoß gegen den ihre
Machtstellung ideologisch bedrohenden sozialistischen Arbeiterstaat führen. Sie
sind unsicher, wie sich bei der Entscheidung für die zweite Möglichkeit ihre
Völker verhalten werden, ob deren Auftreten an der Seite der Sowjetunion nicht
gleichfalls zum Sturz ihrer Herrschaft führt. Sie fürchten außerdem, daß die
überspitzte Gewaltherrschaft des Faschismus nach einer kurzen Übergangszeit
schneller und sicherer zum endgültigen Sturz der kapitalistischen
Klassenherrschaft führt. Für welchen Weg sie sich auch entscheiden, sie
fürchten, später von dem Bundesgenossen erdrückt zu werden, mit dem zusammen
sie den gefährlichsten Gegner niedergeworfen haben.
Die Männer und Mächte, die zum Beispiel Englands Politik bestimmen, sind gewiß
nicht für Hitlers machtlüsternes Diktaturregime, das die ganze Welt beunruhigt,
— aber sie fürchten den Sieg der Arbeiterklasse. Sie möchten sich gern für das
kleinere Übel entscheiden, aber sie sind im Zweifel, was im entscheidenden
Augenblick das kleinere Übel sein wird. Sie wissen nicht, ob es ihnen nach der
Niederwerfung der einen „ideologischen Front" gelingen wird, dem von ihnen
ausgewählten kleineren Übel gegenüber die Entscheidung zugunsten ihrer
nationalen kapitalistischen Interessen herbeizuführen.
England will sich — wie die englischen Regierungsmänner in allen
außenpolitischen Reden erklären — weder in eine weltanschauliche Front
einreihen, noch an einem Weltanschauungskrieg beteiligen. Diese Erklärungen
richten sich ebenso gegen die Bildung einer demokratischen Friedensfront, wie
gegen Hitlers antibolschewistische Staatenfront für den heiligen Krieg gegen
die Sowjetunion. Hitler und Mussolini rechnen bei der Durchführung ihrer
provokatorischen Außenpolitik mit der Angst der kapitalistischen Machthaber in
den demokratischen Staaten vor der ideologischen Fernwirkung des ersten
Arbeiterstaates. Hitler propagiert seine weltanschauliche Front nur, um die
kapitalistischen Interessen in den demokratischen Ländern für die Erreichung
seiner — die demokratischen Staaten bedrohenden — imperialistischen Ziele
auszunützen. Es ist darum zweifellos notwendig. Hitlers Spekulationen zu stören
und seinen Bemühungen, eine Front der kapitalistischen Staaten gegen die
Sowjetunion zu bilden, entschieden entgegenzuwirken. Aber trotzdem ist kaum zu
bezweifeln, daß bei den weltpolitischen Entscheidungen unserer Zeit, im
Gegensatz zu 1914, weltanschauliche Interessen hineinspielen werden. Im
gewissen Sinne entscheiden auch bei der Problemstellung Krieg oder Frieden,
faschistische Diktatur oder Demokratie, weltanschauliche Gesichtspunkte mit.
Die konsequente Verneinung dieser Tatsache durch die Staatsmänner der
demokratischen Staaten führt zu ihrer unrealen, illusionären Politik, die
letzten Endes nicht der Erhaltung des Friedens, sondern den Kriegstreibern
dient.
Aus der Identität der antifaschistischen Front mit dem Friedensblock ergibt sich
die widerspruchsvolle, schwankende Haltung der demokratischen Großmächte, die
ihren Willen und ihre Aktionen zur Verhinderung des Krieges durch die Ablehnung
der antifaschistischen Friedensfront selbst sabotieren. Die herrschenden
kapitalistischen Mächte der demokratischen Staaten wollen die Quadratur des
Kreises lösen: sie wollen den Frieden erhalten, aber die faschistischen
Diktaturen nicht stürzen; sie wollen die aggressive, zum Krieg treibende
Politik der faschistischen Diktaturen liquidieren, aber sich nicht für die
antifaschistische Front entscheiden.
Das Lebensinteresse der Völker in den demokratischen Staaten erfordert
Stellungnahme für die antifaschistische Friedensfront, das egoistische
Sonderinteresse der kapitalistischen Klassen hindert die eindeutige
Frontstellung der demokratischen Großmächte gegen die faschistischen
Kriegstreiber.
Wir stehen vor Entscheidungen von weltgeschichtlicher Bedeutung.
Wie diese Entscheidungen ausfallen, ob die Menschheit unter die „eiserne
Ferse" des Faschismus gezwungen oder die Bahn für den Aufstieg zu einer
höheren Gesellschaftsform freimachen wird, in der alle Menschen in Frieden und
Wohlstand leben können, das hängt vor allem davon ab, ob die Weltarbeiterklasse
als gewaltige Macht unmittelbar in die Weltpolitik einzugreifen vermag.
Alle Voraussetzungen für das Auftreten der Arbeiterklasse als machtvolle
geschichtsbildende Kraft sind gegeben. Das ist das positive Ergebnis der
veränderten weltpolitischen Situation. Die negative Nebenwirkung des
Machtzuwachses der Arbeiterklasse ist die schwankende Haltung der
demokratisch-kapitalistischen Staaten gegenüber der den Frieden bedrohenden
Politik Hitlers und Mussolinis. Zwei Seelen wohnen doch, in der Brust der
herrschenden Mächte dieser Staaten. Auf welche Seite sie sich endgültig
stellen, das wird sich wahrscheinlich erst in der letzten Stunde entscheiden. Die
konkrete Aufgabe der Arbeiterklasse in allen Ländern ist es, ihre Vaterländer
zu einer eindeutigen Stellungnahme zu veranlassen: zum Beitritt in den dann
übermächtig werdenden Friedensblock, der den faschistischen Diktaturen den
Ausweg in den Krieg versperrt und den Untergang der modernen Zivilisation
verhindert.
Wann und wie die endgültige Entscheidung der demokratischen Staaten fällt, wird
im wesentlichen von zwei Faktoren bestimmt werden:
Erstens davon, ob die faschistischen Diktaturen bei der fortgesetzten
Steigerung ihrer aggressiven imperialistischen Politik die Grenze
überschreiten, die die demokratischen Großmächte bei der Wahrnehmung ihrer
nationalen Lebensinteressen ziehen müssen. Diese Grenze ist — wie die
Geschehnisse in den letzten Jahren beweisen — sehr elastisch, sie ist immer
weiter rückwärts verlegt worden. Aber sie wird den Punkt erreichen, an dem die
Überschreitung durch faschistische Provokationen die demokratischen Großmächte
zur Gegenwehr zwingt.
Zweitens davon, wie groß die Einsicht, der Wille und der Einfluß der
Arbeiterklasse in den demokratischen Ländern ist, um diese zur eindeutigen
Stellungnahme für die demokratische, antifaschistische Friedensfront zu
bringen.
Die provokatorische Außenpolitik der faschistischen Diktaturen hat in allen von
ihr bedrohten Ländern günstige Voraussetzungen für erfolgreiche Aktionen zur
Stärkung der Friedensfront geschaffen. Der entscheidende subjektive Faktor, der
diese günstige objektive Situation zielbewußt ausnutzen muß, ist die
Arbeiterbewegung. Die Größe ihrer Macht und ihres Einflusses, die sie in den
einzelnen Ländern für die Erfüllung ihrer nächsten Aufgabe einzusetzen vermag,
wird nicht zuletzt von dem Grad ihrer Einigkeit und Geschlossenheit bestimmt.
Die Bildung einer aktionsfähigen Einheits- und Volksfront ist darum sowohl im
nationalen, wie im internationalen Rahmen eine unablösbare Pflicht. Wer heute
noch die gemeinsame antifaschistische Kampffront als Parteimanöver behandelt
oder betrachtet, verkennt die bedeutende geschichtliche Rolle der
Arbeiterklasse am Vorabend weltgeschichtlicher Entscheidungen. Die Volksfront
und die Voraussetzung für diese, die Einheitsfront, dienen nicht egoistischen
Interessen eines Teiles der Arbeiterbewegung, sie sind vielmehr Kampfmittel
aller Werktätigen für ihren Kampf um Freiheit und Fortschritt, für den Aufstieg
der Menschheit aus den Niederungen der steten Bedrückung und Bedrohung. Die
Arbeiterparteien der verschiedenen Länder können die Frage der gemeinsamen
antifaschistischen Kampffront nicht mehr nur nach innerpolitischen
Gesichtspunkten entscheiden, sie müssen ihre Entscheidung nach den Bedürfnissen
des umfassenden internationalen Befreiungskampfes des Proletariats treffen. Von
dem Tempo, in dem die Einheits- und Volksfront in den einzelnen Ländern zustande
kommt, von dem Tempo, in dem die Weltarbeiterklasse zu einem entscheidenden
Machtfaktor in der internationalen Politik wächst, wird es abhängen, ob den
Völkern der furchtbarste aller Kriege erspart werden kann, ob — wenn die
Verhinderung des Krieges trotz aller Anstrengungen nicht gelingt — in diesem
Kriege der Faschismus vernichtend geschlagen wird, und ob die Ursachen von
Krieg und Faschismus beseitigt werden können. Die geschichtliche Entwicklung
wird die Richtigkeit dieser Behauptung erweisen. Hoffentlich müssen Historiker
nicht einmal feststellen, daß diese Erkenntnis sich erst zu spät in den
einzelnen Arbeiterparteien durchgesetzt hat.
Die Einheits- und Volksfront, die in den demokratischen Ländern starken Einfluß
besitzt, kann diese zur Entscheidung für die antifaschistische Friedensfront
zwingen. Ist ihr Druck jedoch noch nicht stark genug, um ihr Land eindeutig in
den Friedensblock zu führen, so kann sie — wenn sie im Volke fest verankert ist
— doch das Einschwenken ihres Vaterlandes in die faschistische Front
verhindern. Auf jeden Fall wird es von der Einheits- und Volksfront abhängen,
ob die herrschenden kapitalistischen Mächte der einzelnen Länder vor dem Kriege
an der Seite der faschistischen Diktaturen zurückschrecken werden. Wenn nicht
für die Staatsmänner, so gewiß für die Völker der demokratischen Staaten, wird
im Kriege die gesinnungsmäßige Frontenbildung davon bestimmt werden, daß auf
der einen Seite die faschistische Diktatur, auf der anderen Seite der
sozialistische Arbeiterstaat steht. Ebenso wie die Situation, ist auch die
Stimmung der Volksmassen eine wesentlich andere als 1914. Die zielbewußte
Ausnutzung dieser Tatsache ist die Pflicht der antifaschistischen Bewegung.
Müssen die Herrschenden aller Länder damit rechnen, daß in einem Kriege, den
sie an der Seite der faschistischen Diktaturen führen wollen, große Volksmassen
gegen sie auftreten werden, so wird die Angst vor dem Risiko dieses Krieges
ihre endgültige Entscheidung nicht unwesentlich beeinflussen. Eine mächtige,
einig handelnde antifaschistische Kampffront kann unmittelbar oder mittelbar
den Friedensblock so stark machen, daß die faschistischen Kriegstreiber den
Überfallkrieg gegen einzelne Staaten nicht mehr wagen können.
Die nächsten großen Entscheidungen fallen auf dem Boden der internationalen
Politik. Brennend wichtig ist darum die internationale Einheitsfront aller
demokratischen Kräfte — ohne Unterschied der Parteirichtung — mit der
Sowjetunion. Die neue internationale Situation fordert klare Frontenbildung;
sie verlangt besonders von allen Teilen der internationalen Arbeiterbewegung
eine eindeutige Stellungnahme. Das gemeinsame Interesse der Weltarbeiterklasse
gebietet, daß in dem gewaltigen Ringen unserer Zeit alle Teile der
internationalen Arbeiterbewegung Schulter an Schulter mit der Sowjetunion
kämpfen. Nur dann wird die Arbeiterklasse das positive Ergebnis der veränderten
weltpolitischen Situation, als geschichtsbildende Kraft die nächsten
Entscheidungen zu bestimmen, auch positiv auswerten können.
Von der Parteien
Haß und Liebe gezeichnet, schwankt das Bild der Sowjetunion in den
zeitgenossischen Betrachtungen. Kein Land hat in den letzten zwei Jahrzehnten
die Aufmerksamkeit der Menschen aller Erdteile so auf sich gelenkt wie die
UdSSR. Die Einen bejahen mit Begeisterung das neue Werden im Osten. Die Anderen
verfluchen es als ein Teufelswerk der Hölle. Die Dritten schwanken zwischen
diesen beiden Extremen hin und her, finden Fehler und Mängel, mit denen sie
ihre unschlüssige Haltung begründen. Alle aber bekunden — durch positive oder
negative Stellungnahme — die große Bedeutung der UdSSR in den Kämpfen unserer
Zeit. Und in der Tat; künftige objektive Historiker werden feststellen, daß mit
dem Siege der proletarischen Revolution in einem Lande und mit der Sicherung
und Festigung dieses Sieges der Durchbruch in eine neue Epoche gelungen ist:
daß der Aufbau des ersten sozialistischen Arbeiterstaates die größte
geschichtliche Leistung der Vergangenheit war, der erste entscheidende Schritt,
der auf dem Wege zur Verwirklichung des Sozialismus, zu einer höheren,
vollkommeneren menschlichen Gesellschaft vorwärts gemacht wurde.
Jedoch nicht nur der rückschauende Historiker, auch der in der Geschichte aktiv
handelnde politische Mensch muß die Kräfte und Mächte in der Weltpolitik, die
großen Ereignisse und Veränderungen in ihrem geschichtlichen Zusammenhange
betrachten. Dann aber wird er erkennen, daß die Sowjetunion zu einem
Machtfaktor in der Weltpolitik geworden ist, von dessen Bestand und Stärke es
entscheidend mit abhängt, ob die Menschheit durch den Sieg des Faschismus weit
zurückgeworfen wird, in einen Zustand tiefster Barbarei — der dem heutigen
Stand der Entwicklung vollkommen widerspricht — oder ob die zum Sturz reife
kapitalistische Klassenherrschaft durch den Sozialismus abgelöst wird. Das
Große, für den Befreiungskampf der Menschheit Bedeutungsvolle jedoch ist: die
auf den Trümmern des alten morschen Zarenreiches entstandene Sowjetunion ist
nur darum zu einem entscheidenden Machtfaktor in der Weltpolitik geworden, weil
die siegreiche proletarische Revolution die kapitalistische Klassenherrschaft
rücksichtslos vernichtete, die Produktionsmittel vergesellschaftete, und mit
sozialistischen Wirtschaftsmethoden in atemberaubendem Tempo einen gewaltigen
ökonomischen Aufbau vollzog. Erst die Entfesselung der vom kapitalistischen
Profitinteresse niedergehaltenen Produktivkräfte, erst die Befreiung der
Menschen aus der kapitalistischen Sklavenfron hat die Sowjetunion befähigt,
alle wirtschaftlichen und menschlichen Kräfte für den Aufstieg und für die
Verteidigung der Heimat zu mobilisieren. Ohne den sozialistischen Aufbau wäre
die UdSSR nie die große wirtschaftliche und militärische Macht in der
Weltpolitik geworden, die auch die Waffen zu gebrauchen versteht, mit denen die
kapitalistische Klassenherrschaft noch heute über fünf Sechstel der Erde
aufrechterhalten wird, und vor denen allein die Herren der kapitalistischen
Weltordnung Respekt haben.
Von manchen aus den Reihen der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Kritikern der
Sowjetunion wird bestritten, daß die in harten Kämpfen unter großen Opfern
aufgebaute Macht der UdSSR auch tatsächlich für den Sieg des Sozialismus in der
ganzen Welt wirkt. Die Geschichte der russischen Revolution, die objektive
Analyse der Entwicklung und der Politik der Bolschewistischen Partei beweist,
daß die Zweifel der Kritiker unberechtigt sind. Die endgültige Sicherung des
ersten Arbeiterstaates ist eng verbunden mit dem sozialistischen Vormarsch in
den anderen Ländern. Das ureigenste Interesse gebietet der Sowjetunion, für den
Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt zu wirken. Aber der Weltsieg des
Sozialismus kann nicht ohne den Machteinsatz der Weltarbeiterklasse erfochten
werden. Die internationale Arbeiterbewegung ist der entscheidende Machtfaktor
im Weltkampf um den Sozialismus; ihre Kraft und die Festigkeit ihres Bündnisses
mit der Sowjetunion wird den Ausgang des Kampfes um eine neue Weltordnung
bestimmen. Die internationale Arbeiterbewegung kann eine große, gewaltige
Kampfkraft entfalten. Aber die ideologische Verwirrung in ihren Reihen, ihre
Uneinigkeit und die gegenseitige Bekämpfung der verschiedenen Gruppen machen
sie zeitweise aktionsunfähig, hindern nur zu oft in entscheidenden Situationen
den vollen Einsatz ihrer Macht.
Es ist unbestreitbar, daß die Kampffront für den Sozialismus in den
kapitalistischen Ländern heute noch nicht so stark ist wie die Sowjetunion.
Jedoch auch die internationale Machtposition der UdSSR ist in weitgehendem Maße
abhängig von der Stärke der internationalen Arbeiterbewegung. Ist diese
aktionsunfähig, wird dadurch auch die Stoßkraft der Sowjetunion geschwächt.
Gerade die durch Uneinigkeit verschuldete Schwäche der internationalen
Arbeiterbewegung ist es, die oft den von ungeduldigen Kritikern geforderten
Einsatz der Sowjetmacht an allen Kampffronten erschwert. Wie schicksalhaft die
zwei entscheidenden Faktoren in der Kampffront für den Sozialismus miteinander
verbunden sind, wird am deutlichsten dadurch charakterisiert, daß die Größe der
Aktionsfähigkeit des einen von der des anderen bedingt wird, daß die Stoß- und
Wirkungskraft beider von ihrem gegenseitigen Verhältnis abhängt. Steht die
internationale Arbeiterbewegung einig und geschlossen in enger
Kampfgemeinschaft, sieht sie in dem ersten Arbeiterstaat mehr noch als einen
Verbündeten, so wird sie dadurch gewaltig erstarken und in der Wechselwirkung
auch die Aktionskraft der Sowjetunion bedeutend steigern; andererseits wird
durch die erhöhte Aktionskraft der Sowjetunion die Machtposition der
Internationalen Arbeiterbewegung vergrößert. Außerdem wird der von einer
mächtigen, einigen internationalen Arbeiterbewegung unterstützte Arbeiterstaat
manche zeitweilig notwendigen Konzessionen und Kompromisse unterlassen können
und damit vielen Kritikern die Möglichkeit zu ihrer verwirrenden Kritik nehmen.
Die ideologische Klärung wird sich viel rascher vollziehen, und auch dadurch
wird die internationale Arbeiterbewegung unvergleichlich stärker, mächtiger und
einflußreicher werden, als sie heute ist. Der Ausgangspunkt für die Überwindung
aller vorhandenen Schwierigkeiten und Schwächen ist jedoch die gemeinsame
Kampffront der gesamten internationalen Arbeiterbewegung und ihre
unerschütterliche Kampfgemeinschaft mit der Sowjetunion. Darum ist es eine
unumgängliche Pflicht, alle proletarischen Kräfte zum einheitlichen Handeln
zusammenzufassen und den festen Kampfblock der Weltarbeiterklasse mit der
Sowjetunion zu schmieden. Das unerschütterliche Zusammenwirken der beiden
entscheidenden geschichtlichen Kräfte in der Front gegen Krieg und Faschismus
wird den Weltsieg des Sozialismus wesentlich beschleunigen.
Es geht um Sein oder Nichtsein. Wir stehen vor dem großen Kampf, dem keiner
sich entziehen kann. Die herannahende Entscheidung verlangt gebieterisch die
Geschlossenheit aller proletarischen Kräfte und deren klare, eindeutige
Stellungnahme zur Sowjetunion. Die geschichtliche Situation duldet in dieser
Frage kein Ausweichen mehr. Wer den Faschismus schlagen will, kann nicht mehr
„Ja aber" oder „Ja und Nein", der muß eindeutig Ja zur Sowjetunion
sagen. Wer dieses klare Ja verweigert oder abschwächt, gerät — wenn er nicht
schon dort steht — auf die falsche Seite der Barrikade.
Die faschistischen Feinde der Arbeiterklasse haben die große geschichtliche
Bedeutung der Sowjetunion in den Kämpfen unserer Epoche klarer erkannt als
große Teile der Weltarbeiterklasse. Die Faschisten fürchten in dem von ihnen
vorbereiteten Kriege nicht nur die gewaltige militärische und wirtschaftliche
Macht der Sowjetunion, sondern auch die ideologische Fernwirkung des
sozialistischen Arbeiterstaates auf ihre eigenen Volksgenossen. Darum betreiben
sie eine ununterbrochene systematische Hetze gegen die Sowjetunion; sie wollen
durch Lügen und Verleumdungen die Sympathien der freiheitlich gesinnten Massen
ihrer Länder für die UdSSR zerstören. Endlos werden Märchen von dem
verhungernden russischen Volke aufgetischt, entrüstet wird berichtet, daß in
der Sowjetunion zehntausende edler Menschen in besonders fürchterlichen
unterirdischen Gefängnissen schmachten, daß die Zahl der täglich zu
Erschießenden generell auf 150 festgesetzt ist. Die Hetze gegen die Sowjetunion
erfolgt nach dem in „Mein Kampf" von Hitler niedergeschriebenem Rezept,
daß eine Lüge nur groß genug sein muß, um geglaubt zu werden. Die Mehrheit der
deutschen Arbeiterschaft fällt auf die faschistischen Hetzreden gegen die
Sowjetunion nicht mehr herein. Aber es gibt trotzdem noch genug Arbeiter, und
vor allem Angehörige anderer Klassen, die von den Lügen der Faschisten zumindest
so weit beeindruckt werden, daß sie, auch wenn sie dem Faschismus gegenüber
bereits eine negative Haltung einnehmen, zu keiner positiven Kampfstellung
gelangen. Schon allein darum ist die Widerlegung dieser Märchen und die
sachliche Aufklärung der Massen über die wirkliche Entwicklung in der
Sowjetunion dringend notwendig. Mehr noch als durch die Lügen der Faschisten
werden die Volksmassen in den kapitalistischen Ländern bei der Stellungnahme
zum ersten Arbeiterstaat durch die oft unsachliche Kritik angeblicher Freunde
der UdSSR verwirrt. Diese Kritik wird überall von den Faschisten als „wichtiges
Material" für ihre Lügen aufgegriffen und aufgebauscht.
Die Kritik der angeblichen Freunde der Sowjetunion stützt sich auf Fehler oder
Mängel, die sich zeitweise ergaben, und die — aufgebauscht — als
Dauererscheinungen und als entscheidendes Charakteristikum der
Sowjetgesellschaft dargestellt werden. Diese Kritiker haben die große
geschichtliche Tat, die der Aufbau des ersten Arbeiterstaates inmitten der kapitalistischen
Umwelt ist, nicht begriffen. Es gibt in der Geschichte keine epochemachende
Leistung, die in ihrem Entfaltungsprozeß nicht mit Mängeln behaftet gewesen
wäre. Niemand anders als Karl Marx hat immer wieder darauf hingewiesen, daß die
proletarische Revolution unvergleichlich schwierigere Aufgaben zu lösen hat als
die bürgerlichen Revolutionen. Die größten Schwierigkeiten der proletarischen
Revolution beginnen erst nach dem ersten siegreichen Vorstoß, nach der
politischen Machteroberung, — wenn nach der Zerschlagung des kapitalistischen
Machtapparates ein vollständig neuer Machtapparat aufgebaut und die
grundlegende Umwälzung der ökonomischen Fundamente der Gesellschaft
durchgeführt werden muß. Die bürgerlichen Revolutionen, die auf den für ihren Sieg
herangereiften Verhältnissen nur weiter zu bauen brauchten, hatten es leichter,
— und trotzdem weist ihre Geschichte unzählige Mängel und Fehler auf. Aber kein
fortschrittlicher Mensch macht seine Stellung zu dem Ergebnis dieser
Revolutionen, die eine neue Epoche in der Geschichte einleiteten, von den
vielfältigen Fehlern abhängig. Wäre aber schon die Durchführung der
proletarischen Revolution, wenn sie gleichzeitig in mehreren hochentwickelten
Industrieländern gesiegt hätte, viel schwieriger als jede bürgerliche
Revolution gewesen, so mußten die Schwierigkeiten unermeßlich sein, da der Sieg
der proletarischen Revolution auf ein einziges rückständiges Agrarland
beschränkt blieb.
Die siegreiche proletarische Revolution in dem rückständigen Zarenreich, die
inmitten der kapitalistischen Umwelt den sozialistischen Aufbau beginnen mußte,
hatte darum nach dem Ausbleiben der proletarischen Revolution in anderen
Ländern unendlich viel größere Schwierigkeiten zu überwinden als jede andere
geschichtliche Umwälzung in der Vergangenheit. Unter den gegebenen Umständen
konnte es im Ringen um die Erhaltung der Oktoberrevolution nicht gradlinig
aufwärts gehen. Es waren zeitweise Rückzüge, Konzessionen und Kompromisse
ebenso notwendig wie harte Maßnahmen gegen diejenigen, die sich aus Feindschaft
oder Kurzsichtigkeit, aus Verärgerung oder Ungeduld der planmäßigen Entwicklung
zur neuen Gesellschaft entgegenstellten. Der Marxist weiß, daß die Umwandlung
der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische nicht über Nacht, durch
einen alles bisherige Sein auf den Kopf stellenden einmaligen Akt, vollbracht
werden kann. Selbst unter den günstigsten objektiven Voraussetzungen — bei
gleichzeitigem Siege der proletarischen Revolution in mehreren
fortgeschrittenen Ländern — entwickelt sich die neue sozialistische
Gesellschaft nur in langwierigen, schweren Kämpfen aus dem Schöße der
kapitalistischen Gesellschaft; und sowohl die Verhältnisse, wie die Menschen
sind in den ersten Stadien der sozialistischen Gesellschaft noch mit den Muttermalen
der kapitalistischen Gesellschaft behaftet.
Unter den besonders schwierigen und komplizierten Verhältnissen, unter denen
nach der Oktoberrevolution der Aufbau des Sozialismus in einem Lande in Angriff
genommen werden mußte, sind Fehler und Mängel unvermeidlich gewesen. Es ist
begreiflich, daß der marxistisch ungeschulte Mensch in der Entwicklung der
Sowjetunion unklare und verwirrende Bilder sah, seinen Blick an diesen haften
ließ und darüber hinaus nicht die geschichtliche Leistung des Aufbaus des
ersten sozialistischen Arbeiterstaates erkannte. Bis zum endgültigen Siege des
Sozialismus in der ganzen Welt werden allen siegreichen proletarischen
Revolutionen Mängel anhaften, werden aus der Situation inmitten der
kapitalistischen Umwelt und im Zusammenhang mit den Aktionen der Gegner
taktische Maßnahmen notwendig sein, die wie Rückzüge aussehen oder als Fehler
erscheinen. Das Entscheidende jedoch ist, ob die Bewegung, die an der Spitze
der siegreichen proletarischen Revolution steht, das revolutionäre Ziel immer
vor Augen hat und unerschütterlich an ihm festhält. Das Entscheidende ist, daß
sie die Macht und die Fähigkeit besitzt, notwendig gewesene Konzessionen
aufzuheben — sobald sie im Zuge der Entwicklung nicht mehr notwendig sind oder
dem revolutionären Ziel gefährlich werden könnten. Die zwanzigjährige
Geschichte der Sowjetunion hat bewiesen, daß die leninsche Partei als Führerin
der russischen Revolution in jeder Situation unverrückbar am revolutionären
Ziel festgehalten hat, und daß sie mit dem Blick darauf — getreu der Lehre
ihres Begründers — immer das nächste Kettenglied packte und alle zeitweisen
Konzessionen rechtzeitig wieder zu liquidieren vermocht hat. Zwei Jahrzehnte
nach dem Siege der Oktoberrevolution ist der Sozialismus das unbestritten
herrschende Wirtschaftsprinzip in der Sowjetunion. Die Stabilisierung der
siegreichen proletarischen Revolution und der erfolgreiche sozialistische
Aufbau in einem Lande sind eine epochemachende Leistung, die kein objektiver
Kritiker und Historiker mehr bestreiten kann. Im Vergleich zu diesem Ergebnis
sind Notfehler, die weniger durch die siegreiche Partei in der Sowjetunion, als
durch das Ausbleiben der proletarischen Revolution in den anderen Ländern
verschuldet sind, belanglos.
Die Sozialdemokratie, die viel zu lange die Sowjetunion als die Sache einer
gegnerischen Partei und nicht als die Sache der internationalen Arbeiterklasse
betrachtete, hat die in den Jahren mühseligen Ringens um den sozialistischen
Aufbau entstandenen Mängel und Fehler maßlos übertrieben und zur Propaganda
gegen die in der Sowjetunion verwirklichte Lösung benutzt. Die kritische, die
oft mehr als kritische, ablehnende Haltung der sozialdemokratischen Bewegung
gegenüber dem heroischen Kampf der russischen Arbeiterklasse hat wesentlich die
Haltung der sozialdemokratischen Arbeitermassen in den kapitalistischen Ländern
beeindruckt und ihre positive Einstellung zum ersten Arbeiterstaat erschwert.
Die gegen alle Widerstände durchgesetzten großen unbestreitbaren Erfolge des
sozialistischen Aufbaus haben entscheidende Teile der sozialdemokratischen
Kritik an der UdSSR widerlegt. Noch mehr aber hat die krisenhafte Zuspitzung
der weltpolitischen Situation, die durch das Auftreten der faschistischen
Diktaturen erfolgte, die große Bedeutung der Sowjetunion klargemacht. Unter dem
Druck der geschichtlichen Entwicklung haben die Argumente reformistischer
Kritiker ihre Wirkung auf große Teile der sozialdemokratischen Anhängerschaft
verloren. Tatsachen sprechen eine zu deutliche Sprache. Auch die sozialdemokratischen
Arbeiter haben trotz oft sehr entstellenden Berichten ihrer Presse über die
Sowjetunion allmählich die grundsätzliche Bedeutung des ersten Arbeiterstaates
erkannt. Besonders nach dem Siege Hitlers haben sie begriffen, daß nur der konsequent
revolutionäre Weg einer proletarischen Partei den Übergang von der
kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung ermöglichen und dem
Volke die furchtbare Herrschaft des Faschismus ersparen kann. Trotzdem ist die
offizielle sozialdemokratische Kritik nicht verstummt. Aber ihre Form und die
Objekte ihres Angriffes sind andere geworden. Es scheint wie ein Witz, daß
dieselben Reformisten, die früher die leninsche Partei wegen der radikalen,
konsequenten Durchführung der sozialen Revolution und der sich daraus
ergebenden Konsequenzen angriffen, heute derselben Bolschewistischen Partei
Preisgabe der Weltrevolution, angeblichen Verrat der Oktoberrevolution und die
Vernichtung der „alten bolschewistischen Garde" vorwerfen. Die offiziellen
sozialdemokratischen Kritiker der Sowjetunion grenzen sich zwar mehr oder
weniger scharf von Trotzki ab; aber sie gebrauchen die Argumente der
Trotzkisten als angeblichen Beweis dafür, daß die UdSSR nicht den Wünschen und
Vorstellungen der unter dem Druck des Kapitalismus leidenden Massen entspricht.
Aus der Situation innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung, aus der
Zuspitzung der weltpolitischen Gegensätze erhält der Trotzkismus eine —
allerdings zeitlich bedingte und begrenzte — ideologische Wirkungsmöglichkeit
über den engen Kreis seiner Anhänger hinaus. Er liefert allen halben und ganzen
Gegnern, allen offenen und versteckten Feinden der Sowjetunion das Rüstzeug für
den Kampf gegen den ersten Arbeiterstaat. Er trägt in der Zeit, in der nichts
so notwendig ist wie die gemeinsame Kampffront des Proletariats, Verwirrung in
die Reihen der nichtrussischen Arbeiterschaft; er erschwert deren allgemeine,
vollständige, eindeutige Stellungnahme für die UdSSR.
Daß der Trotzkismus gerade in dieser Zeit west- und mitteleuropäische
Sozialdemokraten ideologisch zu beeinflussen vermag, hat aus der Entwicklung
erwachsene Ursachen. Hitlers Sieg hat eine starke Linksentwicklung in den
sozialdemokratischen Parteien ausgelöst, die große Teile der
sozialdemokratischen Anhängerschaft in ein besseres Verhältnis zur Sowjetunion
brachte. Aber die Sozialisten, die sich innerlich vom Reformismus abgewandt
hatten und für den revolutionären Weg entschieden, wußten wegen der
Vernachlässigung der sowjetrussischen Probleme in ihren Parteien zu wenig von
der Geschichte der russischen Revolution. Ihre mangelnde Kenntnis der Kämpfe um
die Sicherung der siegreichen proletarischen Revolution und den sozialistischen
Aufbau machten sie unsicher. Die trotzkistischen Angriffe gegen die Sowjetunion
verwirrten diese Sozialisten, und es bedrückte sie, daß die Bolschewistische
Partei angeblich von dem revolutionären Wege abweicht, zu dem sie sich endlich
mühselig durchgerungen haben. Gerade die Menschen, die der plötzliche
Zusammenbruch ihrer reformistischen Illusionen tief erschütterte, waren für die
am radikalsten klingenden Losungen zunächst besonders empfänglich. Sie wollten
nach ihrer ersten gefühlsmäßigen Wandlung nichts mehr vom Kampf um Reformen
wissen und nichts mehr von der mißverstandenen, in Deutschland so kläglich
zusammengebrochenen Demokratie hören. Die ruckartige Wandlung von rechts nach
links erzeugte bei den vom Reformismus enttäuschten Sozialdemokraten
zwangsläufig ultralinke Stimmungen, aus denen heraus sie — die früher die
Sowjetunion von rechts kritisierten — nunmehr den „von links" kommenden
Einwänden gegen den Arbeiterstaat zugänglicher wurden. In der ersten
Entwicklungsphase des ideologischen Wandlungsprozesses der Sozialdemokraten
sind sie bei der Beurteilung trotzkistischer Argumente manchmal schwankend; sie
finden aber schnell das eindeutige Verhältnis zur Sowjetunion, wenn sie die
Zusammenhänge der russischen Revolution und deren Probleme nicht mehr nur
gefühlsmäßig, sondern sachlich beurteilen können.
Der Kampf gegen Krieg und Faschismus verlangt gebieterisch die Sammlung aller
proletarischen Kräfte zu einer geschlossen handelnden Einheit. Die Trotzkisten
bemühen sich, um jeden Preis schwache Punkte im Sowjetregime zu
„entdecken", um Mißtrauen gegen den Arbeiterstaat zu säen. Der Trotzkismus
hat sich zu einer negativen Kraft entwickelt, die die werdende gemeinsame
Kampffront der internationalen Arbeiterbewegung stört, die Massen verwirrt, und
sie von einer eindeutig positiven Stellungnahme für die Sowjetunion abzuhalten
versucht. Welchen Motiven das Handeln der Trotzkisten entspringen mag, mit
welchen Argumenten man es zu begründen versucht, es dient in der zugespitzten
weltpolitischen Situation ausschließlich den Feinden des Sozialismus.
Wir stehen in der Epoche der Entscheidungskämpfe um den Sozialismus. Im Kampf
um die Verhinderung des Krieges reift die Situation heran, in der über das
weitere Schicksal der Welt entschieden wird. Gelingt es einer übermächtigen
Friedensfront, den Krieg zu verhindern, so wird die Hitlerdiktatur am Frieden
ersticken. Kann Hitler den kriegerischen Ausweg nicht beschreiten, so werden
krisenhafte Erschütterungen objektive Voraussetzungen für den Sturz der
faschistischen Diktatur schaffen. Aus den Trümmern der Hitlerdiktatur wird aber
nicht nur ein neues Deutschland, sondern ein neues Europa erstehen, das
Faschismus, Kriegs- und Krisengefahr verbannen und auch die Ursachen dieser
Übel beseitigen wird. Läßt aber der Faschismus sich auch von der stärksten
Friedensfront nicht vom Kriegsabenteuer abhalten, dann werden im Kriege und im
Anschluß an diesen Entscheidungen fallen, die die Welt viel mehr verändern
werden, als das der letzte Krieg getan hat. Wie die Entscheidungen ausfallen
werden, das wird von der Einigkeit und Schlagkraft der internationalen Arbeiterbewegung
abhängen.
Betrachtet man die Aufgaben der Arbeiterklasse aus der Perspektive der
weltgeschichtlichen Situation, dann erscheinen all die Streitereien der
Arbeiterparteien um tagespolitische Differenzen klein und töricht. Es ist
wahrlich an der Zeit, daß alle Sozialisten über den Tag hinaus ihre große
geschichtliche Aufgabe sehen. Der Untergang kann nur verhindert werden, wenn
der Front der faschistischen Kriegstreiber die einige antifaschistische Front
gegenübergestellt wird.
Sowjetunion und internationale Arbeiterbewegung — das sind die beiden
ausschlaggebenden Pfeiler der antifaschistischen Friedensfront. Sie müssen über
alle Schwierigkeiten und Hemmungen hinweg fest zusammenstehen. Nur dann wird
die Weltarbeiterklasse in der Zeit der Entscheidungen ihrer geschichtlichen
Aufgabe gewachsen sein, nur dann wird sie fähig sein, das in der sozialen
Entwicklung unnötige, grausige Zwischenspiel der faschistischen Weltherrschaft
zu verhindern, nur dann wird sie stark und mächtig genug sein, um die zum Sturz
reife kapitalistische Klassenherrschaft zu überwinden, um die Bahn frei zu
machen für den Sozialismus, die „Brüderlichkeit der Menschheit".
Wer die gemeinsame Kampffront der gesamten internationalen Arbeiterbewegung mit
dem ersten Arbeiterstaat hindert oder stört, schädigt nicht nur die gemeinsamen
Interessen der Arbeiterklasse, er wird zum indirekten oder direkten Helfer des
Faschismus. Für oder wider die Sowjetunion! Ja oder Nein! Jede unklare
Zwischenstellung stärkt die Position der faschistischen Kriegstreiber, die in
der ganzen Welt Freiheit und Fortschritt in Blut ersäufen wollen. Die
Proletarier aller Länder müssen sich eindeutig an die Seite der UdSSR stellen
und gegen jene, die aus Kurzsichtigkeit oder blindem Haß zu unfreiwilligen oder
freiwilligen Helfern der Feinde des Sozialismus werden.
Die Geschichte ist Lehrmeisterin für die Kampfe der Gegenwart.
Kenntnis der Vergangenheit ist eine der Voraussetzungen für die richtige
Stellungnahme zu den Tagesaufgaben. Die große Bedeutung der Sowjetunion für die
entscheidende Auseinandersetzung in der Weltpolitik erfordert eine klare,
sachliche Urteilsbildung über die Entwicklung und den Zustand des ersten
Arbeiterstaates. Die fortgesetzten Angriffe des Trotzkismus auf die UdSSR
zwingen allein schon im Interesse der notwendigen Sammlung der freiheitlichen
Kräfte gegen den faschistischen Weltfeind zu einer gründlichen, sachlichen
Auseinandersetzung. Der Kampf des Trotzkismus gegen den Bolschewismus, der schließlich
in eine feindselige Hetze gegen die Sowjetunion ausartete und die Trotzkisten
an die Seite der Feinde der Arbeiterklasse führte, hat seine Ursache in den
alten, bereits um die Jahrhundertwende auftretenden prinzipiellen politischen
und taktischen Gegensätzen zwischen Lenin und Trotzki. Das Auftreten des
Trotzkismus in unserer Zeit kann nur verstanden werden, wenn man die
historische Entwicklung der von Trotzki gegen Lenin und den Leninismus
begründeten Fraktion kennt. Wer sich ein objektives Urteil über den Kampf
Trotzkis gegen die Bolschewistiche Partei bilden will, muß sich mit der
Geschichte des Trotzkismus von Anbeginn beschäftigen.
In dem Rotbuch, das die Trotzkisten zum Moskauer Prozeß gegen Sinowjew,
Kamenew, Smirnow und Genossen herausgegeben haben, steht an der Spitze ein Bild
von Lenin und Trotzki mit der Unterschrift „Die wahren Angeklagten". Die
Trotzkisten behaupten, zwischen Lenin und Trotzki habe eine so innige
Kampfgemeinschaft bestanden, daß derjenige, der heute Trotzki verurteile, zugleich
auch Lenin verdamme. Denn Lenin und Trotzki seien immer eine unzertrennliche
Einheit gewesen. Wer nichts anderes als Trotzkis Bücher über die russische
Revolution kennt, muß glauben, daß Trotzki neben Lenin der erste und beste
Repräsentant der Bolschewistischen Partei, der ruckgratfesteste Vertreter der
alten bolschewistischen Garde sei. Diese Legende spukt im europäischen
Proletariat, soweit es mit der Geschichte der russischen Arbeiterbewegung nicht
genügend vertraut ist.
Die geschichtliche Wahrheit, ist, daß Trotzki alles andere denn ein alter
Bolschewik war. Er hat im Gegenteil in entscheidenden Situationen in scharfer
Kampfstellung gegen die Bolschewiki und gegen Lenin gestanden. Trotzkis
politische Tätigkeit beginnt um das Jahr 1900. Von 1901 bis Anfang 1903 stand
er in Verbindung mit dem Kreise der alten „Iskra“, zu deren Redaktion neben
Lenin auch die späteren Menschewiki Plechanow, Axelrod, Martow, Sassulitsch und
Protessow gehörten. Als Trotzki Ende 1902 zum ersten Male ins Ausland ging, kam
er in London zu Lenin, der ihn freundlich aufnahm und förderte, weil er seine
journalistischen und rednerischen Fähigkeiten schätzte. Aber schon damals waren
— nach der Darstellung Trotzkis — seine persönlichen Beziehungen zu Axelrod und
Martow enger als zu Lenin. Im Juli 1903 fand in London der zweite Parteitag der
russischen Sozialdemokratie statt, auf dem wegen Meinungsverschiedenheiten über
das Organisationsprinzip und über die Zusammensetzung der Redaktion der
„Iskra" die Partei sich in Bolschewiki und Menschewiki spaltete. In dem
entscheidenden Konflikt dieses Parteitages trat Trotzki zum ersten Male gegen
Lenin auf, ging mit Axelrod und Maitow und wurde Menschewik. Von 1903 ab machte
Trotzki vielerlei Wandlungen durch, blieb aber bis 1917 ein offener Gegner
Lenins. Trotzki hat in all diesen Jahren eine eigene politische Linie zwischen
Menschewiki und Bolschewiki zu entwickeln versucht: den Trotzkismus, der in
allen entscheidenden Fragen der russischen Arbeiterbewegung und der russischen
Revolution im Gegensatz zu Lenin stand. Das erste Buch, das Trotzki über sein
Verhältnis zu Lenin veröffentlichte, erschien im Jahre 1924. Obwohl dieses Buch
den Titel „Über Lenin" trägt, berichtete Trotzki darin nur über zwei sehr
kurze Perioden aus Lenins Leben. Über die Zeit der ersten „Iskra"
(1902/03) und über den Oktober 1917. Die übrige Zeit, vor allem die anderthalb
Jahrzehnte der Vorbereitung der Oktoberrevolution, überspringt Trotzki, weil er
- damals noch in der Sowjetunion - keine Märchen Über seine unzertrennliche
Einheit mit Lenin auftischen konnte. Erst nach seiner Ausweisung hat Trotzki
versucht, sein Verhältnis zu Lenin von 1903 bis 1917 für den Legendengebrauch
zurechtzubiegen.
Aus der Zeit von 1903 bis 1917 gibt es eine Fülle unzweideutiger Beweise gegen die
von den Trotzkisten behauptete innige Kampfgemeinschaft zwischen Lenin und
Trotzki. Bei der — in späteren Kapiteln folgenden — Untersuchung der
organisatorischen, politischen und theoretischen Gegensätze zwischen
Bolschewismus und Trotzkismus wird Lenins Stellung zusammenhängend dargestellt.
Hier sollen vorweg nur einige Meinungsäußerungen Lenins herausgegriffen werden,
die Aufschluß über Lenins Verhältnis zur Politik und Person Trotzkis geben. In
einem im Mai 1911 veröffentlichten Artikel „Der historische Sinn des
innerparteilichen Kampfes in Rußland" schrieb Lenin (Ausgewählte Werke,
Band III, Seite 508 usf.):
„Trotzki... repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst
nichts. 1903 war er Menschewik; 1904 rückte er vom Menschewismus ab und kehrte
1905 zu den Menschewiki zurück, nur mit ultrarevolutionären Phrasen prunkend;
1906 wandte er sich abermals vom Menschewismus ab; Ende 1906 verfocht er
Wahlabmachungen mit den konstitutionellen Demokraten (d.h. er war faktisch
wieder mit den Menschewiki), und im Frühjahr 1907 sprach er auf dem Londoner
Parteitag davon, daß der Unterschied zwischen ihm und Rosa Luxemburg eher ,ein
Unterschied individueller Schattierungen als politischer Richtungen' sei.
Trotzki verübt ein Plagiat heute an dem geistigen Rüstzeug der einen, morgen an
dem der anderen Fraktion und gibt sich daher als über den beiden Fraktionen
stehend aus. Trotzki ist in der Theorie in nichts mit den Liquidatoren und den
Otsowisten einverstanden, in der Praxis aber ist er in allem mit den Golos- und
Wperjotleuten einverstanden. Wenn daher Trotzki den deutschen Genossen erzählt,
er vertrete die ,allgemeine Parteitendenz', so muß ich erklären, daß Trotzki
lediglich seine Fraktion vertritt und ausschließlich bei den Otsowisten und
Liquidatoren ein gewisses Vertrauen genießt."
Sinowjew charakterisierte die Rolle seines späteren Kampfgefährten Trotzki in
einem im Jahre 1924 veröffentlichten Artikel:
„Genosse Lenin hat mehr als einmal das „Gesetz“, nach dem die politischen
Wandlungen des Genossen Trotzki sich vollziehen, formuliert. Geht's aufwärts,
dann kommt Genosse Trotzki der bolschewistischen Linie ganz nahe. Tritt ein
Stocken ein oder geht es abwärts, dann macht Genosse Trotzki eine Schwenkung
nach rechts."
Angelica Balabanoff schrieb 1925 über Trotzkis Stellung in der russischen
Arbeiterbewegung („Tragödie Trotzki", Seite 71):
„Es ist allgemein bekannt, daß Trotzki schon vor der ersten russischen
Revolution vom Jahre 1905 Anti- und A-Bolschewist gewesen ist. Er nahm gegen
das Vorgehen und die Methoden der bolschewistischen Fraktion Stellung."
Die führenden Menschewiki beurteilten die Rolle Trotzkis ebenso wie Lenin. In
dem 1925 in der Laubschen Verlagsbuchhandlung in Berlin erschienenen Sammelwerk
über „Die Tragödie Trotzkis" schrieb (Seite 77 usf.) Paul Axelrod, einer
der führenden Menschewiki, nach der Feststellung, daß ihn mit Trotzki enge
Freundschaft verbunden habe:
„Meine jüngeren Parteifreunde haben indessen schon damals auf das viel zu
starke Hervortreten seines Ich-Bewußtseins hingewiesen, und ich muß nun, nach
den Erfahrungen, die er uns seither bereitet hat, sagen: meine Parteifreunde
hatten Recht und Trotzki verdient sein Schicksal. All dies, obwohl ich ihn sehr
gern hatte ... Nach dem Londoner Kongreß im Jahre 1903 ging Trotzki nach
München (1904). Von da ab war er weder Menschewik noch Bolschewik. Man verstand
einfach nicht, was er eigentlich wollte. Jetzt versteht man schon so manches:
Er wollte eben über den Parteien stehen, er wollte es erreichen, daß beide
Richtungen auf ihr eigenes Programm verzichten und sein Programm annehmen
sollten. Es war dies, sein Egozentrismus, der ihn schon damals in seinen
Handlungen geleitet hat. Eine Szene aus der Zeit um 1904: Man nahm eine
Resolution, die er nicht gebilligt hatte, an. Trotzki erhob sich und schlug die
Tür von außen heftig zu ... Im Jahre 1914 hatten wir einen bezeichnenden
Briefwechsel... Zu dieser Zeit aber war er noch alles andere, nur nicht ein
Bolschewik. Es kehrte eben wieder das alte Motiv zurück: einen Keil zu schlagen,
eine besondere Rolle spielen zu wollen." Die Urteile Lenins und Axelrods
über Trotzkis Politik stimmen weitgehend überein. Trotzkis Bemühungen,
Bolschewiki und Menschewiki zu „seinem" Programm zu bekehren waren — wie
die Geschichte gelehrt hat — sehr utopisch und illusionär, aber eben ein
wesentlicher Bestandteil des Trotzkismus.
Nicht minder hart waren Lenins Urteile über die Person Trotzkis. In einem Brief
vom 24. August 1909 schrieb Lenin (veröffentlicht in Leninski Sbornik) Nr. 25,
Seite 38, russisch:
„Was die ,Prawda' (Trotzkis damals in Wien erschienenes Blatt. D. V.) betrifft,
haben Sie den Brief Trotzkis an Inok gelesen? (Inok war das bolschewistische
ZK-Mitglied Dubrovinski. D. V.). Ich hoffe, Sie haben sich überzeugt, wenn Sie
ihn gelesen haben, daß Trotzki sich wie der niederträchtigste Karrierist und
Fraktionsmacher vom Schlage der Rjasanow & Co. betragen hat. Entweder
Parität der Redaktion, Unterordnung unter das ZK und niemanden nach Paris
überführen außer Trotzki (er will auf unsere Kosten die ganze Sippschaft der
,Prawda' unterbringen, der Schuft! — oder mit diesem Lump brechen und ihn im
Zentralorgan entlarven. Schwatzt von Partei, benimmt sich aber schlimmer als
alle übrigen Fraktionisten." Dieser Brief zeigt, daß Lenin in seinen privaten
Äußerungen noch viel härter über Trotzki urteilte als in seinen Artikeln. In
dem im Februar 1914 veröffentlichten Artikel „Über das Selbstbestimmungsrecht
der Nationen" schrieb Lenin in einer Polemik gegen Trotzki (Lenin,
Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 298 usf.): Der dienstfertige Trotzki ist
gefährlicher als ein Feind!
Anderswoher als aus ,Privatgesprächen' (d.h. einfach aus Klatsch, von dem
Trotzki immer lebt) konnte er seine Beweise nicht sammeln, daß die ,polnischen
Marxisten' überhaupt mit jedem Artikel Rosa Luxemburgs übereinstimmen.
Trotzki hat die „polnischen Marxisten“ als Leute ohne Ehre und Gewissen
hingestellt, die nicht einmal ihre Überzeugungen und das Programm ihrer Partei
zu achten imstande sind. Der dienstfertige Trotzki!...
Warum hat Trotzki diese Tatsachen den Lesern seiner Zeitschrift verschwiegen?
Nur deshalb, weil es für ihn vorteilhaft ist, auf die Entfachung von
Differenzen zwischen den polnischen und den russischen Gegnern des
Liquidatorentums zu spekulieren und die russischen Arbeiter in der Programm
frage zu betrügen.
Noch niemals, in keiner einzigen ernsthaften Frage des Marxismus, hatte Trotzki
feste Meinungen, immer ,kroch er in die Risse und Spalte' dieser oder Jener
Meinungsdifferenzen und sprang dabei von einer Seite auf die andere..."
Das Schwanken, die wechselnden Auffassungen Trotzkis, sein Versuch, immer über
den Parteien zu stehen, oder (wie Axelrod sagte) einen Keil zu treiben, das hat
Lenin als wesentliche Eigenschaften Trotzkis und als nicht unwichtige Merkmale
des Trotzkismus bezeichnet. Leninismus, das war — in der idealen Vorstellung
aller überzeugten Leninisten — ein auf Grund einer realen Analyse des
wirklichen Rußland erarbeiteter fester Standpunkt, eindeutiges Handeln und
zielklares Arbeiten für die Erreichung der gesteckten Ziele. Das
Hinundherpendeln des Trotzkismus war das gerade Gegenteil der organisatorischen
Eigenheiten des Leninismus. Es ist darum durchaus verständlich, daß beide in
einen scharfen Gegensatz geraten mußten, der zeitweilig, in Zeiten des revolutionären
Aufstiegs, in denen Trotzki auf Grund seiner Schwankungen sich mehr zu den
Bolschewiki hingezogen fühlte, gemildert werden konnte, um nachher um so
schroffer wieder in Erscheinung zu treten.
Auch noch zu Beginn der Revolution — am 17. Februar 1917 — äußerte Lenin seine
persönliche Meinung über Trotzki sehr drastisch in einem aus Zürich
geschriebenen Briefe an Alexandra Kollontai (Lenin, Sämtliche Werke, Band XXIX,
Seite 290, russisch):
„Heute erhielten wir Ihren Brief und waren sehr erfreut über ihn. Wir wußten
lange nicht von Ihrem Aufenthalt in Amerika ... So angenehm es war, von Ihnen
über den Sieg Nikolai Iwanowitschs und Pawlows im ,Nowya Mir' zu erfahren ....
so bedauerlich ist die Nachricht vom Block Trotzki mit den Rechten zum Kampfe
gegen Nikolai Iwanowitsch. Ein solches Schwein, dieser Trotzki — linke Phrasen
und Block mit den Rechten gegen das Ziel der Linken! Sie müßten ihn wenigstens
in einem kurzen Brief an den ,Sozialdemokrat' entlarven."
Trotzki war zu jener Zeit gleichfalls in Amerika. In „Mein Leben" erwähnt
er auch Lenins Briefe an die Kollontai - ohne ihren Inhalt mitzuteilen. Er
schreibt dort, daß die Kollontai sehr konfus gewesen sei, und daß sie „Lenin
mit amerikanischen Informationen, unter anderem auch über meine Tätigkeit"
versorgte. Aus dem Briefe Lenins ist ersichtlich, daß er lange nichts von dem
Aufenthalt der Kollontai in Amerika wußte. Daraus geht hervor, daß Lenin sein
Urteil über das Verhalten Trotzkis in Amerika nicht nur auf Grund des Briefes
der Kollontai gebildet hatte. Außerdem hatte Lenin ja in den Kämpfen der
vergangenen Jahre viel zu sehr aus eigenen Anschauungen Trotzkis Bereitschaft,
mit den rechten Gegnern der Bolschewiki zusammenzugehen, gesehen. Er hat in
seinen publizistischen Äußerungen dem Sinne nach mehr als einmal dasselbe
Urteil über Trotzki gefällt, wie in dem Briefe an die Kollontai. Trotzki
behauptet, daß Lenin diese Urteile zurückgenommen habe; er sagt aber nicht, wo
das geschehen sein soll. Jedenfalls ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß
der Kampf zwischen Lenin und Trotzki oft sehr heftige Formen angenommen hat.
Formen, die die von den Trotzkisten verbreitete Legende von der steten engen
Kampfgemeinschaft Lenins mit Trotzki Lügen strafen.
Lenins persönliche Urteile hatten immer politische Ursachen. Bei der
Darstellung der Gegensätze, die es nach der Oktoberrevolution noch zwischen
Lenin und Trotzki gab (über die zusammenhängend in einem anderen Kapitel
berichtet wird), schrieb Trotzki in „Mein Leben" (Seite 445):
„Wir waren beide zu ausgesprochene Revolutionäre und Politiker, um das
Persönliche von dem Politischen trennen zu können oder trennen zu wollen."
Auf Lenin trifft das zweifellos zu. Wenn Lenin so scharfe persönliche Urteile
über Trotzki fällte, so hatte das niemals persönliche, sondern politische
Ursachen. Die Heftigkeit der persönlichen Urteile Lenins über einen Gegner war
immer ein Gradmesser für die Größe seiner politischen Gegnerschaft zu diesem.
Aus der Schärfe der persönlichen Urteile Lenins über Trotzki ist zu ersehen,
wie groß die politische Kluft zwischen den Beiden war. Das läßt sich auch durch
die schönste Legendenerzählerei nicht aus der Welt schaffen.
Trotzki trat erst im Juli 1917 — also zwischen Februar- und Oktoberrevolution —
der Bolschewistischen Partei bei. Unter dem starken Druck des großen
geschichtlichen Geschehens vollzog Trotzki eine neue Wendung. Jedoch auch in
jener Zeit der Umgruppierung hat Lenin Trotzki nicht gerufen, er hatte vielmehr
auch damals noch starke Bedenken gegen ihn. Am 17. März 1917 schrieb Lenin in
einem Briefe an die Kollontai (Lenin Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband,
Seite 6):
„Meiner Ansicht nach ist jetzt die Hauptsache, daß man sich nicht auf dumme
,Einigungs'- Versuche mit den Sozialpatrioten (oder, was noch gefährlicher ist,
mit schwankenden Elementen in der Art des Organisationskomitees oder Trotzkis
u. Co.) einläßt und daß die Tätigkeit unserer Partei in einem folgerichtig
internationalen Geiste fortgesetzt wird." Lenin warnte also noch nach
Ausbruch der Revolution vor dem Zusammengehen mit Trotzki. Er rechnete ihn zu
den gefährlichen schwankenden Elementen, mit denen man — wenn die revolutionäre
Entwicklung nicht gehemmt werden soll — keine Kompromisse machen darf. Lenin
sah weit über den Tag hinaus. Wichtiger als die mit Kompromissen erkaufte
Einigung mit schwankenden Elementen erschien ihm die konsequente Fortführung
der revolutionären Linie der Bolschewik. Wer in der Revolution mit den
Bolschewiki zusammenarbeiten wollte, der mußte sich zuerst zu ihren Prinzipien,
zu ihrer Politik bekennen. In den Aprilthesen hat Lenin den in der Revolution
einzuschlagenden, später so erfolgreichen Kurs niedergelegt. Trotzki suchte
erst nach seiner Anfang Mai 1917 erfolgten Rückkehr nach Rußland Anschluß bei
den Bolschewiki. Er mußte, wenn er in dem revolutionären Geschehen eine Rolle
spielen wollte, seine Zwischenstellung zwischen Bolschewiki und Menschewiki
aufgeben und sich für die einen oder die anderen entscheiden. Hätte er sich für
die Menschewiki entschieden, so wäre die Oktoberrevolution nicht andere
verlaufen, nur Trotzki wäre schon damals mit Kerenski und anderen von der
Bildfläche verschwunden. Denn nicht Trotzki, sondern die Bolschewistische
Partei hat die Oktoberrevolution vorbereitet und durchgeführt. Lenin hat
Trotzki durchaus nicht mit offenen Armen aufgenommen. Er schien ihm alles
andere als der Mann, ohne den die Bolschewiki — wie die trotzkistische Legende
behauptet — weder die Oktoberrevolution, noch den Bürgerkrieg siegreich beenden
konnten. Trotzki selbst berichtet in seinem Buche „Über Lenin" (Seite 60),
daß er Lenin in der Revolution zum ersten Male am 5. oder 6. Mai 1917
gesprochen habe:
„Ich sagte Lenin, daß mich nichts von seinen Aprilthesen und von dem ganzen
Kurs, den die Partei nach seiner Ankunft eingeschlagen hatte, trenne, und daß
ich vor der Alternative stünde, entweder sofort ,individuell' in die
Parteiorganisation einzutreten, oder zu versuchen, den besten Teil der
„Vereiniger“ mitzubringen ... Lenin sprach sich weder für das eine, noch für
das andere kategorisch aus." Trotzkis Darstellung ist nicht klar und
präzise. Aus ihr geht nur hervor, daß Lenin auf das Angebot Trotzkis, in die
Bolschewistische Partei einzutreten, keine Antwort gab, obwohl Trotzki
ausdrücklich beteuerte, daß er sich auf den Boden der leninschen Aprilthesen
stelle und den Kurs der Bolschewiki anerkenne. In der zitierten Schrift „Die
Tragödie Trotzkis" sagte der Herausgeber, ein Anhänger Trotzkis, zu dessen
Darstellung über sein erstes Zusammentreffen mit Lenin (Seite 7):
„Die Fassung ist hier also ein wenig unsicher. Jedenfalls liegen Äußerungen
noch aus dem Sommer 1917 vor, aus denen man den Schluß ziehen könnte, daß Lenin
zumindest über die Motive Trotzkis in dieser Angelegenheit anderer Meinung
war." Stalin warf in einer am 19. November 1924 gehaltenen Rede die Frage
auf: „Warum hielt es Lenin am zweiten Tage nach seiner Heimkehr aus dem
Auslande für notwendig, einen dicken Trennungsstrich zwischen sich und Trotzki
zu ziehen?
Die Antwort hat Lenin selbst gegeben. In Notizen für den Bericht einer Konferenz
sagte er: die Februarrevolution werde zusammenbrechen; „es sei darum notwendig,
sich auf diesen Zusammenbruch und auf eine Revolution vorzubereiten, die
1000-mal stärker sei als die Februarrevolution. Um das zu erreichen, müsse man
fest sein wie ein Stein in der proletarischen Linie gegen die kleinbürgerlichen
Schwankungen". Zu den Gruppierungen mit kleinbürgerlichen Schwankungen
rechnete Lenin in diesen Notizen aber auch Trotzki. Ihm gegenüber mußte man
„fest sein wie ein Stein", wenn aus der zusammenbrechenden
Februarrevolution sich die siegreiche Oktoberrevolution entwickeln
sollte."
Trotzki ist 1917 — nach einer anderthalb Jahrzehnte währenden Feindschaft mit
den Bolschewiki — vorübergehend in die Bolschewistische Partei eingetreten.
Aber schon nach sehr kurzer Zeit hat er wieder seine eigene Linie, den
Trotzkismus, zu vertreten versucht. Er ist dabei zwangsläufig mit Lenin in
Konflikt gekommen. Trotzki ist in der Bolschewistischen Partei, deren Gegner er
immer war, auch in seiner besten Zeit ein Fremdkörper geblieben. Der
trotzkistische Herausgeber des schon erwähnten Buches „Die Tragödie
Trotzki" schreibt über Trotzkis Verhältnis zu Lenin nach 1917 (Seite 7):
„Gleich nach Verwirklichung der bolschewistischen Revolution zeigten sich
wieder die ersten Gegensätze zwischen Lenin und Trotzki. Trotzki sympathisierte
mit der linken Gruppe Bucharin-Radek, die für den revolutionären Krieg
eingetreten ist. Er ging eben immer mit denen, die die revolutionäre Tat
wollten."
Die letzte Ursache der Konflikte ist Trotzkis Vergangenheit, der alte Gegensatz
zwischen Bolschewismus und Trotzkismus. In „Mein Leben" erzählt Trotzki
(Seite 319):
„Für Lenin war, als er die vergangene Entwicklung der Partei rückschauend
betrachtete, der Trotzkismus weder eine feindliche, noch eine fremde, sondern
im Gegenteil die dem Bolschewismus nächste Strömung des sozialistischen
Gedankens."
Die Behauptung Trotzkis, daß Lenin im Trotzkismus keine feindliche Strömung
gesehen habe, widerspricht den Tatsachen. Lenins Urteil über den Trotzkismus
ist in allen Phasen der revolutionären Entwicklung so eindeutig und so hart,
daß diese nach Lenins Tode erfolgte „Feststellung" Trotzkis wie eine grobe
Beleidigung Lenins erscheint. Der Trotzkismus war — wie Trotzki in der
vorstehend zitierten Äußerung zugibt — immer eine besondere Richtung in der
russischen Arbeiterbewegung; ihr heftigster Gegner war zu allen Zeiten Lenin.
Trotzki zitiert in „Mein Leben" (Seite 537) als seine unerschütterliche
Auffassung einen von ihm im Mai 1927 an Michael Okudschawa geschriebenen Brief,
in dem es u.a. heißt:
„Soweit der neue Kurs Stalins sich Aufgaben stellt, bemüht sich Stalin
zweifellos, an unsere Position heranzukommen. In der Politik entscheidet aber
nicht nur was, sondern auch wer und wie..."
Trotzki hat sehr oft behauptet, Stalin habe die erst von ihm bekämpfte Politik
Trotzkis durchgeführt. Das ist vollkommen falsch. Die politische Linie Stalins
unterscheidet sich in allen entscheidenden Phasen sehr eindeutig vom
Trotzkismus. Äußerlich gleich scheinende politische Handlungen sind nicht immer
gleichwertig; ob sie richtig oder falsch sind, hängt oft in entscheidendem Maße
von der Situation ab, in der sie durchgeführt werden. Ist die Situation reif
für die Durchführung einer Aktion, wird mit ihr das nächste Kettenglied in der
revolutionären Entwicklung gepackt, so führt die Aktion vorwärts zum
revolutionären Ziele, so ist sie revolutionär. Wird dagegen die Aktion zur
unrechten Zeit in Angriff genommen, so wird mit ihr der erfolglose Versuch
gemacht, notwendige Etappen zu überspringen, so wirft sie die revolutionäre
Bewegung zurück, so ist sie rückschrittlich.
Übrigens wird aus dem vorstehend zitierten Brief ein besonderer Wesenszug
Trotzkis deutlich: Nur was er macht, ist richtig. Selbst wenn Stalin die von
Trotzki als richtig bezeichnete Politik macht, handelt er falsch. Diesen
Grundsatz hat Trotzki von 1903 an auch Lenin gegenüber angewandt. Das brachte
ihn in den scharfen Gegensatz zur Bolschewistischen Partei. Denn in dieser ist
nach der Lehre Lenins entscheidend, was einer, nicht wer es macht. In der
Vergangenheit kämpfte Trotzki gegen Lenin, weil dieser, und nicht er, den
richtigen Weg führte; nach Lenins Tode kämpfte er aus dem gleichen Grunde gegen
die Repräsentanten der Bolschewistischen Partei.
In der späteren Entwicklung hat Trotzki sich stets bemüht, seine Konflikte mit
der Bolschewistischen Partei als einen persönlichen Kampf Stalins gegen ihn
darzustellen. Diese Taktik wandte er früher ebenso gegen Lenin an. Im Jahre
1911 nannte Lenin ihn einen Ignoranten, weil er bei den Differenzen um die
Prager Konferenz und Trotzkis „Augustblock" die politischen Strömungen auf
den Gegensatz von Personen zurückzuführen versuchte. Die späteren
Auseinandersetzungen um das Schicksal der Sowjetunion sind wahrlich kein Personenstreit.
Stalin wurde der „Erbfeind" Trotzkis, so wie es ehedem Lenin war. Beide
aus dem gleichen Grunde: als Repräsentanten der Bolschewistischen Partei, die
stets in unerbittlicher Gegnerschaft zum Trotzkismus stand.
Der Trotzkismus ist keine Erfindung Stalins. Er existiert seit dem
Jahre 1903 als eine besondere Strömung in der russischen Arbeiterbewegung. So
wie der Leninismus und die Bolschewistische Partei untrennbar mit der
geistigen, politischen und organisatorischen Arbeit Lenins verbunden sind, so
ist der Trotzkismus ohne das Wirken Trotzkis undenkbar.
In „Mein Leben" stellt Trotzki sein Verhältnis zu Lenin so dar, daß er
nicht wie Stalin und die anderen Bolschewiki ein Schüler Lenins-, sondern ein
Eigener neben Lenin war. Die Schüler Lenins haben — so behauptet Trotzki dort —
nie selbständige Politik machen können, sie seien ohne die Direktiven des
Meisters immer halt- und hilflos gewesen. Anscheinend ist es Trotzki bei der
Herabsetzung der Schüler Lenins gar nicht zu Bewußtsein gekommen, daß seine
Behauptung eine Beleidigung Lenins und der Bolschewistischen Partei, zugleich
aber auch ein Ignorieren des Marxismus ist. Der ganze Kampf Lenins um eine
zielklare, revolutionäre Partei wäre sinnlos gewesen, wenn diese Partei nicht
imstande wäre, die Kräfte und Menschen hervorzubringen, die das Werk des
Lehrers erfolgreich fortsetzen. Schon bei dieser Betrachtung tritt ein
Wesenskern des Trotzkismus zutage, der im Widerspruch zum Marxismus die
Gestaltung der Geschichte viel zu sehr von subjektiven Kräften und Personen
erwartet. Gewiß spielen diese — wie ja die Person Lenins beweist — eine Rolle.
Aber ohne die zielbewußte revolutionäre Partei, die das Heranreifen objektiv
günstiger Situationen beschleunigen und diese auswerten kann. hätte auch Lenin
nicht Führer einer siegreichen proletarischen Revolution werden können.
Trotzki war nach seiner Behauptung also kein Schüler Lenins, sondern ein
Eigener, ein Meister neben dem anderen Meister. Er erzählt in „Mein Leben"
weiter, daß er nur durch seine eigene Denkarbeit zu den Problemen der
russischen Revolution Stellung nahm, das heißt, daß er nicht wie die anderen
das von Lenin Vorgekaute einfach hinunterschluckte. Allerdings — so erzählt er
— sei er ganz unabhängig von Lenin meist zu denselben Ergebnissen wie dieser
gekommen. Das stimmt mit den Tatsachen und der geschichtlichen Wahrheit nicht
überein. Richtig daran ist nur, daß Trotzki seine eigenen Wege ging. Die
selbständige Linie Trotzkis, das ist der Trotzkismus, der in allen
entscheidenden Fragen der russischen Revolution durch die geschichtliche
Entwicklung widerlegt wurde. Lenin hat seine Stellung zum Trotzkismus nicht
davon bestimmen lassen, daß er eine besondere Strömung in der russischen
Arbeiterbewegung war, sondern nur von der Erkenntnis, daß der Trotzkismus
Unrecht hatte und falsche Wege ging.
Der Trotzkismus war also — von Trotzki nicht bestritten — zu allen Zeiten eine
eigene Richtung in der russischen Arbeiterbewegung. Er war in seinen Anfängen
eine opportunistische Strömung, die im ewigen Zwiespalt zwischen Bolschewiki
und Menschewiki hin und her schwankte, ihre unreale, mehr rechts orientierte
Politik mit ultralinken Phrasen zu verdecken suchte, in einen schroffen
Gegensatz zum Leninismus geriet und schließlich zum offenen Feind der
Sowjetunion und der Arbeiterbewegung wurde. So wandelbar Trotzki in seiner
Zwischenstellung war, so wandelbar sind auch die Inhalte des Trotzkismus.
Begonnen hat der Trotzkismus mit Trotzkis Auftreten gegen die von Lenin
geforderte revolutionäre, unter einer straffen zentralen Leitung in allen
Aktionen geschlossen handelnde Partei. In diesem Kampf entwickelte der
Trotzkismus seine organisatorische Zwischenstellung und tiefgehende politische
und theoretische Gegensätze zum Leninismus. So z.B. in der Frage der
permanenten Revolution, in der Trotzki eine besondere Stellung bezog und eine
vom Leninismus abweichende Auffassung von der Diktatur des Proletariats und von
dem in Rußland ganz besonders wichtigen Verhältnis der Arbeiterklasse zur
Bauernklasse vertrat. Aus der trotzkistischen Grundeinstellung zur permanenten
Revolution erwuchs weiter der Gegensatz zu der leninistischen Theorie über die
Entwicklung von der bürgerlichen zur sozialistischen Revolution und in der
Konsequenz die Theorie der Verneinung des Sozialismus in einem Lande, die nach
der siegreichen proletarischen Revolution zum markantesten Wesenszug des
Trotzkismus wurde.
In diesem Abschnitt sind die organisatorischen, politischen und theoretischen
Inhalte des Trotzkismus nur zusammengefaßt aufgezählt. In den nachfolgenden
Abschnitten wird im Einzelnen zu den vom Leninismus abweichenden
trotzkistischen Auffassungen Stellung genommen. Nur eine Äußerung des Führers
der Menschewiki, Th. Dan, über den Trotzkismus soll hier vorausgenommen werden,
weil sie eine mehr allgemeine Charakterisierung der zwiespältigen Position des
Trotzkismus gibt. In der zusammen mit Martow geschriebenen „Geschichte der
Russischen Sozialdemokratie" (1926 im Dietz-Verlag, Berlin, erschienen)
schreibt Dan (Seite 239):
„Trotzki unterschied sich von Lenin auch dadurch, daß er an die Stelle der
,Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft' die Diktatur der
Arbeiterklasse setzte, die sich auf die formlosen Bauernmassen stutzte.
Trotzki, der in den taktischen Fragen den Bolschewisten näher stand, teilte in
den Organisationsfragen, die damals im Mittelpunkt des Fraktionskampfes
standen, im großen und ganzen die Auffassung des ,Golos Sozialdemokrata'
(Menschewiki, d.V.). Diese Zwiespältigkeit seiner Position, die keine
organische Verbindung zwischen seiner politischen und organisatorischen
Anschauung schuf, beschränkte die Anhänger Trotzkis auf einen sehr kleinen
Kreis von Personen."
Diese Zwiespältigkeit ist ein charakteristischer Wesenszug des Trotzkismus, der
letzten Endes entstanden ist aus dem Wollen Trotzkis, über Bolschewiki und
Menschewiki zu stehen, eine eigene Rolle zu spielen.
So schwankend Trotzkis Stellung in der Vergangenheit war, so wandelbar sind
auch seine Bekenntnisse zum Trotzkismus. In manchen Zeiten jedenfalls bemühte
er sich, den Trotzkismus zu verleugnen. In einem im Januar 1925, vor seinem
Rücktritt, an das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei gerichteten Brief
schreibt Trotzki:
„Es ist mir Jedoch unter keinen Umständen möglich, die Beschuldigung, ich
verfolge eine besondere Linie und diejenige des ,Trotzkismus' und ich strebe
eine Revision des Leninismus an, ohne Widerspruch zu lassen.
Ganz ungeheuerlich ist die Version, ich sei der Auffassung, nicht ich sei zum
Bolschewismus, sondern der Bolschewismus sei zu mir gekommen ... Ich dachte im
Laufe der letzten acht Jahre kein einziges Mal daran, an irgend ein Problem vom
Gesichtspunkte des sogenannten ,Trotzkismus' aus heranzutreten. Der Trotzkismus
war und ist für mich längst liquidiert."
In der Behauptung, daß für ihn nach dem Eintritt in die Bolschewistische Partei
der Trotzkismus liquidiert wurde, liegt zugleich auch die Feststellung, daß er
vorher bestanden hat. Aber sonst ist die Darstellung Trotzkis falsch. Trotzki
hat bei seinem Eintritt in die Bolschewistische Partei dem Trotzkismus
keineswegs abgeschworen. Noch kurz vorher, im Mai 1917, fand in Petersburg eine
Konferenz mit der Gruppe der „Vereiniger", der auch Trotzki angehörte,
statt. In dieser Konferenz vertrat Lenin die Stellungnahme der Bolschewiki zu
der Vereinigung mit den auf dem Boden des Internationalismus stehenden Gruppen
und Strömungen, die ein Zusammengehen mit den für die Vaterlandsverteidigung
eintretenden Richtungen ablehnten. Nach Lenin sprach Trotzki. Über die
Ausführungen Trotzkis machte Lenin folgende Notizen (Leninscher Sammelband Nr.
IV, Seite 300, russisch):
„Mit den Resolutionen bin ich vollständig einverstanden — indessen bin ich
insofern einverstanden, insoweit sich der russische Bolschewismus
internationalisiert hat. Die Bolschewiki haben sich entbolschewisiert — und ich
kann mich nicht als Bolschewik bezeichnen. Der Abstimmung kann und soll ihre
Resolution zugrunde gelegt werden. Aber eine Anerkennung des Bolschewismus kann
man von uns nicht verlangen."
Das stimmt mit der späteren Erklärung vom Januar 1925 durchaus nicht überein.
Es gibt auch eine Reihe Äußerungen von Trotzkis Freunden, in denen behauptet
wird, Trotzki sei nicht zum Bolschewismus, sondern der Bolschewismus sei zu
Trotzki gekommen. Jedenfalls aber geht aus den Notizen Lenins hervor, daß
Trotzki kurz vor seinem Eintritt in die Bolschewistische Partei Vorbehalte
machte und die Absicht kundtat, mit der Fahne des Trotzkismus in die
Bolschewistische Partei zu marschieren. Später erschien ihm das Heraushängen
dieser Fahne nicht mehr zweckmäßig. Er versuchte, seine politische
Sonderstellung in der Vergangenheit auszulöschen und die Legende von seiner
völligen Einheit mit Lenin und dem Leninismus zu scharfen.
Im weiteren Verlaufe der politischen Auseinandersetzungen in der Bolschewistischen
Partei hat die Opposition noch manchmal recht energisch ihren
„Trotzkismus" bestritten. In der „Plattform der russischen
Opposition", die dem XV. Parteitag vorgelegt wurde, heißt es u. a. (Seite
64):
„Aber eine besonders beliebte Beschuldigung gegen uns ist in letzter Zeit die
Beschuldigung des ,Trotzkismus'. Vor dem Angesicht der ganzen Komintern ...
haben wir mit den Unterschriften Sinowjews, Kamenews und Trotzkis erklärt: Es
ist falsch, daß wir den Trotzkismus verteidigen. Trotzki hat vor dem Antlitz
der ganzen Komintern erklärt: daß in allen einigermaßen prinzipiellen Fragen,
über welche er mit Lenin stritt, Lenin recht hatte, insbesondere in der Frage
der permanenten Revolution und der Bauernschaft." Betrachtet man diese
Erklärungen rückschauend im geschichtlichen Zusammenhang, so wird die ganze
Unehrlichkeit des Kampfes der trotzkistischen Opposition deutlich. In einer
Kundgebung an den Parteitag wird gleich mehrmals pathetisch erklärt, daß
Trotzki und die Trotzkisten mit dem Trotzkismus nichts zu tun haben, daß sie
ihn nicht verteidigen, sondern ihn vielmehr abschwören. Eine wirklich
zielbewußte revolutionäre Gruppe hätte das niemals getan, sie hätte vor dem
Parteitag und vor der Komintern ihren Standpunkt vertreten. Die Trotzkisten waren
aber schon damals ideologisch und in der Organisation so schwach, daß sie ihren
Standpunkt verleugneten. Aber die weitere Entwicklung zeigte sehr bald, daß die
trotzkistische Opposition mit voller Überlegung einen Meineid geschworen hat,
daß die Verleugnung des Trotzkismus nicht ihrer Überzeugung entsprach, sondern
von taktischen Interessen bestimmt wurde. Jedenfalls bekannte Trotzki sich in
seinen späteren Schriften doch wieder zum Trotzkismus. Die zitierte Plattform
der Opposition an den XV. Parteitag ist ein klassisches Beweisstück für die
Unaufrichtigkeit Trotzkis. In dieser Plattform beteuert er feierlich vor dem
Antlitz der ganzen Komintern daß er in allen prinzipiellen Fragen, so u.a. auch
in der Frage der „permanenten Revolution" unrecht und Lenin recht hatte.
Mit dieser Erklärung hat Trotzki die Komintern belogen. Der Beweis dafür wird
von Trotzki selber erbracht. In „Mein Leben" (Seite 519) erzählt er:
„Besonders war Joffe (ein Freund Trotzkis, der Sowjetdiplomat war. d.V.) über
die Kampagne gegen die permanente Revolution empört. Er konnte die
niederträchtige Hetze nicht überwinden, die gegen jene, die den Verlauf und den
Charakter der Revolution lange vorausgesehen hatten, betrieben wurde von
solchen, die nur die Früchte der Revolution genossen. Joffe erzählte mir sein
Gespräch, das er mit Lenin, ich glaube im Jahre 1919, über das Thema der
permanenten Revolution geführt hatte. Lenin hatte ihm gesagt: ,Ja, Trotzki hat
recht gehabt' Joffe wollte dieses Gespräch nun veröffentlichen. Ich hielt ihn mit
allen Mitteln zurück." Joffe, der schwer krank war, hat sich bald darauf
das Leben genommen, ohne diese Erzählung Trotzkis veröffentlicht zu haben. Sie
ist von Trotzki frei erfunden. Trotzki kann keinerlei Beweise für ihre Echtheit
anführen. Lenins theoretische Einstellung und alle seine öffentlichen und
nachprüfbaren Äußerungen zu diesem Thema beweisen, daß der Führer der
Bolschewiki jederzeit Trotzkis permanente Revolution abgelehnt hat. Jedoch
Trotzki stellt in „Mein Leben" die Sache so dar, als ob er an Joffes
Mitteilung glaubte. Danach ergibt sich folgendes Bild: Trotzki Ist überzeugt,
daß sein Standpunkt in der Frage der permanenten Revolution gegenüber Lenin
richtig war, was dieser selbst zugegeben haben soll. Trotzdem erklärt Trotzki
einige Jahre später (im Dezember 1926) in einer Erklärung „vor dem Angesicht
der Komintern", Lenin und nicht Trotzki hatte in der Frage der permanenten
Revolution recht. Und in dem 1930 erschienenen Buche „Mein Leben" schreibt
Trotzki dann wieder das Gegenteil von seiner feierlichen Erklärung. Je nach der
Situation hat Trotzki nach der Oktoberrevolution den Trotzkismus abgeschworen,
oder sich zu ihm bekannt. Solange Trotzki noch glaubte, an der Macht zu
bleiben, hat er die trotzkistische Fahne eingezogen, um sie dann — als das
Manöver nicht gelungen war — wieder heraus zu stecken.
Alle seine Loyalitätserklärungen waren unehrlich. In der Folgezeit erscheinen
die neuen Bekenntnisse zum Trotzkismus allerdings in einer veränderten Form:
Ausgehend von der Behauptung, daß — abgesehen von angeblich nebensächlichen
Meinungsverschiedenheiten — zwischen Lenin und Trotzki weitgehende
Übereinstimmung bestand, repräsentieren nunmehr Trotzkis Auffassungen den
„verbesserten" Leninismus, den alle diejenigen „verraten", die den
Trotzkismus bekämpfen.
Das aber ist eine Fälschung der Geschichte, begangen von denen, die der
Bolschewistischen Partei Geschichtsfälschung vorwerfen, weil diese entsprechend
der historischen Wahrheit den Gegensatz zwischen Lenin und Trotzki, zwischen
Leninismus und Trotzkismus, klarstellt, weil sie nicht die von den Trotzkisten
erfundene Legende von der überragenden Rolle Trotzkis in der Oktoberrevolution
und im Bürgerkrieg anerkennt.
„Wir alle“ — schrieb Paul Levi in dem Vorwort zu Trotzkis „1917“ —
„sind ja der russischen Arbeiterbewegung in früheren fahren nie recht nahe
gekommen. Sie spielte sich in anderen Formen ab als die europäische.“
Rußland war unter dem Zarismus zweifellos das rückständigste Land in Europa.
Die feudalistische Herrschaft hat die Entfaltung der Produktivkräfte des Landes
gehemmt, das Riesenreich im Osten war in der Entwicklung weit hinter allen
europäischen Ländern zurückgeblieben. Das Proletariat war zahlenmäßig schwach,
der Bauernfrage kam bei der Sammlung und Entfaltung der revolutionären Kräfte
eine viel größere Bedeutung zu als in den kapitalistisch hochentwickelten
Ländern. Rußland war das Vorbild aller Despoten. Im Zarenreich gab es keine
Meinungs- und Pressefreiheit, kein Vereinigungsrecht für die Kräfte, die
freiheitliche Zustände erkämpfen wollten. Die Knute regierte. Unter diesem
Regiment war die sozialistische Arbeiterbewegung in die Illegalität verbannt.
Ihr Kampf vollzog sich unter unvergleichlich schwierigeren Bedingungen als der
Kampf der europäischen Arbeiterbewegung. Im zaristischen Rußland konnte sich
keine legale Arbeiterpartei bilden, sie war von Beginn an zur Illegalität
gezwungen. Die ersten Ansätze zu einer klassenbewußten Arbeiterbewegung
entstanden unterirdisch in den verschiedensten Gegenden des Reiches. Aus der
Situation ergab sich, daß die ersten illegalen Kader ihren Kampf gegen den
Zarismus auf eigene Faust, ohne zentrale Verbindung, ohne einheitliche zentrale
Leitung führten. Der durch die zaristische Knute erzwungene Zustand erschwerte
die Bildung einer einheitlichen Partei; die zwangsläufige Folge war das
Entstehen unzähliger Zirkel und Gruppen, in denen wegen der fehlenden
Verbindung untereinander und mit einer leitenden Zentrale lange Zeit organisatorische
und ideologische Verwirrung herrschte.
Auf der Basis, auf der die russische sozialistische Bewegung entstand und sich
entwickeln mußte, spielten die organisatorischen Probleme eine viel größere
Rolle als in den europäischen Ländern. In Rußland war die Frage des Aufbaus der
Organisation, der die Massen führenden revolutionären Partei ein entscheidendes
politisches Problem. Deshalb gab es in der russischen sozialistischen Bewegung
leidenschaftliche Auseinandersetzungen um organisatorische Fragen, die den
Sozialisten in den anderen Ländern als sektiererische Rechthaberei erschienen.
Die geschichtliche Entwicklung aber hat gelehrt, daß erst durch die richtige
Lösung der eminent politischen Organisationsdifferenzen der Sieg der
proletarischen Revolution möglich wurde.
Es ist das große historische Verdienst Lenins, daß er mit eiserner Konsequenz -
die ihm in der Vergangenheit oft den Vorwurf eines dogmatischen Rechthabers und
Spalters eingetragen hat — für den Aufbau einer organisatorisch und ideologisch
geschlossenen zentralistischen Partei mit straffer zentraler Leitung wirkte. Im
Kampfe um diese Partei erfolgte der erste Zusammenstoß Lenins mit Trotzki, der
1903 auf dem II. Parteitag gegen Lenins organisatorische Konzeption auftrat.
Trotzki hat in dieser Frage all die Jahre einen heftigen Kampf gegen Lenin
geführt.
Um die Bedeutung des organisatorischen Kampfes zwischen Leninismus und
Trotzkismus zu verstehen, ist es notwendig, kurz den geschichtlichen
Hintergrund dieses Kampfes zu skizzieren. Wegen der rückständigen ökonomischen
Struktur Rußlands entwickelte sich erst sehr spät eine industrielle Produktion
und die mit dieser wachsende Arbeiterschaft. Die ersten Arbeiterzirkel und
Arbeiterverbände bildeten sich um das Jahr 1875; ihre Entfaltung wurde durch Verhaftungen
und behördliche Verfolgungen immer wieder stark gehemmt. G.W. Plechanow hatte
schon zu der Zeit, als er noch Anhänger der revolutionären Narodniki-Bewegung
war, die ersten Verbindungen mit Arbeitern. Im Gegensatz zu den Narodniki, die
in Rußland nur den Bauern sahen und nicht das mit dem Kapitalismus sich
entwickelnde Proletariat, erkannte Plechanow frühzeitig die führende Rolle der
Arbeiterklasse im revolutionären Kampf. Plechanow, der die 1878 erfolgte
Gründung des ersten „ Nordrussischen Arbeiterbundes" unterstützte, wurde
wegen seiner revolutionären Tätigkeit verfolgt und mußte ins Ausland flüchten.
Dort wurde er mit der marxschen Lehre (die vorher in den russischen
Arbeiterzirkeln nicht bekannt war) vertraut, ebenso auch mit der sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung Europas. In Auseinandersetzungen mit den Narodniki vertrat er
den Gedanken, die Elemente für die Schaffung einer zukünftigen sozialistischen
Arbeiterpartei herauszuarbeiten. 1883 gründete er zusammen mit dem gleichfalls
im Auslande lebenden Axelrod und der Sassulitsch die „Gruppe der Befreiung der
Arbeit", die erste marxistische Gruppe der russischen Arbeiterbewegung,
die sehr viel für die Verbreitung der marxistischen Gedanken in Rußland getan
hat. Lenin, wesentlich jünger als Plechanow und Axelrod, war sehr bald einer
der führenden Männer dieser Gruppe in Rußland. 1894 kam Lenin nach Petersburg.
Dort wurde er der Führer des „Petersburger Kampfbundes zur Befreiung der
Arbeiterklasse". In dieser marxistischen Gruppe gab es aber noch die
verschiedensten Meinungen, in ihr entwickelte sich auch die unter dem Namen
„Ökonomisten“ bekanntgewordene Strömung. Sie vertrat den Standpunkt, die
Arbeiterbewegung habe nur den Kampf für die Verbesserung der wirtschaftlichen
Lage der Arbeiter zu führen, der Kampf für politische Forderungen gehöre nicht
zum Aufgabenkreis einer Arbeiterpartei. Lenin trat in Übereinstimmung mit
Plechanow und Axelrod den „Ökonomisten" sehr entschieden entgegen. Er
vertrat die Auffassung, der ökonomische Kampf der Arbeiterklasse könne nicht
vom politischen Kampf getrennt, jeder Zusammenstoß der Arbeiter mit den
Unternehmern auf wirtschaftlichem Gebiete müsse für den politischen
Befreiungskampf ausgenützt werden. Die Arbeiterpartei dürfe sich nicht damit
begnügen, eine kleine Gruppe von Arbeitern in Zirkeln zu gebildeten Marxisten
zu erziehen, sondern sie habe die Aufgabe, den Massenkampf der Arbeiter zu
organisieren. Das Tun Lenins und seiner Gesinnungsgenossen im Petersburger
Kampfbund entsprang dem Gedanken, eine einheitliche revolutionäre
sozialdemokratische Arbeiterpartei zu schaffen, die zur Massenagitation in der
Arbeiterklasse übergeht und diese für den wirtschaftlichen und politischen
Befreiungskampf mobilisiert. Die Bolschewiki haben später festgestellt, daß die
Wurzeln des Bolschewismus in diese Zeit, in die neunziger Jahre zurückreichen,
in denen Lenin und die revolutionären Sozialdemokraten den Kampf mit den
„Ökonomisten" ausfochten.
Am 1. März 1898 trat in Minsk der erste Parteitag zusammen, dessen Aufgabe die
Zusammenfassung der sozialdemokratischen Zirkel und Gruppen zu einer
einheitlichen Partei sein sollte. Wie schwach damals die Verbindungen waren,
geht auch daraus hervor, daß zu diesem ersten Parteitag nur neun
sozialdemokratische Organisationen Vertreter schickten. Der Parteitag wählte
ein aus drei Personen bestehendes Zentralkomitee; er arbeitete ein
Organisationsstatut aus und nahm ein Manifest der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Rußlands an. In dem Manifest wurde die Vereinigung aller lokalen
Organisationen und Zirkel zu einer einheitlichen Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) gefordert.
„Die ersten Schritte der russischen Arbeiterbewegung und der russischen
Sozialdemokratie — hieß es in dem Manifest — waren notgedrungen isoliert, bis
zu einem gewissen Grade zufällig, ohne Einheit und Plan. Jetzt ist die Zeit
gekommen, um die lokalen Gruppen und Organisationen der russischen
Sozialdemokratie in einer einheitlichen ,Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Rußlands' zu vereinigen. In Erkenntnis dieser Notwendigkeit haben die Vertreter
der ,Kampfverbände zur Befreiung der Arbeiterklasse' ... einen gemeinsamen
Kongreß einberufen...
Die wichtigste und höchste Aufgabe der Partei, die den Weg einer
Klassenbewegung der organisierten Arbeitermassen beschreitet, ist die Eroberung
der politischen Freiheit. Aber diese notwendige politische Freiheit kann sich
das russische Proletariat nur selbst erkämpfen." Den Gedanken, daß auch in
Rußland der damals noch zahlenmäßig schwachen Arbeiterklasse die führende Rolle
im revolutionären Befreiungskampf zukommt, sprach das Manifest mit den Worten
aus:
„Sie (die Sozialdemokratie) ist fest davon überzeugt, daß die Befreiung der
Arbeiterklasse nur das Werk dieser Klasse selbst sein kann.“
Aber dieser erste Parteitag hat wenig für die von ihm aufgezeigte Aufgabe, alle
Kräfte zu einer einheitlichen Partei zusammenzufassen, gewirkt. Unmittelbar
nach dem Parteitag wurden das Zentralkomitee und die meisten Teilnehmer
verhaftet. Die Polizei vernichtete die in Minsk geschaffene Organisation. Das
organisatorische Nebeneinander und Durcheinander war nach dem ersten Parteitag
nicht geringer als vorher. Es trat eine Periode des Stillstandes ein, in der
die „Ökonomisten" und andere Gruppen den ideologischen Wirrwarr noch
vergrößerten. Als Lenin Anfang 1900 aus der sibirischen Verbannung
zurückkehrte, organisierte er die Herausgabe einer allrussischen politischen
Zeitung, die als geistige Führerin für die Überwindung des ideologischen
Wirrwarrs und für die Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte in einer
Partei wirken sollte. Bald nach seiner Rückkehr aus der Verbannung ging er ins
Ausland, wo er sofort mit den Genossen der Gruppe „Befreiung der Arbeit"
in Verbindung trat. Ende 1900 erschien die erste Nummer der „Iskra" („Der
Funke"), in deren Redaktion Axelrod, Lenin, Plechanow, Potressow und die
Sassulitsch zusammenarbeiteten, zu denen etwas später noch Martow kam. Die
„Iskra" entwickelte sich sehr bald zu einem führenden geistigen und
organisatorischen Zentrum; sie wirkte in Rußland für die Vereinigung der
einzelnen Organisationen zu einer einheitlichen Partei, für die Herausarbeitung
einer einheitlichen politischen Linie. Im Jahre 1902 erschien Lenins Buch „Was
tun?", in dem er seine Gedanken über den Aufbau einer revolutionären Kampfpartei
darlegte. Lenin wies, ausgehend von der Situation in Rußland, nach, daß die
Partei zentralistisch aufgebaut und von einem führenden Zentrum aus geleitet
werden müsse. Nur eine so aufgebaute Partei könne die organisatorische
Zersplitterung und die ideologische Verwirrung überwinden, nur eine
aktionsfähige, auf der Basis gemeinsamer theoretischer Erkenntnisse geschlossen
handelnde Partei könne die Massen mobilisieren, sie in entscheidenden
Situationen mitreißen und die Arbeiterklasse zum Siege führen.
Nach dem mißlungenen 1. Parteitag gab es auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts
noch immer keine einheitliche Partei in Rußland. Die „Iskra", als das im
Auslande arbeitende provisorische Zentrum, wirkte unter dem starken Einfluß
Lenins für die Konstituierung der geschlossenen Partei. Die Redaktion der
„Iskra" bereitete das Parteiprogramm vor; sie organisierte den II.
Parteitag, auf dem das Organisationsstatut und das Parteiprogramm beschlossen
wurden.
Im Jahre 1903 fand in London der II. Parteitag statt. Auf diesem Parteitag
wurde in der Tat aus dem Wirrwarr der Gruppen und Zirkel die gemeinsame Partei
konstituiert. Aber diese Partei war eben zunächst nur eine gemeinsame, noch
keine einheitliche mit einer übereinstimmenden ideologischen Grundlage. Darum
kam es auf dem II. Parteitag zu der ersten Spaltung, die die
Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands in Bolschewiki und Menschewiki
teilte.
Differenzen zwischen Lenin und den späteren Menschewiki um organisatorische
Fragen waren der äußere Anlaß zu der Spaltung auf dem II. Parteitag. Die
weitere Entwicklung jedoch zeigte, daß für die russische Arbeiterbewegung
organisatorische Fragen politische waren, und daß der Bruch tiefergehende
ideologische Ursachen hatte. Der erste Zusammenstoß auf dem Parteitag erfolgte
bei der Beratung des ersten Paragraphen des Organisationsstatuts, der über die
Parteimitgliedschaft und das Wesen der Partei entscheiden sollte. Lenin wollte
eine Organisation aus einem Guß, die sich aus Proletariern zusammensetzt, die
trotz allen Gefahren der revolutionären Arbeit aktive Mitglieder werden. Nach
dem leninschen Vorschlage sollten nur diejenigen als Parteimitglieder gelten,
die persönlich in den Parteiorganisationen aktiv mitarbeiten. Martow schlug
eine andere Form vor, die auch diejenigen, die wegen der Gefährdung nicht aktiv
in einer der Parteiorganisationen mitarbeiten, sondern nur unter Leitung einer
Organisation dieser regelmäßige Beihilfe leisten, als Parteimitglieder gelten
läßt. Die leninsche Formel wollte eine wirkliche Arbeiterpartei schaffen, in
der nicht Intellektuelle den Ausschlag geben. Bei der Entscheidung über den
Paragraphen 1 des Organisationsstatuts erhielt die Martowsche Formulierung eine
schwache Mehrheit. Der zweite Zusammenstoß auf dem II. Parteitag erfolgte bei
der Entscheidung über die Zusammensetzung der Redaktion der „Iskra". Lenin
forderte im Sinne seiner organisatorischen Konzeption, daß die Redaktion der
„Iskra", die als führendes Zentrum in Frage kam, nur aus drei eine
einheitliche Linie vertretenden Personen bestehen sollte. Und zwar aus Martow,
Lenin und Plechanow, der in der damaligen Zeit in den entscheidenden Fragen mit
Lenin übereinstimmte. Dieser Vorschlag bedeutete die Ausschaltung von Axelrod,
Protessow und Sassulitsch; er löste bei diesen und deren Freunden starke
Entrüstung aus. Martow erklärte sich mit den Ausgeschalteten solidarisch, er
lehnte ab, in die Redaktion einzutreten, so daß schließlich mit einer geringen
Stimmenmehrheit beschlossen wurde, daß nur Lenin und Plechanow die Redaktion
der „Iskra" übernehmen. Diese Abstimmung führte zum Bruch. Die
Nichtanerkennung des Beschlusses der Mehrheit durch die Minderheit spaltete die
Partei in Bolschewiki und Menschewiki. Entstanden ist die Namensbezeichnung
dadurch, daß die Mehrheit (im russischen Bolschestwo) für die von Lenin
vorgeschlagene Redaktion, und die Minderheit (Menschestwo) dagegen stimmte.
Bolschewiki waren die Mehrheitler, Menschewiki die Minderheitler.
Erst in der weiteren Entwicklung haben die Namen der beiden Fraktionen einen
bestimmten ideologischen Inhalt bekommen. Von 1903 ab wirkten diese beiden
Gruppen als selbständige Fraktionen in der Sozialdemokratischen Partei, die
sich im weiteren Verlauf der Geschichte zeitweise vereinigten und wieder
spalteten, bis sich schließlich aus den zwei Fraktionen einer Partei zwei
selbständige Parteien, die bolschewistische und die menschewistische,
entwickelten. Der II. Parteitag kam erst nach der Spaltung zur Wahl des
Zentralkomitees, in das nur Bolschewiki gewählt wurden. Die menschewistischen
Delegierten wählten eine besondere Zentralstelle, die den Boykott gegen das auf
dem Parteitag gewählte Zentralkomitee propagierte. Alle menschewistischen
Mitarbeiter lehnten ab, in der nur von Lenin und Plechanow geleiteten
„Iskra" zu schreiben. Schon nach einigen Monaten verlangte Plechanow, die
boykottierenden ehemaligen Redakteure der „Iskra" in die Redaktion zu
kooptieren. Das stand im Widerspruch zu dem Parteitagsbeschluß und zu Lenins
Organisationskonzeption. Lenin lehnte den Vorschlag Plechanows ab, er trat aus
der Redaktion der „Iskra" aus. Plechanow kooptierte daraufhin Axelrod,
Martow, Protessow und Sassulitsch in die Redaktion der „Iskra", die von
Ende 1903 ein menschewistisches Organ wurde. In der Parteigeschichte wird sie
die „neue Iskra" genannt, im Gegensatz zu der „alten Iskra", die die
Bolschewiki die „leninsche Iskra" nennen.
Trotzki war als Delegierter auf dem II. Parteitag. Er ist in den
Auseinandersetzungen über das Organisationsstatut gegen Lenin aufgetreten. Er
stellte sich in der Frage, die zum Bruch führte, auf die Seite der Menschewiki.
Lenins unbeirrbare Entschlossenheit im Kampf um den Aufbau der revolutionären
Partei ist oft mißdeutet worden. Aber die geschichtliche Entwicklung hat Lenin
recht gegeben. Auf dem II. Parteitag sagte Lenin in einer Polemik gegen
Trotzki, dem er vorwarf, er habe den Grundgedanken seiner Auffassung „absolut
nicht begriffen" (Lenin, Gesammelte Werke, Band VI. Seite 34):
„Die Erhaltung der Festigkeit der Linie und der Reinheit der Parteigrundsätze
wird gerade jetzt umsomehr zu einer dringenden Angelegenheit, als die in ihrer
Einheit wiederhergestellte Partei sehr viele schwankende Elemente in ihre
Reihen aufnehmen wird, deren Zahl mit dem Wachstum der Partei anwachsen wird.
Genosse Trotzki hat den Grundgedanken meines Buches „Was tun?" sehr falsch
verstanden, als er sagte, die Partei sei keine Verschwörerorganisation ... Er
hat vergessen, daß ich in meinem Buche eine ganze Reihe verschiedener
Organisationstypen vorschlage, von den konspirativsten und engsten bis zu
verhältnismäßig breiten und ,losen'. Er hat vergessen, daß die Partei nur der
Vortrupp, der Führer der gewaltigen Masse der Arbeiterklasse sein muß, die ganz
(oder fast ganz) unter der Kontrolle und Führung der Parteiorganisationen
arbeitet, die aber nicht in ihrer Gesamtheit der ,Partei' angehört und ihr auch
nicht ganz angehören darf. Man sehe sich tatsächlich an, zu welchen Schlüssen
Genosse Trotzki infolge seines Grundfehlers gelangt ... Ist die Beweisführung
des Genossen Trotzki nicht merkwürdig? Er betrachtet das als betrüblich, was
jeden einigermaßen erfahrenen Revolutionär nur freuen könnte. Wenn es sich
herausstellte, daß Hunderte und Tausende von Arbeitern, die wegen Streiks und
Demonstrationen verhaftet werden, nicht Mitglieder von Parteiorganisationen
sind, so würde das nur beweisen, daß unsere Organisationen gut sind, daß wir
unsere Aufgaben — einen mehr oder weniger engen Kreis von leitenden Genossen
konspirativ wirken zu lassen und eine möglichst breite Masse zur Bewegung
heranzuziehen — erfüllen."
Die deutschen Sozialisten, die inzwischen ihre Erfahrungen im illegalen Kampfe
gegen die faschistische Diktatur gesammelt haben, verstehen heute sehr gut, wie
richtig die Beweisführung und die Argumente Lenins sind, die er vor mehr als
dreißig Jahren gegen Trotzki vorbrachte. Eine illegale Organisation ist erst
dann gut und kampffähig, wenn sie bei ihren Aktionen breite Massen in Bewegung
zu setzen vermag, die nicht Mitglieder der Partei sind. Eine illegale
Organisation, die im Kampf nur ihre eigenen Parteimitglieder mobilisieren kann,
ist eine Sekte. In der nach dem II. Parteitag veröffentlichten Schrift „Ein
Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" setzte Lenin auseinander, daß der
Parteitag einen Schritt vorwärts zur fester gefügten Parteiorganisation gemacht
habe, aber die Bildung eines rechten Flügels mit eigenen organisatorischen
Bindungen bringe die Partei zwei Schritte zurück. Gegen diese Schrift und gegen
Lenins Auffassung, daß dem Proletariat eine viel größere Rolle in der Partei
gesichert werden müsse, nahm Trotzki Stellung. In seiner von den Menschewiki
(1904) herausgegebenen Broschüre „Unsere politischen Aufgaben", die er mit
der Widmung „Dem treuen Lehrmeister Pawel Borissowitsch Axelrod" versah,
schrieb Trotzki gegen Lenin:
„Welche Entrüstung erfaßt einen, wenn man diese unerhört skrupellosen,
demagogischen Zeilen liest. Das Proletariat, dasselbe Proletariat, über das
einem gestern noch gesagt wurde, daß es ,sich spontan dem Trade Unionismus
hingibt' (Das richtet sich gegen Lenins .Was tun?'. D.V.), wird bereits heute
aufgerufen, Lehrstunden politischer Disziplin zu geben. Und wem? Gerade jenen
Intellektuellen, denen nach dem gestrigen Schema die Rolle zugesprochen wurde,
von außen her in das Proletariat sein Klassenbewußtsein und sein politisches
Bewußtsein hineinzutragen .... Und das nennt sich Marxismus. Das nennt sich
sozialdemokratisches Denken. Wahrhaftig, man kann sich nicht mit größerem
Zynismus dem besten ideellen Besitztum des Proletariats gegenüber verhalten,
als das Lenin tut. Für ihn ist der Marxismus nicht eine Methode
wissenschaftlicher Untersuchung, die große theoretische Verpflichtungen
auferlegt, nein, er ist für ihn .... ein Scheuerlappen, wenn es notwendig ist,
seine Spuren zu beseitigen, eine weiße Leinwand, wenn es notwendig ist, seine
Größe zu demonstrieren, und ein zusammenlegbares Metermaß, wenn es erforderlich
ist, sein Parteigewissen vorzuzeigen."
Diese Polemik Trotzkis gegen Lenin strotzt von persönlichen und politischen
Beschimpfungen. Sie zeigt sehr deutlich, welcher scharfe Gegensatz nach 1903
zwischen Lenin und Trotzki bestand, wie verbissen und unsachlich Trotzki den
Kampf gegen seinen „alten Kampfgenossen" führte. Der unsachliche Angriff
charakterisiert sehr deutlich die scharfe Kampfstellung, die Trotzki gegen Lenin
und die Bolschewiki bis zur Oktoberrevolution beibehielt. Im November 1904
schrieb Lenin in dem Artikel „Die Semstwokampagne und der Plan der Iskra"
(Lenin, Gesammelte Werke, Band VII, Seite 20) gegen Trotzki:
„Das also sind die neuen taktischen Aufgaben, die neuen taktischen Ansichten
der neuen „Iskra', die der ganzen Welt so feierlich durch den redaktionellen
Balalaikin (gemeint ist damit Trotzki. D.V.) verkündet worden sind. In einer
Hinsicht jedoch hat dieser Balalaikin ungewollt die Wahrheit gesagt: zwischen
der alten und der neuen ,Iskra' klafft wirklich ein Abgrund. Die alte ,Iskra'
hatte nur Worte der Verachtung und des Spottes übrig für Leute, die imstande
sind, sich für eine theatralisch aufgemachte Klassenverständigung zu begeistern
und darin einen „neuen Weg" zu sehen. Dieser neue Weg ist uns längst
bekannt aus der Erfahrung jener französischen und deutschen ,Staatsmänner' des
Sozialismus, die ebenfalls die alte revolutionäre Taktik für einen ,niederen
Typus' halten und das ,planmäßige und unmittelbare Eingreifen in das
öffentliche Leben' in Form von Vereinbarungen über ein friedliches und
bescheidenes Auftreten der Arbeiterredner nach vorhergehenden Unterhandlungen
mit dem linken Flügel der oppositionellen Bourgeoisie nicht genug preisen können."
In der Zeit nach dem II. Parteitag verschärfte sich auch der politische und
ideologische Gegensatz zwischen Bolschewiki und Menschewiki. Trotzki bezog nach
seiner Trennung von den Menschewiki seine Sonderstellung neben noch anderen
kleinen Gruppen und Grüppchen. Sein organisatorischer Standpunkt in der
Folgezeit war die angebliche Fraktionslosigkeit und das Bemühen, als
„Fraktionsloser" mit seiner kleinen trotzkistischen Fraktion die
entscheidenden Teile der russischen Sozialdemokratie, Menschewiki und
Bolschewiki, zu überwinden und „unter Ausschaltung der Extreme" eine im
Kern prinzipienlose Einheitspartei zu bilden. Im Kampfe um diese Konzeption
traten auch die theoretischen und politischen Gegensätze zwischen Trotzkismus
und Bolschewismus sehr deutlich zutage.
Nach der Spaltung auf dem II. Parteitag beschäftigten sich die
Parteiorganisationen in Rußland mit der Situation. Es fanden mehrere
Gebietskonferenzen statt, die die sofortige Einberufung eines neuen Parteitages
forderten. Auf diesen Konferenzen der Örtlichen Organisationen wurden Büros der
„Komitees der Mehrheit" gebildet, die — als der Parteirat und das
menschewistisch gewordene Zentralorgan, die „Iskra", die Einberufung eines
neuen Parteitags ablehnten — von sich aus den III. Parteitag einberiefen, der
Mitte 1905 in London stattfand. Die Menschewiki lehnten die Teilnahme an diesem
Parteitag ab, sie hielten zu gleicher Zeit in Genf eine allrussische Konferenz
ab. Der dritte rein bolschewistische Parteitag nahm das Organisationsstatut an,
auch den ersten Punkt des Statuts, den die Menschewiki auf dem II. Parteitag
abgelehnt hatten. Der III. Parteitag bestimmte die revolutionäre Taktik nach
den Vorschlägen Lenins. Noch vor dem Stattfinden des III. Parteitages begann
das Büro der „Komitees der Mehrheit" — seit Ende 1904 anstelle der
„Iskra" die Zeitung „Wperjod" („Vorwärts") als Zentralorgan der
Partei herauszugeben. Die Zeitung erschien in Genf, zu ihrer Redaktion gehörte
Lenin.
Im Anschluß an die revolutionären Kämpfe des Jahres 1905 fand eine Annäherung
zwischen Bolschewiki und Menschewiki und eine Vereinigung der beiden statt.
Nach langen Verhandlungen wurde ein gemeinsames Zentralkomitee gebildet, das im
Jahre 1906 den IV. den Vereinigungsparteitag, nach Stockholm zusammenberief.
Auf dem Stockholmer Parteitag hatten die Menschewiki die Mehrheit; die
Beschlüsse fielen im wesentlichen im Sinne der Menschewiki aus. Die Einigung
war aber nur eine formale, die ideologischen und politischen Gegensätze
zwischen den beiden Fraktionen wurden nicht überwunden. Es wurde zwar ein
gemeinsames Zentralkomitee gewählt, aber die Bolschewiki schufen sich auf
diesem Kongreß ein illegales Zentralkomitee. 1907 fand in London der V.
Parteitag statt, auf dem die Bolschewiki ein kleines Übergewicht hatten, das
aber nicht für ihre Linie voll ausgenutzt werden konnte, weil die auf diesem
Parteitag vertretenen schwankenden Elemente — unter anderem auch Trotzki — eine
klare Mehrheitsbildung verhinderten. Trotz den gemeinsamen Parteitagen
bestanden schon in jener Zeit innerhalb der Sozialdemokratischen Partei
Rußlands zwei Parteien. Zwei Versuche, — die Parteikonferenz im Jahre 1908 in
Paris und die Vereinigungsplenarsitzung des Zentralkomitees Anfang 1910 — eine
völlige Einigung herbeizuführen, blieben ergebnislos.
Inzwischen hatten sich in der Reaktionsperiode nach der Revolution von 1905 im
menschewistischen Lager Veränderungen vollzogen. Eine Reihe Führer der
Menschewiki vertrat die Auffassung, daß man auf dem Wege des illegalen Kampfes
nicht zum Ziele komme. Es sei darum notwendig, die illegale Organisation zu
liquidieren und eine legale Arbeiterpartei auf breiter Basis zu bilden, die
sich an die Gesetzlichkeit des zaristisch-stolypinischen Regimes anpaßt. In
dieser Frage entstand ein entscheidender Gegensatz zwischen Bolschewiki und
Menschewiki. Die Bolschewiki nannten die Menschewiki, die die illegale
Kampforganisation zugunsten einer Unrevolutionären, sich mit dem Zarismus
versöhnenden legalen Partei aufgeben wollten, die Liquidatoren. Lenin nannte
sie ironisch die stolypinsche Arbeiterpartei. Nach dem letzten
Vereinigungsversuch beschlossen die Bolschewiki, mit den Liquidatoren nicht
mehr zusammen zu arbeiten. In einer Betrachtung über die Einheit
charakterisierte Lenin die Liquidatoren folgendermaßen (Lenin, Ausgewählte Werke,
Band IV, Seite 217):
„Wenn wir vom Liquidatorentum sprechen, so stellen wir eine bestimmte
ideologische Strömung fest, die im Laufe von Jahren aufgekommen ist, in einer
zwanzigjährigen Parteigeschichte mit dem ,Menschewismus' und ,Ökonomismus'
verwurzelt und mit der Politik und Ideologie einer bestimmten Klasse, der
liberalen Bourgeoisie, verknüpft ist." Nicht alle Menschewiki waren
Liquidatoren; Martow ist gelegentlich gegen sie aufgetreten, und Plechanow
führte einen heftigen Kampf gegen sie. Auch bei den Bolschewiki hatte die
Entwicklung zu Differenzen und zu Abspaltungen geführt. Eine besondere
Strömung, die Otsowisten, vertrat den Standpunkt, die Wahlen zur Duma zu
boykottieren und jede legale Tätigkeit abzulehnen. Die Linie der Bolschewiki
unter Lenins Führung dagegen war dafür, eine zielbewußte, geschlossene illegale
Organisation aufzubauen, den illegalen Kampf verschärft fortzuführen, dabei
aber alle legalen Möglichkeiten auszunützen. Von den Bolschewiki spalteten sich
noch andere Grüppchen ab, so u.a. die Ultimatisten. die Gottesbildner, die
zusammen mit den Otsowisten sich nach dem Ausschluß durch die Bolschewiki in
der sogenannten „Wperjod"-Gruppe zusammenfanden. Sie führten den 1904 von
den Bolschewiki begründeten „Wperjod" („Vorwärts") fort. nannten sich
linke Bolschewiki. vertraten ultralinke Auffassungen und warfen Lenin und
seinen Anhängern vor, sie hätten sich nach rechts entwickelt und den
Bolschewismus verraten. Trotzki sympathisierte auch mit dieser ultralinken
Gruppe, die damals mit ähnlichen Argumenten Lenin bekämpfte, wie später die
Trotzkisten Stalin.
Die entscheidenden Kämpfe der nächsten Jahre spielten sich zwischen den
Bolschewiki und den menschewistischen Liquidatoren ab. In diesem Kampfe stand
Trotzki zwischen den beiden Fronten. Praktisch unterstützte er die Liquidatoren
im Kampf gegen die Bolschewiki.
Von 1908 ab spitzte sich der organisatorische Kampf immer mehr zu. Es ging
dabei um die Bildung einer selbständigen, von den Liquidatoren vollkommen
getrennten Bolschewistischen Partei. Lenin und die Bolschewiki organisierten
zusammen mit allen parteitreugebliebenen Kräften eine Konferenz, die mit den
liquidatorischen Elementen endgültig Schluß machen sollte. Diese Absicht
bekämpfte Trotzki besonders heftig, in diesem Zusammenhang nannte er Lenin
einen engherzigen Spalter. Trotzki publizierte in der deutschen
sozialdemokratischen Presse (in der „Neuen Zeit" und im „Vorwärts")
entstellte Berichte über die russische Arbeiterbewegung, in denen er
behauptete, daß in Rußland weder die Bolschewiki, noch die parteitreuen
Menschewiki eine Rolle spielen. Im Mai 1911 veröffentlichte Lenin einen Artikel
„Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Rußland" gegen
Trotzkis irreführende Berichte (Ausgewählte Werke, Band III, Seite 492 usf.):
„Es sei eine „Illusion“, zu glauben", erklärte Trotzki, „der Menschewismus
und der Bolschewismus hätten in den Tiefen des Proletariats feste Wurzeln
gefaßt". Dies ist ein Muster jener klingenden, aber hohlen Phrasen, in
denen unser Trotzki Meister ist. Nicht in den ,Tiefen des Proletariats',
sondern in dem ökonomischen Inhalt der russischen Revolution liegen die Wurzeln
der Differenzen zwischen Menschewiki und Bolschewiki ... Trotzki entstellt den
Bolschewismus, denn niemals vermochte Trotzki, sich einigermaßen bestimmte
Ansichten über die Rolle des Proletariats in der russischen bürgerlichen
Revolution zu machen...
Trotzki, der für seine Fraktion die Reklametrommel rührt, geniert sich nicht,
den Deutschen zu erzählen, daß die ,Partei' zerfalle, daß beide Fraktionen
zerfallen, während er, Trotzki, allein alles rette. In Wirklichkeit sehen wir
jetzt alle — und die jüngste Resolution der Trotzkisten (im Namen des Wiener
Klubs, vom 26. November 1910) beweist dies besonders anschaulich —, daß Trotzki
lediglich bei den Liquidatoren und den ,Wpenod'-Leuten Vertrauen genießt. Bis
zu welcher Ungeniertheit sich Trotzki versteigt, wenn er die Partei herabsetzt
und sich selbst in den Augen der Deutschen herausstreicht, zeigt z.B. der
folgende Fall: Trotzki schreibt, daß die ,Arbeitermassen' in Rußland die
sozialdemokratische Partei als außerhalb ihres Kreises stehend
(hervorgehoben von Trotzki) betrachten, und spricht von ,Sozialdemokraten ohne
Sozialdemokratie'. Wie sollen denn da Herr Potressow (Führer der Liquidatoren.
D.V.) und seine Freunde Trotzki für solche Reden nicht ans Herz drücken?
..."
Der scharfe Ton, den Lenin gegen Trotzki anschlug, entspricht der Schärfe von
Trotzkis Angriff gegen die Bolschewiki. Trotzki setzte vor der deutschen
Parteiöffentlichkeit die beiden parteitreuen Fraktionen herab. Er verkündete
den Zerfall der Partei. Die weitere Entwicklung hat sich nicht nach der
Prophezeiung Trotzkis gerichtet, aber in der damaligen Zeit hat er mit seiner
Stellungnahme genug Verwirrung angerichtet. Trotzkis Angriffe gegen die
Bolschewiki und die parteitreuen Menschewiki — also gegen die russische Partei
— spielten auch in der russischen Delegation auf dem Kopenhagener
internationalen Sozialistenkongreß eine Rolle. In dem vorstehend zitierten
Artikel schrieb Lenin weiter (Seite 509):
„In Kopenhagen erhob Plechanow als Vertreter der parteitreuen Menschewiki und
Delegierter der Redaktion des Zentralorgans gemeinsam mit dem Schreiber dieser
Zeilen als dem Vertreter der Bolschewiki und einem polnischen Genossen
entschieden Protest dagegen, wie Trotzki in der deutschen Presse unsere
Parteiangelegenheiten darstellt." In „Mein Leben" nimmt Trotzki zu
dem Zusammenstoß in Kopenhagen Stellung. Er erzählt dort (Seite 208 usf.), wie
er auf der Reise von Wien nach Kopenhagen unterwegs auf einem Bahnhof, in dem
man umsteigen mußte, ganz unerwartet den aus Paris kommenden Lenin traf:
„Wir mußten eine Stunde warten und es entspann sich zwischen uns ein großes
Gespräch, das sehr freundschaftlich in seinem ersten und weniger freundschaftlich
in seinem zweiten Teile war.“
Mit dieser Darstellung der Unterhaltung will Trotzki den Eindruck erwecken, daß
damals gar kein so schlechtes Verhältnis zwischen ihm und Lenin bestanden habe.
Er erzählt darum, daß der erste Teil der Unterhaltung „freundschaftlich"
verlaufen sei. Und wie kommt Trotzki zu dieser Behauptung? Nach seiner eigenen
Darstellung hat er zuerst von der Abspaltung der tschechischen Gewerkschaften
erzählt, und in diesem ersten Teil der „Unterhaltung" hat Lenin kein Wort
gesagt, sondern nur zugehört. Jedenfalls lag Lenin absolut nichts daran, diese
Frage mit Trotzki zu besprechen, wichtiger war ihm, seine Meinung über Trotzkis
Artikel in der deutschen Presse zu sagen. Und da war es mit der
„Freundschaftlichkeit" aus. Trotzki selbst erzählt darüber in „Mein
Leben" weiter:
„Das Gespräch nahm aber einen völlig anderen Charakter an, als ich Lenin von
meinem letzten Artikel im ,Vorwärts' über die russische Sozialdemokratie
erzählte. Der Artikel war zum Kongreß geschrieben worden und unterwarf sowohl
die Menschewiki, wie die Bolschewiki einer scharfen Kritik .... Haben Sie das
wirklich so geschrieben? fragte Lenin vorwurfsvoll . . . Wäre es nicht möglich,
den Druck des Aufsatzes telegraphisch zurückzuhalten? ,Nein', erwiderte ich, .der
Artikel sollte heute morgen erscheinen, und weshalb auch aufhalten? Der Artikel
ist richtig."
Im Anschluß daran fährt Trotzki aber fort:
„In Wirklichkeit war der Artikel nicht richtig, denn er rechnete damit, daß
eine Partei entstehen würde, durch Verschmelzung der Bolschewiki mit den
Menschewiki, untei Wegfall aller Extreme, wahrend in Wirklichkeit eine Partei
entstanden ist im schonungslosen Kampf der Bolschewiki gegen die
Menschewiki."
In seiner Geschichtsschreibung hat Trotzki in vielen Fragen in denen er früher
Lenin heftig bekämpfte, lange hinterher zu gegeben, daß Lenin recht hatte. Der
Zweck dieser Geschichtsschreibung ist, den tatsächlich bestehenden scharfen
Gegensatz harmlos erscheinen zu lassen. Die Frage aber, auf welchem Weg die
revolutionäre Partei entstehen sollte, die in Rußland zielklare Führerin der
Revolution wird, war in jener Zeit die aktuellste politische Frage. Und dabei
vertrat Trotzki „konsequent" den trotzkistischen Standpunkt, der dem
leninschen diametral gegenüber stand. Hätte in der russischen Arbeiterbewegung
nicht der Leninismus, sondern der Trotzkismus sich durchgesetzt, dann hätte der
Zusammenbruch des Zarismus in Rußland wahrscheinlich zu dem gleichen Ergebnis
geführt wie die Novemberrevolution in Deutschland.
In dem Kampfe um die revolutionäre Partei betrachtete Lenin Trotzki als einen
Feind, der noch schlimmer und gefährlicher ist, als die Liquidatoren. In dem
Artikel »Aus dem Lager der stolypinschen Arbeiterpartei" schrieb Lenin im
September 1911 (Sämtliche Werke, Band XV, russisch, Seite 218):
„Hieraus ergibt sich klar, daß Trotzki und die ihm Geistesverwandten
,Trotzkisten und Kompromißler' schädlicher als der ärgste Liquidator sind, denn
überzeugte Liquidatoren legen ihre Ansicht offen dar, und die Arbeiter können
ihre Fehlerhaftigkeit leicht erkennen; die Herren Trotzki aber betrügen die
Arbeiter, verschleiern das Übel, machen es unmöglich, es aufzudecken und zu
heilen. Jeder, der das Gruppchen Trotzkis unterstützt, unterstützt die Politik
der Lüge und des Betrugs an den Arbeitern, die Politik der Verschleierung des
Liquidatorentums. Volle Handlungsfreiheit für die Herren Potressow und Co. in
Rußland, Verschleierung ihrer Taten durch ,revolutionäre' Phrasen im Ausland —
das ist das Wesen der Politik des Trotzkismus." Im Januar 1912 fand in
Prag die von Lenin und den Bolschewiki organisierte Konferenz statt, die
vielleicht als die eigentliche Gründungskonferenz der selbständigen
Bolschewistischen Partei bezeichnet werden kann. Der offizielle Einberufer
dieser „Gesamtrussischen Parteikonferenz" war das Russische
Organisationskomitee, an dem auch parteitreue Menschewiki beteiligt waren.
Plechanow, der in jener Zeit sehr konsequent gegen die Liquidatoren auftrat,
unterstützte die Konferenz. An ihr nahmen außer einigen antiliquidatorischen
parteitreuen Menschewiki, die den Standpunkt Plechanows vertraten, nur
Bolschewiki teil. Nach der Prager Konferenz begann eine Belebung und ein neuer
Aufschwung der russischen Arbeiterbewegung. Es ist nicht ohne tieferen Sinn,
daß Trotzki das Zustandekommen dieser Konferenz mit allen Mitteln zu verhindern
suchte, und daß er nach der erfolgreichen Durchführung der Konferenz seinen
Kampf gegen Lenin verschärft fortsetzte. Aber Trotzki begnügte sich nicht
damit, die Prager Konferenz der Bolschewiki zu bekämpfen, er stellte sich an
die Spitze einer „Organisationskommission", die eine Gegenkonferenz
organisierte. Er schuf damals zusammen mit allen nichtbolschewistischen
Elementen den sogenannten Augustblock, der nach dem Wunsche seiner Autoren eine
gemeinsame Organisation aller nichtbolschewistischen Kräfte gegen den
Leninismus und die Bolschewiki schaffen sollte.
Gegen Trotzkis Bemühungen, den antileninistischen Augustblock und eine
Gegenkonferenz zu organisieren, schrieb Lenin im Januar 1911 in einem Artikel
„Über die Lage der Dinge in der Partei" (Sämtliche Werke, Band XV,
russisch, Seite 60): „Trotzkis Resolution, die die lokalen Organisationen zur
Vorbereitung seiner .Konferenz der Gesamtpartei über den Kopf des ZK hinweg und
gegen das ZK aufruft, ist ein Ausdruck eben dessen, was das Ziel der
Golos-Leute (Anhänger eines Organs der Menschewiki. D.V.) ist: Zerstörung der
den Liquidatoren verhaßten zentralen Institutionen und mit ihnen auch der
Partei als Organisation. Es genügt nicht, diese parteifeindlichen Handlungen
der Golos-Leute und Trotzkis ans Licht zu bringen, man muß sie bekämpfen. Die
Genossen, denen die Partei und ihre Wiedergeburt am Herzen liegt, müssen aufs
entschiedenste Stellung nehmen gegen alle diejenigen, die aus rein fraktionellen
und zirkelpolitischen Erwägungen und Interessen bestrebt sind, die Partei zu
zerstören...
Wenn Trotzki sagt, das Plenum habe die Tätigkeit der ,Prawda' (Trotzkis Blatt
in Wien. D.V.) als nützlich anerkannt, so verschweigt er zu Unrecht die
Tatsache, daß das Plenum einen Vertreter des ZK in die Redaktion der ,Prawda'
entsandt hat. Das Verschweigen dieser Tatsache bei der Erwähnung der Beschlüsse
des Plenums bezüglich der ,Prawda' kann man nicht anders bezeichnen, denn als
Betrug an den Arbeitern. Und dieser Betrug Trotzkis ist um so gemeiner, als
Trotzki im August 1910 den Vertreter des ZK aus der ,Prawda' entfernt hatte ...
Solange das ZK nicht erneut zusammengetreten ist, gibt es keinen anderen
Richter über das Verhalten der ,Prawda' gegenüber dem ZK, als den vom Plenum
ernannten Vertreter des ZK, der das Verhalten Trotzkis für parteifeindlich
erklärt hat .... Und wir erklären daher im Namen der Gesamtpartei, daß Trotzki
eine parteifeindliche Politik betreibt; daß er die Parteilegalität zerstört,
daß er den Weg des Abenteuers und der Spaltung betritt, wenn er in seiner
Resolution mit keinem Ton das ZK erwähnt .... und im Namen einer einzigen
ausländischen Gruppe die ,Organisierung' eines Fonds für die Einberufung einer
Konferenz der SDAPR kundgibt ... Trotzki schreibt in seiner Resolution, daß der
Kampf, den die ,Leninisten und Plechanowleute' führen (durch diese
Hervorkehrung von Personen an Stelle der Strömungen des Bolschewismus und des
parteitreuen Menschewismus will Trotzki seine Mißachtung zum Ausdruck bringen,
aber er bringt damit nur seine Ignoranz zum Ausdruck), daß dieser Kampf
gegenwärtig jeder prinzipiellen Grundlage entbehrt." Besonders erbost war
Lenin darüber, daß Trotzki bei seinem Kampf gegen die Prager Konferenz die
Liquidatoren unterstützte. Im Dezember 1911 schrieb er in einem Artikel über
eine Plattform der Parteitreuen (Sämtliche Werke, Band XV, russisch, Seite 302
usf.):
„Trotzki weiß ausgezeichnet, daß die Liquidatoren in den legalen Publikationen
gerade die Losung der ,Koalitionsfreiheit' vereinigen mit der Losung: Nieder
mit der illegalen Partei, nieder mit dem Kampf für die Republik. Die Aufgabe
Trotzkis besteht denn auch darin, das Liquidatorentum zu decken, indem er den
Arbeitern Sand in die Augen streut ....
Mit Trotzki kann man nicht sachlich diskutieren, denn er hat keinerlei
Anschauungen. Man kann und muß mit den überzeugten Liquidatoren und Otsowisten
diskutieren, mit einem Menschen aber, der das Spiel treibt, die Fehler sowohl
der einen als auch der anderen zu decken, diskutiert man nicht: man entlarvt
ihn als .... einen Diplomaten schlimmster Prägung..."
Später hat Lenin Trotzkis Stellung zu den Liquidatoren noch öfter behandelt.
Gegenüber dem von Trotzki erhobenen Vorwurf der Spalterei sagte Lenin, daß auf
dem Schauplatz der Arbeiterbewegung Rußlands außer dem Liquidatorentum und den
der illegalen Partei treuen Fraktionen nichts vorhanden sei. Lenins Meinung
war, daß die Partei nur lebensfähig sein könne, wenn sie sich von den die
Partei verneinenden Liquidatoren befreie. Er fragte Trotzki, ob er diese
Stellung zum Liquidatorentum als Spalterei betrachte. Trotzki wich dieser Frage
aus:
„Über seine grundlegenden Ansichten — schrieb Lenin (Ausgewählte Werke, Band
IV, Seite 212 usf.) — suchte Trotzki in seiner neuen Zeitschrift möglichst
wenig zu sagen. Die „Putl Prawda" (Nr. 37) hat bereits vermerkt, daß
Trotzki weder über die Frage der Illegalität noch über die Losung des Kampfes
für eine legale Partei usw. auch nur einen Ton geäußert hat. Eben deshalb
sprachen wir unter anderem von schlimmstem Fraktionswesen in dem Falle, wenn
eine abgesonderte Organisation ohne Jegliche ideologisch-politische
Physiognomie entstehen will."
Die unklare Haltung, die Lenin Trotzki vorwarf, diente in der Praxis den
Liquidatoren, sie entsprang der Absicht, auf jeden Fall einen
opportunistischen, antileninistischen Block zustande zu bringen, unbeschadet
seines ideologisch-politischen Inhalts. Trotzki erzählt in „Mein Leben",
was ihn zu seinen Bemühungen um den opportunistischen Augustblock bewogen hat (Seite
215):
„Im Jahre 1912, als sich der neue politische Aufstieg klar zeigte, machte ich
den Versuch, eine Vereinigungskonferenz von Vertretern aller
sozialdemokratischen Fraktionen einzuberufen .... Unter den Bolschewiki selbst
waren die versöhnlerischen Tendenzen in jener Periode sehr stark, und ich
verlor die Hoffnung nicht, daß dieses auch Lenin veranlassen würde, sich an der
Konferenz zu beteiligen. Lenin jedoch widersetzte sich der Vereinigung mit
aller Kraft. Der ganze Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, daß Lenin recht
hatte. Die Konferenz versammelte sich im August 1912 in Wien, ohne die
Bolschewiki, und ich geriet formell in einen ,Block' mit den Menschewiki und
einzelnen Gruppen der Bolschewiki-Dissidenten. Eine politische Basis hatte
dieser Block nicht..."
Trotzki behauptet, er wollte eine Vereinigungskonferenz aller Gruppen
organisieren. Das ist eine Unwahrheit, denn er wußte ganz genau, mit welcher
Heftigkeit Lenin diese opportunistische Absicht bekämpfte. Er wußte ferner, daß
die berufenen Organe der Partei eine allrussische Konferenz einberufen hatten,
und daß seine „Vereinigungs"- Veranstaltung eine Gegenkonferenz gegen die
Parteikonferenz war. Trotzki war auch nicht im unklaren darüber, daß die
Bolschewiki unter Lenins Führung seine „Vereinigungskonferenz" mit
Liquidatoren grundsätzlich ablehnten, daß die Bolschewiki mit den
„versöhnlerischen Tendenzen" ausgeschlossen waren und nicht mehr als
Bolschewiki gelten konnten. Die nachträgliche Darstellung Trotzkis über seine
Haltung zur Augustkonferenz und zum Augustblock ist ein Musterbeispiel für
seine Art der Geschichtsschreibung. Natürlich fehlt dabei auch nicht die
Feststellung, daß „der Verlauf der Ereignisse" Lenin recht gegeben habe.
Was ist das für ein vorausschauender Politiker, — und Trotzki gibt vor, ein
solcher zu sein - der mit Verbissenheit in der jeweils aktuellsten politischen
Frage einen Standpunkt vertritt, den er dann nach Jahrzehnten — wenn es ihm
opportun erscheint — als falsch bezeichnet.
Der Versuch Trotzkis, im Jahre 1912 einen ideologisch uneinheitlichen Block der
verschiedensten Elemente gegen den Bolschewismus zu bilden, war eben nicht nur
eine Augenblicksverirrung Trotzkis, sondern er entsprang den
Organisationsauffassungen und der falschen theoretischen und politischen Konzeption
des Trotzkismus, die Lenin wegen ihrer Gefährlichkeit so erbittert bekämpfte.
Wenn Trotzki belehrungsfähig wäre (eben nicht der eine Meister neben dem
anderen), dann hätten ihn die ernsthaften Argumente Lenins von der Verkehrtheit
seines Beginnens überzeugt. „Um die Partei aufzubauen, genügt es nicht, zu
rufen: ,Einheit!'" — schrieb Lenin gegen Trotzki — „man muß auch ein
politisches Programm, auch ein Programm politischer Aktionen haben." Das
aber hatte der Augustblock nicht, er hatte — wie Trotzki 1930 zugibt — keine
politische Basis. Und daran ist er gescheitert. Lenin hat dieses Ergebnis
vorausgesagt; er bekämpfte den Augustblock, weil er mit dem leninistischen
Organisationsprinzip unvereinbar war. Trotzkis Augustblock verband nur die
gemeinsame Gegnerschaft gegen den Leninismus; er bestand aus den
verschiedenartigsten Elementen, die weder über Ziel noch Weg klar und einig
waren.
In den Auseinandersetzungen um den Augustblock und die Prager Konferenz zeigte
sich sehr deutlich der große Unterschied zwischen Leninismus und Trotzkismus.
Lenin verlangte unerschütterlich als Voraussetzung für die siegreiche
Durchführung der Revolution eine zielklare, auf einer gemeinsamen ideologischen
Basis stehende zentralistische Partei; die praktische Tätigkeit Trotzkis
bewies, daß er glaubte, mit einer äußerlich zusammengeklebten Mischmaschpartei
in die Revolution gehen zu können. Das erwies sich als illusionär. Der
Augustblock fiel bald nach seiner Gründung wieder auseinander. Trotzkis letzte
Aktion gegen eine schlagkräftige Bolschewistische Partei brach kläglich
zusammen. Die Bolschewistische Partei hat sich gegen die von Trotzki
aufgerichteten Hemmungen durchgesetzt, sie hat in der Revolution die
entscheidende Rolle gespielt, die Trotzki zur vorübergehenden Liquidierung
seiner Sonderstellung zwang.
Die Prager Konferenz fand trotz allen Sabotageversuchen im Januar 1912 statt.
Sie ist für die Bolschewiki besonders bedeutungsvoll, weil sie faktisch die
Umwandlung der bolschewistischen Fraktion in eine selbständige Partei vollzog.
Auf dieser Konferenz wurde ein aktionsfähiges Parteizentrum, ein festerer
organisatorischer Zusammenhalt auf einer einheitlichen ideologischen Grundlage
geschaffen. Die liquidatorischen Organisationen und die linksopportunistischen
Elemente wurden aus der Partei ausgeschlossen; außerdem beschloß die Konferenz,
alle Beziehungen zu Trotzkis „Prawda" abzubrechen. In das Zentralkomitee
wurden Lenin, Stalin, Sinowjew, Ordshonikidse, Goloschtschekin Schwarzmann und
Malinowski gewählt. Der letztgenannte, der auch bolschewistischer
Duma-Abgeordneter war, wurde nach der Öffnung der zaristischen Polizeiarchive
als Spitzel entlarvt und 1916 von den Bolschewiki wegen seiner Verräterei
erschossen. Als Kandidaten für das Zentralkomitee wurden auf der Prager
Konferenz noch Kalinin und die Stassowa gewählt, die heute ebenso wie Litwinow,
der gleichfalls zu der ältesten Garde der Bolschewiki gehört, in der
Sowjetunion hervorragende Funktionen ausüben. Dieser Hinweis ist in diesem
Zusammenhange zweckmäßig, weil die Trotzkisten in neuerer Zeit immer wieder
behaupten, daß in der Sowjetunion die ganze alte bolschewistische Garde
ausgerottet werde. Auch Molotow war bereits während des Bürgerkrieges Mitglied
des Zentralkomitees der Partei, ebenso haben Woroschilow und Meschlauk schon in
der Revolution hervorragende Funktionen in der Partei und der Armee inne
gehabt. Die heutigen Führer der Sowjetunion sind also — so weit sie nicht zur
jüngeren Generation zählen — im Gegensatz zu Trotzki alte Bolschewiki. Aber
schließlich ist bei der Beurteilung jedes Einzelnen sein Tun in der Gegenwart
wichtiger als sein Verhalten in der Vergangenheit. Um sein Tun in der Gegenwart
zu rechtfertigen, beruft Trotzki sich auf seine angebliche enge Gemeinschaft
mit Lenin in der Vergangenheit. Die Analyse dieser Vergangenheit jedoch ergibt,
daß Trotzki dazu keinesfalls berechtigt ist.
Nach der Prager Konferenz wurden die Angriffe Trotzkis gegen Lenin und die
Bolschewiki besonders heftig. Anfang 1912 schreibt Trotzki in seiner Wiener
„Prawda":
„Im Januar dieses Jahres fand im Ausland eine Beratung einiger russischer
Praktiker mit dem leninschen Literaturzirkel statt. In der Darstellung der
Leninisten ist diese Beratung eine ,Allrussische Konferenz der Partei' genannt
worden, in der Resolution der Gruppe ,Wperjod' wurde sie ein ,Überfall auf die
Partei' genannt. Alle Tatsachen und Umstände dieser Beratung veranlassen uns,
anzuerkennen, daß die letztere Bezeichnung den Wesensinhalt der Sache weit
genauer zum Ausdruck bringt. Wir zweifeln nicht daran, daß die Beschlüsse der
leninschen Konferenz keinen irgendwie nennenswerten Einfluß auch auf die Arbeit
der Leninisten in Rußland selbst ausüben können, denn kein ernster
Parteiarbeiter wird seine Kräfte für ein sichtlich hoffnungsloses
Zirkelunternehmen hergeben wollen." Die leninistische revolutionäre
Organisation bezeichnet Trotzki als einen in den Massen einflußlosen Zirkel,
der sich nicht mit realen politischen Dingen, sondern eben nur mit Literatur
beschäftigt, der eine Literatur produziert, die in Rußland niemand beachtet.
Darüber hinaus behauptet Trotzki, daß selbst die Leninisten in Rußland es
ablehnen werden, für Lenins „hoffnungsloses Zirkelunternehmen" zu
arbeiten. Die Geschichte hat sehr schnell die von Trotzki 1912 aufgestellten
Behauptungen widerlegt. Die Leninisten und sehr viele andere revolutionäre
Arbeiter in Rußland haben ihre Arbeit in den Dienst des „leninschen
Literaturzirkels" gestellt. Als der Zarismus zusammenbrach, war die
leninsche Partei die Macht, die allein die Massen vom Februar zum siegreichen
Oktober führen konnte.
Als die Bolschewiki bald nach der Prager Konferenz in Rußland selbst eine
Arbeiterzeitung unter dem Namen „Prawda" herausgeben wollten, schrieb
Trotzki in seiner Wiener „Prawda" einen wütenden Artikel gegen Lenin und
die Bolschewiki:
„In der Petersburger Zeitung ,Swjesda' erschien eine Ankündigung über das
bevorstehende Erscheinen einer Arbeiter-Tageszeitung ,Prawda'. Die die Presse
verfolgenden Arbeiter wissen, daß gerade unter dieser Bezeichnung ... unsere
Zeitung bereits seit vier Jahren erscheint. Was soll das bedeuten? Hat die
Redaktion der neuen Zeitung nach unserem Einverständnis gefragt? Nein, sie hat
nicht gefragt. In welchem Verhältnis steht die Petersburger Zeitung zu unserer
Zeitung? In keinem...
Der leninsche Zirkel, diese Verkörperung der Fraktionsreaktion und der
spalterischen Willkür, hat nicht nur versucht, uns durch Aneignung der
allgemeinen Parteimittel des Feuers und des Wassers zu berauben, sondern hat im
Verlauf der letzten beiden Jahre auch alles getan, was möglich war, um den
Namen „Prawda“ in den Augen der russischen Arbeiter zu beschmutzen und verhaßt
zu machen.
Und jetzt, nach einem zweijährigen Kampfe des leninschen Zirkels gegen uns
entsteht in Petersburg eine Zeitung, die sich den völligen Titel unserer
Zeitung ... aneignet. Mit welchem Recht? Ohne jedes Recht. Wozu? Darauf ist
nicht schwer zu antworten: dazu, um auf dem Wege der Fälschung das zu
erreichen, was nicht gelang, auf dem Wege einer wilden Hetze zu erzielen; dazu,
um die spalterischen Tendenzen als Schmuggelware unter der Flagge einer Zeitung
fraktionslosen Charakters, der für die breiten Arbeiterkreise unzweifelhaft
ist, einzuschmuggeln. Und dazu, um alle Karten zu vermischen, ein volles Chaos
hervorzurufen und die Verwirrung aller, noch lange nicht durch Beständigkeit
gekennzeichneten Begriffe in den breiten Kreisen der Partei
hervorzurufen."
Auch an dieser Äußerung ist der gehässige Ton beachtlich, den Trotzki damals in
seinem Kampfe gegen den Leninismus anschlug. Er spricht immer nur von dem
„leninschen Zirkel”, der der Ausdruck der Fraktionsreaktion sei, der nur
spalte, und den Trotzki hier auch der Fälschung und des Betruges bezichtigt.
Mit der Aneignung der allgemeinen Parteimittel, die Trotzki in diesem Artikel
dem „leninschen Zirkel” vorwirft, hatte es eine besondere Bewandtnis. In der
damaligen Zeit fehlte in der russischen sozialdemokratischen Partei noch die
allgemein anerkannte Zentralstelle, der alle eingehenden Geldmittel zur
Verteilung zugeleitet werden konnten. Darum gingen die für den illegalen Kampf
eingehenden Gelder einer Gruppe von Treuhändern zu, die über die Verteilung
entschied. Diese Treuhänder waren Karl Kautsky, Franz Mehring und Klara Zetkin,
die nach gründlicher sachlicher Prüfung der tatsächlichen Lage in der
russischen Sozialdemokratie zu dem Ergebnis kamen, daß die Bolschewiki als die
stärkste und einflußreichste Kraft in Rußland den berechtigtsten Anspruch auf
die Parteigelder hätten. In den Augen der Treuhänder waren eben die Bolschewiki
nicht nur ein „leninscher Literaturzirkel”, sondern ein entscheidender Teil der
illegalen Bewegung. Im Gegensatz zu den Trotzkisten, die wirklich nur ein
Zirkel ohne wesentlichen Einfluß auf die russischen Arbeiterwaren, und denen
darum die Treuhänder Parteigelder zu überweisen ablehnten. Gegen Trotzkis Hetze
wegen der Gelder schrieb Lenin in einem Briefe „An alle sozialdemokratischen
Parteiorganisationen, Gruppen und Zirkel”:
„Man braucht kein Wort darüber zu verlieren, daß es Trotzki für seine Pflicht
hält, alle Ammenmärchen der ausländischen Liquidatoren über die angebliche
Aneignung der Parteigelder ... zu wiederholen. Habt wenigstens ein bißchen
Scham, Herrschaften! - sagen wir Trotzki und den mit ihm Gehenden. Unternehmt
nicht eine schändliche, lügnerische und klägliche Kampagne um das Geld!”
Doch wegen dieses Geldes hat Trotzki noch einen heftigeren Angriff gegen Lenin
unternommen. In einem Brief an den menschewistischen Führer Tscheidse schrieb
er am 1. April 1913:
„Die schmutzige Intrige, die systematisch von dem Meister für solche Sachen,
von Lenin, dem berufsmäßigen Ausbeuter jeglicher Rückständigkeit in der
russischen Arbeiterbewegung, entfacht wird, erscheint als unsinniges
Hirngespinst. Kein geistig intakter europäischer Sozialist glaubt, daß auf
Grund jener Margarine-Meinungsverschiedenheiten, die von Lenin in Krakau
formuliert wurden, eine Spaltung nötig ist. Mit den „dunklen Geldern“, die
Kautsky und Zetkin entrissen wurden, hat Lenin ein Organ geschaffen und sich
für dasselbe die Firma einer populären Zeitung angeeignet. Er hat die „Einheit“
und die „Fraktionslosigkeit“ zu ihrer Fahne gemacht und Arbeiterleser gewonnen,
die in dem Erscheinen einer Arbeiter-Tageszeitung überhaupt, natürlicherweise
ihre eigene gewaltige Errungenschaft sahen. Aber dann, als die Zeitung sich
befestigte, machte sie Lenin zum Hebel für das zirkelmäßige Intrigantentum und
die prinzipienlose Spalterei ...
Das ganze Gebäude des Leninismus in der gegenwärtigen Zeit ist auf Lüge und
Falschheit aufgebaut und trägt die giftigen Bestandteile der eigenen Zersetzung
in sich.”
Trotzki bestätigt in „Mein Leben” (Seite 500), daß er tatsächlich diesen Brief
an Tscheidse, der unter Kerensky eine große Rolle spielte und in der Revolution
einer der Gegenspieler Lenins war, geschrieben hat. Nach Trotzkis Angaben wurde
dieser Brief vom zaristischen Polizeidepartement abgefangen. Er ist erst nach
der Oktoberrevolution durch die Öffnung der Polizeiarchive bekannt geworden.
Trotzki verteidigt den Brief damit, „daß in den Jahren der Emigration mancherlei
Briefe geschrieben" wurden. Da Trotzki die Wirkung dieses Briefes
unangenehm war, versuchte er mit großen Worten und mit einer Schimpfkanonade
abzulenken. Er nennt die spätere Veröffentlichung dieses Briefes durch die
Bolschewistische Partei eines der „größten Betrugsmanöver in der
Weltgeschichte. Die gefälschten Dokumente der französischen Reaktion im
Dreyfus-Prozeß sind nichts im Vergleich mit diesem politischen Betrug Stalins
und seiner Komplizen." („Mein Leben" Seite 500).
Das ist der gleiche Ton gegen Stalin wie in dem Brief an Tscheidse gegen Lenin.
Wenn Trotzki die Bekanntgabe eines von ihm als echt zugegebenen Briefes mit den
gefälschten Dokumenten im Dreyfuß-Prozeß vergleicht, dann beweist das nur die
Unfähigkeit Trotzkis, sachlich und objektiv zu urteilen. Wieso aber die
Bekanntgabe eines echten Briefes eines der größten Betrugsmanöver der
Weltgeschichte sein soll, wird kein objektiv urteilender Mensch verstehen. Die
Feststellung, daß Trotzki in all den Jahren der intensiven Vorbereitung der
russischen Revolution in schroffer Gegnerschaft gegen Lenin und den Leninismus
stand, ist kein Betrug, sondern die geschichtliche Wahrheit. Wenn etwas Betrug
ist, so Trotzkis Bemühen, den Kampf zwischen Lenin und Trotzki, zwischen
Leninismus und Trotzkismus, nachträglich aus der Welt zu lügen. Der Gegensatz
zwischen diesen beiden Strömungen der russischen Arbeiterbewegung ist eine
historische Wahrheit, und der Brief Trotzkis an Tscheidse ist nur ein Beweis
dafür, wie tief dieser Gegensatz war, wie feindselig Trotzki noch am Vorabend
der Revolution Lenin gegenüberstand. Es zeugt wahrlich nicht von freundlichen
Gefühlen — die auch eine Voraussetzung für eine enge Kampfgemeinschaft sind —
wenn Trotzki Lenin einen Meister schmutziger Intrigen nennt, einen Politiker, der
sich nicht auf die fortschrittlichen Teile der Arbeiterschaft stützt, sondern
ein „berufsmäßiger Ausbeuter jeder Rückständigkeit in der russischen
Arbeiterbewegung" ist. Trotzkis völliges Mißverstehen der leninschen
Organisationskonzeption kommt auch darin zum Ausdruck, daß er Lenin vorwirft,
wegen „Margarine - Meinungsverschiedenheiten" zu spalten, nur aus Freude
an der Spaltung. Die große Feindschaft Trotzkis aber gegen den Leninismus
beweist die Behauptung, daß der ganze Leninismus auf Lüge und Falschheit
aufgebaut sei.
Der in der Tat sehr aufschlußreiche Brief Trotzkis an Tscheidse war Lenin in
den Auseinandersetzungen vor der Revolution nicht bekannt geworden. Lenin
kannte nur die publizierten Äußerungen Trotzkis in dem Meinungsstreit, und die
genügten ihm schon, harte und vernichtende Urteile über das Wirken Trotzkis und
des Trotzkismus zu fällen. Im Mai 1914 schrieb Lenin in einer längeren Arbeit
„Über die Verletzung der Einheit, bemäntelt durch Geschrei über die
Einheit" gegen seinen „Kampfgenossen" Trotzki (Lenin, Ausgewählte
Werke, Band IV, Seite 201 usf.):
„Bei Trotzki dagegen gibt es keinerlei ideologisch-politische Bestimmtheit,
denn das Patent auf die ,Fraktionslosigkeit' bedeutet lediglich ... das Patent
auf die völlige Freiheit des Hinüberwechselns von einer Fraktion zur anderen
und zurück. Das Fazit: 1. die historische Bedeutung der ideellen Differenzen
zwischen den Richtungen und Fraktionen im Marxismus erklärt und versteht
Trotzki nicht, obwohl diese Differenzen die zwanzigjährige Geschichte der
Sozialdemokratie füllen und die Grundfragen der Gegenwart berühren, 2. die
Hauptmerkmale des Fraktionswesens als einer Anerkennung der Einheit dem Namen
nach und einer tatsächlichen Zersplitterung, hat Trotzki nicht verstanden, 3.
unter der Fahne der ,Fraktionslosigkeit' vertritt Trotzki eine der besonders
ideenlosen Fraktionen, denen der Boden in der Arbeiterbewegung Rußlands
entzogen ist.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt. In den Phrasen Trotzkis ist viel Glanz und
Getue, aber Inhalt haben sie keinen..."
Wenn es bei euch „Prawda“-Anhängern (gemeint sind damit die Anhänger der
Petersburger ,Prawda' der Bolschewiki. D.V.) kein Fraktionswesen gibt, d.h.
keine Anerkennung der Einheit dem Namen nach bei tatsächlicher Zersplitterung,
so gibt es bei euch etwas Schlimmeres - die „Spalterei". entgegnet man
uns. So spricht nämlich Trotzki, der außerstande seine Gedanken zu durchdenken
und seine Phrasen miteinander in Einklang zu bringen, bald gegen das
Fraktionswesen lamentiert und bald schreit: ,Die Spaltung macht eine
selbstmörderische Eroberung nach der anderen.' (Nr. 1, Seite 6.)
Der Sinn dieser Erklärung kann nur der eine sein: „die Anhänger der ,Prawda'
machen eine Eroberung nach der anderen (das ist eine objektive, überprüfbare
Tatsache, die durch das Studium der proletarischen Massenbewegung Rußlands,
sagen wir in den Jahren 1912 und 1913, festgestellt werden kann), aber ich,
Trotzki, verurteile die „Prawda“- Anhänger erstens als Spalter und zweitens als
Selbstmordpolitiker."
Wollen wir das untersuchen. Vor allem danken wir Trotzki: vor kurzem (vom
August 1912 bis zum Februar 1914) folgte er Dan, der bekanntlich drohte und
aufforderte, das Antiliquidatorentum zu „erschlagen“. Jetzt droht Trotzki nicht
mit dem ,Erschlagen' unserer Richtung (und unserer Partei — seien Sie nicht
böse, Bürger Trotzki, das ist doch die Wahrheit!), sondern prophezeit nur, daß
sie sich selbst umbringen werde! Das ist weit milder, nicht wahr? Das ist fast
,fraktionslos', nicht wahr? Aber Spaß beiseite (obwohl Spaß die einzige Methode
ist, auf die unerträgliche Phrasendrescherei Trotzkis milde zu reagieren). Das
mit dem ,Selbstmord' ist einfach eine Phrase, eine hohle Phrase, bloßer
,Trotzkismus' ... Zu der Behauptung Trotzkis, daß zahlreiche vorgeschrittene
Arbeiter „im Zustand völliger Kopflosigkeit" Anhänger der Bolschewiki
werden, schrieb Lenin in dem gleichen Artikel weiter:
„... Trotzki liebt es sehr, mit der gelehrten Miene eines Kenners, mit üppigen
und klangvollen Phrasen die historischen Erscheinungen auf eine für Trotzki
schmeichelhafte Art zu erklären. Wenn ,zahlreiche vorgeschrittene Arbeiter' zu
,eifrigen Agenten' einer politischen und Parteilinie werden, die mit der Linie
Trotzkis nicht in Einklang steht, so löst Trotzki, ohne sich zu genieren, die
Frage auf einen Hieb und schnurstracks: diese vorgeschrittenen Arbeiter
befinden sich ,im Zustande völliger politischer Kopflosigkeit', er aber,
Trotzki, offenbar ,im Zustande' einer politisch festen, klaren und richtigen
Linie! ... (Genau so wie 1914 behauptet Trotzki 1936, — z.B. in „La revolution
trahie" — daß die fortgeschrittenen Arbeiter in der Sowjetunion hinter ihm
stehen, während Stalin sich auf die rückschrittlichen Elemente stütze, oder daß
die fortgeschrittenen Arbeiter, wenn sie Stalin folgen, sich im Zustande der
politischen Verwirrung befinden. D.V.) Und der nämliche Trotzki donnert, sich
in die Brust werfend, gegen das Fraktionswesen, gegen das Zirkelwesen, dagegen,
daß die Intellektuellen den Arbeitern ihren Willen aufzwingen wollen! ...
Wirklich, wenn man derartige Dinge liest, fragt man sich unwillkürlich, ob
solche Stimmen nicht aus einem Irrenhaus ertönen? ..."
In der Auseinandersetzung mit Trotzki kommt Lenin in dem Artikel „Über die
Verletzung der Einheit" schließlich zu folgendem Schluß (Lenin, Ausgewählte
Werke, Band IV, Seite 216 usf.):
„Die alten Teilnehmer an der marxistischen Bewegung in Rußland kennen die Figur
Trotzkis genau, und für sie lohnt es nicht, von ihr zu sprechen. Aber die junge
Arbeitergeneration kennt sie nicht, und man muß von ihr sprechen, denn er ist
eine Figur, die typisch ist für alle jene fünf Auslandsgrüppchen, die in
Wirklichkeit ebenfalls zwischen dem Liquidatorentum und der Partei schwanken
... Trotzki war in den Jahren 1901—1903 ein rabiater „Iskra“- Anhänger und
Rjasanow bezeichnete seine Rolle auf dem Parteitag von 1903 als die Rolle des
,leninschen Knüppels'. Ende 1903 war Trotzki rabiater Menschewik, d.h. er war
von den „Iskra“- Anhängern zu den „Ökonomisten“ übergelaufen; er verkündete:
,zwischen der alten und der neuen ,Iskra' liegt ein Abgrund'. Im Jahre 1904/05
rückte er von den Menschewiki ab und nimmt eine schwankende Haltung ein, wobei
er bald mit Martynow (dem ,Ökonomisten') zusammen arbeitet, bald die
plump-linke (in anderen Übersetzungen heißt es „albern-linke" D.V.)
„permanente Revolution” verkündet. 1906/07 nähert er sich den Bolschewiki und
im Frühling 1907 erklärt er sich mit Rosa Luxemburg solidarisch. In der Periode
des Zerfalls geht er, nach langen ,nichtfraktionellen' Schwankungen, wiederum
nach rechts und im August 1912 geht er einen Block mit den Liquidatoren ein.
Jetzt rückt er wiederum von ihnen ab, wobei er jedoch im Wesen der Sache ihre
armseligen Gedanken wiederholt."
Die Stellung Lenins zu Trotzki war besonders im Kampfe um die revolutionäre
Partei sehr eindeutig. Beim Kampf um die revolutionäre Partei, bei der
Herausarbeitung der revolutionären Theorie und der erfolgreichen politischen
Strategie stieß Lenin auf den Widerstand Trotzkis, begegnete ihm der
Trotzkismus als erbitterter Feind. Im Kampfe gegen diesen Feind bildete sich
die Bolschewistische Partei, die schon während des Krieges als selbständige
Organisation auftrat. Jedoch erst nach der Revolution, auf dem VII. Kongreß im
Jahre 1918, haben die Bolschewiki ihre frühere sozialdemokratische Parteibezeichnung
geändert und sich nach dem Vorschlage Lenins „Kommunistische Partei"
genannt. Während des Krieges hat Lenin sehr scharfe Polemiken gegen Trotzki
geführt, und dabei bereits gegen Trotzkis These von der Unmöglichkeit des
Sozialismus in einem Lande Stellung genommen.
Im Anschluß an die Darstellung des Gegensatzes zwischen Leninismus
und Trotzkismus in der Organisationsfrage muß noch einiges über Trotzkis
Stellung zur Parteidisziplin gesagt werden. Der heftige Kampf, den Trotzki in
der Vergangenheit gegen den Leninismus führte, beweist, — wie Lenin in seinen
Polemiken öfter sagte — daß Trotzki die leninsche Auffassung von der
revolutionären Partei nicht begriffen oder sich nicht zu eigen gemacht hat.
Unerbittlich vertrat Lenin den Standpunkt, daß die revolutionäre
Bolschewistische Partei eine einheitliche ideologische Grundlage, eine — wie
man später sagte — Generallinie brauche, die alle, die Parteimitglieder sein
wollen, anerkennen müssen. Auf der Basis dieser gemeinsamen ideologischen
Grundlage gibt es innerhalb der Partei Meinungsfreiheit und Meinungsaustausch,
aber nach der Entscheidung der Parteiorganisation müssen deren Beschlüsse
geschlossen durchgeführt werden, jede Verletzung der Aktionseinheit steht im
Widerspruch mit dem leninschen Organisationsprinzip. Als 1917 nach dem Beschluß
des Zentralkomitees über den Oktoberaufstand die in der Minderheit verbliebenen
Sinowjew und Kamenew — die im Gegensatz zu Trotzki frühere Mitarbeiter Lenins
waren — öffentlich gegen den Beschluß der Partei Stellung nahmen, hat Lenin
diese Störung der Aktionseinheit in der schärfsten Weise gebrandmarkt. Er
nannte die beiden rücksichtslos Streikbrecher und Verräter, die aus der Partei
entfernt werden müssen. Um das geschlossene Auftreten der revolutionären Partei
in allen Situationen zu sichern, darf es in ihr keine Fraktionen geben. Niemand
hat so energisch wie Lenin die Bildung selbständiger Fraktionen in der
Bolschewistischen Partei als einen Verrat an der Partei und an der Revolution
gebrandmarkt. Kurz vor seinem Tode — auf dem X. Parteitag — hat Lenin
Beschlüsse durchgesetzt, die jede Fraktionsbildung in der Partei unmöglich
machen sollten und die später gegen die trotzkistische Fraktion wirksam wurden.
Gegen diese Beschlüsse sind später die Trotzkisten Sturm gelaufen. Sie
bezeichneten die überwiegende Mehrheit der Partei als eine Fraktion, deren
„fraktionelle Diktatur" nur dadurch beseitigt werden könne, daß die
Beschlüsse des X. Parteitages aufgehoben und fraktionelle Gruppierungen in der
Partei zugelassen werden. Es ist also vollkommen unberechtigt, wenn die
Trotzkisten sich nach Lenins Tode bei ihrem Kampf gegen die überwiegende
Mehrheit der Partei gegen die Durchführung der Parteitagsbeschlüsse auf Lenin
berufen.
Trotzki fehlte die Fähigkeit, sich in die leninsche Partei einzufügen, sich
ihrer straffen Disziplin unterzuordnen. Aus dem Gegensatz zu dem leninistischen
Organisationsprinzip erwuchs und verschärfte sich in der vorrevolutionären Zeit
seine ideologisch-politische Gegnerschaft zum Bolschewismus. Aus der gleichen
Ursache entstanden nach der Oktoberrevolution seine Konflikte mit der
Bolschewistischen Partei. Trotzki stellte seine Person über die Partei. Schon
bald nach dem ersten organisatorischen Konflikt auf dem II. Parteitag im Jahre
1903 hat Lenin die besondere Eigenschaft Trotzkis, Parteitagsbeschlüsse nicht
zu achten und die Parteidisziplin zu brechen, angegriffen. In einem Artikel
„Von schönen Worten wird man nicht satt" (Januar 1905) schrieb Lenin (Band
VII, Seite 69/70):
„Welche Garantien kann es dagegen geben, daß Revolutionäre, die gemeinsam einen
Parteitag abgehalten haben, nachher, beleidigt, weil der Parteitag sie nicht
gewählt hat, zu schreien anfangen, daß der Parteitag ein reaktionärer Versuch
gewesen sei, die „Iskra“- Auffassung durchzusetzen (Trotzki in einer Broschüre,
die unter der Redaktion der ,neuen Iskra' herausgegeben wurde), daß die
Beschlüsse des Parteitags kein Heiligtum, daß auf dem Parteitag keine Arbeiter
aus der Masse gewesen seien? Welche Garantien kann es dagegen geben, daß ein
gemeinsamer Beschluß über die Formen und Normen der Parteiorganisation, ein
Beschluß, der sich Organisationsstatut der Partei nennt ... - nachträglich von
charakterlosen Leuten, soweit er ihnen nicht in den Kram paßt, in Fetzen
gerissen wird, unter dem Vorwand, daß solche Dinge, wie Statuten, bürokratisch
und formalistisch seien?"
Nach dem II. Parteitag nannte Trotzki Mehrheitsbeschlüsse, die ihm nicht in den
Kram paßten, reaktionär, und reaktionäre Beschlüsse erkannte er nicht als
bindend an. Im Mai 1914 schrieb Lenin in einem Beitrag über die Einheit zu
Trotzkis disziplinlosem Verhalten (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IV, Seite 217
usf.):
„Derartige Typen (Trotzki. D.V.) sind charakteristisch als Trümmer geschichtlicher
Gestaltungen und Formationen von gestern, wo die proletarische Massenbewegung
in Rußland noch schlief, und ein beliebiges Grüpplein genügend ,Platz hatte',
um sich als Strömung, als Gruppe, als Fraktion, mit einem Wort als eine ,Macht'
hinzustellen, die von Vereinigung mit anderen redet.
Es ist notwendig, daß die Junge Arbeitergeneration genau wisse, mit wem sie es
zu tun hat, wenn mit unglaublichen Ansprüchen Leute auftreten, die weder mit
den Parteibeschlüssen, die seit dem Jahre 1908 das Verhältnis zum
Liquidatorentum bestimmt und festgesetzt haben, noch mit der Erfahrung der
modernen Arbeiterbewegung Rußlands, welche die Einheit der Mehrheit in der Tat
auf der Grundlage der restlosen Anerkennung der genannten Beschlüsse
hergestellt hat, irgendwie rechnen wollen." Trotzki ist der von Lenin
charakterisierten Eigenschaft, sich nicht nach den Beschlüssen der Partei zu
richten, immer treu geblieben. Seine Verstöße gegen die Aktionseinheit und
gegen die Parteidisziplin — deren strikte Innehaltung auch nach dem Tode Lenins
das oberste Prinzip der Partei geblieben ist — waren die Ursache der scharfen
Zusammenstöße zwischen Trotzki und der leninschen Organisation. In dem Bericht
des Zentralkomitees, den Stalin im Januar 1924 auf der XIII. Parteikonferenz
erstattete, referierte er über die Diskussion zur Frage der Demokratie in der
Partei. In der ersten Periode habe die Opposition das Zentralkomitee heftig
angegriffen, weil während der NEP-Periode dessen ganze Linie falsch gewesen
sein soll. In der zweiten Periode schien eine gewisse Aussöhnung der Opposition
mit der Linie des Zentralkomitees zustande zu kommen. Die Opposition legte
Resolutionen vor, die sich nur wenig von der Resolution des Zentralkomitees
unterschieden. Über die dritte Periode sagte Stalin in seinem Bericht:
„Diese Periode wurde eingeleitet durch den Vorstoß des Genossen Trotzki, durch
sein Schreiben an die Rayons, ein Vorstoß, durch den im Nu die
Versöhnungstendenzen liquidiert und alles auf den Kopf gestellt wurde. Mit
diesem Vorstoß des Genossen Trotzki brach die Periode des schärfsten
innerparteilichen Kampfes an, eines Kampfes, zu dem es nicht gekommen wäre,
wenn Genosse Trotzki nicht, nachdem er für die Resolution des Politbüros
gestimmt hatte, am nächsten Tage mit seinem Brief hervorgetreten wäre. Wie ihr
wißt, folgte auf den ersten Vorstoß des Genossen Trotzki ein zweiter. Auf den
zweiten ein dritter, und der Kampf spitzte sich im Zusammenhang damit noch mehr
zu ....
Der erste Fehler des Genossen Trotzki bestand in der Tatsache des Hervortretens
mit einem Artikel am Tage nach der Veröffentlichung der Resolution des
Politbüros des ZK und der ZKK, mit einem Artikel, den man nicht anders
einschätzen kann .... als neue Plattform, die der einstimmig angenommenen
Resolution des ZK entgegengestellt wird. Bedenkt nur, Genossen: An dem und dem
Tage kommt das Politbüro und das Präsidium der ZKK zusammen, die Frage der
Resolution über die innerparteiliche Demokratie steht auf der Tagesordnung, die
Resolution wird einstimmig angenommen und nach insgesamt einem Tage wird
unabhängig vom ZK, ohne den Willen des ZK, über den Kopf des ZK hinweg an die
Rayons ein Artikel des Genossen Trotzki gesandt — eine neue Plattform, die von
neuem die Frage des Apparates und der Partei, der Kader und der Jugend, der
Fraktionen und der Parteieinheit usw. aufrollt, eine Plattform, die von der
ganzen Opposition aufgegriffen und der Resolution des ZK entgegengestellt wird
.... Das heißt, daß Genosse Trotzki sich dem ganzen ZK offen und schroff
entgegenstellt. Die Partei stand vor der Frage: Haben wir ein ZK als leitende
Instanz oder haben wir keins mehr, gibt es ein ZK, dessen einstimmige
Beschlüsse von den Mitgliedern dieses ZK respektiert werden, oder gibt es bloß
einen Übermenschen, der über dem ZK steht, einen Übermenschen, für den keine
Gesetze geschrieben sind, der sich erlauben kann, heute für die Resolution des
ZK zu stimmen und morgen eine neue Plattform gegen diese Resolution zu
veröffentlichen und aufzustellen? Genossen, man kann von den Arbeitern keine
Unterwerfung unter die Parteidisziplin verlangen, wenn ein Mitglied des ZK
offen, vor aller Augen das Zentralkomitee und seinen einstimmig gefaßten
Beschluß ignoriert. Man kann nicht zwei Disziplinen, eine für die Arbeiter, die
andere für große Herren einführen. Es kann nur eine Disziplin geben.
Der Fehler des Genossen Trotzki besteht eben darin, daß er sich dem ZK
entgegenstellte und sich ein Übermensch dünkte, der über dem ZK, über seinen
Gesetzen, über seinen Beschlüssen steht, womit er einem gewissen Teil der Partei
Anlaß gegeben hat, in der Richtung einer Untergrabung des Vertrauens zu diesem
ZK zu wirken ..." Im weiteren Verlauf der Parteidiskussion um den
Disziplinbruch Trotzkis wurden in unzähligen Parteiorganisationen Resolutionen
angenommen, die Trotzkis Verhalten verurteilten und die forderten, daß auf der
im Januar 1925 stattfindenden Tagung des Plenums des Zentralkomitees das
„Hervortreten des Genossen Trotzki" auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das
ist dann auch geschehen. Trotzki jedoch ist seltsamerweise nicht zu dieser
Tagung des Zentralkomitees gegangen, um sich persönlich zu verantworten. Er hat
sich damit begnügt, in einem Briefe zu behaupten, daß er keine Sonderstellung
in der Partei anstrebe und sich der Disziplin füge. Das Zentralkomitee beschloß:
1. Trotzki eine kategorische Verwarnung zu erteilen unter Hinweis darauf, daß
die Einhaltung der Parteidisziplin nicht nur in Worten, sondern auch in Taten
notwendig sei;
2. Trotzki seines Amtes zu entheben und seine weitere Arbeit im revolutionären
Kriegsrat als unmöglich zu erklären;
3. die Entscheidung über die Frage der weiteren Arbeit Trotzkis im
Zentralkomitee bis zum nächsten Parteitag zu vertagen, Trotzki aber
mitzuteilen, daß, falls er den Versuch machen sollte, die Parteibeschlüsse zu
verletzen oder nicht durchzuführen, das Zentralkomitee sich gezwungen sähe,
ohne den Parteitag abzuwarten, sein weiteres Verbleiben im politischen Büro der
Partei als unmöglich zu betrachten und Antrag auf Entfernung von der Arbeit im
Zentralkomitee zu stellen.
Der Beschluß, der Trotzki zur Niederlegung seines Amtes zwang, ist vom Plenum
des Zentralkomitees der Partei einstimmig — bei zwei Stimmenthaltungen — gefaßt
worden. Der Initiator des Beschlusses war aber nicht Stalin, sondern Sinowjew
mit Unterstützung Kamenews. Wer heute die aus den Jahren 1925/26 stammende
Literatur über den Konflikt mit Trotzki nachliest, wird zu seinem Erstaunen
feststellen, daß gerade in den Publikationen der Freunde Trotzkis Stalin kaum
eine Rolle spielte. Nicht Stalin wurde darin als der Gegenspieler Trotzkis
genannt, sondern Sinowjew, von dem in diesen Schriften behauptet wurde, daß er
Trotzki erschießen lassen werde.
Man beließ Trotzki trotz seiner Disziplinbrüche zunächst weiter im politischen
Büro der Partei. Im weiteren Verlauf des innerparteilichen Kampfes hat Trotzki
jedoch in der Tat noch oft die Disziplin gebrochen, gegen Parteitagsbeschlüsse
gehandelt, Fraktionen gebildet, alles das getan, was mit dem leninistischen
Organisationsprinzip unvereinbar ist. An seiner Art, ihm nicht passende
Mehrheitsbeschlüsse als reaktionär zu erklären und sich mit dieser Begründung
das Recht zu ihrer Bekämpfung zu nehmen; an seiner Unfähigkeit, sich
einzuordnen; an seinem Bestreben, eine Sonderstellung einzunehmen und über der
Partei zu stehen, ist Trotzki nach seiner kurzen Gastrolle in der
Bolschewistischen Partei gescheitert.
Auch während des imperialistischen Krieges standen Lenin und
Trotzki in verschiedenen Lagern. In den Jahren 1914 bis 1917 wurden ebenso wie
in anderen Ländern auch in Rußland viele Sozialdemokraten (z. B. Plechanow)
Patrioten, die für den Sieg ihres Vaterlandes wirkten. Trotzki war kein offener
Sozialpatriot, aber seine Haltung unterstützte die Opportunisten und
Sozialpatrioten. Deshalb stand Lenin auch im Kriege in scharfer Kampfstellung
gegen Trotzki. Lenin gab im Kriege die in der Schweiz erscheinende
bolschewistische Zeitung „Sozialdemokrat" heraus, die eine konsequente
internationalistische, revolutionäre Politik verfocht; Trotzki war zu gleicher
Zeit mit dem Menschewiken Martow und anderen zusammen in der Redaktion des in
Paris erscheinenden „Nasche Slowo", in dem verschiedene Strömungen zu
Worte kamen.
Die Bolschewiki unter Lenins Führung haben von Kriegsbeginn an gegen den imperialistischen
Krieg und gegen die zaristisch-kapitalistischen Machthaber ihres Landes
Stellung genommen und die Umwandlung des Krieges in den die zaristische
Herrschaft stürzenden Bürgerkrieg propagiert. Die Dumafraktion der Bolschewiki
wurde wegen dieser konsequenten Haltung gleich zu Beginn des Krieges verhaftet
und eingekerkert, während die menschewistische Fraktion zunächst unbehelligt
blieb. In dem Manifest, das das Zentralkomitee der Partei im September 1914
über den imperialistischen Krieg veröffentlichte, wird die Stellung der
Bolschewiki formuliert:
„Der Sozialdemokratie fällt vor allem die Pflicht zu, diese wahre Bedeutung des
Krieges aufzudecken und schonungslos die Lügen, die Sophismen und die
,patriotischen' Phrasen zu entlarven, die von den herrschenden Klassen, den
Gutsbesitzern und der Bourgeoisie zugunsten des Krieges verbreitet werden...
Man kann den Aufgaben des Sozialismus nicht gerecht werden, man kann den
wirklichen internationalen Zusammenschluß der Arbeiter nicht verwirklichen,
ohne entschlossen mit dem Opportunismus zu brechen, ohne den Massen die
Unvermeidlichkeit seines Fiaskos klar zu machen ...
Die Oberleitung des jetzigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg ist
die einzige richtige proletarische Lösung, die von den Erfahrungen der Kommune
diktiert wird, die in der Basler Resolution (1912) vorgezeichnet ist, und die
sich aus den ganzen Verhältnissen des imperialistischen Krieges zwischen den
hochentwickelten bürgerlichen Ländern ergibt. So groß auch in diesem oder jenem
Moment die Schwierigkeiten einer solchen Überleitung erscheinen mögen, die
Sozialisten werden niemals auf die systematische, beharrliche, unentwegte
Vorbereitungsarbeit in dieser Richtung verzichten, sobald der Krieg zur
vollendeten Tatsache geworden ist ...“
In diesen Sätzen des Manifestes werden die Fragen angeschnitten, in denen sich
im Kriege der Bolschewismus vom Trotzkismus unterschied. Politisch in der Frage
der Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg, taktisch und
organisatorisch in der Frage der eindeutigen Scheidung von allen Strömungen des
Opportunismus.
Den ideologisch-politischen Gegensatz, der zwischen Leninismus und Trotzkismus
in der Kriegsfrage bestand, hat Lenin sehr klar in dem im Juli 1915 im
„Sozialdemokrat" erschienenen Aufsatz „Über die Niederlage der eigenen
Regierung im imperialistischen Kriege" dargestellt („Gegen den
Strom", Seite 105 usf.):
„In einem reaktionären Kriege kann die revolutionäre Klasse nicht umhin, die
Niederlage ihrer eigenen Regierung herbeizuwünschen.
Das ist ein Axiom. Und es wird nur von den bewußten Anhängern oder hilflosen
Helfershelfern der Sozialchauvinisten bestritten. Zu den ersteren gehört z.B.
Semkowski von der Organisationskommission. Zu den letzteren Trotzki und
Bukwojed in Rußland, oder Kautsky in Deutschland. Der Wunsch nach der
Niederlage Rußlands, schreibt Trotzki, ist ,ein durch nichts hervorgerufenes
und durch nichts gerechtfertigtes Zugeständnis an die politische Methodologie
des Sozialpatriotismus, der an Stelle des revolutionären Kampfes gegen den
Krieg und die von ihm erzeugten Verhältnisse eine unter den gegebenen
Verhältnissen höchst willkürliche Orientierung in der Richtung des kleinsten
Übels setzt" (Nr. 105 von „Nasche Slowo").
Das ist ein Muster der aufgeblasenen Phrasen, mit denen Trotzki den
Opportunismus stets rechtfertigte. ,Der revolutionäre Kampf gegen den Krieg'
ist eine leere und inhaltlose Exklamation, auf die sich die Helfer der II.
Internationale so meisterhaft verstehen, wenn man darunter nicht die
revolutionären Aktionen gegen die eigene Regierung und während des Krieges
versteht. Es genügt, ein Weilchen nachzudenken, um das einzusehen. Und
revolutionäre Aktionen während des Krieges gegen die eigene Regierung bedeuten
sicherlich und unzweifelhaft nicht nur den Wunsch nach ihrer Niederlage,
sondern auch eine tatsächliche Förderung einer solchen Niederlage (für den
,scharfsinnigen' Leser: das bedeutet keineswegs, daß man ,Brücken sprengen',
mißlungene militärische Streiks inszenieren und überhaupt der Regierung helfen
soll, den Revolutionären eine Niederlage beizubringen).
Trotzki beschränkt sich auf Phrasen, aber verheddert sich dabei furchtbar. Er
glaubt, eine Niederlage Rußlands wünschen, heißt, einen Sieg Deutschlands
wünschen (Bukwojed und Semkowski drücken diesen ,Gedanken' oder richtiger: die
Gedankenlosigkeit, die sie mit Trotzki gemeinsam haben, direkter aus). Und
darin erblickt Trotzki die ,Methodologie des Sozialpatriotismus'! Um Leuten
entgegenzukommen, die nicht denken können, hat die Berner Resolution erklärt:
,In allen imperialistischen Ländern muß das Proletariat eine Niederlage ihrer
Regierung wünschen'. Bukwojed und Trotzki haben es vorgezogen, diese Wahrheit
zu übergehen, und Semkowski (ein Opportunist, der der Arbeiterklasse am meisten
dient durch eine offenherzig naive Wiederholung der bürgerlichen Weisheit),
Semkowski sagte ,lieblich': ,Das ist Unsinn, siegen kann entweder Deutschland
oder Rußland.“
Nehmen wir z.B. die Kommune. Deutschland hat Frankreich besiegt, und Bismarck
besiegte mit Thiers die Arbeiter! Wenn Bukwojed und Trotzki nachgedacht hätten,
so hätten sie gesehen, daß sie auf dem Standpunkt des Krieges der Regierungen
und der Bourgeoisie stehen, d.h. daß sie vor der ,politischen Methodologie des
Sozialpatriotismus' kriechen, — um mit Trotzkis gewählter Sprache zu sprechen:
Die Revolution während des Krieges ist Bürgerkrieg, und die Überleitung des
Krieges der Regierungen in den Bürgerkrieg wird einerseits durch die
militärischen Mißerfolge (,die Niederlage') der Regierungen erleichtert;
andererseits ist es unmöglich, in der Tat eine solche Überleitung anzustreben,
ohne damit die Niederlage zu fördern.
Die Chauvinisten (mit der Organisationskommission und der Fraktion Tscheidse)
wollen deshalb von der ,Losung' der Niederlage nichts wissen, weil diese Losung
allein einen konsequenten Appell zu revolutionären Aktionen gegen die eigene
Regierung während des Krieges bedeutet. Ohne solche Aktionen sind Millionen der
allerrevolutionärsten Phrasen über den ,Krieg dem Kriege' usw. keinen Heller wert...
Die Gegner der Losung der Niederlage fürchten sich einfach vor sich selber und
wollen nicht die offensichtliche Tatsache des unzweifelhaften Zusammenhanges
zwischen der revolutionären Agitation gegen die Regierung mit dem Herbeirufen
der Niederlage einsehen ... Das Übereinkommen über revolutionäre Aktionen,
selbst in einem Lande, ganz zu schweigen von einer Reihe von Ländern, ist nur
zu verwirklichen durch die Kraft des Beispiels ernsthafter revolutionärer
Aktionen, ihrer Inangriffnahme und ihrer Fortentwicklung. Und eine solche
Inangriffnahme ist wiederum unmöglich ohne den Wunsch der Niederlage und
Förderung der Niederlage. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den
Bürgerkrieg kann nicht ,gemacht' werden, wie man nicht Revolutionen ,machen'
kann, — sie erwächst aus einer ganzen Reihe vielgestaltiger Erscheinungen,
Seiten, Züge, Eigentümlichkeiten und Folgen des imperialistischen Krieges. Und
dieses Erwachsen ist unmöglich ohne eine Reihe militärischer Mißerfolge und
Niederlagen derjenigen Regierungen, denen ihre eigenen unterdrückten Klassen
Schläge versetzen.
Auf den Geist der Niederlage verzichten, heißt, den revolutionären Geist in
eine leere Phrase oder bloße Heuchelei ausarten zu lassen.
Was wird uns an Stelle der ,Losung' der Niederlage vorgeschlagen? Eine Losung:
,Weder Sieg noch Niederlage' (Semkowski in Nr. 2 der „Iswestja". Ebenso
die ganze Organisationskommission in Nr. 1). Aber das ist ja nichts anderes als
eine Paraphrase der Losung der Vaterlandsverteidigung! Das ist ja eine Übertragung
der Frage auf die Ebene des Krieges zwischen den Regierungen (die nach dem
Inhalt der Losung in der alten Lage verbleiben, ,ihre Positionen beibehalten'
sollen), aber nicht des Kampfes der unterdrückten Klassen gegen ihre
Regierungen! Das ist eine Rechtfertigung des Chauvinismus aller
imperialistischen Nationen, deren Bourgeoisien stets bereit sind, zu behaupten,
— und es auch dem Volke sagen — daß sie ,bloß' gegen die Niederlage kämpfen...
Der Sinn unserer Abstimmung vom 4. August ist: ,Nicht für den Krieg, sondern
gegen die Niederlage', schreibt der Führer der deutschen Opportunisten, Eduard
David, in seinem Buch. Die russischen Anhänger der ,Organisationskommission'
zusammen mit Bukwojed und Trotzki stellen sich durchaus auf den Boden Davids,
indem sie die Losung verfechten: Weder Sieg noch Niederlage! — Bei näherer
Betrachtung bedeutet diese Losung den Burgfrieden und den Verzicht auf den
Klassenkampf der unterdrückten Klasse in allen kriegführenden Ländern, denn der
Klassenkampf ist unmöglich ohne Verletzung der eigenen Bourgeoisie und der
eigenen Regierung, und eine Verletzung der eigenen Bourgeoisie im Kriege ist
Hochverrat, ist Förderung der Niederlage des eigenen Landes. Wer die Losung:
,Weder Sieg noch Niederlage' anerkennt, der kann nur heuchlerisch für den
Klassenkampf, den ,Bruch des Burgfriedens' eintreten, der verzichtet in der Tat
auf eine selbständige proletarische Politik und unterwirft das Proletariat
aller kriegführender Länder einer durchaus bürgerlichen Aufgabe, nämlich: die
betreffenden imperialistischen Regierungen vor Niederlagen zu bewahren. Die
einzige Politik eines wirklichen, nicht phrasenhaften Bruches des
,Burgfriedens' und der Anerkennung des Klassenkampfes ist die Politik der
Ausnutzung der Schwierigkeiten der Regierung und der Bourgeoisie durch das
Proletariat zum Zwecke deren Sturzes. Und das kann nicht erreicht werden, das
kann nicht angestrebt werden, wenn man die Niederlage der eigenen Regierung
nicht wünscht und diese Niederlage nicht fördert...
Wer für die Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' eintritt, der ist, bewußt oder
unbewußt, ein Chauvinist, der ist bestenfalls ein versöhnlicher Kleinbürger,
aber doch ein Feind der proletarischen Politik, ein Anhänger der jetzigen
Regierungen und der jetzigen herrschenden Klassen...
Die Anhänger der Losung: ,Weder Sieg noch Niederlage' stehen faktisch auf
Seiten der Bourgeoisie und der Opportunisten, ,glauben nicht' an die
Möglichkeit internationaler revolutionärer Aktionen der Arbeiterklasse gegen
ihre Regierungen und wünschen solche nicht: eine unzweifelhaft schwierige
Aufgabe, aber die einzige sozialistische Aufgabe, die des Proletariats würdig
ist..."
Lenins Artikel über die Niederlage der eigenen imperialistischen Regierung
wurde ausführlicher zitiert, weil in ihm sehr klar der Standpunkt Lenins im
Kriege und auch der Gegensatz zu Trotzki zum Ausdruck kommt. Den deutschen
Sozialisten wird — nach dem Siege des Hitler-Faschismus — die 1914 von Lenin
vorgeschlagene Losung, im Kriege der herrschenden Diktatur des eigenen Landes Schläge
zu versetzen und den Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, als ganz
selbstverständlich erscheinen. Jedoch als Lenin diese Losung mitten im Kriege
propagierte, war ihre Richtigkeit noch nicht so klar erkennbar; sie war sehr
umstritten und sie wurde von den meisten Sozialisten, auch von Trotzki, heftig
bekämpft. Trotzki lehnte die leninistische Losung der Niederlage des eigenen
Vaterlandes ab und er war gegen die von Lenin geforderte scharfe Abgrenzung von
den Opportunisten, die während des Krieges direkt oder indirekt ihr
zaristisches Vaterland unterstützten. Trotzki hat seinen Standpunkt in der Ende
Oktober 1914 erschienenen Broschüre „Der Krieg und die Internationale"
niedergelegt. Auf Seite 7 dieser Schrift sagt Trotzki, daß er die Befreiung
Rußlands nicht durch den Sieg Deutschlands, das heißt nicht durch die
Niederlage der zaristischen Regierung im Kriege erlangen wolle. Darum fordert
er (auf Seite 83/84 der gleichen Schrift) einen sofortigen Frieden ohne Sieg
und Niederlage. Seine Losung ist der sofortige Abbruch des Krieges und ein
Frieden, in dem es „keine Kontributionen" gibt, „das Recht Jeder Nation
auf Selbstbestimmung! Die Vereinigten Staaten Europas — ohne Monarchien, ohne
ständige Heere, ohne regierende Feudalkasten, ohne Geheimdiplomatien!"
Lenin nannte die trotzkistische Losung, gegen den imperialistischen Krieg
aufzutreten, ohne die Niederlage der eigenen Regierung zu fordern, eine leere
Phrase. Seiner Meinung nach kann der revolutionäre Kampf gegen die herrschenden
Klassen eines Landes im imperialistischen Kriege überhaupt nur dann geführt
werden, wenn er auf die Untergrabung der militärischen Kampfkraft und die
Herbeiführung der Niederlage abzielt. Auch in der Stellung zum Kriege
offenbarte sich bereits der tiefe Gegensatz zwischen Leninismus und Trotzkismus
in der Frage der Theorie des Sozialismus in einem Lande. Schon bei der
Begründung seiner Auffassung, daß die Befreiung Rußlands nicht durch den Sieg
Deutschlands herbeigeführt werden dürfe, ging Trotzki davon aus, daß „das
Schicksal der russischen Revolution untrennbar mit dem Schicksal des
europäischen Sozialismus verbunden ist." („Der Krieg und die
Internationale", Seite 7). Wenn der Sturz des Zarismus aus der Niederlage
Rußlands erwächst, so sei das kein Gewinn, denn es würde die Befreiung Rußlands
mit der sicheren Zerstörung der Freiheit Belgiens und Frankreichs erkauft
werden, „und — was noch wichtiger ist — die imperialistische Vergiftung in das
deutsche und österreichische Proletariat tragen." (Trotzki ebenda.) Nach
Trotzki sollte also — um Gefahren für die weitere Entwicklung zu verhindern —
der Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft in allen Ländern gleichzeitig
erfolgen. Da aber die Niederlage im Kriege — die in dem besiegten Lande
Voraussetzungen für den Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft schaffen
würde — nicht in allen am Kriege beteiligten Ländern erfolgen kann, darf kein
Land besiegt werden, und der Krieg muß ohne Sieg und Niederlage enden. Diese
trotzkistische Konzeption führte aber in der Konsequenz zu dem „Recht" der
sozialistischen Parteien aller Länder, im Kriege ihre herrschenden Klassen zu
unterstützen, um die Niederlage zu vermeiden. Trotzki sagte, wenn nicht alle
gleichzeitig die Niederlage ihrer Machthaber und deren Sturz herbeiführen
können, dürfen wir auch in unserem Lande nicht für die Niederlage wirken; Lenin
dagegen sagte: unbeschadet dessen, ob in allen Ländern gleichzeitig der Sturz
der herrschenden Klassen herbeigeführt werden kann, müssen wir (weil es die
gleichzeitige Verpflichtung aller Sozialisten in ihren Ländern ist) für die
Niederlage unserer Regierung arbeiten und durch unsere erfolgreiche
revolutionäre Aktion die Proletarier der anderen Länder zur Nachahmung
antreiben. Trotzki sagte, wir können nur voranmarschieren im Chor mit den anderen;
Lenin dagegen sagte, wir müssen marschieren, auch wenn die anderen nicht gleich
mitkommen; diejenigen, die am ehesten vorankommen, müssen die noch
Stillestehenden mitreißen und nachziehen durch das Beispiel.
Nicht weniger scharf als der politische Gegensatz in der Kriegsfrage war in den
Jahren von 1914 bis 1917 auch die organisatorische Meinungsverschiedenheit
zwischen Lenin und Trotzki. In dem Manifest des Zentralkomitees zur Kriegsfrage
wurde gesagt, daß der internationale Zusammenschluß der Arbeiter nur
verwirklicht werden kann, wenn entschlossen mit dem Opportunismus gebrochen und
dessen unvermeidliches Fiasko den Massen klar gemacht wird. Die Bolschewiki
führten den schärfsten Kampf gegen alle Sozialisten, die während des Krieges
Patrioten wurden und gegen alle schwankenden Elemente, die direkt oder indirekt
die sozialchauvinistische Strömung unterstützten. Trotzki dagegen setzte seine
alte organisatorische Linie des „Augustblock" fort. Er arbeitete auch im
Kriege mit der auf der Augustkonferenz 1912 gewählten Organisationskommission,
die bis zu der 1917 erfolgten Wahl eines Zentralkomitees der Menschewistischen
Partei die dem bolschewistischen Zentralkomitee der Partei entgegengestellte
Organisationsleitung der Menschewiki war. Trotzki wollte nach wie vor
„einigen": Im Kriege die Bolschewiki und die internationalen Strömungen im
Menschewismus, die zusammen mit den Liquidatoren und Sozialchauvinisten in der
Organisationskommission saßen. Die Bolschewiki warfen Trotzki vor, er
marschiere immer mit der Organisationskommission; er habe innerhalb der
Fraktion der Liquidatoren seine eigene Unterfraktion, die „Fraktion der
Nichtfraktionellen", die im Kriege „zwischen Internationalisten und
Sozialchauvinisten balanciert, wie sie früher zwischen den Bolschewiki und den
Liquidatoren balanciert hat". Der Trotzkismus bemühte sich auch im Kriege
erfolglos, „die berühmte mittlere Linie durchzuführen"; er wurde in jener
Zeit als ein Irrlicht bezeichnet, das in der russischen Arbeiterbewegung
umhergeistert. Der „versöhnlerische" trotzkistische Standpunkt kam in fast
allen Artikeln Trotzkis in „Nasche Slowo" zum Ausdruck. In Nr. 42 schrieb
Trotzki:
„Wenn wir mit dem Opportunismus kämpfen, betrachten wir ihn als organischen
Fehler der Arbeiterklasse selbst und nicht als etwas außerhalb stehendes ... Es
ist nicht schwer, etwas in Stücke zu schlagen, aber man muß zuerst wissen, was
abgeschlagen werden soll, damit nicht Teile des Organismus absterben."
Für Trotzki waren die Opportunisten ein Teil der Arbeiterklasse, den man nicht
abschneiden dürfe, mit dem man irgendwie doch zusammenarbeiten müsse; Lenin
dagegen betrachtete den unerbittlichen Kampf gegen den Opportunismus und dessen
Überwindung als eine Voraussetzung für eine schlagfertige revolutionäre Partei.
In einem Artikel „Über die Sachlage in der russischen Sozialdemokratie"
schreibt Lenin am 26. Juli 1915 („Gegen den Strom", Seite 111 usf.): „Vor
Publikum sind drei Teile des „Nasche Slowo" getreten, die erfolglos sieben
oder acht Monate sich vereinigten: 1. zwei Unke Redaktionsmitglieder, die
aufrichtig mit dem Internationalismus sympathisierten und zu dem
,Sozialdemokrat' tendieren. 2. Martow und die Leute von der OK (reichlich die
Hälfte). 3. Trotzki, der wie immer prinzipiell in nichts mit den
Sozialchauvinisten übereinstimmt, in der Praxis aber in allem mit ihnen
übereinstimmt (nebenbei bemerkt, dank ,der glücklichen Vermittlung' — heißt das
nicht so in der Sprache der Diplomaten? — der Fraktion Tscheidse) ...
Es ist nebenbei interessant, daß diese offenherzigen Sozialchauvinisten
durchaus zufrieden sind, sowohl mit Tscheidse wie mit seiner ganzen Fraktion.
Mit dieser Fraktion zufrieden sind auch die OK, Trotzki wie auch Plechanow,
Alexinski und Konsorten — eine ganz natürliche Sache, denn die Fraktion
Tscheidse hat durch Jahre hindurch ihre Fähigkeit bewiesen, die Opportunisten
zu decken und ihnen zu dienen." Lenin verweist in dieser Charakterisierung
auf das enge Verhältnis Trotzkis mit Tscheidse, über den das Band zu den
Sozialchauvinisten läuft. Am 19. Februar 1916 schreibt Lenin in dem Artikel
„Haben die OK und die Fraktion Tscheidse eine eigene Richtung?" („Gegen
den Strom", Seite 320):
„Martow mag anstellen, was er will. Trotzki mag gegen unsere ,Fraktionalität'
zetern und mit diesem Zetern die Tatsache bemänteln (das alte Rezept des
Turgenewschen ... Phraseurs!), daß der und der aus der Fraktion Tscheidse mit
Trotzki ,einverstanden' sei und auf die Linksorientierung, Internationalismus
schwören. Tatsachen bleiben Tatsachen."
Lenin rechnete Trotzki im Kriege (wie er das in einem Brief an die Kollontai
ausdrückte) zu den „schädlichsten ,Kautskianern' in dem Sinne, daß sie alle in
verschiedenen Formen für die Einheit mit den Opportunisten sind, ... den
Opportunismus beschönigen, daß sie alle ... den revolutionären Marxismus durch
den Eklektizismus ersetzen ..." Und darum sagte Lenin im Oktober 1916 in
dem Artikel „Ergebnisse der Diskussionen über das Selbstbestimmungsrecht"
(„Gegen den Strom", Seite 415) gewissermaßen zusammenfassend über die
Hakung Trotzkis im Kriege:
„Was auch die subjektiven ,guten' Absichten Trotzkis und Martows sein mögen,
objektiv unterstützen sie durch ihre Nachgiebigkeit den russischen
Sozialimperialismus." Weil Trotzki objektiv den Sozialimperialismus
unterstützte, hat Lenin auch im Kriege nicht weniger scharf gegen den
Trotzkismus Stellung genommen als in den Kämpfen gegen den Augustblock und um
die Bolschewistische Partei.
Der
wesentlichste Bestandteil des Trotzkismus ist die Theorie der permanenten
Revolution. Sie entstand 1905, begründet von Trotzki und Parvus, den Trotzki in
seinem Buch die „Oktoberrevolution" folgendermaßen kennzeichnet: „Während
des Krieges Haupttheoretiker des deutschen Sozialchauvinismus und
Kriegslieferant." Als solcher hat Parvus von 1914 an zusammen mit dem
später zu Stinnes übergegangenen Paul Lensch die Notwendigkeit des deutschen
Sieges propagiert.
Trotzki und Parvus behaupteten, die Revolution von 1905 habe eine Ära von
Revolutionen eingeleitet, die erst nach dem endgültigen Siege des
Weltproletariats abgeschlossen werde. Die nicht erfolgreich ausgegangene
Revolution von 1905 sei nicht beendet, sondern nur abgebrochen worden. Die
russische Revolution sei nur ein Teil der Weltrevolution, ihr vollständiger
Sieg werde darum nur im Zusammenhang mit dem Siege der internationalen
Revolution erreicht werden. Im Vorwort zu dem Buche „1905" (im Verlag
„Vereinigung Internationaler Verlagsanstalten", Berlin, Seite 5 usf.)
formulierte Trotzki seine Gedanken über die permanente Revolution folgendermaßen:
„Gerade in der Zeitspanne zwischen dem 22. Januar und dem Oktoberstreik 1905
haben sich beim Verfasser die Ansichten über den Charakter der revolutionären
Entwicklung Rußlands gebildet, die die Bezeichnung der Theorie der ,permanenten
Revolution' erhielten. Diese gelehrte Bezeichnung drückte den Gedanken aus, daß
die russische Revolution, vor der unmittelbar bürgerliche Ziele stehen, in
keinem Fall bei ihnen stehen bleiben kann. Die Revolution kann ihre nächsten
bürgerlichen Aufgaben nicht anders lösen, als durch die Besitzergreifung der
Macht durch das Proletariat. Hat es aber die Macht in seine Hand genommen, so
kann es sich nicht auf den bürgerlichen Rahmen der Revolution beschränken. Im
Gegenteil, gerade zur Sicherung ihres Sieges muß die proletarische Avantgarde
schon in der ersten Zeit ihrer Herrschaft die tiefsten Eingriffe nicht nur in
das feudale, sondern auch in das bürgerliche Eigentum machen. Hierbei wird das
Proletariat zusammenstoßen nicht nur mit allen Gruppierungen der Bourgeoisie,
die es am Anfang seines revolutionären Kampfes unterstützt hatte, sondern auch
mit den breiten Massen des Bauerntums, mit dessen Hilfe es zur Macht gekommen
war. Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem
rückständigen Lande, mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung
können nur im internationalen Maßstabe gelöst werden, in der Arena der
proletarischen Weltrevolution." Nach dieser Darstellung hat Trotzkis
Theorie der permanenten Revolution zwei Seiten. Die eine ist die Forderung, im
direkten Kampf des Proletariats die sozialistische Revolution durchzuführen.
Die zweite jedoch ist die Behauptung, daß angesichts der zahlenmäßigen Schwäche
der Arbeiterklasse und der angeblich zwangsläufigen Feindschaft der
Bauernmassen gegen das Proletariat die sozialistische Revolution in Rußland nur
zusammen mit der Weltrevolution siegreich sein kann. Aus dieser Theorie der
permanenten Revolution hat Trotzki zwangsläufig seine Theorie von der
Verneinung des sozialistischen Aufbaus in einem Lande entwickelt. Die positive
Seite der permanenten Revolution stammt von Karl Marx. Trotzki hat aber dessen
richtige Idee zu einer falschen (trotzkistischen) Theorie umgeformt. In einer
1850 gehaltenen Ansprache an den „Bund der Kommunisten" entwickelte Marx
erstmalig die Idee der ununterbrochenen Revolution:
„Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und
unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschluß bringen wollen,
ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen,
solange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft
verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation
der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern
der Welt so weit vorgeschritten ist, daß die Konkurrenz der Proletarier in
diesen Ländern aufgehört hat und daß wenigstens die entscheidenden produktiven
Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind." Der Grundgedanke
der marxschen permanenten Revolution ist demnach: die absolutistische
Herrschaft wird durch die bürgerliche Revolution gestürzt, das Proletariat darf
sich nach dem Siege der bürgerlichen Revolution nicht mit dem erreichten
Ergebnis zufrieden geben (wie z.B. nach der Umwälzung in Deutschland 1918),
sondern es muß weiter drängen, „bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen
von der Herrschaft verdrängt sind". Die revolutionäre Entwicklung muß
ununterbrochen vorwärtsgetrieben werden bis zum Siege der proletarischen
Revolution. Aber Karl Marx hat nicht den von Trotzki hinzugefügten Gedanken
entwickelt — daß die ununterbrochene Fortentwicklung von der bürgerlichen zur
proletarischen Revolution im nationalen Rahmen eines Landes nicht möglich sei
und nur durch die gleichzeitige proletarische Revolution in allen Ländern
erfolgreich sein könne. Im Gegenteil. Im „Kommunistischen Manifest"
erklären Marx und Engels:
„Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen
die Bourgeoisie zunächst ein nationaler, Das Proletariat eines Jeden Landes muß
natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden .... Indem das
Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur
nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst
noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie.“ Das ist ganz
eindeutig: das Proletariat muß den Kampf um die Fortentwicklung von der
bürgerlichen zur sozialistischen Revolution zunächst im nationalen Rahmen
führen, unbeschadet darum, ob diese Revolution gleichzeitig in allen Ländern
durchgeführt werden kann. Lenin und die Bolschewiki haben den marxschen
Gedanken der permanenten Revolution stets konsequent vertreten, sie haben dabei
den Sieg der proletarischen Revolution in einem Lande als stärksten Antrieb für
die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern betrachtet. Darum auch hat
Lenin die „albern-linke permanente Revolution" Trotzkis (so nannte sie der
Führer der Bolschewiki), die im schärfsten Gegensatz zu der revolutionären Theorie
der Bolschewiki stand, zu allen Zeiten heftig bekämpft. Erstens, weil sie
entgegen der marxschen Lehre den Sieg der sozialistischen Revolution in Rußland
abhängig machte von dem Siege der proletarischen Revolution in allen Ländern;
zweitens weil sie in dem Agrarland Rußland — in dem Sieg und Festigung der
proletarischen Revolution von dem Bündnis der Arbeiter- mit der Bauernklasse
abhängig ist — die Möglichkeit dieses Bündnisses verneinte und behauptete, daß
das Proletariat „feindlich zusammenstoßen" müsse „mit den breiten Massen
des Bauerntums". Und drittens, weil Trotzki im Widerspruch zu Marx
permanenter Revolution in Rußland direkt von der zaristischen Selbstherrschaft
zur proletarischen Diktatur springen wollte. Marx hat in seiner Ansprache an
den „Bund der Kommunisten" keineswegs vorgeschlagen, mit der
proletarischen Machtergreifung zu beginnen; der Sieg des Proletariats sollte
der Schlußstein der ununterbrochen fortgeführten bürgerlichen Revolution sein.
Der Trotzkismus dagegen vertrat den Standpunkt, daß in Rußland keine
bürgerliche Demokratie vorhanden sei, daß die Bauern keine revolutionäre Rolle
spielen können, und daß darum der Sturz des Zarismus nicht durch eine
bürgerliche, sondern unmittelbar durch die proletarische Revolution herbeigeführt
werden müsse. Da aber das russische Proletariat keine Bundesgenossen im eigenen
Lande habe, sei es zu schwach, die proletarische Revolution — ohne die Hilfe
der gleichzeitigen proletarischen Revolution in den anderen Ländern — siegreich
durchzuführen.
Im Gegensatz zum Trotzkismus sah Lenin in Rußland revolutionäre Kräfte auch im
bürgerlichen und bäuerlichen Lager. Lenin bekämpfte Trotzkis radikaler
scheinende These vom Überspringen der bürgerlichen Revolution, weil sie der
realen Situation nicht entsprach. Lenin unterstützte die demokratische
Revolution, weil er durch sie — in der Arbeiter, Bauern und demokratische
Bürger zusammen kämpften — am schnellsten und sichersten den Sturz des Zarismus
erwartete. Aber im Kampf um die demokratische Revolution bereitete er
zielbewußt die ununterbrochene Fortentwicklung zur sozialistischen Revolution
vor, deren Sieg im nationalen Rahmen Rußlands er durchaus für möglich hielt.
Vor allem darum, weil er fest davon überzeugt war, daß die Arbeiterklasse mit
der revolutionären Bauernschaft ein festes Bündnis schließen könne, und daß die
Bauernschaft unter Führung des Proletariats marschieren werde. Über Trotzkis
permanente Revolution und die verschiedene Beurteilung der Triebkräfte der
russischen Revolution durch Lenin und Trotzki schrieb Martow, der Führer der
Menschewiki, in seiner „Geschichte der russischen Sozialdemokratie" (Seite
11 6/117):
„Für Trotzki gab es in Rußland keine sozialen Kräfte, die stark genug waren,
die Ereignisse anders als in der radikalsten Weise zu lösen: die Bauernschaft
sei zersplittert, unfähig zu einer selbständigen Organisation und spiele nur
die Rolle des zerstörenden Faktors; die fortschrittlichen Elemente der
städtischen Bourgeoisie seien gezwungen, entweder dem Proletariat zu folgen,
oder den bürgerlichen Liberalismus zu unterstützen, der seinem Wesen nach
konterrevolutionär sei .... Unter diesen Umständen müsse ein entscheidender
Sieg des Volkes über das alte Regime zum Übergang der politischen Macht in die
Hände des Proletariats führen. ..."
Im Gegensatz zu Parvus und Trotzki betrachten Lenin und andere bolschewistische
Autoren diese Bewegung der nichtproletarischen Massen nicht nur als einen
elementar zerstörenden Faktor, der von dem klassenbewußten Proletariat einfach
für seine Zwecke ausgenutzt werden konnte. Vielmehr sahen Lenin und seine
Gesinnungsgenossen, unter weit richtigerer Einschätzung der tatsächlichen
Kräfteverhältnisse im Jahre 1905, das Erscheinen einer ihrem Wesen nach
kleinbürgerlichen, ungeheuer starken demokratischen Macht auf der politischen
Bühne voraus, die die revolutionären, nicht proletarischen Elemente der Stadt
mit den bäuerlichen Massen vereinigen und sich infolgedessen nicht, wie Parvus
und Trotzki annahmen, in ein einfaches Anhängsel der proletarischen Bewegung verwandeln,
sondern ein selbständiger politischer Faktor werden würde, der der ganzen
gesellschaftlichen Umwelt seinen Stempel aufprägen mußte.
Dieses Schema unterschied sich von dem Schema Parvus-Trotzkis durch einen weit
größeren Realismus und ein tieferes Eindringen in das Wesen des historischen
Prozesses. Es berücksichtigte jene schnelle Herausbildung der Bauernbewegung
und ihre Durchsetzung mit demokratisch-intellektuellen Kräften, die in den
Jahren 1905/1907 vor sich ging und die ihren Ausdruck fand in der schnellen
Entwicklung des Bauernbundes ....."
Martow weist in dem vorstehenden Zitat auf einige wesentliche Unterscheidungen
zwischen Leninismus und Trotzkismus hin, ohne dabei jedoch die Auffassungen
Lenins richtig darzustellen. Die reale Einschätzung der geschichtlichen
Situation und der revolutionären Kräfte bestärkte nach 1905 die Bolschewiki in
der Auffassung, daß die nächste Revolution eine bürgerlich-demokratische sein
werde, die die Leibeigenschaft völlig liquidiert, die Bahn für die mächtige Entwicklung
der unter dem Zarismus gefesselten kapitalistischen Verhältnisse frei macht und
den günstigsten Kampfboden für die sozialistische Revolution schafft. Nach
Lenins revolutionärer Theorie trat das Proletariat jedoch schon in der
demokratischen Revolution nicht nur als selbständige Organisation auf, sondern
als die entscheidende Antriebskraft. Das Proletariat marschierte darum nicht
als Anhängsel der bürgerlichen revolutionären Bewegung, es war die leitende
Kraft der Revolution. Sein Einfluß wurde um so größer, je fester sein Bündnis
mit der revolutionären Bauernschaft war, je stärker die Bauern das Proletariat
in der Fortentwicklung der demokratischen Revolution zur sozialistischen
unterstützten. Die Bolschewiki betrachteten die demokratische Revolution nie
als die Aktion, die die Befreiung bringt, sondern als die Einleitung der erst
die Freiheit schaffenden sozialistischen Revolution. Allerdings als eine
Einleitung, die nicht — wie es Trotzki in ultralinker Verkennung der realen
Situation wollte — übersprungen werden kann, in der aber die klassenbewußten
proletarischen Kräfte schon eine so führende Rolle spielen, daß sich aus der
demokratischen Revolution die sozialistische entwickeln muß. Lenin forderte die
Beteiligung des revolutionären Proletariats an der revolutionär-demokratischen
Regierung, die nach dem Sturz des Zarismus durch die revolutionäre bewaffnete
Macht die zaristische Herrschaft ablöst. Eine solche Regierung würde dann — so
sagte Lenin — in ihrem Wesen nichts anderes sein als die Diktatur des
Proletariats und der revolutionären Bauernschaft. Lenin bekämpfte die von
Parvus und Trotzki aufgestellte unreale und darum in der Wirkung
konterrevolutionäre Losung: „Keinen Zaren, her mit der Arbeiterregierung!"
Lenins Arbeiter- und Bauernregierung war der der realen Situation entsprechende
Ausdruck für die Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft.
Die Menschewiki wandten sich damals ebenso wie die Bolschewiki gegen das von
Trotzki propagierte Überspringen der demokratischen Revolution. Aber in der
Grundeinstellung unterschieden sich die beiden Fraktionen der russischen
Sozialdemokratie sehr voneinander. Die Menschewiki unterschätzten die führende
Rolle des Proletariats in der Revolution.
Sie unterschätzten ferner die revolutionäre Kraft der Bauernschaft,
betrachteten diese als ein Anhängsel der bürgerlichen revolutionären
Intelligenz und verneinten die Möglichkeit eines festen Bündnisses der
Arbeiter- und Bauernklasse. Aus allen diesen Gründen betrachteten die
Menschewiki die Bourgeoisie als die Haupttriebkraft, als die Führerin in der
nicht zu überspringenden demokratischen Revolution, in der die Arbeiterklasse
lediglich eine Hilfstruppe der gegen den Zarismus auftretenden bürgerlichen
Demokraten sein könne. Die Vollendung der demokratischen Revolution erwarteten
die Menschewiki von einer von der Bourgeoisie geführten demokratischen
Regierung, die durch die stützende Opposition der Arbeiterklasse auf
demokratischem Wege zur Erfüllung ihrer Aufgabe vorwärtsgedrängt wird. Die
Bolschewiki dagegen waren der Meinung, daß die bürgerlichen Demokraten sehr
schnell ihre Revolution verraten werden, daß darum die Arbeiterklasse bereits
in der demokratischen Revolution die führende Kraft sein müsse, deren Aufgabe
es sei, die demokratische Revolution zu vollenden und sie unmittelbar vorwärts
zu treiben zur sozialistischen Revolution. In der Einschätzung der Rolle der
Arbeiterklasse in der demokratischen Revolution und in der Frage der
unmittelbaren Fortführung derselben zur sozialistischen unterschied sich Lenin
also von den Menschewiki, mit denen er nur darin übereinstimmte, daß die
demokratische Revolution in Rußland historisch notwendig sei. Die leninschen
Gedanken sind in dem am 20. November 1915 im „Sozialdemokrat"
veröffentlichten Artikel „Über zwei Richtlinien der Revolution" enthalten,
in dem Lenin sich rückschauend mit den seit 1905 geführten Auseinandersetzungen
und auch mit Trotzkis permanenter Revolution beschäftigt („Gegen den
Strom", Seite 294 usf.):
„Die Erfahrung der russischen Revolution 1905 und der darauf folgenden
konterrevolutionären Epoche sagen uns, daß bei uns zwei Richtlinien der
Revolution wahrgenommen wurden im Sinne des Kampfes zweier Klassen, des
Proletariats und der liberalen Bourgeoisie, um den leitenden Einfluß auf die
Massen. Das Proletariat trat revolutionär auf und leitete das demokratische
Bauerntum zum Sturz der Monarchie und der Gutsbesitzer. Daß das Bauerntum
revolutionäre Bestrebungen im demokratischen Sinne offenbart hat, das haben in
Massendimensionen alle großen politischen Ereignisse gezeigt: wo die Bauern
sich nicht nur ,linker als die Kadetten' benahmen, sondern auch revolutionärer
als die Intellektuellen, nämlich die Sozialrevolutionäre und Trudowiki ...
Die erste Linie der russischen bürgerlich-demokratischen Revolution, die den
Tatsachen und nicht einem „strategischen“ Geschwätz entsprungen ist, bestand
darin, daß das Proletariat entschlossen kämpfte, das Bauerntum aber ihm zaghaft
folgte. Diese beiden Klassen kämpften gegen die Monarchie und gegen die Gutsbesitzer.
Durch den Mangel an Kraft und die ungenügende Entschlossenheit dieser Klassen
wurde die Niederlage hervorgerufen (obwohl teilweise eine Bresche im
Absolutismus dennoch geschlagen wurde).
Die zweite Linie war das Verhalten der liberalen Bourgeoisie. Wir Bolschewiki
behaupteten stets, besonders seit dem Frühling 1906, daß sie von den Kadetten
und Oktobristen als einer einheitlichen Kraft dargestellt wird. Das Jahrzehnt
1905/1915 hat unsere Auffassung bestätigt. In den entscheidenden Momenten des Kampfes
gaben die Kadetten zusammen mit den Oktobristen die Demokratie preis und
leisteten dem Zaren und den Gutsbesitzern Hilfe. Die ,liberale' Linie der
russischen Revolution bestand in der ,Beruhigung' und Zerbröckelung des
Massenkampfes im Namen der Versöhnung der Bourgeoisie mit der Monarchie. Sowohl
die internationale Situation der russischen Revolution wie die Kraft des
russischen Proletariats machten ein solches Verhalten der Liberalen
unvermeidlich.
Die Bolschewiki halfen bewußt dem Proletariat, die erste Linie zu verfolgen,
mit selbstlosem Mut zu kämpfen und der Bauernschaft voranzuschreiten. Die
Menschewiki rutschten beständig auf die zweite Linie hinab und korrumpierten
das Proletariat durch die Anpassung der Arbeiterbewegung an die Liberalen..."
Nach der Feststellung, daß nur die bolschewistische und die menschewistische
Strömung sich in der Politik der Massen offenbarte, fährt Lenin fort:
„Jetzt gehen wir wieder der Revolution entgegen. Das sehen alle, Chwostow
selbst spricht von einer Stimmung der Bauern, die an die Jahre 1905/1906
erinnert. Und wieder haben wir es mit denselben zwei Linien der Revolution und
demselben Wechsel der zwei Klassen zu tun, nur verändert durch die veränderte
internationale Situation .... Aus dieser faktischen Sachlage ergibt sich die
Aufgabe des Proletariats augenfällig. Restlos kühner revolutionärer Kampf gegen
die Monarchie (die Losung der Konferenz vom Januar 1912, die drei
Grundforderungen), ein Kampf, der alle demokratischen Massen, d.h.
hauptsächlich die Bauernschaft mit sich risse...
Das Wechselverhältnis der Klassen in der kommenden Revolution festzustellen,
darin besteht die Hauptaufgabe der revolutionären Partei. Dieser Aufgabe
entzieht sich die OK, die in Rußland eine treue Verbündete des ,Nasche Djelo'
bleibt und im Auslande mit ,linken' Phrasen herumwirft. Diese Aufgabe wird in
„Nasche Slowo“ von Trotzki unrichtig gelöst, der seine ,originelle' Theorie von
1905 wiederholt und sich keine Gedanken darüber machen will, infolge welcher
Ursachen das Leben ganze zehn Jahre an dieser großartigen Theorie vorbeiging.
Diese originelle Theorie Trotzkis nimmt von den Bolschewiki den Appell zum
entschlossenen revolutionären Kampf des Proletariats und zur Eroberung der
politischen Macht des Proletariats; und von den Menschewiki die ,Negation' der
Rolle des Bauerntums. Das Bauerntum hätte sich geschichtet, differenziert;
seine eventuelle revolutionäre Rolle habe immer mehr abgenommen; in Rußland sei
eine „nationale“ Revolution unmöglich: ,Wir leben im Zeitalter des Imperialismus,
und ,der Imperialismus stellt nicht die bürgerliche Nation dem alten Regime
gegenüber, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation'.
Da haben wir ein kurioses Beispiel für das Spiel mit dem Wörtchen
Imperialismus. Wenn in Rußland das Proletariat schon ,der bürgerlichen Nation'
gegenübersteht, dann steht also Rußland direkt vor der sozialistischen
Revolution! Dann ist die Losung .,Beschlagnahme des Großgrundbesitzes' (die von
der Januarkonferenz 1912 aufgestellt und von Trotzki 1915 wiederholt wurde)
unrichtig, dann muß man nicht von einer ,revolutionären Arbeiterregierung'
reden, sondern von einer ,sozialistischen Arbeiterregierung'! Welche Grenzen
der Wirrwarr bei Trotzki erreicht, sieht man aus seinem Satze, daß das
Proletariat durch Entschlossenheit auch die ,nichtproletarischen(!)
Volksmassen' mit sich reißen würde! Trotzki dachte nicht daran, daß, wenn das
Proletariat die nichtproletarischen Dorfmassen zur Beschlagnahme des
Großgrundbesitzes mit sich reißen und die Monarchie stürzen würde, dies eben
die Vollendung der ,nationalen bürgerlichen Revolution' in Rußland bedeuten
würde, dies eben die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und
des Bauerntums bedeuten würde.
Das ganze Jahrzehnt — das große Jahrzehnt — 1905-1915 hat das Vorhandensein von
zwei, und nur von zwei Klassenlinien der russischen Revolution erwiesen. Die
Schichtung des Bauerntums hat den Klassenkampf innerhalb des Bauerntums
verstärkt, hat sehr viele politisch schlafende Elemente geweckt und das
ländliche Proletariat dem städtischen nahegebracht (auf einer besonderen
Organisation des Landproletariats bestanden die Bolschewiki seit 1906 und
setzten diese Forderung in die Resolution des Stockholmer menschewistischen
Kongresses). Aber der Antagonismus zwischen dem Bauerntum und den
Regierungskliquen hat sich verstärkt, zugespitzt, ist gewachsen. Das ist eine
so offensichtliche Wahrheit, daß sogar Tausende von Phrasen in Dutzenden von
Pariser Artikeln Trotzkis sie nicht widerlegen werden. In Wirklichkeit kommt
Trotzki den liberalen Arbeiterpolitikern Rußlands entgegen, die unter der
,Negation' der Rolle des Bauerntums die Unlust verstehen, die Bauern
aufzurütteln!
Und das ist jetzt der ganze Haken. Das Proletariat kämpft und wird restlos
kämpfen für die Eroberung der Staatsgewalt, für die Republik, für die
Konfiskation der Güter, das heißt, für die Heranziehung des Bauerntums, für die
Ausschöpfung seiner revolutionären Kräfte, für die Beteiligung der
,nichtproletarischen Volksmassen' an der Befreiung des bürgerlichen Rußland vom
militärisch-feudalen Imperialismus (Zarismus). Und diese Befreiung des
bürgerlichen Rußland vom Zarismus, von der .... Herrschaft der Gutsbesitzer,
wird das Proletariat unverzüglich ausnützen, nicht um den wohlhabenden Bauern
in ihrem Kampf mit den Landarbeitern zu helfen, sondern — um die sozialistische
Revolution zu vollziehen im Bunde mit den Proletariern Europas."
In diesem Artikel ist Lenins Theorie für das Handeln in der heranreifenden
Revolution skizziert. Er widerlegt die falschen Elemente der trotzkistischen
,permanenten Revolution'; er weist nach, wie unter dem Druck der Verhältnisse
die Bauern revolutioniert und für ein festes Bündnis mit der Arbeiterklasse
reif werden. Er weist nach, daß — weil die Voraussetzungen für das Bündnis der
führenden Arbeiterklasse mit den revolutionären Bauernmassen gegeben sind — die
demokratische Revolution im nationalen Rahmen Rußlands möglich ist und zur
sozialistischen Revolution fortentwickelt werden kann, auch wenn die
proletarische Revolution nicht gleichzeitig in anderen Ländern siegt.
In einem im April 1909 veröffentlichten Artikel über „Das Kampfziel des
Proletariats in unserer Revolution" schrieb Lenin:
„Der Hauptfehler des Genossen Trotzki ist das Ignorieren des bürgerlichen
Charakters der Revolution, das Fehlen einer klaren Vorstellung von dem Übergang
von dieser Revolution zur sozialistischen Revolution." Lenin betont im
Anschluß daran wiederum, daß die Bauern, auch wenn sie keine festgefügte Partei
haben wie die Arbeiterklasse, eine revolutionäre Kraft sind, und daß zwischen
den Bauern als Klasse und der Arbeiterklasse feste Koalitionen zur Durchführung
der demokratischen Revolution möglich sind. Auch in diesem Artikel setzt Lenin
auseinander, daß aus der demokratischen Revolution um so schneller die sozialistische
entwickelt werden kann, je fester das Kampfbündnis zwischen Arbeiter und
Bauernklasse ist. Trotzkis „albern linke" permanente Revolution schien
manchem vielleicht gerade darum — ebenso wie spätere ultralinke Forderungen von
ihm — radikal, weil sie die These vom Überspringen der demokratischen
Revolution enthielt. Aber diese Forderung war, wie Lenin nachwies, nicht
radikal, sondern unreal und schädlich; auch dann, wenn mit ihr nicht die These,
daß die proletarische Revolution in Rußland nur zusammen mit der proletarischen
Revolution in den anderen Ländern siegen könne, verbunden gewesen wäre. Ein
wesentlicher Bestandteil der revolutionären Theorie Lenins war: Immer das zu
tun, was in der jeweiligen Situation notwendig und möglich ist und sicher zur
Erreichung des sozialistischen Endzieles vorwärts führt. Der Subjektivist
Trotzki dagegen orientierte seine Forderungen nicht nach den gegebenen
objektiven Voraussetzungen. Sind unter der Herrschaft des Absolutismus die
Voraussetzungen für die sozialistische Revolution noch nicht gegeben, wohl aber
für die demokratische Revolution, so ist die revolutionäre Tagesaufgabe die
Vorbereitung der demokratischen Revolution, deren siegreiche Durchführung erst
den nächsten Schritt, die sozialistische Revolution, ermöglicht. Proklamiert
man dagegen in der Situation, in der allein die demokratische Revolution
Erfolgsaussichten hat, die sofortige Durchführung der nicht möglichen
sozialistischen Revolution, dann sabotiert man damit nicht nur den nächsten
revolutionären Schritt, sondern man verzögert die mit radikalem Pathos
verkündete sozialistische Revolution oder macht sie ganz unmöglich. Lenin hat
immer sehr fein unterschieden zwischen leeren revolutionären Phrasen und
wirklichem Radikalismus. Darum vor allem hat er die dem oberflächlichen
Beobachter vielleicht radikaler scheinende „permanente Revolution"
Trotzkis als rückschrittlich und schädlich bekämpft, er hat ihr seine in der
Wirkung tatsächlich revolutionäre Theorie gegenübergestellt, die über die
demokratische Revolution zur siegreichen sozialistischen Revolution führte.
Trotzki hat in seiner späteren Geschichtsschreibung behauptet, Lenin und die
Bolschewiki seien — ebenso wie die Menschewiki — nur für die Durchführung der
bürgerlich-demokratischen Revolution gewesen, sie seien erst im Jahre 1917 jäh
umgeschwenkt und haben nach der Februarrevolution plötzlich eine ideologische
Umrüstung vorgenommen. Nach Trotzkis Erzählungen sollen die Bolschewiki ohne
richtige revolutionäre Theorie in die Revolution geraten sein; was sie als ihre
Theorie ausgaben, habe sich im Sturme der Revolution nicht bewährt, darum haben
sie sich — gewissermaßen über Nacht — die trotzkistische Theorie der
permanenten Revolution zu eigen gemacht, haben sich plötzlich für die sofortige
Durchführung der sozialistischen Revolution entschieden, ohne vorher die
bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende zu führen. Die Behauptung, daß
Lenin die Bolschewistische Partei im Jahre 1917 auf Trotzkis permanente
Revolution „umgerüstet" habe, will Trotzki auch mit der an anderer Stelle
wiedergegebenen Erzählung über seinen Freund Joffe beweisen. (Siehe Seite 71.)
Auch in einem Briefe an Olminski, den Trotzki im Jahre 1921 geschrieben und im
Jahre 1925 veröffentlicht hat, kommt er zu der gleichen Behauptung. Nach seiner
Darstellung hat die Entwicklung ihm in der Einschätzung der menschewistischen
Fraktion und in der Organisationsfrage unrecht gegeben, recht aber habe er mit
seiner Theorie der permanenten Revolution behalten. Er schreibt in diesem
Briefe: „Ich glaube, daß meine Einschätzung der treibenden Kräfte unbedingt
richtig war ...“ Und weiter sagt er dann dem Sinne nach, daß die Stellung der
Bolschewistischen Partei seit 1917 mit seiner Theorie der permanenten
Revolution völlig übereinstimmte. Das heißt also wiederum, in dieser Frage
nahmen die Bolschewiki 1917 einen Stellungswechsel vor und bekehrten sich zu
dem vorher von Lenin so heftig bekämpften Standpunkt Trotzkis.
Mit Trotzkis Behauptung, daß die Bolschewistische Partei 1917 auf seine
permanente Revolution „umgerüstet" habe, beschäftigte sich Stalin in
seinem Schlußwort auf der XV. Parteikonferenz (1926):
„Wie konnte die Theorie der permanenten Revolution mit der Stellung unserer
Partei übereinstimmen, wenn es feststeht, daß unsere Partei in Person Lenins
eben diese Theorie die ganze Zeit hindurch bekämpft hat? Eins von beiden:
entweder hat unsere Partei keine eigene Theorie und wurde dann, durch den Gang
der Dinge gezwungen, die Theorie des Genossen Trotzki von der permanenten
Revolution anzunehmen, oder sie hatte ihre eigene Theorie, diese aber wurde von
der Theorie des Genossen Trotzki ,von 1917 an' auf unmerkliche Weise verdrängt.
Über diese „Bedenken“ klärte uns dann Genosse Trotzki in seinem im Jahre 1922
geschriebenen „Vorwort zum Buche“ ,1905 auf. Nach Darstellung des Wesens der
Theorie der permanenten Revolution und einer Analyse der Einschätzung unserer
Revolution vom Standpunkt der Theorie der permanenten Revolution gelangt
Trotzki zu folgendem Schluß:
,Diese Einschätzung hat, wenn auch mit einer Unterbrechung von zwölf Jahren,
ihre volle Bestätigung gefunden.'
.... Wie aber konnte sie ihre Bestätigung finden? Und die Bolschewiki, wo
blieben denn die? Gingen sie denn wirklich ohne jegliche eigene Theorie in die
Revolution? Waren sie denn wirklich bloß imstande, die revolutionäre
Intelligenz, die revolutionären Arbeiter zusammenzuschließen? Und dann, auf
welchem Boden, auf Grund welcher Prinzipien schlössen sie die Arbeiter
zusammen? Hatten denn die Bolschewiki nicht irgendeine Theorie, eine Einschätzung
der Revolution, eine Einschätzung ihrer treibenden Kräfte? Hatte denn unsere
Partei wirklich keine andere Theorie als die Theorie der permanenten
Revolution? ....
Über diese ,Bedenken' klärt uns Genosse Trotzki in der ,Anmerkung' zum Artikel
,Unsere Meinungsverschiedenheiten' auf. Man höre:
,Das trat bekanntlich nicht ein (Trotzki behauptete in diesem Artikel, die
Bolschewiki hatten antirevolutionäre Züge, die in der Revolution zutage treten
werden. D.V.), da der Bolschewismus unter der Führung des Genossen Lenin (nicht
ohne inneren Kampf) seine ideologische Umrüstung in dieser höchst wichtigen
Frage im Frühjahr 1917, d.h. vor der Eroberung der Macht, vollzog.“
Also: eine ,Umrüstung' der Bolschewiki ,von 1917 an' auf Grund der Theorie der
permanenten Revolution, dadurch Rettung der Bolschewiki von den
,antirevolutionären Zügen des Bolschewismus', und endlich die Tatsache, daß die
Theorie der permanenten Revolution auf diese Weise ihre ,volle Bestätigung
gefunden hat' — das ist die Schlußfolgerung des Genossen Trotzki.
Wo aber ist der Leninismus geblieben, wo die Theorie des Bolschewismus, die
bolschewistische Einschätzung unserer Revolution, ihrer treibenden Kräfte usw.?
Sie haben entweder nicht ,ihre volle Bestätigung gefunden' oder haben überhaupt
keine ,Bestätigung gefunden' oder sie haben sich verflüchtigt und zwecks
,Umrüstung' der Partei der Theorie der permanenten Revolution Platz gemacht.
Also, es waren einmal Bolschewiki, sie ,schlössen' ,von 1903 an' die Partei
irgendwie ,zusammen', hatten aber keine revolutionäre Theorie, irrten ,von 1903
an' herum und erreichten irgendwie das Jahr 1917. Dann, als sie Trotzki mit der
Theorie der permanenten Revolution in der Hand bemerkten, beschlossen sie
,umzurüsten' und als sie ,umgerüstet' hatten, verloren sie nach und nach die
letzten Überreste des Leninismus, der leninschen Theorie der Revolution,
wodurch sie eine ,vollständige Übereinstimmung' der Theorie der permanenten
Revolution mit der ,Stellung' unserer Partei zustandebrachten. Das ist eine interessante
Mär ....
Es ist .... so, daß nach Lenin die Theorie der permanenten Revolution eine
halbmenschewistische Theorie ist, die die revolutionäre Rolle der Bauernschaft
in der russischen Revolution ignoriert.
Unbegreiflich ist nur, wie diese halbmenschewistische Theorie mit der Stellung
unserer Partei, wenn auch nur ,von 1917 an', ,völlig übereinstimmen' konnte
.... Unbegreiflich ist nur, wie eine solche Theorie unsere Bolschewistische
Partei ,umrüsten' konnte..."
Über die besonderen Punkte, deretwegen Lenin Trotzkis Theorie bekämpfte, sagt
Stalin in „Die Grundlagen des Leninismus" (siehe „Probleme des
Leninismus". Seite 96):
„Lenin bekämpfte also die Anhänger der ,permanenten' Revolution nicht wegen der
Frage der Permanenz, denn Lenin selbst stand auch auf dem Standpunkt der
ununterbrochenen Revolution, sondern wegen ihrer Unterschätzung der Rolle der
Bauernschaft, die eine gewaltige Reserve des Proletariats bildet, wegen ihres
Nichtbegreifens der Idee der Hegemonie des Proletariats.“
Wer nicht die von Trotzki mitgeteilten angeblichen, aber unkontrollierbaren
Privatgespräche, sondern die nachprüfbaren Tatsachen und Öffentlichen
Äußerungen Lenins zur Grundlage der Urteilsbildung über dessen Stellung zu
Trotzkis permanenter Revolution nimmt, der kommt zu dem Ergebnis, daß sich
Lenin in keiner Situation Trotzkis These zu eigen gemacht hat, sondern gerade
1917 nach seiner eigenen revolutionären Theorie handelte.
In dem in diesem Kapitel ausführlich zitierten Artikel über die zwei
Richtlinien der Revolution sagt Lenin am Schlusse, daß das Proletariat die
Befreiung des bürgerlichen Rußland vom Zarismus (die bürgerliche Revolution)
„unverzüglich" ausnutzen muß, um die sozialistische Revolution zu
vollziehen. Und so geschah es 1917. Die zaristische Macht wurde nicht unmittelbar
abgelöst durch die sozialistische Revolution, sondern durch die demokratische,
in der (entsprechend der theoretischen Forderung der Bolschewiki) die
Arbeiterklasse allerdings schon in so weitgehendem Maße die entscheidende Macht
war, daß sie in kurzer Zeit die Oktoberrevolution durchführen konnte. Bald nach
der Februarrevolution — in den Aprilthesen — hat Lenin im Sinne seiner
revolutionären Theorie die unverzügliche Fortführung der demokratischen
Revolution zur sozialistischen als Tagesaufgabe bezeichnet. Die demokratische
Revolution, die der Bourgeoisie die Macht gab, werde sehr schnell
abgeschlossen, sie müsse — wenn sie nicht zum Stillstand und zur
Konterrevolution führen solle — ohne Unterbrechung in die sozialistische
Revolution übergeleitet werden, die alle Macht den Sowjets, das heißt den
revolutionären Arbeitern und Bauern gibt. Lenin sagte in den Aprilthesen ohne
Umschweife, daß die Februarrevolution zusammenbrechen werde, darum müsse ohne
Konzessionen an schwankende Elemente eine Revolution vorbereitet und
durchgeführt werden, die „1000mal stärker sei als die Februarrevolution."
Im April 1917 charakterisiert Lenin in einem Artikel „Die Aufgaben des
Proletariats in unserer Revolution" die inzwischen erreichte
Übergangsperiode (Lenin, Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband, Seite 149/150):
„Dieser äußerst eigenartige, in dieser Form in der Geschichte noch nie
dagewesene Umstand hat zwei Diktaturen miteinander zu einem Ganzen verflochten:
die Diktatur der Bourgeoisie (denn die Regierung Lwow & Co. ist eine
Diktatur, d.h. eine Regierung, die sich nicht auf das Gesetz und den vom Volk
vorher kundgegebenen Willen stützt, sondern auf die gewaltsame Machtergreifung,
und zwar durch eine bestimmte Klasse, durch die Bourgeoisie) und die Diktatur
des Proletariats und der Bauernschaft (Rat der Arbeiter- und
Soldatendeputierten).
Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß eine derartige ,Verflechtung'
auf die Dauer nicht bestehen kann. Zwei Staatsgewalten können in einem Staate
nicht bestehen. Eine von ihnen muß abtreten, und die ganze russische
Bourgeoisie ist bereits mit aller Kraft am Werke, die Arbeiter und
Soldatendeputierten mit allen erdenklichen Mitteln überall beiseite zu drängen,
zu schwächen, zu einem Nichts herabzudrucken und die Alleinherrschaft der
Bourgeoisie aufzurichten.
Die Doppelherrschaft ist nur ein Übergangsmoment in der Entwicklung der
Revolution, wo sie zwar über die gewöhnliche bürgerlich-demokratische
Revolution hinausgegangen, aber noch nicht bis zur reinen Diktatur des Proletariats
und der Bauernschaft gelangt ist."
In Deutschland bestand nach dem November 1918 zwar nicht die hier
charakterisierte Doppelherrschaft. Aber trotzdem waren nach dem Zusammenbruch
der Monarchie die objektiven Voraussetzungen für die Machteroberung durch das
Proletariat gegeben. Die Macht lag gewissermaßen auf der Straße, leider fehlte
es der deutschen sozialistischen Bewegung an der Erkenntnis der Situation, am
revolutionären Willen und an der notwendigen Zielbewußtheit, um die gegebene
Chance ausnützen zu können und die Macht zu ergreifen. Wegen des Versagens der
deutschen sozialistischen Bewegung gelang es den Feinden der Revolution sehr
bald, die unklare Situation zugunsten der Herrschaft der Bourgeoisie zu
liquidieren. Zur Sicherung ihrer Machtstellung mobilisierte die Bourgeoisie die
konterrevolutionären Kräfte, deren Vorherrschaft allmählich in die
faschistische Diktatur überleitete. In Rußland ist die Entwicklung anders
verlaufen, weil die führende revolutionäre Partei eine klare revolutionäre Theorie
hatte, für deren praktische Durchführung Lenin in den entscheidenden Monaten
des Jahres 1917 konsequent eintrat. Die Bourgeoisie herrschte in der
demokratischen russischen Revolution nicht unumschränkt, sie mußte die
Herrschaft mit dem Proletariat teilen. Die Doppelherrschaft war jedoch nur
erreicht worden durch die von den Bolschewiki immer geforderte und vorbereitete
selbständige starke Stellung der im Bunde mit den revolutionären Bauern
stehenden Arbeiterklasse. Da außerdem die Bolschewiki in all den Jahren der
Vorbereitung der demokratischen Revolution ihre unverzügliche Fortentwicklung
zur sozialistischen Revolution als unverrückbares Ziel vor Augen hatten,
konzentrierten sie 1917 zielbewußt alle Kräfte auf die Liquidierung der
Doppelherrschaft zugunsten der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft.
In seinen „Briefen über Taktik" (April 1917) schrieb Lenin über den Kampf
für die Liquidierung der Doppelherrschaft zugunsten der revolutionären
Vorwärtsentwicklung (Lenin, Sämtliche Werke, Band XX, 1. Halbband, Seite
136/137):
„Lauren wir aber nicht Gefahr, in Subjektivismus zu verfallen, in den Wunsch,
,hinüberzuspringen' (das richtete sich gegen die alte trotzkistische Auffassung
in dieser Frage. D.V.) über die unvollendete Revolution bürgerlich-demokratischen
Charakters, die die Bauernbewegung noch nicht zum Abschluß gebracht hat, in die
sozialistische Revolution?
Hätte ich gesagt: ,Keinen Zaren, her mit der Arbeiterregierung!' so würde mir
diese Gefahr drohen. Doch ich habe das nicht gesagt, ich habe etwas anderes
gesagt. Ich habe gesagt, daß es eine Regierung in Rußland (von der bürgerlichen
abgesehen) außer den Räten der Arbeiter-, Landarbeiter-, Soldaten- und
Bauerndeputierten nicht geben kann. Ich habe gesagt, daß die Macht in Rußland
jetzt von Gutschkow und Lwow nur auf diese Sowjets übergehen kann. In diesen
aber überwiegt gerade die Bauernschaft, überwiegen die Soldaten, überwiegt — um
einen wissenschaftlichen marxistischen Terminus zu gebrauchen und statt der
gewöhnlichen Berufsbezeichnungen des Alltagslebens den Klassencharakter zu
betonen — das Kleinbürgertum.
Ich habe mich in meinen Thesen absolut gesichert gegen jedes Überspringen der
noch nicht überwundenen bäuerlichen oder überhaupt kleinbürgerlichen Bewegung,
gegen jedes Spiel mit der ,Machtergreifung' durch eine Arbeiterregierung, gegen
jedes blanquistische Abenteuer, denn ich habe direkt auf die Erfahrung der
Pariser Kommune hingewiesen. Diese Erfahrung aber hat, wie allgemein bekannt
ist und wie Marx 1870 und Engels 1891 ausführlich nachgewiesen haben, gezeigte
daß für den Blanquismus kein Platz da war, daß die direkte, unmittelbare,
unbedingte Herrschaft der Mehrheit und die Aktivität der Massen nur in dem Maße
gesichert war, wie die Mehrheit selbstbewußt auftrat.
Ich habe in den Thesen mit vollster Eindeutigkeit alles zugespitzt auf den
Kampf um den Einfluß innerhalb der Räte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern-
und Soldatendeputierten. Um auch nicht den kleinsten Zweifel in dieser
Beziehung zuzulassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der
geduldigen, beharrlichen, ,sich den praktischen Bedürfnissen der Massen
anpassenden' „Aufklärungsarbeit“ betont ..."
Lenins „Briefe über Taktik" beweisen, wie peinlich Lenin 1917 darauf
bedacht war, nicht mißverstanden zu werden, wie scharf er auch da noch eine
Trennungslinie gegenüber der trotzkistischen These zog.
Lenins Aprilthesen und sein Handeln im Jahre 1917 sind nur die konsequente
Durchführung der von den Bolschewiki seit 1905 vertretenen Linie. 1905 bereits
— in der ersten russischen Revolution — bezeichnet Lenin in seiner Broschüre
„Zwei Taktiken" die bürgerlich-demokratische und die sozialistische
Revolution als zwei Glieder einer Kette, als einen einheitlichen Prozeß, in dem
unmittelbar von der ersten Station zur zweiten übergegangen werden muß (Lenin,
Sämtliche Werke, Band VIII, Seite 129):
„Das Proletariat muß die demokratische Umwälzung zu Ende fuhren, indem es die
Masse der Bauernschaft zu sich heranzieht, um vereint den Widerstand des
Absolutismus gewaltsam zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie
zu paralysieren. Das Proletariat muß die sozialistische Umwälzung vollziehen,
indem es die Masse der halbproletarischen Elemente der Bevölkerung zu sich
heranzieht, um vereint den Widerstand der Bourgeoisie gewaltsam zu brechen und
die schwankende Haltung der Bauernschaft und der Kleinbourgeoisie zu
paralysieren." Die geschichtliche Wahrheit also ist: die Bolschewiki haben
sich 1917 nicht Trotzkis „permanente Revolution" zu eigen gemacht, sie
haben in der entscheidenden Zeit genau nach der klaren revolutionären Theorie
Lenins gehandelt. Lenin hat diese Theorie seit 1903 zu der unerschütterlichen
ideologischen Grundlage entwickelt, auf der die festgefügte revolutionäre
Partei erwuchs, die allein in der Lage war, in der revolutionären Situation das
Proletariat zum Siege zu führen.
Trotzki hat natürlich des öfteren versucht, die „Umrüstung" der
Bolschewiki und ihr von 1917 an erfolgtes Einschwenken in die Linie der
trotzkistischen permanenten Revolution zu „beweisen". Zu diesem Zwecke
wird in Trotzkis Geschichtsschreibung den Bolschewiki ein Standpunkt
angedichtet, den sie nie vertreten haben. In der „Oktoberrevolution" (1932
erschienen) schrieb Trotzki (Seite 678):
„Die Bolschewistische Partei war seit dem Tag ihrer Entstehung eine Partei des
revolutionären Sozialismus. Doch die nächste historische Aufgabe erblickte sie,
notgedrungen, im Sturze des Zarismus und in der Errichtung des demokratischen
Regimes. Hauptinhalt der Umwälzung sollte die demokratische Losung der
Agrarfrage sein. Die sozialistische Revolution wurde in eine recht ferne,
jedenfalls unbestimmte Zukunft gerückt. Es galt als unbestreitbar, daß sie
praktisch auf die Tagesordnung gestellt werden könnte erst nach dem Siege des
Proletariats im Westen. Diese Grundsätze, geschmiedet vom russischen Marxismus
im Kampfe gegen Narodnitschestwo und Anarchismus, bildeten das eherne Inventar
der Partei. Weiter folgen hypothetische Erwägungen: sollte die demokratische
Revolution in Rußland machtvollen Schwung erreichen, dann könnte sie
unmittelbaren Anstoß zur sozialistischen Revolution im Westen geben, und das
wieder würde dann dem russischen Proletariat erlauben, in beschleunigtem Marsch
zur Macht zu kommen.“ Richtig ist — wie sich aus der vorher erfolgten Darstellung
der leninschen Theorie der Revolution ergibt — daß die Bolschewiki den Zarismus
durch eine demokratische Revolution ablösen wollten. Falsch an der Schilderung
Trotzkis jedoch ist, daß die Bolschewiki „die sozialistische Revolution ... in
eine recht ferne, jedenfalls unbestimmte Zukunft" rückten. Alles was in
diesem Kapitel zu diesem Thema zitiert wurde, beweist, wie unrichtig Trotzkis
Erzählungen sind. Trotzki zitiert in der „Oktober-Revolution" (Seite 780)
eine Äußerung Lenins aus dem Jahre 1905, mit der er selbst seine Behauptung
widerlegt:
„Das Proletariat kämpfte bereits um die Erhaltung der demokratischen
Errungenschaften namens der sozialistischen Umwälzung."
Trotzki hätte — wenn er objektiv sein könnte — noch sehr viele Zitate in Lenins
seit 1905 geschriebenen Artikeln gefunden, die seine Erzählungen widerlegen,
und die beweisen, daß die Bolschewiki mit einer klaren Theorie in die
Revolution gegangen sind. In einem dieser Artikel „Sozialdemokratie und
provisorische revolutionäre Regierung" (1905) schrieb Lenin am Schlusse
zusammenfassend (Lenin, Sämtliche Werke, Band VII, Seite 268):
„Wenn der hohle Deklamator Trotzki jetzt schreibt, daß ein ,Priester Gapon nur
einmal auftauchen konnte', daß es für einen zweiten Gapon keinen Platz gibt, so
lediglich deshalb, weil er eben ein hohler Deklamator ist. Gäbe es in Rußland
keinen Platz für einen zweiten Gapon, so würde es bei uns auch keinen Platz für
eine wirklich „große“ bis ans Ende gehende demokratische Revolution geben ...
Sie (die Massen, d.V.) können nicht gleich, ohne eine Reihe revolutionärer
Prüfungen durchgemacht zu haben, Sozialdemokraten werden, nicht nur infolge
ihrer Unwissenheit (die Revolution klärt, wir wiederholen es, mit märchenhafter
Geschwindigkeit auf), sondern deshalb, weil ihre Klassenlage keine
proletarische ist, weil die objektive Logik der historischen Entwicklung sie im
gegenwärtigen Augenblick vor die Aufgabe eines demokratischen und keineswegs
eines sozialistischen Umsturzes stellt.
Und an diesem Umsturz wird das revolutionäre Proletariat mit aller Energie
teilnehmen, den jämmerlichen Chwostismus der einen, wie die revolutionären
Phrasen der anderen von sich weisend, klassenmäßige Bestimmtheit und Bewußtsein
in den schwindelerregenden Wirbel der Geschehnisse hineintragend, unentwegt und
mutig vorwärtsschreitend, die revolutionär-demokratische Diktatur nicht
fürchtend, sondern sie vielmehr leidenschaftlich herbeisehnend, für die
Republik und die volle republikanische Freiheit, für ernste ökonomische
Reformen kämpfend, damit eine wirklich weite und des 20. Jahrhunderts wirklich
würdige Arena geschaffen werde für den Kampf um den Sozialismus."
Danach war die nächste Aufgabe die Durchführung der demokratischen Revolution,
an der sich das revolutionäre Proletariat führend beteiligen muß, um die
„bessere Arena für den Kampf um den Sozialismus" zu schaffen. Aber
nirgendwo ist die Rede davon, daß die Fortentwicklung der demokratischen
Revolution „in eine ferne, unbestimmte Zukunft gerückt" wird. In dem
vorstehend zitierten Artikel legt Lenin dar, daß die Massen ohne revolutionäre
Prüfungen durchgemacht zu haben — noch nicht Sozialdemokraten sind, daß sie
darum nicht sofort für eine sozialistische Revolution mobilisiert werden
können. Aber er fügt hinzu, daß die Revolution mit märchenhafter Geschwindigkeit
aufklart, das heißt, daß die durch die demokratische Revolution in Bewegung
gesetzten Massen mit märchenhafter Geschwindigkeit über die Mängel der
demokratischen Revolution und über die Notwendigkeit, diese zur sozialistischen
fortzuführen, aufgeklärt werden. Rechnete Lenin schon 1905 mit einer so
schnellen Aufklärung der Massen in der demokratischen Revolution, dann hat er
eben die sozialistische Revolution nicht auf eine unbestimmte Zukunft vertagt,
sondern ihre Durchführung als die ununterbrochene Folge der demokratischen
Revolution betrachtet. Wie recht Lenin mit seiner Theorie und seiner
Einschätzung der revolutionären Entwicklung hatte, bewies der Februar 1917. Die
Februarrevolution hat die Massen in der Tat „mit märchenhafter Geschwindigkeit"
aufgeklärt und die sofortige Fortentwicklung zur sozialistischen Revolution
ermöglicht. Aber nur, weil die leninsche Theorie weit vorausschauend der Partei
den revolutionären Weg von der demokratischen zur sozialistischen Revolution
vorgezeichnet und die revolutionäre Partei geschaffen hat, die die Massen auf
diesen Weg führen konnte.
Lenin hat aber nicht nur die ununterbrochene Weiterentwicklung der
demokratischen zur sozialistischen Revolution propagiert, sondern zugleich die
Mobilisierung der Kampfmittel gefordert, die erst die Erfüllung dieser Aufgabe
möglich machen. Lenin, der zur Durchführung der demokratischen Revolution die
Kampfbündnisse mit nichtproletarischen Kräften für notwendig hielt, hat dabei
stets betont, daß es bei diesen Kampfbündnissen nicht auf schriftlich
formulierte Bedingungen ankomme, sondern auf die praktische Verwirklichung des
gemeinsamen Kampfes gegen den Zarismus. Vor allem aber darauf, daß die
Arbeiterklasse stark genug sei und genügend Machtmittel in der Hand habe, um sich
selbst gegen den Betrug seiner vorübergehenden Kampfgefährten zu schützen. Die
wirksamste Sicherung gegen Betrugsversuche ist die Bewaffnung des Volkes, die
der Arbeiterklasse die Möglichkeit gibt, nach der Eroberung der politischen
Freiheiten die „bessere Arena" auch für den Kampf um den Sozialismus
auswerten zu können. Dabei hat Lenin nie einen Zweifel darüber gelassen, daß
die bürgerlichen Demokraten auch im Kampf um die Demokratie sehr unsichere
Bundesgenossen seien. Am 24. Januar 1905 schrieb er in „Proletarische und
bürgerliche Demokratie" (Lenin, Sämtliche Werke, Band VII, Seite 94):
„Nein, das Proletariat wird sich auf dieses Spiel mit Versprechungen,
Erklärungen und Vereinbarungen nicht einlassen. Das Proletariat wird niemals
vergessen, daß die bürgerlichen Demokraten keine verläßlichen Demokraten sein
können. Das Proletariat wird die bürgerliche Demokratie unterstützen, nicht auf
Grund irgendwelcher Abmachungen mit ihr, keinen panischen Schrecken
hervorzurufen, nicht auf Grund des Glaubens an ihre Verläßlichkeit, sondern es
wird sie dann und in dem Maße unterstützen, wenn und soweit sie tatsächlich
gegen den Absolutismus kämpft. Eine solche Unterstützung ist im Interesse der
Erreichung der selbständigen sozialen und revolutionären Ziele des Proletariats
notwendig."
Also Unterstützung der bürgerlichen Demokratie, soweit sie wirklich kämpft,
jedoch nicht nur um der demokratischen Revolution, sondern um der Erreichung
der sozialistischen Revolution willen. Und weil diese nur von dem
revolutionären Proletariat durchgeführt werden kann, hat Lenin als besondere
Voraussetzung für die Unterstützung der demokratischen Revolution die
selbständige marxistische Partei verlangt. Diese muß, ihren Weg gehend, bei
allen Kampfbündnissen mit bürgerlich-demokratischen Kräften um die Hegemonie
des Proletariats auch in der demokratischen Revolution kämpfen. Am 21. Februar
1905 schrieb Lenin in „Über ein Kampfbündnis für den Aufstand" (Lenin,
Sämtliche Werke, Band VI I.Seite 166):
„Die Geschichte der revolutionären Epoche liefert viele, all zu viele Beispiele
der ungeheuren Schädlichkeit übereilter und unreifer Experimente einer
„Kampfeseinigung", die die ungleichartigsten Elemente in den Komitees des
revolutionären Volkes zusammenleimte und nur zu gegenseitigen Reibereien und
bitteren Enttäuschungen führte.
Wir wollen uns die Lehre dieser Geschichte zunutze machen. Wir sehen im
Marxismus, der euch als ein enges Dogma erscheint, gerade die Quintessenz
dieser geschichtlichen Lehre und Anleitung. Wir sehen in der selbständigen,
unversöhnlich marxistischen Partei des revolutionären Proletariats die einzige
Gewähr für den Sieg des Sozialismus und den von Schwankungen denkbar freiesten
Weg zum Siege. Wir werden daher niemals, auch nicht in den revolutionärsten
Augenblicken, auf die völlige Selbständigkeit der Sozialdemokratischen Partei,
auf die völlige Unversöhnlichkeit unserer Ideologie verzichten.
... Wir glauben, daß wir der Sache künftiger Kampfbündnisse besser dienen, wenn
wir, statt bittere, vorwurfsvolle Phrasen zu dreschen, die Bedingungen ihrer
Möglichkeit und ihrer mutmaßlichen Grenzen, ihrer, wenn man so sagen darf,
,Kompetenzen' nüchtern und kühl wägen." Das selbständige Auftreten der
unversöhnlich marxistischen Partei auch bei allen Kampfbündnissen im Kampf gegen
den Zarismus erschien Lenin als unbedingte Notwendigkeit, um die demokratische
Revolution im geeigneten Zeitpunkt zur sozialistischen Revolution fortzuführen.
Es wäre ein geschichtliches Versäumnis schlimmster Art gewesen, wenn das
russische Proletariat den Stoß für die sozialistische Umwälzung
dogmatisch-mechanisch erst für die Zeit nach dem endgültigen Siege der
demokratischen Revolution vertagt hätte, obwohl die Situation für die
Durchführung der sozialistischen Revolution schon früher reif geworden war. Da
das russische Proletariat „um die Erhaltung der demokratischen
Errungenschaften" bereits „namens der sozialistischen Umwälzung"
kämpfte, mußte es nach der Veränderung der Verhältnisse, nachdem die bessere
„Arena für den Kampf um den Sozialismus" erreicht war, auch seine
Kampfziele verändern.
Trotzki sagt in der „Oktoberrevolution" (Seite 677), daß sich die
Bolschewistische Partei auf der Aprilkonferenz des Jahres 1917 „unter dem Druck
der restlos enthüllten Situation" zum ersten Mal zu dem Ziel der „Machteroberung"
bekannt habe. Die zitierten Äußerungen Lenins aus dem Jahre 1905 beweisen, daß
diese Behauptung Trotzkis falsch ist, daß die Bolschewistische Partei schon vor
1905 die Frage der Machteroberung durch das Proletariat auch in der Zeit bejaht
hat, in der sie angesichts der Verhältnisse die demokratische Revolution als
die nächstliegende Aufgabe betrachtete. Der konzentrierte Kampf um die
Erfüllung der nächsten Aufgabe schließt die Mobilisierung der Kräfte für die
weiter gesteckten Ziele nicht aus. Die Machteroberung durch das Proletariat
wurde nicht 1917 zum ersten Male als das Ziel proklamiert, sie trat nur damals
in der inzwischen erreichten demokratischen Revolution als das nächste
Kampfziel ganz deutlich in Erscheinung.
Trotzki bejahte das seiner Meinung nach 1917 zum ersten Mal erfolgte Bekenntnis
zur proletarischen Revolution, weil „die restlos enthüllte Situation" es
verlangte. Er war allerdings der Meinung, daß diese veränderte Stellungnahme
nicht das Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion enthalten
habe. Die veränderte Situation, das Versagen der bürgerlich-demokratischen
Kräfte in Rußland und das Ausbleiben der proletarischen Revolution in den
fortgeschrittenen europäischen Ländern, stellte dem russischen Proletariat, als
dem ersten in der Welt, die Aufgabe, den sozialistischen Aufbau in der Praxis
zu beginnen. Das russische Proletariat war 1917 in der Zwangslage, entweder vor
dem Versagen der demokratischen Revolution zu kapitulieren und der
Konterrevolution die Bahn frei zu geben, oder für die sofortige Ablösung der
demokratischen Revolution durch die sozialistische zu kämpfen. Nach schweren
opfervollen Kämpfen eroberte das russische Proletariat als das erste in der
Welt die politische Macht. Die Hoffnung war, daß dieser Sieg unverzüglich
proletarische Revolutionen in den anderen Ländern auslösen und den
sozialistischen Aufbau erleichtern würde. Das Ausbleiben der Revolution in
Europa „enthüllte" wiederum „restlos eine neue Situation" und zwang
zu Entscheidungen. Die siegreiche russische Revolution hatte nunmehr die Wahl,
entweder (wie Stalin das formulierte) „auf dem Halm zu verfaulen" oder die
eroberte politische Macht auszunützen und den sozialistischen Aufbau in dei
Sowjetunion zu versuchen. Die aus dem Siege der sozialistischen Revolution sich
konsequent ergebende Entscheidung für die Durchführung des sozialistischen
Aufbaus in dem Lande der siegreichen. proletarischen Revolution bezeichnet
Trotzki als Verrat an der Idee des internationalen Sozialismus.
So zeigte sich auch in der weiteren Entwicklung der russischen Revolution der
grundlegende Gegensatz zwischen Trotzkis permanenter Revolution und Lenins
revolutionärer Theorie. Trotzkis Theorie verschiebt den Aufbau des Sozialismus
bis zum Siege der proletarischen Revolution in der ganzen Welt. Lenins
revolutionäre Theorie verlangt die permanente, ununterbrochene Fortführung der
revolutionären Entwicklung und die Ausnützung der siegreichen proletarischen
Revolution zum sozialistischen Aufbau — weil die Erfolge des sozialistischen
Aufbaus in einem Lande zum wirksamen Hebel für die revolutionäre Entwicklung in
den anderen Ländern, für die Weltrevolution werden. Trotzkis permanente
Revolution verneint den Aufbau des Sozialismus in einem Lande, der von der
leninschen revolutionären Theorie eindeutig bejaht wird.
Das Verhalten Trotzkis in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg
spielt in der trotzkistischen Geschichtsschreibung eine entscheidende Rolle.
Mit dem Hinweis auf diese Zeit wird hauptsächlich die angeblich so enge
Kampfgemeinschaft Trotzkis mit Lenin begründet. Die Legende berichtet, daß
Trotzki der entscheidende Führer des Oktoberaufstandes gewesen sei, daß ohne
ihn die Oktoberrevolution nicht erfolgreich ausgegangen und der Bürgerkrieg
nicht gewonnen worden wäre. Trotzki selbst erzählt in seinen Büchern, vor allem
in der „Februarrevolution", der „Oktoberrevolution", in „Mein
Leben", und auch in „Über Lenin", daß er von 1917 an die alles
überragende treibende Kraft gewesen sei. Wer diese Darstellung anzweifelt, wer
eine marxistische Analyse des Geschehens dieser Zeit zu geben versucht und
dabei Trotzkis wirkliche Rolle in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg
feststellt, wird von den Trotzkisten als Geschichtsfälscher bezeichnet.
Trotzki war eine nicht unwichtige Persönlichkeit in der Oktoberrevolution —
Stalin hat das in den früheren Parteidiskussionen um Trotzki und den
Trotzkismus mehrmals festgestellt — aber Trotzki hat dabei nicht die
überragende Rolle gespielt, von der die trotzkistische Geschichtsschreibung
berichtet. Die Version, daß ohne Trotzki die proletarische Revolution in
Rußland nicht gesiegt hätte, daß es ohne Trotzki keine Sowjetunion gäbe, ist
eine törichte Geschichtsfälschung. Sie steht im schroffen Widerspruch zur
materialistischen Geschichtsbetrachtung und zum Marxismus, sie ist der Ausfluß
des Subjektivismus, der zum politischen und persönlichen Charakterbild Trotzkis
gehört. Um seine angeblich überragende Rolle in der Oktoberrevolution glaubhaft
zu machen, braucht Trotzki die Legende von der grundlegenden geistigen
Umrüstung der Bolschewistischen Partei zwischen dem Februar und Oktober. Er
behauptet darum, daß die Bolschewiki keine revolutionäre Theorie hatten. Nach
Trotzkis Darstellung war die Bolschewistische Partei ein zielloser,
direktionsloser Haufen, der von den revolutionären Ereignissen überrascht wurde
und ihnen hilflos gegenüberstand. Wäre es so gewesen — dann allerdings hätte
Trotzki den Bolschewiki als der Messias erscheinen können, dann hätte der
bisher einsame Trotzki „der alles überragende Führer" werden müssen, dem
die Bolschewistische Partei in ihrer Hilflosigkeit sich unterwarf.
Trotzkis „Februarrevolution" enthalt ein ganzes Kapitel über die
„Umbewaffnung der Partei". Er schreibt dort u. a. (Seite 148):
„Hauptleiter der unterirdischen bolschewistischen Organisation in Petrograd
waren damals drei Männer. Die ehemaligen Arbeiter Schlapnikow und Saluzki und
der ehemalige Student Molotow. (Der also damals schon eine führende Rolle in
der Bolschewistischen Partei hatte, d.V.) ... Doch das Trio war den Ereignissen
nicht gewachsen. Bis zur allerletzten Stunde glaubten die Führer, es handle
sich nur um eine revolutionäre Kundgebung, um eine von vielen, nicht aber um
einen bewaffneten Aufstand."
Petrograd war 1917 die Hauptstadt Rußlands und das entscheidende Zentrum, in
dem die wichtigsten revolutionären Entscheidungen fielen. In Petrograd hatten
die Bolschewiki — wie überall in Rußland — zwar eine Organisation, aber diese
war nach Trotzkis „Erzählungen" der Situation nicht gewachsen und ihre
Führer waren unfähig. Die bolschewistische Organisation hatte keine Ahnung von
dem Werden der Revolution, sie ist darum natürlich auch ohne Einfluß auf die
revolutionäre Entwicklung gewesen. Das ist das Bild nach Trotzkis
Darstellungen. Alle Bolschewiki erscheinen als halbe oder ganze Trottel, nur
mit einem macht Trotzki eine Ausnahme — mit Lenin. Den streicht er gegenüber
den anderen heraus, weil er die enge Kampfgemeinschaft mit Lenin für seine
Legende braucht. Nach der Revolutionsgeschichte Trotzkis ist das Durcheinander
in der bolschewistischen Organisation erst nach der Ankunft Lenins in Rußland
überwunden worden. Diese Version hat Trotzki — mit der Spitze, gegen die Alten
Bolschewiki in der Führung der Partei — auch schon versteckt, in seinen in
Rußland veröffentlichten Schriften vertreten. In dem Buche „Über Lenin"
(1924) schreibt er, daß ihn von dem Kurs, den die Partei „nach seiner (Lenins)
Ankunft eingeschlagen hatte, nichts mehr trenne". Bis zu Lenins Ankunft
war Trotzki nicht für den Kurs der Bolschewiki. Erst nach der nach Lenins
Ankunft erfolgten geistigen „Umrüstung" war über Nacht eine revolutionäre
Partei entstanden, mit der Trotzki nunmehr einverstanden sein konnte und der er
sich anschließen wollte. Nach Trotzkis Angaben wurde die aktionsfähige
revolutionäre Partei von Lenin nicht in langer, planmäßiger Arbeit seit 1903
aufgebaut, sondern erst mit Hilfe Trotzkis in einigen Wochen aus der Erde
gestampft.
An unzähligen anderen Beispielen ließe sich noch beweisen, daß Trotzkis
Geschichtsschreibung ganz und gar darauf eingestellt ist, die revolutionäre
Unzulänglichkeit der Bolschewistischen Partei zu beweisen. In dem Kapitel über
„Die Umbewaffnung der Partei" („Februarrevolution") behauptet
Trotzki, daß die Bolschewiki sich im April plötzlich für die sofortige
Durchführung der sozialistischen Revolution entschieden, die entgegen ihrer Einschätzung
der Lage und entgegen ihren Vorstellungen und Vorbereitungen herangereift war.
Trotzki erweckt den Eindruck, daß Lenin sich nunmehr ausdrücklich für das
Überspringen der demokratischen Revolution entschlossen habe. Er bekehrte sich
in dieser entscheidenden Frage angeblich vom Leninismus zum Trotzkismus, der
demnach nunmehr der Wesensinhalt der Bolschewistischen Partei geworden war. Um
dieses falsche Bild zu erzeugen, hat Trotzki absichtlich ignoriert, daß Lenin
bei der Diskussion über seine Aprilthesen (siehe die Zitate in dem Kapitel „Die
permanente Revolution") eindringlich nachwies, daß diese These über die
unmittelbare Fortentwicklung der demokratischen zur sozialistischen Revolution
nichts mit Trotzkismus zu tun haben Lenin stellte vielmehr ausdrücklich fest,
daß er keinesfalls notwendige Zwischenetappen überspringen, sondern nur die
bolschewistische Theorie verwirklichen wolle, die konsequent die schnellste
Steigerung der revolutionären Entwicklung von der Februar- zur
Oktoberrevolution verlange. An dieser Tatsache ändert auch nichts daß einige
Bolschewisten — wie Trotzki schildert — z.B Sinowjew und Kamenew, Lenins
Aprilthesen mit der Begründung bekämpften, daß sie im Widerspruch zum
Leninismus ständen. Wenn die beiden späteren Freunde Trotzkis gegen den
Oktoberaufstand auftraten, so ist das kein Beweis dafür, daß Lenin 1917 die
Bolschewistische Partei geistig „umbewaffnete", es beweist vielmehr nur,
daß Sinowjew und Kamenew die Konsequenzen des Leninismus scheuten und in
entscheidenden Situationen zeigten, daß sie den Leninismus mißverstanden.
Trotzkis Erzählungen über die Umrüstung der Bolschewistischen Partei sind
nichts als Zwecklegenden. Die historische Wahrheit ist, daß die
Bolschewistische Partei — organisiert, geschult nach dem leninistischen
Organisationsprinzip — unter Lenins Führung als aktionsfähige zielbewußte
revolutionäre Kampftruppe in die Revolution ging. Die Bolschewistische Partei
hat sich in der entscheidenden Situation durchaus den revolutionären Aufgaben
gewachsen gezeigt. Sie hat nicht auf Trotzki warten müssen; im Gegenteil,
Trotzki mußte im Juli 1917 sich ihr unterordnen, wenn er als einer neben den
anderen seinen Teil an den revolutionären Kämpfen beitragen wollte.
Die Oktoberrevolution ist nicht das Verdienst Trotzkis oder einer anderen
einzelnen Person, sondern der leninschen Partei, die von 1903 an im harten
Kampfe gegen den Trotzkismus aufgebaut, eine ideologisch gefestigte, straff
organisierte Kampforganisation mit einer klaren revolutionären Zielsetzung war,
und die nur darum die Oktoberrevolution so erfolgreich organisieren und zu
einem guten Ende führen konnte. Hätte sich Trotzki 1917 gegen die
Bolschewistische Partei gestellt, dann hätte er später nicht einmal die
Gelegenheit gehabt. Legenden über seine überragende Führerrolle in der
Oktoberrevolution zu erzählen. Die Geschichtsschreibung Trotzkis über seine
Rolle in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg ist nicht nur ein Beweis für
seinen Subjektivismus, sondern vor allem auch ein Beweis, daß Trotzki auch während
seiner Mitgliedschaft in der Bolschewistischen Partei kein Bolschewik war. Er
stand der leninschen Partei und der leninschen Theorie immer feindlich
gegenüber, und auch in seiner besten Zeit ist er dem von Lenin so heftig
bekämpften Trotzkismus treu geblieben. Trotzki will Lenin im Gegensatz zu den
Alten Bolschewiki und der Bolschewistischen Partei herausstreichen.
Sein starker Subjektivismus hindert ihn schließlich sogar, seine eigene Absicht
zu verwirklichen und Lenins führende Rolle in der Revolution zu würdigen. In
allen Büchern, in denen Trotzki von der russischen Revolution erzählt,
erscheint nicht Lenin, sondern Trotzki als der entscheidende Kopf, der alles
dirigiert und gemacht hat. Trotzki schreibt immer wieder, wie er Lenin (von dem
man den Eindruck bekommen soll, daß er wegen seiner Illegalität von Juli bis
Oktober 1917 weit vom Schuß war) über seine Handlungen berichtete oder ihm
Vorschläge machte, und wie Lenin stets freudig und begeistert zustimmte.
Gewissermaßen wie einer, der froh ist, diesen Trotzki zu haben, der ihm das
Denken und das Handeln abnimmt. Nur ein paar kleine Beispiele. In „Über
Lenin" erzählt Trotzki (Seite 108), wie die Bezeichnung
„Volkskommissare" entstanden ist. Lenin habe sich vergeblich den Kopf
zerbrochen, wie man die revolutionäre Regierung nennen solle. Trotzki hat es
sofort gewußt. Er hat vorgeschlagen, sie „Volkskommissare" zu nennen, und
Lenin hat begeistert zugestimmt. Auf Seite 114 der gleichen Schrift schildert
Trotzki, daß auf dieselbe Weise auch die Rote Armee zu ihren politischen
Kommissaren gekommen sei. Aber wichtiger als diese „Leistungen" Trotzkis
sind seine Schilderungen des Oktoberaufstandes. Wer darüber nur Trotzkis
Schriften gelesen hat, muß glauben, daß die wesentlichen Handlungen unter
Leitung Trotzkis und gegen den Willen Lenins durchgeführt wurden, und daß Lenin
nur immer nachträglich erleichtert die Zustimmung zu Trotzkis Leistungen gab.
In dem Buche „Über Lenin" erzählt Trotzki (diese Erzählung kehrt auch in
„Mein Leben" und in der „Oktoberrevolution" wieder), daß er den
Aufstand mit der Parole „Alle Macht den Räten" durchführen wollte, während
Lenin angeblich hinter dem Rücken der Sowjets loszuschlagen beabsichtigt habe.
„Immerhin" — sagt Trotzki in „Über Lenin", Seite 78 — war aber die
Partei nicht imstande, auf eigene Faust unabhängig vom Rätekongreß und hinter
seinem Rücken die Macht zu ergreifen. Es wäre ein Fehler gewesen, der sogar auf
die Haltung der Arbeiter nicht ohne Folgen geblieben wäre und hinsichtlich der
Garnison außerordentlich schwerwiegend hätte werden können.
Aus Trotzkis weiterer Schilderung entsteht dann der Eindruck, daß der
Oktoberaufstand glücklicherweise nicht nach dem Willen und Vorschlag Lenins,
sondern nach den Direktiven Trotzkis gemacht wurde und nur darum gelungen sei.
Auf Seite 82 der gleichen Schrift erzählt Trotzki, wie Lenin sich mit dem gegen
seinen Willen glücklich durchgeführten Oktoberaufstand Trotzkis abgefunden
habe:
„Nun gut, es geht auch so. Es handelt sich nur darum ,die Macht zu ergreifen'.
Ich verstand, daß er sich in diesem Augenblick endgültig mit unserem Verzicht,
die Macht durch eine konspirative Verschwörung zu ergreifen, ausgesöhnt hatte.
Bis zur letzten Stunde hatte er befürchtet, der Feind möchte unsere Pläne
durchkreuzen und uns überrumpeln. Erst jetzt, am Abend des 25. Oktober,
beruhigte er sich und sanktionierte endgültig den Weg, den die Ereignisse
eingeschlagen hatten."
Trotzki behauptet in dieser Erzählung, — um seine überragende Rolle in der
Oktoberrevolution herauszustreichen — daß ausgerechnet Lenin die Macht „durch
eine konspirative Verschwörung" ergreifen wollte, und nicht durch die
Mobilisierung der Massen. Trotzki ließ zwar Lenin die Marotte von der
„konspirativen Verschwörung", handelte aber nach seinem Kopfe, so daß
Lenin schließlich nichts weiter zu tun übrig blieb, als die von Trotzki
„gemachte" siegreiche Revolution zu „sanktionieren". So sieht in der
Geschichtsschreibung Trotzkis Lenins Rolle bei dem entscheidenden
Oktoberaufstand aus. In Wirklichkeit dachte Lenin nie an eine konspirative
Verschwörung; er hat im Gegenteil jedes blanquistische Abenteuer abgelehnt und
den revolutionären Aufstand immer als eine Aktion der Massen betrachtet. Die
Behauptung Trotzkis, daß Lenin den Aufstand hinter dem Rücken der Sowjets
durchführen wollte, ist schon darum vollkommen unsinnig, weil gerade Lenin es
war, der als erster die Parole „Alle Macht den Arbeiter- und
Bauernsowjets" aufgestellt und in allen seinen Publikationen seit Anfang
1900 vertreten hat. Unter dieser Parole wurde die Oktoberrevolution von der
Bolschewistischen Partei unter Führung Lenins vorbereitet und durchgeführt.
Richtig an der Darstellung Trotzkis ist überhaupt nur, daß auch in der Frage
der Organisierung des Aufstandes zwischen ihm und Lenin
Meinungsverschiedenheiten bestanden, daß also selbst bei der Durchführung der
Oktoberrevolution keinesfalls eine enge Kampfgemeinschaft zwischen den beiden
war. Wie scharf Lenin gerade am Vorabend der Oktoberrevolution Trotzki
angegriffen hat, schildert dieser selbst in „Über Lenin" (Seite 77):
„,Wir dürfen nicht warten, wir dürfen nicht aufschieben', wiederholte Lenin
immer wieder. Unter diesen Umständen fand Ende September oder Anfang Oktober
die berühmte Nachtsitzung des Zentralkomitees in der Wohnung der Suchanows
statt. Lenin kam dorthin, fest entschlossen, diesmal einen Beschluß
durchzusetzen, in dem es für Zweifel, Schwanken, Hinausschieben, Passivität und
Abwarten keinen Platz mehr gab. Jedoch, noch bevor er die Gegner des
bewaffneten Aufstandes angriff, begann er auf die zu wettern, die den Aufstand
mit dem Zweiten Rätekongreß in Verbindung brachten. Irgend jemand hatte ihm
meine Worte berichtet: ,Wir haben bereits den Aufstand auf den 25. Oktober
festgesetzt'."
In der Tat, Lenin hat am Vorabend des Oktober sehr heftig gegen Trotzki „gewettert".
Am 29. September 1917 sagte Lenin in „Die Krise ist herangereift"
(Sämtliche Werke, Band XXI, Seite 306 usf.):
„Was ist also zu tun? Man muß aussprechen, was ist, die Wahrheit zugeben, daß
bei uns im ZK und in den Parteispitzen eine Richtung oder Meinung existiert,
die für das Abwarten des Rätekongresses, gegen die sofortige Machtergreifung,
gegen den sofortigen Aufstand ist. Diese Richtung muß niedergekämpft werden.
Sonst würden sich die Bolschewiki mit Schmach bedecken und als Partei erledigt
sein.
Denn einen solchen Augenblick zu verpassen und den Sowjetkongreß ,abzuwarten'
wäre eine vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat.
Ein vollendeter Verrat an den deutschen Arbeitern. Wir können doch nicht den
Anfang ihrer Revolution abwarten!! Dann werden auch die Liber-Dan (Menschewiki,
d.V.) für ihre Unterstützung sein. Sie kann aber nicht beginnen, solange
Kerenski, Kirschkin und Co. an der Macht sind.
Ein vollendeter Verrat an der Bauernschaft. Die Niederwerfung des
Bauernaufstandes dulden, obwohl wir beide hauptsächlichen Räte in Händen haben,
heißt jedes Vertrauen der Bauern verlieren und verdient verlieren, heißt in den
Augen der Bauern mit den Liber-Dan und übrigen Schuften auf einer Stufe stehen.
Den Räte-Kongreß ,abzuwarten' ist vollendete Idiotie, denn das heißt Wochen
verlieren, Wochen und sogar Tage entscheiden aber jetzt alles. Das heißt feige
der Machtergreifung entsagen, denn am 1.—2. November wird sie unmöglich sein
(sowohl politisch als auch technisch: man wird für den Tag des einfältig
,angesetzten' Aufstandes Kosaken bereithalten.) Anmerkung Lenins: Den
Sowjetkongreß zum 20. Oktober ,einzuberufen', damit er die Machtergreifung
beschließe — wodurch unterscheidet sich das von der einfältigen ,Festsetzung'
des Aufstandes?? Jetzt können wir die Macht nehmen, am 20.—29. Oktober wird man
das nicht mehr zulassen.
Den Rätekongreß ,abzuwarten', ist Idiotie, denn dieser Kongreß wird nichts
ergeben, kann nichts ergeben!
Die ,moralische' Bedeutung? Erstaunlich!! Die ,Bedeutung' von Resolutionen und
von Unterhaltungen mit den Liber-Dan, wo wir doch wissen, daß die Räte für die
Bauern sind und daß man den Bauernaufstand niederschlägt!! Dadurch degradieren
wir diese Räte zu erbärmlichen Schwatzbuden. Schlagt erst Kerenski, dann beruft
den Kongreß ein...
Der Sieg des Aufstandes ist den Bolschewiki jetzt sicher: 1. wir können (wenn
wir nicht auf den Rätekongreß ,warten') plötzlich und von drei Stellen aus, in
Petrograd, Moskau und der Baltischen Flotte, losschlagen; 2. wir haben
Losungen, die uns Unterstützung gewährleisten: Nieder mit der Regierung, die
den Aufstand der Bauern gegen die Gutsbesitzer unterdrückt!; 3. wir haben die
Mehrheit im Lande; 4. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind in voller
Zersetzung; 5. wir haben die technische Möglichkeit, die Macht in Moskau zu
ergreifen (Moskau könnte sogar anfangen, um den Feind durch Überraschung zu
überrumpeln); 6. wir haben in Petrograd tausende bewaffnete Arbeiter und
Soldaten, die mit einem Schlage den Winterpalast, den Generalstab, die Telefonzentrale
und alle großen Druckereien besetzen können: wir sind dann nicht mehr zu
vertreiben und in der Armee wird eine solche Agitation einsetzen, daß es nicht
möglich sein wird, gegen diese Regierung des Friedens, des Landes für die
Bauern usw. zu kämpfen.
Wenn wir auf einmal plötzlich von drei Stellen aus losschlagen, in Petrograd,
Moskau und der Baltischen Flotte, so sind 99 von Hundert Chancen dafür, daß wir
mit geringeren Opfern, als der 3.—4. Juli gekostet hat, siegen werden, denn die
Truppen werden nicht gegen die Regierung des Friedens marschieren. Auch wenn
Kerenski jetzt schon ,zuverlässige' Kavallerie usw. in Petrograd hat, wird er
gezwungen sein, sich zu ergeben, wenn wir von zwei Seiten den Schlag führen und
wenn die Armee mit uns sympathisiert. Wenn wir auch bei so günstigen
Aussichten, wie sie jetzt bestehen, die Macht nicht ergreifen, so ist alles
Reden über die Macht den Räten eine Lüge.
Jetzt die Macht nicht übernehmen, ,warten', im Z E K schwatzen, sich auf den
,Kampf um ein Organ' (des Rates), sich auf den Kampf für den Kongreß
beschränken, heißt die Revolution zugrunde richten ...
... Es ist meine tiefste Überzeugung, daß wir die Revolution zugrunde richten,
wenn wir den Rätekongreß ,abwarten' wollen und den Augenblick verpassen."
Lenins Angriffe gegen diejenigen, die den sofortigen Aufstand ablehnten, die
gegen unverzügliche Machtergreifung und für das Abwarten des Sowjetkongresses
waren, richteten sich einerseits gegen Trotzki und andererseits gegen Sinowjew
und Kamenew. Die beiden Letzteren waren gegen den Aufstand und Trotzki war für
die unbedingte Verbindung des Aufstandes mit dem Sowjetkongreß. Über die
Differenzen, die zwischen Lenin und Trotzki in der Frage des Oktoberaufstandes
bestanden, äußerte sich Stalin in einer Rede auf dem Plenum der Fraktion des
Zentralrates der Gewerkschaften (am 19. November 1924):
„... Noch schlimmer ist es um den Genossen Trotzki bestellt, wenn er von Lenins
Position in der Frage der Form des Aufstandes spricht. Bei Genossen Trotzki ist
es so, daß nach Lenin die Partei im Oktober die Macht unabhängig von dem Sowjet
und hinter seinem Rücken ergreifen sollte; hierauf kritisiert Genosse Trotzki
diesen Unsinn, den er Lenin zuschreibt, und läßt hierbei ,alle seine Künste
spielen, um schließlich zu dem nachsichtigen Urteil zu kommen: ,Das wäre ein
Fehler gewesen.' Genosse Trotzki sagt hier die Unwahrheit über Lenin, er
entstellt die Ansichten Lenins über die Rolle der Sowjets im Aufstand. Man
könnte einen ganzen Haufen von Dokumenten anführen, die davon sprechen, daß
Lenin vorschlug, die Macht durch die Sowjets, den Leningrader oder den
Moskauer, nicht aber hinter dem Rücken der Sowjets zu ergreifen. Zu welchem
Zwecke brauchte Genosse Trotzki diese mehr als seltsame Legende über Lenin?
Nicht besser ist es um Genossen Trotzki bestellt, wenn er die Position des ZK
und Lenins in der Frage des Termins des Aufstandes ,untersucht'. Über diese
berühmte Sitzung des ZK vom 10. Oktober behauptet Genosse Trotzki, in dieser
Sitzung sei ,eine Resolution in dem Sinne gefaßt worden, daß der Aufstand
spätestens am 15. Oktober zu erfolgen habe' (siehe ,Über Lenin', S. 72). Es ist
demnach so, daß das ZK den Termin des Aufstandes auf den 15. Oktober
festgesetzt und dann selbst diesen Beschluß durchbrochen habe, indem es den
Termin des Aufstandes auf den 25. Oktober hinausschob. Ist das richtig? Nein,
das ist nicht richtig ...
... Genosse Trotzki ist, was den Termin des Aufstandes und die Resolution des
ZK über den Aufstand betrifft, von seinem Gedächtnis im Stich gelassen worden.
Genosse Trotzki ist völlig im Unrecht, wenn er behauptet, Lenin habe die
Sowjetlegalität unterschätzt, Lenin habe die ernste Bedeutung der
Machtergreifung durch den Gesamtrussischen Sowjetkongreß am 25. Oktober nicht
verstanden und habe gerade aus diesem Grunde die Machtergreifung vor dem 25.
Oktober gefordert. Das ist nicht richtig. Lenin schlug aus zwei Gründen vor,
die Macht vor dem 25. Oktober zu ergreifen. Erstens, weil die
Konterrevolutionäre Leningrad in jedem beliebigen Augenblick ausliefern
konnten, was den anwachsenden Aufstand hatte verbluten lassen, und weil
angesichts dessen jeder Tag teuer war. Zweitens, weil der Fehler des
Leningrader Sowjets, der den Tag des Aufstandes offen angegeben und
veröffentlicht hatte (25. Oktober), nicht anders korrigiert werden konnte als
durch den faktischen Aufstand vor diesem legalen Aufstandstermin. Lenin
betrachtete nämlich den Aufstand als eine Kunst, und deshalb mußte er wissen,
daß der (durch die Unvorsichtigkeit des Leningrader Sowjets) über den Tag des
Aufstandes unterrichtete Feind sich unbedingt Mühe geben würde, sich auf diesen
Tag vorzubereiten, so daß es notwendig war, dem Feind zuvorzukommen, d.h. den
Aufstand unbehelligt vor dem legalen Termin zu beginnen. Dadurch erklärt sich
auch hauptsächlich die Leidenschaftlichkeit, mit der Lenin in seinen Briefen
die Fetischisten des Datums des 25. Oktobers geißelte. Die Ereignisse haben
bewiesen, daß Lenin völlig im Recht war. Bekanntlich wurde der Aufstand vor dem
Gesamtrussischen Sowjetkongreß begonnen. Bekanntlich wurde die Macht faktisch
vor der Eröffnung des Gesamtrussischen Sowjetkongresses ergriffen, und zwar
nicht vom Sowjetkongreß, sondern vom Leningrader Sowjet, vom revolutionären
Militärkomitee. Der Sowjetkongreß hat die Macht lediglich aus den Händen des Leningrader
Sowjets empfangen. Deshalb sind die langatmigen Betrachtungen des Genossen
Trotzki über die Bedeutung der Sowjetlegalität völlig überflüssig.
Eine lebendige und mächtige Partei an der Spitze der revolutionären Massen, die
die bürgerliche Staatsmacht stürmen und stürzen — das war der Zustand unserer
Partei in dieser Periode."
In der gleichen Rede beschäftigte sich Stalin auch sehr eingehend mit den
Legenden von der überragenden Rolle Trotzkis im Oktoberaufstand:
„Die Trotzkisten verbreiten eifrig Gerüchte, daß der Inspirator und alleinige
Führer des Oktoberaufstandes Genosse Trotzki gewesen sei. Diese Gerüchte werden
besonders eifrig von dem sogenannten Redakteur der Werke des Genossen Trotzki,
dem Genossen Lenzner, verbreitet. Genosse Trotzki selbst fördert mit oder ohne
Absicht die Verbreitung der Gerüchte über die besondere Rolle des Genossen
Trotzki im Aufstand, indem er systematisch die Partei, das ZK der Partei und
das Leningrader Parteikomitee übergeht, die führende Rolle dieser Organisation beim
Aufstand verschweigt und eifrig sich selbst als die zentrale Figur des
Oktoberaufstandes in den Vordergrund stellt. Es liegt mir fern, die
unzweifelhaft wichtige Rolle des Genossen Trotzki im Aufstand zu leugnen. Doch
muß ich sagen, daß Genosse Trotzki keinerlei besondere Rolle im Oktoberaufstand
gespielt hat und sie auch nicht spielen konnte, da er, als Vorsitzender des
Petrograder Sowjets, lediglich den Willen der entsprechenden Parteiinstanzen
ausführte, die jeden Schritt des Genossen Trotzki leiteten .....
Nehmen wir die Protokolle der Sitzung des ZK vom 16. Oktober 1917. Anwesend
sind die Mitglieder des ZK plus Vertreter des Leningrader Komitees plus
Vertreter der Militärorganisation, der Betriebsräte, der Gewerkschaften, der
Eisenbahner. Unter den Anwesenden befinden sich außer den Mitgliedern des ZK
die Genossen Krylenko, Schotman, Kalinin, Wolodarski, Schljapnikow, Lazis u.a.;
insgesamt 25 Mann. Es wird die Frage des Aufstandes von der rein
praktisch-organisatorischen Seite besprochen. Die Resolution Lenins über den
Aufstand wird mit einer Stimmenmehrheit von 20 gegen 2, bei drei
Stimmenthaltungen, angenommen. Man wählt ein praktisches Zentrum für die
organisatorische Leitung des Aufstandes. Wer kommt nun in dieses Zentrum? In
dieses Zentrum werden fünf Mann gewählt: Swerdlow, Stalin, Dsershinski, Bubnow,
Uritzki. Die Aufgaben des praktischen Zentrums bestehen in der Leitung aller
praktischen Organe des Aufstandes gemäß den Direktiven des Zentralkomitees. Wie
man sieht, ist also in dieser Sitzung des ZK etwas ,Schreckliches' vorgefallen,
nämlich der ,Inspirator', die ,Hauptfigur', der „alleinige Führer“ des
Aufstandes, Genosse Trotzki, ist ,seltsamerweise' nicht in das praktische
Zentrum gekommen, das berufen war, den Aufstand zu leiten. Wie läßt sich das
mit der landläufigen Meinung von der besonderen Rolle des Genossen Trotzki
vereinbaren? Ist das alles nicht etwas ,seltsam', wie Suchanow oder die
Trotzkisten sagen würden? Indessen ist daran eigentlich nichts Seltsames, denn
Genosse Trotzki, ein in der Periode des Oktober für unsere Partei
verhältnismäßig neuer Mensch, hat irgendeine besondere Rolle weder in der
Partei noch im Oktoberaufstand gespielt und konnte sie auch gar nicht spielen.
Er war so wie alle verantwortlichen Funktionäre lediglich ein Vollstrecker des
Willens des ZK und seiner Organe. Wer mit der Mechanik der Parteileitung der
Bolschewiki vertraut ist, wird ohne besondere Mühe verstehen, daß es anders
auch gar nicht sein konnte: Genosse Trotzki brauchte nur gegen den Willen des
ZK zu handeln, um jeden Einfluß auf den Verlauf der Ereignisse einzubüßen. Das
Gerede von der besonderen Rolle des Genossen Trotzki ist eine Legende, die von
dienstbeflissenen Partei-Klatschbasen verbreitet wird.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß der Oktoberaufstand nicht seinen
Inspirator gehabt hat. Ja, er hatte seinen Inspirator und Führer. Doch das war
Lenin und kein anderer, derselbe Lenin, dessen Resolution vom ZK bei der
Entscheidung über die Frage des Aufstandes angenommen wurde, derselbe Lenin, den
die Illegalität nicht daran hinderte, entgegen der Behauptung des Genossen
Trotzki, der wirkliche Inspirator des Aufstandes zu sein. Es ist dumm und
lächerlich, heute durch Geschwätz über die Illegalität die unzweifelhafte
Tatsache verwischen zu wollen, daß der Inspirator des Aufstandes der Führer der
Partei, W. I. Lenin, war.
Das sind Tatsachen.
Zugegeben, sagt man uns, man könne aber nicht leugnen, daß Genosse Trotzki in
der Periode des Oktober gut gekämpft habe. Ja, das stimmt. Genosse Trotzki hat
im Oktober wirklich gut gekämpft. Doch in der Periode des Oktober hat nicht nur
Genosse Trotzki gut gekämpft, nicht übel haben sogar solche Leute gekämpft, wie
die linken Sozialrevolutionäre, die damals Schulter an Schulter mit den
Bolschewiki standen. Überhaupt muß ich sagen, daß es in der Periode des
siegreichen Aufstandes, wenn der Feind isoliert ist und der Aufstand anwächst,
nicht schwer ist, gut zu kämpfen. In solchen Augenblicken werden sogar
Rückständige zu Helden. Aber der Kampf des Proletariats ist nicht eine einzige
Offensive, eine ununterbrochene Kette von Erfolgen. Der Kampf des Proletariats
macht auch seine Prüfungen, seine Niederlagen durch. Ein wirklicher
Revolutionär ist .... derjenige, .... der bei der siegreichen Offensive der
Revolution gut zu kämpfen versteht, zugleich aber auch versteht, in der Periode
des Rückzugs der Revolution, in der Periode der Niederlage des Proletariats Mut
zu beweisen, der den Kopf nicht verliert .... Es ist äußerst traurig, aber eine
unzweifelhafte Tatsache, daß es dem Genossen Trotzki, der in der Periode des
Oktober gut gekämpft hat, in der Periode von Brest-Litowsk, in der Periode der
zeitweiligen Mißerfolge der Revolution an dem nötigen Mut gebrach, in diesem
schwierigen Augenblick genügend Standhaftigkeit zu beweisen und nicht in die
Fußtapfen der linken Sozialrevolutionäre zu treten ....
.... Die Revolution erschöpft sich nicht mit dem Oktober. Der Oktober ist nur
der Beginn der proletarischen Revolution. Schlimm, wenn man beim beginnenden
Aufstand kneift. Noch schlimmer, wenn man bei schweren Prüfungen der Revolution
nach der Machtergreifung kneift. Die Macht am Tage nach der Revolution zu
behaupten, ist nicht minder wichtig als die Ergreifung der Macht ... Trotzki
hat in der Oktoberrevolution seine Pflicht erfüllt, aber er war weder der
Inspirator, noch der Führer der Oktoberrevolution. Er hat als Vorsitzender des
Petrograder Sowjets im Auftrage der Partei gehandelt und deren Direktiven
ausgeführt. Hätte er das abgelehnt, so hätte die Partei an die Spitze des Petrograder
Sowjets einen anderen Mann gestellt und die Oktoberrevolution wäre nicht anders
verlaufen." Genau so war es im Bürgerkrieg. Trotzki hat auch da
keinesfalls die Überragende Rolle gespielt, wie von der die trotzkistische
Legende berichtet. Er selbst berichtet in „Mein Leben" in einem besonderen
Kapitel „Meinungsverschiedenheiten über Kriegsstrategie" (Seite 434 usf.)
über die Differenzen, die er während des Bürgerkrieges mit dem Zentralkomitee
der Partei, also auch mit Lenin hatte. In der vorher zitierten Rede vor den
Gewerkschaftlern beschäftigt sich Stalin auch mit Trotzkis Rolle im
Bürgerkrieg. Zu diesem Thema sagt er:
„Auch die sehr verbreitete Version, Genosse Trotzki sei der ,einzige' oder der
,Hauptorganisator' der Siege auf den Fronten des Bürgerkrieges gewesen, gehört
zu diesen Legenden. Im Interesse der Wahrheit erkläre ich, daß diese Version
durchaus nicht der Wahrheit entspricht. Einige Beispiele: Es ist bekannt, daß
Koltschak und Denikin als die Hauptfeinde der Sowjetrepublik galten und daß
unser Land erst nach der Niederlage dieser Feinde aufatmen konnte. Und jetzt
berichtet die Geschichte, daß unsere Truppen diese beiden Feinde, sowohl
Koltschak wie Denikin, dem Plan des Genossen Trotzki entgegen, niedergeworfen
haben.
1. Angriff im Sommer 1919 gegen Koltschak. Unsere Truppen greifen Koltschak an
und operieren vor Ufa. Sitzung des Zentralkomitees. Genosse Trotzki schlägt
vor, den Angriff an der Linie des Flusses Bjalaja (vor Ufa) aufzuhalten, den
Ural Koltschak zu überlassen, einen Teil unserer Truppen von der Ostfront
wegzukommandieren und sie auf die Südfront zu werfen. Heiße Debatten finden
statt. Das Zentralkomitee lehnt diesen Trotzki-Plan ab und erklärt, daß man
Koltschak unmöglich den Ural mit seinen Werken, seinem Eisenbahnnetz überlassen
kann, da er sich dort organisieren, Großbauern um sich sammeln würde, um wieder
an die Wolga vorzustoßen; man müsse vor allem Koltschak über den Kamm des Ural
in die sibirischen Steppen treiben und erst dann die Überführung der Truppen
nach der Südfront in Erwägung ziehen. Das Zentralkomitee bleibt fest. Genosse
Trotzki gibt seine Demission, das Zentralkomitee lehnt diese ab. Der
Oberkommandant Vazetis, der für den Plan des Genossen Trotzki ist, tritt
zurück. Genosse Kamenew (General S. Kamenew. D.V.) tritt an seine Stelle. Von
diesem Augenblick an nimmt Genosse Trotzki an den Handlungen an der Ostfront
nicht mehr direkt teil.
2. Die Kämpfe mit Denikin im Herbst 1919. Der Angriff gegen Denikin scheitert.
Denikin nimmt Kurek, stößt dann auf Orel vor. Genosse Trotzki wird von der
Südfront zur Sitzung des Zentralkomitees gerufen; das Zentralkomitee erklärt,
die Lage sei beunruhigend, beschließt, Trotzki abzuberufen und an die Südfront
neue Militärfunktionäre zu senden. Diese verlangen, Genosse Trotzki solle von
jeder Aktivität an der Südfront ferngehalten werden, worauf Genosse Trotzki
zurücktritt. Die Operationen an der Südfront bis zur Einnahme von Rostow am Don
und Odessa erfolgen durch unsere Truppen, ohne Beteiligung des Genossen
Trotzki."
In „Mein Leben" (Seite 435) bestätigt Trotzki im Wesentlichen die
Darstellungen Stalins über die Differenzen um den Kampf gegen Koltschak. Er
schreibt dort:
„Das Zentralkomitee nahm einen Beschluß gegen das Oberkommando und damit auch
gegen mich an, da ich Vazetis unterstützte, geleitet von der Erwägung, daß die
strategische Gleichung mehrere Unbekannte enthalte, unter denen die noch zu
junge Autorität des Oberbefehlshabers eine wichtige Größe bilde. Der Beschluß
des Zentralkomitees erwies sich als richtig. Die Ostfront machte einen Teil der
Kräfte für die Südfront frei und rückte gleichzeitig siegreich nach Sibirien
vor, Koltschak auf den Fersen folgend. Dieser Konflikt führte zum Wechsel des
Kommandos. Vazetis wurde abgesetzt, seinen Platz nahm Kamenew ein." Das
Wesentliche, was sich sowohl aus der Darstellung Stalins, wie auch aus Trotzkis
Schilderung in dem ganzen Kapitel die „Meinungsverschiedenheiten über
Kriegsstrategie" ergibt, ist die Tatsache, daß Trotzki auch im Bürgerkrieg
nur die Direktiven des Zentralkomitees ausführte. Gab es Differenzen — und es
gab solche auch in jener Zeit genug — so entschied nicht Trotzki, sondern das
Zentralkomitee. Trotzki war nur das ausführende Organ der auch im Bürgerkrieg
führenden Bolschewistischen Partei. Hätte er damals gegen diese zu handeln
versucht, so wäre der Bürgerkrieg auch ohne die Mitwirkung Trotzkis siegreich
beendet worden.
Trotzki war nur sehr kurze Zeit in der Bolschewistischen Partei.
Obwohl von der Oktoberrevolution bis zum Tode Lenins — Januar 1924 — alle
Kräfte stark auf die Niederwerfung der konterrevolutionären Gefahren
konzentriert waren, ist Lenin in dieser kurzen Zeitspanne mehrmals sehr heftig
mit Trotzki zusammengestoßen. Auch bei der Darstellung dieses Zeitabschnittes
ist Trotzki seiner Methode der Geschichtsschreibung treu geblieben. So weit er
Differenzen erwähnt, stellt er sie als verhältnismäßig harmlos hin. Im
allgemeinen sei Lenin immer mit ihm und seinem Tun einverstanden gewesen, und
wo Meinungsverschiedenheiten waren, hat sich in vielen Fällen — wie z.B. in der
Stellungnahme zum polnischen Krieg und zur NEP — nachträglich herausgestellt,
daß nicht Lenin, sondern Trotzki recht hatte. Der Eindruck, der nach Trotzkis
Geschichtsschreibung über diese Zeit entstehen kann, ist ungefähr: Waren Lenin
und Trotzki einer Meinung, so hatte Lenin recht, waren sie verschiedener
Meinung, dann hatte Trotzki recht. Die Legende von der überragenden Führerrolle
Trotzkis wird auch in seinem Bericht über diese Periode fortgesponnen.
Der erste Zusammenstoß zwischen Lenin und Trotzki erfolgte unmittelbar nach der
Oktoberrevolution — Anfang 1918 — bei der Entscheidung über den Brest-Litowsker
Frieden. In dieser Frage wurde über das Schicksal der eben erst siegreichen
proletarischen Revolution entschieden. Die linken Sozialrevolutionäre, die
damals noch neben den Bolschewiki marschierten und ein ultralinker Flügel der
Bolschewiki, zu dem Bucharin und Radek gehörten, verlangten die Ablehnung der
demütigenden Friedensvorschläge der deutschen Militaristen und die
Organisierung des revolutionären Krieges gegen das eroberungslüsterne
Deutschland. Trotzki vertrat auch in dieser Frage eine Sonderstellung. Er
sympathisierte mit dem revolutionären Krieg der Ultralinken und schlug vor, den
revolutionären Krieg zwar nicht offen zu erklären, aber das Brest-Litowsker
Friedensdiktat nicht zu unterschreiben. Weder Krieg noch Frieden war seine
Parole. Dies bezeichnete er als die beste Losung, weil er glaubte, daß die Deutschen
nicht mehr marschieren können. Darum sei — so argumentierte er — die
Nichtunterzeichnung des Friedensdiktats einerseits gefahrlos für die russische
Revolution, andererseits aber beweise sie den Proletariern in den anderen
Ländern, daß das proletarische Rußland in erbitterter Feindschaft dem deutschen
Imperialismus gegenüberstehe.
Lenin trat den Auffassungen Trotzkis und der Ultralinken ganz entschieden
entgegen. Nicht etwa, weil er prinzipiell gegen einen revolutionären Krieg war,
sondern weil er in der gegebenen Situation nach dem Erlebnis und den Opfern des
Krieges das russische Volk für unfähig hielt, einen revolutionären Krieg zu
führen. Es fehlten alle materiellen Voraussetzungen für den erfolgreichen
Widerstand gegen den noch ungeschlagenen deutschen Militarismus. Ohne diese
materiellen Voraussetzungen war die Parole des revolutionären Krieges — nach
Lenin — nichts als eine hohle, aber gefährliche Phrase.
Trotzki, die Ultralinken und die Sozialrevolutionäre, die brüske Ablehnung des
Brester Friedensdiktates empfahlen, gingen — so argumentierte Lenin — von einer
vollkommen falschen, illusionären Einschätzung der militärischen Lage aus. Die
deutschen Generale könnten noch marschieren — und sie würden marschieren. Ihnen
wäre die Ablehnung des Brester Friedensdiktates die willkommene Gelegenheit,
Petrograd und Moskau zu besetzen und erfolgreich die imperialistische,
konterrevolutionäre Intervention durchzuführen, die der proletarischen
Revolution das Genick brechen sollte. Lenin vertrat darum den Standpunkt, daß
Rußland unter den gegebenen Umständen auch den schlechtesten Frieden mit
Deutschland unterzeichnen müsse, um den Sieg der proletarischen Revolution zu
erhalten, um eine Atempause zu gewinnen, in der das Kräfteverhältnis geändert
werden könne. Lenin hat dabei nie damit gerechnet, daß der Brest-Litowsker
Vertrag ein unabänderliches, endgültiges Ergebnis schaffe. Seine reale
Einschätzung der internationalen Situation und der Lage in Deutschland gab ihm
die Überzeugung, daß die Mittelmächte früher oder später zusammenbrechen müßten
und daß mit diesem Zusammenbruch auch der schlechte Brest-Litowsker Friede
ausgelöscht würde. Die Entwicklung hat Lenin hundertprozentig recht gegeben.
Hatte er jedoch vor Brest-Litowsk den Ultralinken und Trotzki nicht so heftigen
Widerstand geleistet, hätte er seine richtige Auffassung nicht allmählich gegen
alle Widerstände durchgesetzt, dann wäre noch vor dem Zusammenbruch des
deutschen Militarismus von diesem die siegreiche proletarische Revolution in
Rußland niedergeschlagen worden und die Sowjetunion, der erste machtvoile
Arbeiterstaat, wäre nicht entstanden. In seinem Buche „Über Lenin" (Seite
88) berichtet Trotzki Über Lenins damalige Stellungnahme:
„Im Augenblick ist unsere Revolution wichtiger als alles andere; wir müssen sie
sichern, koste es, was es wolle." In der Geschichtsschreibung Trotzkis
wird natürlich auch seine Differenz mit Lenin in der Brest-Litowsker Frage als
harmlos hingestellt. Jedoch selbst aus seinen Darstellungen geht hervor, daß er
in der entscheidenden Situation Lenin offenen Widerstand leistete. In „Mein
Leben" (Seite 373) erzählt Trotzki:
„In der Sitzung des Zentralkomitees vom 17. Februar stellte Lenin zur
vorläufigen Abstimmung die Frage: ,Wenn der deutsche Angriff für uns zur
Tatsache werden wird und kein revolutionärer Aufstand in Deutschland erfolgt,
schließen wir dann Frieden?'"
Die Mehrheit des Zentralkomitees war für diese Formulierung. Aber Trotzki
handelte in der entscheidenden Stunde nach eigenem Ermessen. Er selbst
berichtet über sein Verhalten im Anschluß an das obige Zitat weiter:
„Am nächsten Morgen lehnte ich das sofortige Absenden des von Lenin
vorgeschlagenen Telegramms über unsere Bereitschaft, den Frieden zu
unterzeichnen, ab." Trotzki war zu jener Zeit Volkskommissar des Äußern,
dessen Aufgabe die Durchführung der in das Gebiet der Außenpolitik fallenden
Beschlüsse war. Das Telegramm an die Deutschen, das im Sinne des Beschlusses
des Zentralkomitees die Bereitschaft zur Unterzeichnung des Friedensvertrages
übermitteln sollte, mußte vom Volkskommissar des Äußern abgeschickt werden.
Dieser jedoch verhinderte die rechtzeitige Absendung des Telegramms. Der
entscheidende Augenblick wurde dadurch verpaßt, den eroberungslüsternen
deutschen Generalen wurde die Möglichkeit zu der von ihnen gewollten Aktion
gegeben. Die Deutschen marschierten, und sie konnten noch sehr gut marschieren.
Sie besetzten u.a. auch die Ukraine und Finnland, von denen das Letztere
dadurch endgültig aus dem Verband der Sozialistischen Sowjetrepubliken
ausschied. Trotzki erzählt dann weiter, daß er sich am Abend des gleichen
Tages, als einwandfrei feststand, wie gut die deutsche Kriegsmaschine noch
funktionierte, zur Absendung des Telegramms bereit erklärte. Jetzt aber waren
die deutschen Heere schon in Bewegung, sie marschierten unaufhaltsam vorwärts,
sie scherten sich nicht mehr um die zu spät gekommene
Unterzeichnungsbereitschaft. Die deutschen Generale diktierten nun neue,
wesentlich schlechtere Bedingungen, die die russische Delegation dann erst am
3. März unterschreiben durfte, und — wie Trotzki berichtet — ungelesen
unterschrieb. Es zeigte sich inzwischen ganz deutlich, wie sehr die materielle
Lage des proletarischen Rußland durch Trotzkis Weigerung, die von Lenin
verlangte Unterzeichnung des Friedens rechtzeitig durchzuführen, verschlechtert
wurde. Im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Unterzeichnung des
Brest-Litowsker Friedensvertrages mußte Trotzki von seinem Posten als
Volkskommissar des Äußern zurücktreten.
In den entscheidenden Stunden, als es um das Schicksal der russischen
Revolution ging, ist Trotzki gegen Lenin aufgestanden. Die drohende Gefahr ist
nur darum beseitigt worden, weil Lenin unbeugsam die richtige Linie gegen alle
Widerstände durchsetzte. Später hat Trotzki zugeben müssen, daß im Kampf um den
Brester Frieden nicht er, sondern Lenin recht hatte. In „Mein Leben"
(Seite 379) schreibt er:
„Am 3. Oktober 1918 sagte ich auf der außerordentlichen Tagung der obersten
Organe der Sowjetmacht: ,Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als
eine Pflicht, zu erklären, daß in jener Stunde, als viele von uns, darunter
auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den
Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und
mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, daß
wir durch dieses Joch hindurchgehen müßten .... Und jetzt müssen wir
anerkennen, daß nicht wir recht gehabt hatten.'" Lenin selbst hat die
Differenzen, die er mit Trotzki wegen des Brest-Litowsker Friedens hatte, nicht
so harmlos angesehen, wie das später von Trotzki dargestellt wurde. In einer
Rede über „Krieg und Frieden", die Lenin am 7. März 1918 auf dem VII.
Parteitag hielt (also nach der am 3. März erfolgten „unbesehenen"
Unterzeichnung des Friedensdiktats) legte er der Partei seinen Standpunkt dar.
Er sagte dabei u.a. (Ausgewählte Werke, Band VII, Seite 296 usf.):
„Wir sagten, daß es eine leichtfertige Illusion sei, zu glauben, daß man die
Armee zusammenhalten könne, die Gesundung des gesamten gesellschaftlichen Organismus
um so schneller einsetzen werde, je schneller wir die Armee demobilisieren.
Deshalb war es ein so schwerer Fehler, eine so bittere Überschätzung der
Ereignisse, die revolutionäre Phrase zu prägen: ,Der Deutsche kann nicht
angreifen', woraus sich eine zweite Phrase ergab: ,Wir können die Einstellung
des Kriegszustandes erklären. Weder Krieg noch Unterzeichnung des Friedens!'
Aber wenn der Deutsche doch angreifen wird? ,Nein, der Deutsche kann nicht
angreifen.' Und ihr habt kein Recht, die internationale Revolution aufs Spiel
zu setzen, ihr müßt euch vielmehr die konkrete Frage stellen, ob ihr euch nicht
als Helfershelfer des deutschen Imperialismus erweisen werdet, wenn dieser
Moment eintritt?" Diese Polemik richtet sich ausdrücklich gegen Trotzki, der
die phrasenhafte Parole ausgegeben hatte: „Weder Krieg noch Unterzeichnung des
Friedens!" In seinem Schlußwort zum Referat über „Krieg und Frieden",
das Lenin auf dem gleichen Parteitag am Tage danach, am 8. März, hielt, griff
er Trotzki nochmals an (Ausgewählte Werke, Band VII, Seite 313 usf.):
„... Ferner muß ich auf den Standpunkt des Genossen Trotzki eingehen. In seiner
Tätigkeit muß man zwei Seiten unterscheiden. Als er die Verhandlungen in
Brest-Litowsk aufnahm und sie ausgezeichnet zu Agitationszwecken ausnutzte,
waren wir alle mit Genossen Trotzki einverstanden. Er hat einen Teil der
Unterredung mit mir zitiert, aber ich muß hinzufügen, wir hatten ausgemacht,
daß wir uns bis zum Ultimatum der Deutschen halten, dann nachgeben. Der
Deutsche hat uns übers Ohr gehauen: von sieben Tagen hat er uns fünf gestohlen.
Die Taktik Trotzkis war, insofern sie darauf ausging, die Dinge in die Länge zu
ziehen, richtig; sie wurde unrichtig, als der Kriegszustand für beendet erklärt
und der Frieden nicht unterzeichnet wurde. Ich schlug in der bestimmtesten Form
vor, den Frieden zu unterzeichnen. Einen besseren Frieden als den von
Brest-Litowsk konnten wir nicht bekommen. Es ist allen klar, daß wir dann eine
Atempause von einem Monat gehabt, daß wir dabei nichts verloren hätten....
...Wenn Genosse Trotzki die neue Forderung aufstellt: ,Versprecht, daß ihr
keinen Frieden mit Winnitschenko unterzeichnen werdet', so sage ich, daß ich
eine solche Verpflichtung auf keinen Fall übernehme. Wenn der Parteitag diese
Verpflichtung übernähme, so würden weder ich noch irgendeiner meiner
Gesinnungsfreunde die Verantwortung dafür auf sich nehmen. Das würde bedeuten,
daß man, anstatt eine klare Linie des Manövrierens zu verfolgen, ... sich
abermals durch einen formalen Beschluß bindet. In einem Kriege darf man sich
niemals durch formale Erwägungen binden. Es ist lächerlich, daß man die
Kriegsgeschichte nicht kennt, nicht weiß, daß ein Vertrag ein Mittel ist, um
Kräfte zu sammeln...
....Genosse Trotzki sagt, daß das Verrat im vollen Sinne des Wortes wäre. Ich
behaupte, daß das ein ganz falscher Standpunkt ist. Um das konkret zu zeigen,
will ich ein Beispiel anführen. Zwei Menschen gehen ihres Weges. Sie werden von
zehn Menschen überfallen. Der eine kämpft, der andere flieht. Das ist Verrat.
Aber nehmen wir an, zwei Armeen zu je Hunderttausend stehen fünf Armeen
gegenüber. Die eine Armee ist von zweihunderttausend Mann umzingelt worden. Die
andere Armee soll ihr zu Hilfe eilen, weiß aber, daß dreihunderttausend Mann so
aufgestellt sind. daß das einer Falle gleichkommt. Kann man da zu Hilfe eilen?
Nein, das kann man nicht. Das ist kein Verrat, keine Feigheit. Die einfache
Vergrößerung der Zahl hat alle Begriffe verändert. Jeder Militär weiß das. Es
handelt sich hier nicht um die eigene Person: indem ich so handle, erhalte ich
meine Armee; mag auch die andere gefangen genommen werden, ich werde meine
erneuern, ich habe Verbündete ich werde abwarten, die Verbündeten werden mir zu
Hilfe kommen. Nur so darf man die Frage stellen. Wenn man aber die
militärischen Erwägungen mit anderen vermengt, dann kommen dabei nichts als
Phrasen heraus. So darf man nicht Politik treiben. Alles, was möglich war,
haben wir getan. Durch Unterzeichnung des Vertrages haben wir Petrograd
erhalten, wenn auch nur für einige wenige Tage..."
Trotzki hatte zu Lenins Resolution über Krieg und Frieden einige
Abänderungsanträge eingebracht: Er beantragte:
a) das Wort „notwendig" am Anfang der Resolution durch das Wort
„zulässig" zu ersetzen („der Parteitag erkennt die Unterzeichnung des
überaus schweren, erniedrigenden Friedensvertrages mit Deutschland durch die
Sowjetmacht als zulässig an!);
b) dort, wo von der Atempause bis zur Offensive der Imperialisten gegen
Sowjetrußland die Rede ist, hinzuzufügen: „unvermeidlichen und nahen"
Offensive, und weiter: „in jenen Teilen der russischen Föderation, wo diese
Offensive gegenwärtig unterbrochen ist";
c) einen neuen Punkt hinzuzufügen: „Der Parteitag erachtet die Unterzeichnung
eines Friedens mit der Kiewer Rada und mit der Regierung der finnischen
Bourgeoisie als für die Sowjetmacht unzulässig."
Lenin ergriff in der Parteitagssitzung vom 8. März schließlich noch einmal das
Wort zu Trotzkis Abänderungsanträgen (Lenin, Sämtliche Werke, Band XXII, Seite
377):
„Ich habe in meiner Rede bereits gesagt, daß weder ich noch meine Anhänger die
Annahme dieses Abänderungsantrages für möglich halten. Wir dürfen bei keinem
einzigen strategischen Manöver uns irgendwie die Hände binden...
Die Vollmacht zur Zerreißung der Verträge in jedem Augenblick müssen wir dem ZK
erteilen, aber das bedeutet keineswegs, daß wir sofort, in der jetzigen
Situation, die Verträge zerreißen .... Die Worte, deren Einfügung Genösse
Trotzki beantragt, werden die Stimmen derjenigen auf sich vereinigen, die gegen
die Ratifizierung überhaupt sind, die Stimmen für eine mittlere Linie, die
wiederum eine Situation schafft, wo kein einziger Arbeiter, kein einziger
Soldat, etwas von unserer Resolution verstehen wird...
Ich habe doch gesagt: Nein, das ist für mich nicht annehmbar. Dieser
Abänderungsantrag bedeutet eine Anspielung, drückt das aus, was Genosse Trotzki
sagen will: Anspielungen soll man nicht in Resolutionen hineinbringen ..."
Aus den Reden Lenins auf dem VII. Parteitag ist ersichtlich, daß der Gegensatz
zwischen Lenin und Trotzki in der Frage des Brest-Litowsker Friedensvertrages
sehr schroff war. Lenin mußte sich gegen den von Trotzki erhobenen Vorwurf des
Verrats zur Wehr setzen. Sein Vorstoß gegen Trotzki ist nicht minder scharf; er
wirft ihm vor, daß er mit seinem Tun die internationale Revolution aufs Spiel
gesetzt habe und Helfershelfer des deutschen Imperialismus wurde.
Eine weitere erhebliche Differenz zwischen Lenin und Trotzki gab es Ende 1920
über den Aufbau der Gewerkschaften. Über den Kampf, den Lenin in dieser Frage
gegen Trotzki führen mußte, wird in einem anderen Zusammenhang — in dem Kapitel
„Das Problem der Bürokratie" (Siehe Teil VI) — ausführlich berichtet. Es
genügt darum hier die kurze Feststellung, daß Lenin in dieser Diskussion die
ganze Art, wie Trotzki an diese Frage herangegangen ist, „politisch .... eine
einzige Taktlosigkeit" nannte.
„Die .Thesen' des Genossen Trotzki — fuhr Lenin fort — sind eine politisch
schädliche Sache. Seine Politik ist alles in allem eine Politik des
bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften.“ Trotzki selbst schreibt
über diesen Konflikt in „Mein Leben" (Seite 445):
„Zweifellos hat die sogenannte Diskussion über die Gewerkschaften unsere
Beziehungen für einige Zeit getrübt. Wir waren beide zu ausgesprochene Revolutionäre
und Politiker, um das Persönliche von dem Politischen trennen zu können oder
trennen zu wollen. Während dieser Diskussion erhielten Stalin und Sinowjew
sozusagen die legale Möglichkeit, den Kampf, den sie gegen mich hinter den
Kulissen betrieben hatten, an die Öffentlichkeit zu tragen. Sie bemühten sich
aus allen Kräften, die Konjunktur auszunützen." Trotzki erzählt dann
weiter, daß er mit Lenin wegen der NEP in Differenzen gekommen sei. Er habe
viel früher als Lenin auf die Umstellung zur NEP gedrängt, aber Lenin habe die
Richtigkeit seines Wollens nicht eingesehen. Über diese Differenzen schreibt
Trotzki in „Mein Leben" (Seite 447/448):
„Anfang 1920 trat Lenin entschieden gegen meine Vorschläge auf. Sie wurden im
Zentralkomitee mit elf Stimmen gegen vier abgelehnt. Wie der weitere Gang der
Ereignisse bewies, war der Beschluß des Zentralkomitees falsch. Ich brachte die
Frage nicht vor das Forum des Parteitages, der vollständig im Zeichen des
Kriegskommunismus verlief. Die Wirtschaft rang danach noch ein Jahr lang in
einer Sackgasse mit dem Tode. Aus dieser Sackgasse heraus erwuchsen meine
Differenzen mit Lenin." Und an anderer Stelle („Mein Leben", Seite
449):
„Am Vorabend des zehnten Parteitages gingen unsere Linien noch scharf
auseinander. In der Partei entbrannte die Diskussion...
Lenin formulierte die ersten, sehr behutsamen Thesen für den Übergang zur neuen
ökonomischen Politik. Ich schloß mich ihnen sofort an. Für mich waren sie nur
die Wiederaufnahme jener Vorschläge, die ich vor einem Jahr eingebracht
hatte."
Es gab also nach der Oktoberrevolution fast ununterbrochen Differenzen zwischen
Lenin und Trotzki. Daß Lenin in dieser Zeit nicht von den freundschaftlichsten
Gefühlen für Trotzki beseelt war — wie dieser später berichtete — beweisen eine
Reihe Tatsachen. So sind zum Beispiel während dieser Zelt (in deutscher Sprache
im Jahre 1921) die gesammelten Aufsätze Lenins und Sinowjews zur Kriegsfrage
unter dem Titel „ Gegen den Strom" herausgegeben worden. In diesem Buche
sind alle die scharfen Angriffe enthalten, die Lenin während des Krieges gegen
Trotzki erhob und die diesen als einen Feind des Leninismus charakterisieren.
Das Buch enthält außerdem ein nach der Oktoberrevolution geschriebenes Vorwort
von Lenin. Hätte dieser nach dem Oktober seine Meinung über Trotzki geändert,
dann hätte er sicher die scharfen Angriffe gegen Trotzki ausgemerzt, oder er
hätte in seinem Vorwort zum Ausdruck gebracht, daß sie durch die grundsätzliche
Wandlung Trotzkis ihren Sinn verloren hätten. Aber das hat Lenin nicht getan.
Er konnte es nicht tun. weil er auf Grund der Erfahrungen nach der
Oktoberrevolution sein Urteil über Trotzki kaum wesentlich geändert hat.
Jedenfalls ist auch die mit einem Vorwort Lenins versehene Herausgabe des
Buches „Gegen den Strom" ein Beweis gegen Trotzkis Behauptung, Lenin habe
nach der Oktoberrevolution „in Wort und Tat" seine frühere Stellung zu
Trotzki und dem Trotzkismus korrigiert.
Trotzki schildert in „Mein Leben" seine besondere Übereinstimmung mit
Lenin in einer Frage, die nach der Ermordung Kirows und den Terrorakten in der
Sowjetunion sehr aktuell wurde. Er schreibt dort, im Anschluß an die Terrorakte
der Sozialrevolutionäre, bei denen auch Lenin schwer verwundet wurde, auf Seite
457 usf.:
„Sie hatten Wolodarski ermordet, Uritzki ermordet, Lenin schwer verwundet,
zweimal ein Attentat auf meinen Zug geplant. Wir durften das nicht leicht
nehmen ... Wir konnten die Augen nicht davor verschließen, welche Gefahr der
Revolution drohte, ließen wir es zu, daß der Feind unsere gesamte Spitze
abschoß?
Unsere humanen Freunde von der Art derer, die weder heiß noch kalt sind,
erklärten uns wiederholt, sie könnten die Unvermeidlichkeit von Repressalien im
allgemeinen begreifen; aber den gefangenen Feind zu erschießen, bedeute, die
Grenzen der notwendigen Selbstverteidigung zu überschreiten. Sie forderten von
uns Großmut! ... Sie schlugen uns vor, es bei Gefängnisstrafen zu belassen. Das
schien das Einfachste zu sein. Aber die Frage der persönlichen Repressalien
erhält in einer revolutionären Epoche einen ganz besonderen Charakter, an dem
alle humanitären Gemeinplätze ohnmächtig abprallen. Der Kampf geht unmittelbar
um die Macht, ein Kampf auf Leben und Tod — darin besteht eben die Revolution.
Welche Bedeutung kann unter solchen Umständen Gefängnishaft haben für Menschen,
die hoffen, in den nächsten Wochen die Macht zu erobern und dann jene ins
Gefängnis zu setzen oder zu vernichten, die heute am Ruder stehen? Vom
Standpunkt des sozusagen absoluten Wertes der menschlichen Persönlichkeit
unterliegt die Revolution genau so der ,Verurteilung' wie der Krieg, wie
übrigens die ganze Geschichte der Menschheit...
Im Sommer 1922 nahm die Frage der Repressalien eine um so schärfere Form an,
als es sich diesmal um die Führer der Partei handelte, die seinerzeit neben uns
den revolutionären Kampf gegen den Zarismus geführt und nach der
Oktoberrevolution ihre Waffe des Terrors gegen uns umgekehrt hatten. Überläufer
aus dem Lager der Sozialrevolutionäre hatten uns eröffnet, daß die wichtigsten
terroristischen Akte nicht, wie wir anfangs zu glauben geneigt blieben, von
einzelnen organisiert worden waren, sondern von der Partei, obwohl sie sich
nicht entschließen konnte, die Verantwortung für die von ihr begangenen Morde
offiziell zu übernehmen." Alles das, was Trotzki als unumgänglich
notwendige scharfe Repressalie gegen die Führer der Sozialrevolutonäre „die
seinerzeit neben uns den revolutionären Kampf gegen den Zarismus geführt ...
hatten", vorschlug, gilt zu allen Zeiten im Kampf um die Macht gegen
diejenigen, die auf die andere Seite der Barrikade übergegangen sind, und die
immer die offizielle Verantwortung für ihre konterrevolutionären Handlungen
ablehnen werden.
Ein ganz besonderes Kapitel in allen Erzählungen Trotzkis bildet die Frage,
warum er, der überragende Führer, der in einem so engen Freundschafts- und
Kampfgemeinschaftsverhältnis zu Lenin gestanden haben will, nicht dessen
unbestrittener Nachfolger wurde. Warum hat Lenin — wenn er Trotzki so hoch
schätzte — diesen nie zu seiner Stellvertretung herangezogen? Warum hat er in
den Jahren vor seinem Tode die Position Trotzkis nicht so gestaltet, daß die
Partei diesen als seinen selbstverständlichen Nachfolger anerkannte? Lenin hat
das nicht getan, und er hatte seine guten Gründe. Trotzki gibt in „Mein Leben"
zwar zu, daß ihn Lenin nie zu seiner Stellvertretung herangezogen habe. Er
begründet das damit, daß Lenin sich aus Bequemlichkeit willigere Stellvertreter
ausgesucht habe.
Der Subjektivist stellt alles so dar, wie er es braucht. Gewiß, Lenin stützte
sich immer und viel lieber auf andere. Aber nicht — wie Trotzki „erklärt"
— aus Bequemlichkeit, sondern weil er mit Trotzki zu viel Differenzen hatte,
weil er wußte, daß Trotzki immer Schwierigkeiten machte und eben auf jeden Fall
ein „Eigner", ein überragender Führer sein wollte, der sich nicht
einordnen konnte. Die Alten Bolschewiki mit Parteitradition und Disziplin waren
nicht nur „bequemer", sondern zuverlässiger. Darum stützte sich Lenin auf
sie und nicht auf Trotzki.
In den Monaten vor Lenins Tode, während der Krankheit Lenins, habe es dann —
nach dem Bericht von Trotzki — keine Meinungsverschiedenheiten mehr zwischen
ihm und Trotzki gegeben. In dieser Zeit habe Lenin plötzlich seinen früheren
Standpunkt über Bord geworfen und habe nur daran gedacht, wie er Trotzki zu
seinem Stellvertreter und Nachfolger machen könne. Jetzt — wo er es doch am
nötigsten hatte — habe er auf die „Bequemlichkeit" keine Rücksicht mehr
genommen, jetzt wollte er sich unbedingt nur noch auf den unbequemen Trotzki
stützen. In dieser Zeit beabsichtigte Lenin — wie Trotzki erzählt — einen
„Block Trotzki-Lenin" zu bilden. Aber das „war damals nur Lenin und mir
bekannt". („Mein Leben", Seite 465). Auch nur ihm und Lenin war
bekannt, daß „die von Lenin begonnene Kampagne das unmittelbare Ziel hatte, die
günstigsten Bedingungen für meine leitende Arbeit zu schaffen, entweder neben
ihm, wenn er sich erholt haben würde, oder an seiner Stelle, wenn die Krankheit
ihn überwinden sollte." („Mein Leben", Seite 472.) Aber all diese
Pläne konnten nicht realisiert werden, denn Lenin war krank und Trotzki „war
für einige Wochen durch einen Hexenschuß an das Bett gefesselt... Weder Lenin
noch ich konnten ans Telephon gehen" („Mein Leben", Seite 466.) Die
ganze Erzählung Trotzkis über sein Verhältnis zu Lenin in der letzten Zeit ist
typisch kleinbürgerlich. Da ist keine Spur mehr von einer marxistischen
Geschichtsbetrachtung. Trotzki kann keine Belege für die Behauptungen
beibringen, die außer dem Erzähler niemandem sonst bekannt geworden sind. Das
Ganze trägt deutlich den Stempel der Unwahrhaftigkeit auf der Stirn.
Nur die allerdümmsten zufälligen kleinen Umstände haben es verhindert, daß
Lenin Stalin nicht mehr abgesetzt und Trotzki zu seinem Nachfolger ernannt hat.
Wie töricht die von Trotzki vorgebrachten Gründe sind, wird sofort klar, wenn
man sich vorstellt, daß der nach seinen eigenen Angaben sonst immer so aktive
Trotzki plötzlich in der seiner Meinung nach entscheidenden Situation wegen
eines Hexenschusses nicht zum Telephon gehen und nicht ermöglichen konnte, daß
ihm als Volkskommissar in dieser Zeit das Telephon zum Bett gelegt wurde. Lenin
wäre nicht Lenin gewesen, wenn er nicht trotz seiner Krankheit die Gelegenheit
gefunden hätte, seinen Willen auszusprechen und öffentlich bekannt zu machen.
Da er nichts dergleichen tat, da er die Gedanken und Absichten, die ihm Trotzki
andichtet und um die niemand anders sonst als dieser wußte, keinem Dritten
mitteilte, hat Lenin auch während seiner Krankheit nicht daran gedacht, Trotzki
als seinen Stellvertreter oder Nachfolger in seine Partei- und Amtsfunktionen
einzusetzen.
Was sind das überhaupt für Betrachtungen? Der Kleinbürger mag sich vorstellen,
daß der Führer der proletarischen Revolution seinen Nachfolger ernennt, daß das
Amt eines proletarischen Führers erblich ist. Der Marxist weiß, daß die Auslese
der Führer in einer revolutionären Partei nach anderen Gesichtspunkten erfolgt.
Trotzkis Erzählungen über das „Malheur", das ihn verhindert hat, Lenins
Nachfolger zu werden, decken sich mit den Vorstellungen, die sonst höchstens
Unpolitische von der Führerauswahl unter der Diktatur des Proletariats haben
mögen. Trotzki negiert bei seiner „Geschichtsbetrachtung" vollkommen die
realen Zustände, die Strömungen in den Massen, die treibenden sozialen Kräfte
in der Geschichte, er negiert vor allem die organisatorische Struktur der
leninschen Partei, in der Leitung und Führung nicht von einem Führer, sondern
nach dem leninschen Organisationsprinzip bestimmt werden. Hätte Lenin noch
lesen können, wie nach Trotzkis Erzählungen sein angeblicher Wille, Trotzki zu
seinem Nachfolger zu machen, verhindert wurde, dann hätte er sicher dasselbe
Urteil wie 1914 gefällt:
„Anderswoher als aus ,Privatgesprächen', d.h. einfach aus Klatsch, von dem
Trotzki immer lebt, konnte er nicht Beweise ... sammeln."
Nicht auf Grund einer marxistischen Analyse, nicht auf Grund Öffentlicher
Publikationen Lenins, sondern nur auf Grund angeblicher — nur ihm bekannter —
unkontrollierbarer Privatgespräche hat Trotzki das geschichtliche Bild seines
Verhältnisses zu Lenin „gestaltet".
Der alte
Gegensatz zwischen Bolschewismus und Trotzkismus ist noch vor Lenins Tode
schärfer in Erscheinung getreten. Er wurde ganz besonders akut, als nach der
siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges die Frage des sozialistischen Aufbaus
auf die Tagesordnung gestellt werden mußte. Die Konsequenz der trotzkistischen
permanenten Revolution, die den Sieg des Sozialismus von dem Siege des
Proletariats in den anderen Ländern abhängig machte, war die Verneinung des
sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion. Dagegen war die von Lenin
begründete revolutionäre Theorie des Bolschewismus für die Ausnützung aller
Möglichkeiten in dem Lande, in dem die proletarische Revolution — wenn auch zunächst
nur allein — gesiegt hatte. Die leninistische revolutionäre Theorie forderte in
einem ganz anderen Sinne als der Trotzkismus die ununterbrochene Fortführung
der Revolution bis zum Siege des Proletariats in allen Ländern. In der Periode
nach Lenins Tode wurde die Verneinung des sozialistischen Aufbaus in der
Sowjetunion zum hervorstechendsten sachlichen Wesenskern des Trotzkismus. Darum
stieß der Bolschewismus in der Diskussion um die Theorie des Sozialismus in
einem Lande besonders heftig mit dem Trotzkismus zusammen. Aus dem alten, in
der neuen Situation in veränderter Form auftretenden prinzipiellen Gegensatz
entwickelte sich der entscheidende Konflikt Trotzkis mit der Partei. Die große
Bedeutung dieses Konfliktes zwingt darum zu einer besonderen Würdigung des
ganzen Problems, zur Klarsteilung seines sachlich-praktischen Inhaltes und zu
einer ausführlichen Darlegung der entgegengesetzten Standpunkte. Im III. Teil
dieses Buches wird das für die weitere Entwicklung der Sowjetunion und für den
Befreiungskampf der Weltarbeiterklasse entscheidend wichtige Problem
erschöpfend behandelt, so daß in diesem Abschnitt der kurze Hinweis auf die
entscheidende Bedeutung und den Ausgang des Kampfes zwischen Trotzkismus und
Bolschewismus genügt.
Im Kampf um den sozialistischen Aufbau ist Trotzki allmählich zur permanenten
Störung der Aktionseinheit übergegangen. Es hat sehr lange gedauert, bis die
Partei schärfere Maßnahmen gegen Trotzki ergriff und seine Disziplinbrüche mit
dem Ausschluß aus der Partei beantwortete. Trotzki hat gleich nach Lenins Tode
in verstärktem Maße seine führende Sonderstellung in der Partei angestrebt. Er
betrachtete sich als den berechtigten Nachfolger Lenins, und er schob es nur
den verschiedenen angeblichen Intrigen und Schicksalsfügungen zu, daß er die
„Erbfolge" nicht antreten konnte. In „Mein Leben" erzählt er darüber
sehr seltsame Geschichten. Das Schicksal wollte es, daß er ausgerechnet auch in
der entscheidenden Zeit nach Lenins Tode krank war.
„Die Ärzte verboten mir" — schreibt Trotzki in „Mein Leben", Seite
482 — „das Bett zu verlassen. So lag ich den Rest des Herbstes und des Winters.
Das heißt, daß ich während der ganzen Diskussion 1923 gegen den ,Trotzkismus'
krank lag. Man kann Krieg und Revolution voraussehen, man kann aber die Folgen
einer herbstlichen Jagd auf Enten nicht voraussehen."
Dieser Mangel hat Trotzki um die Chance gebracht, die Nachfolge Lenins
anzutreten. In der vorstehenden Darstellung aber gibt Trotzki zu, daß die
Diskussion gegen den Trotzkismus schon 1923, also noch zu Lebzeiten Lenins,
geführt wurde. Das böse Schicksal wollte es, daß Trotzki im Frühherbst 1923 bei
einer Entenjagd in einen Sumpf geriet und sich erkältete. Wäre das Malheur mit
dem Sumpf nicht gewesen, wäre die ganze Entwicklung in der Sowjetunion wahrscheinlich
anders verlaufen. Doch es kam noch schlimmer. Trotzki ging, nachdem er das Bett
verlassen konnte, zur Erholung nach dem Süden, nach Suchum. Die Nachricht von
Lenins Tode erhielt er in Tiflis, unterwegs auf der Fahrt nach Suchum. Und nun
kommt zu dem bösen Schicksal die böse „Intrige". Man „belog" Trotzki
in einem Telefongespräch über den Tag der Beisetzung Lenins, so daß er nicht
nach Moskau zurückfuhr und dadurch von der Leichenfeier „ausgeschaltet"
wurde. Aus der Darstellung Trotzkis entsteht der Eindruck, daß seine Teilnahme
an der Leichenfeier politisch von allergrößter Wichtigkeit war, und daß die
Dinge irgendwie eine andere Wendung genommen hätten, wenn er bei der
Leichenfeier zugegen gewesen wäre. In Suchum kam ihm dann die große Inspiration
für die unabwendbare Notwendigkeit seines Kampfes gegen die Partei:
„In Suchum" — schreibt Trotzki in „Mein Leben", Seite 493 — „lag ich
lange Tage auf dem Balkon mit dem Gesicht zum Meere. Trotz dem Januar brannte
die Sonne hell und heiß am Himmel ... Mit dem Einatmen der Meeresluft sog ich
mit meinem ganzen Wesen die Gewißheit ein, daß im Kampf gegen die Epigonen das
historische Recht auf meiner Seite steht..."
Die Meeresluft hat Trotzki die nötige Klarheit gebracht. Sie wurde für den
Marxisten ein untrügliches Zeichen. Nun wußte er ganz genau, daß er, und nur er
recht habe, und daß er darum den Kampf gegen die „Epigonen", das heißt
gegen die Parteibeschlüsse und damit gegen die Partei, auf alle Konsequenzen
hin führen müsse. Der Inspiration durch die Meeresluft ist er auch getreu
gefolgt; er hat den Kampf für seinen angeblich richtigen Standpunkt gegen die
Entscheidungen der Partei so geführt, daß dieser schließlich gar keine andere
Wahl blieb, als gegen ihn vorzugehen. In der Diskussion, die der Vorstoß
Trotzkis 1924 auslöste, veröffentlichte auch G. Sokolnikow — der im Prozeß
gegen Pjatakow, Radek und Genossen mit vor Gericht stand — einen Artikel. In
diesem wies er darauf hin, daß Trotzki konsequent seine permanente Revolution
vertrete und damit den Konflikt mit der Partei provoziere, Sokolnikow fuhr dann
fort:
„Warum schwieg sich das Zentralkomitee bisher über diese wesentlichen
Gegensätze aus? ... Das Zentralkomitee wollte die politische und parteiliche
Autorität des Genossen Trotzki unter allen Umständen schonen. Das
Zentralkomitee hatte die Überzeugung, daß die Aufrollung der Gegensätze, die
Restaurierung der Geschichte der früheren Kämpfe nicht allein Genossen Trotzki,
sondern auch der Partei selbst geschadet hätte. Das Zentralkomitee wollte ...
die Initiative nicht ergreifen ..."
Das Zentralkomitee wollte den Konflikt immer noch beilegen, aber Trotzki
ergriff die Initiative. Sinowjew und Kamenew waren es, die damals ihren
späteren Bundesgenossen am schärfsten angriffen. Nicht Stalin, sondern Sinowjew
und Kamenew forderten Repressalien gegen den Disziplinbrecher. Sinowjew schrieb
Ende 1924 in einem Artikel über Trotzki:
„Reinigen wir die Angriffe des Genossen Trotzki von alldem, was ihnen an
Persönlichem, Zufälligem oder Oberflächlichem anhaftet, und stellen wir uns
selbst diesen Angriffen gegenüber auf den Boden der strengsten Objektivität, so
wird der Sinn der Attacke im folgenden klar vor uns liegen: Genosse Trotzki war
in unserer Partei alle diese Jahre hindurch für dasjenige, was nicht im reinsten
Sinne des Wortes bolschewistisch war. Ihn, den Vertreter dieser
nichtbolschewistischen Abweichungen, hat der Rahmen der alten leninschen Taktik
beengt."
Sinowjew kam in diesem Artikel zu folgendem Schluß: „Genosse Trotzki kämpft in
Wirklichkeit gegen die Fundamente des Bolschewismus. Er erweist ... dem
Klassenfeinde unschätzbare Dienste" Im Januar 1925 beschäftigte sich auf
Antrag vieler Parteiorganisationen das Plenum des Zentralkomitees mit Trotzkis
Hervortreten. In dem Beschluß des Zentralkomitees wurde Trotzki ermahnt,
künftig die Parteibeschlüsse einzuhalten und durchzuführen. Trotzki hat diese
Ermahnung nicht befolgt. In einer im Februar 1925 in Leningrad gehaltenen Rede
sagte Sinowjew:
„Sämtliche Mitglieder des Zentralkomitees haben Trotzkis Brief (den Trotzki,
der nicht persönlich zur Sitzung erschien, zu seiner Rechtfertigung an das
Zentralkomitee geschickt hatte. D.V.) sehr abfällig charakterisiert. Der Inhalt
des Briefes ist: ,Ich habe Recht, ihr habt nicht Recht'. Aus einem
Nichtbolschewik ist Trotzki ein gewöhnlicher Antibolschewik geworden. Die
Maßnahmen des Zentralkomitees enthalten nur das Mindestmaß dessen, was getan
werden mußte. Das letzte Wort wird in dieser Sache der Parteikongreß noch zu
sagen haben. Wer jetzt noch kommunistische Politik zusammen mit Trotzki machen
will, der wendet sich absichtlich gegen den Leninismus."
Sinowjew und Kamenew haben später zwar Politik mit Trotzki gemacht und sich
damit selbst „absichtlich gegen den Leninismus" gewandt, aber 1925 haben
sie mit aller Schärfe den Ausschluß Trotzkis aus der Partei gefordert. Stalin
hat sich damals gegen diesen Vorstoß gewandt und Trotzki zu halten versucht. In
dem von ihm erstatteten Tätigkeitsbericht des ZK an den XIV. Parteitag sagte
Stalin (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 412 usf.):
„Womit begannen unsere Differenzen? Sie begannen mit der Frage: ,Was mit dem
Genossen Trotzki geschehen soll?' Das war Ende 1924. Die Gruppe der Leningrader
(unter Führung Sinowjews. D.V.) schlug anfangs vor, Genossen Trotzki aus der Partei
auszuschließen ... Das Leningrader Gouvernementskomitee nahm eine Resolution
an, die den Ausschluß des Genossen Trotzki aus der Partei forderte. Wir, d.h.
die Mehrheit des ZK waren damit nicht einverstanden ... und wir haben nach
einem Kampfe die Leningrader Genossen davon überzeugt, daß sie in ihrer
Resolution den Absatz über den Ausschluß streichen müssen. Nach einiger Zeit,
als das Plenum des ZK tagte, haben die Leningrader mit Unterstützung des
Genossen Kamenew den Antrag auf sofortigen Ausschluß aus dem Politbüro
gestellt. Wir waren auch mit diesem Vorschlag der Opposition nicht
einverstanden, wir erhielten die Mehrheit im ZK und beschränkten uns darauf,
den Genossen Trotzki von seinem Posten als Volkskommissar für Kriegswesen zu
entfernen. Wir waren mit den Genossen Kamenew und Sinowjew nicht
einverstanden..."
Und bei anderer Gelegenheit hat Stalin, der sich gegen die von Sinowjew und
Kamenew geforderte Absägung Trotzkis wandte, sehr deutlich gesagt, daß die
Partei stark und kräftig genug sei, die Vorstöße des Trotzkismus
zurückzuschlagen und eine Parteispaltung zu verhindern. „Was Repressalien
betrifft, so bin ich entschieden gegen sie", sagte Stalin. „Wir brauchen
jetzt keine Repressalien, sondern einen entfalteten Ideenkampf gegen den wiedererstehenden
Trotzkismus."
Der Trotzkismus hat den Ideenkampf in der Bolschewistischen Partei
heraufbeschworen. In der von Trotzki provozierten Diskussion hat sich die
Partei so gut wie einmütig gegen ihn gestellt. Er war in allen seinen Phasen
ein Kampf der leninistischen Partei gegen den Trotzkismus. Trotzki hat ihn zu
einem Personenkampf umzudichten versucht. Erst waren Sinowjew und Kamenew die
bösen persönlichen Feinde — und später Stalin. Wie Trotzki Stalin erkannt hat,
schildert er in „Mein Leben" (Seite 496) in einer sehr kuriosen Art. Er
erzählt dort, wie Skijanski, einer seiner militärischen Mitarbeiter im
Bürgerkrieg, im Jahre 1925 bei ihm war.
„Sagen Sie mir", fragte Skijanski, „was stellt denn Stalin dar?" ...
Ich dachte nach.
„Stalin“, sagte ich, „ist die hervorragendste Mittelmäßigkeit unserer Partei.
Diese Bezeichnung erstand vor mir während unserer Unterhaltung zum erstenmal,
nicht nur in ihrer psychologischen, sondern auch in ihrer sozialen Bedeutung.
Nach dem Gesichtsausdruck Skijanskis erriet ich gleich, daß ich ihm geholfen
hatte, etwas Wichtiges zu erkennen. Das ist die Reaktion nach der großen
sozialen und psychologischen Anspannung der ersten Jahre der Revolution. Die
siegreiche Konterrevolution kann ihre großen Männer haben. Aber ihre erste Stufe,
der Thermidor, braucht Mittelmäßigkeiten, die nicht über ihre Nase hinaussehen
können. Ihre Macht ist ihre politische Blindheit, es ist wie beim Mühlenpferd,
dem es scheint, es gehe bergauf, während es in Wirklichkeit nur das sich
drehende Triebrad hinunterstößt. Ein sehendes Pferd Ist für solche Arbeit
ungeeignet." Plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, war ihm die
Erkenntnis über Stalin gekommen. Von da an begann der persönliche Kampf des
„hervorragenden Führers" gegen Stalin. Obwohl Trotzki „mit der
Meeresluft" die Gewißheit eingeatmet hatte, daß er bei seinem Kampf gegen
die Partei unbedingt „im Recht" war, mußte in diesem Kampfe zunächst
Stalin siegen. Denn unweigerlich kam die Zeit des „Thermidor".
Inzwischen setzte Trotzki seinen Kampf gegen die Partei fort. Es wurde
innerhalb der Partei eine eigene oppositionelle Organisation mit eigenen
Veranstaltungen und Mitgliedsbeiträgen zu schaffen gesucht. Die Opposition
organisierte ferner illegale Druckereien, und am 10. Jahrestag der Revolution —
am 25. Oktober 1927 — versuchte sie in Leningrad und in Moskau — allerdings
mißlungene — Gegendemonstrationen zu veranstalten. Das waren alles Dinge, die
im schroffsten Widerspruch zu dem leninistischen Organisationsprinzip standen
und die im entscheidenden Kampfe um den sozialistischen Aufbau die
Aktionseinheit störten. Den Kampf Trotzkis gegen die Partei schildert Stalin
zusammenhängend in einer Rede in der gemeinsamen Sitzung des ZK-Präsidiums und
des ZKK am 27. September 1927:
„Genosse Trotzki versteht unsere Partei nicht. Er hat keine richtige
Vorstellung von unserer Partei. Er betrachtet unsere Partei wie ein Junker den
Pöbel oder wie ein Bürokrat seine Untergebenen. Sonst wurde er nicht behaupten,
daß in einer Millionenpartei, in der KPdSU, einzelne Personen, einzelne Führer
„die Macht an sich reißen", die Macht „usurpieren" können. Die Macht
an sich reißen in einer Millionenpartei, die drei Revolutionen durchgemacht hat
und jetzt die Grundlagen des Weltimperialismus erschüttert — bis zu dieser
Dummheit hat sich Genosse Trotzki verstiegen! Kann man überhaupt in einer von
revolutionären Traditionen erfüllten Millionenpartei die Macht ,an sich
reißen'? Warum ist es dann Trotzki nicht gelungen, die Macht in der Partei ,an
sich zu reißen', zur Führung in der Partei vorzudringen? ... Ist etwa der
Genosse Trotzki dümmer ... als Bucharin oder Stalin? Hat etwa Genosse Trotzki
nicht den Willen, den Wunsch zur Führung? Ist es etwa nicht Tatsache, daß nun
schon Über zwei Jahrzehnte Genosse Trotzki gegen die Bolschewiki um die Führung
in der Partei kämpft? Ist er etwa ein weniger hervorragender Redner als die
gegenwärtigen Führer unserer Partei? Trifft es nicht vielmehr zu, daß Trotzki
als Redner höher steht als viele gegenwärtige Führer unserer Partei? Wodurch ist
es dann zu erklären, daß Genosse Trotzki trotz seiner Rednerkunst, trotz seines
Willens zur Führung, trotz seiner Fähigkeiten von der Führung der großen Partei
... fortgeschleudert wurde? Genosse Trotzki ist geneigt, dies damit zu
erklären, daß unsere Partei seiner Meinung nach eine Stimmherde ist, die
blindlings Stalin und Bucharin folgt, so können aber über unsere Partei nur
Leute sprechen, die sie verachten und als Pöbel ansehen. ...Wodurch ist es zu
erklären, daß die KP volles Mißtrauen gegenüber der Opposition äußert? Das
erklärt sich dadurch, daß die Opposition danach trachtete, den Leninismus durch
den Trotzkismus zu ergänzen, ... zu „verbessern". Die Partei will aber dem
Leninismus treu bleiben, trotz aller Schliche der heruntergekommenen Aristokraten
in der Partei. Das also ist der Grund, weshalb die Partei ... es für nötig
hielt, sich von Trotzki und von der Opposition überhaupt abzuwenden. Und die
Partei wird in gleicher Weise mit jeglichen ,Rednern' und ,Führern' verfahren,
die beabsichtigen werden, den Leninismus mit dem Trotzkismus zu übertünchen.
Indem er unsere Partei als Stimmherde hinstellt, bringt Genosse Trotzki seine
Verachtung gegenüber den Parteimassen der KPdSU zum Ausdruck. Ist es da noch
verwunderlich, wenn die Partei ihrerseits darauf mit Verachtung und mit dem
Ausdruck ihres vollen Mißtrauens gegenüber dem Genossen Trotzki antwortet?
Ebenso schlecht liegen die Dinge bei der Opposition in der Frage des Regimes in
unserer Partei. Genosse Trotzki stellt die Sache so dar, daß das gegenwärtige
Regime in der Partei, das der ganzen Opposition zuwider ist, sich irgendwie
prinzipiell von dem Regime in der Partei unterscheide, das zur Zeit Lenins
festgelegt wurde. Er will die Sache so darstellen, daß er gegen das Regime, das
von Lenin nach dem X. Parteitag festgelegt wurde, nichts einzuwenden habe, und
daß er im Grunde genommen einen Kampf gegen das gegenwärtige Regime in der
Partei führe, das seiner Meinung nach nichts mit dem Regime gemein hat, das von
Lenin festgelegt wurde. Ich erkläre, ... daß Genosse Trotzki hier die direkte
Unwahrheit sagt. Ich erkläre, daß das gegenwärtige Regime in der Partei der
genaue Ausdruck eben jenes Regimes ist, das in der Partei zur Zeit Lenins, zur
Zeit des X. und XI. Parteitages unserer Partei festgelegt wurde. Ich behaupte,
daß Genosse Trotzki einen Kampf gegen das leninsche Regime in der Partei führt,
das zur Zeit Lenins und unter Führung Lenins festgelegt wurde. Ich behaupte,
daß der Kampf der Trotzkisten gegen das leninsche Regime in der Partei bereits
zu Lebzeiten Lenins begonnen hat, daß der gegenwärtige Kampf der Trotzkisten
eine Fortsetzung jenes Kampfes ist ... Worin bestehen die Grundlagen dieses
Regimes? Darin, daß bei der Durchführung der innerpolitischen, Demokratie und
bei Zulassung einer sachlichen Kritik die Mängel und Fehler in der Partei
gleichzeitig keinerlei Fraktionswesen zugelassen und jegliches Fraktionswesen
unter Androhung des Ausschlusses aus der Partei vernichtet wird. Wann wurde
dieses Regime in der Partei eingeführt? Auf dem X. und XI. Parteitag unserer
Partei ... Wir haben ein solches Dokument wie die „Erklärung der 46", die
von solchen Trotzkisten unterschrieben ist wie Pjatakow, Preobraschenski,
Serebrjakow und andere und in der direkt davon gesprochen wird, daß das Regime,
das in der Partei nach dem X. Parteitag festgelegt wurde, sich überlebt habe
und für die Partei unerträglich geworden sei. Sie forderten die Zulassung von
fraktionellen Gruppierungen in der Partei und die Aufhebung des entsprechenden
Beschlusses des X Parteitages ... Ich behaupte, daß der gegenwärtige Kampf des
Genossen Trotzki gegen das Regime in unserer Parte: eine Fortsetzung jenes
antileninistischen Kampfes ist, von dem ich eben sprach...
Was bedeutet es denn, das Bestehen illegaler Druckereien aller und jeglicher
Gruppierungen in der Partei zuzulassend Das bedeutet, das Bestehen einiger
Zentren in der Partei zuzulassen, die ihre „Programme", ihre
„Plattform", ihre „Linien" haben. Was bleibt dann übrig von der
eisernen Disziplin in unserer Partei, die Lenin als die Grundlage der Diktatur
des Proletariats betrachtete? Ist eine solche Disziplin möglich ohne ein
einheitliches und einziges leitendes Zentrum? Versteht Genosse Trotzki, in
welchen Sumpf er gerät, wenn er das Recht der oppositionellen Gruppierungen auf
Organisierung illegaler parteifeindlicher Druckereien verteidigt?"
Obwohl Trotzki nur sehr kurze Zeit Mitglied der Bolschewistischen Partei war,
hat er in seinem Tun zum Ausdruck gebracht: „Ich bin die Partei!" Und wenn
die Partei nicht nach seinen Wünschen handelte, griff er sie und vor allem die
Repräsentanten der Partei an. Früher Lenin, später Stalin. Fielen die
Beschlüsse der Partei gegen ihn aus, nannte er diese Beschlüsse reaktionär, Und
als „echter Revolutionär" nahm er sich das selbstverständliche Recht, die
„reaktionären" Mehrheitsbeschlüsse abzulehnen und nach seiner eigenen
persönlichen Erkenntnis zu handeln (die er mit der Meeresluft eingeatmet
hatte). War in demokratischen Parteientscheidungen die Parteimitgliedschaft
ganz eindeutig gegen seine Politik, so waren die Parteimitglieder willenloses
Stimmvieh, das nach Belieben kommandiert werden konnte. In seinem Schlußwort
auf dem Plenum des ZK am 5. März 1937 erinnerte Stalin an das Kräfteverhältnis,
das bei einer Abstimmung innerhalb der Partei im Jahre 1927 festgestellt wurde:
„An und für sich waren die Trotzkisten in unserer Partei niemals eine große
Kraft. Erinnert Euch der letzten Diskussionen in unserer Partei im Jahre 1927.
Das war ein richtiges Parteireferendum. Von 854.000 Parteimitgliedern stimmten
damals 730.000 Parteimitglieder ab. Davon stimmten für die Bolschewiki, für das
Zentralkomitee der Partei, gegen die Trotzkisten 724.000 Parteimitglieder, für
die Trotzkisten 4000, das heißt ungefähr ein halbes Prozent, und 2600 haben
sich der Stimme enthalten. An der Abstimmung nicht teilgenommen haben 123.000
Parteimitglieder. Sie haben entweder deshalb nicht teilgenommen, weil sie auf
Reisen waren oder deshalb, weil sie Schicht arbeiteten. Wenn man zu den 4000,
die für die Trotzkisten gestimmt haben, alle jene hinzuzählt, die sich der
Stimme enthalten haben — in der Annahme, daß sie gleichfalls mit den
Trotzkisten sympathisierten — und wenn man zu dieser Summe nicht ein halbes
Prozent derjenigen hinzuzählt, die an der Abstimmung nicht teilgenommen haben,
wie man das richtigerweise tun müßte, sondern fünf Prozent derjenigen, die an
den Wahlen nicht teilgenommen haben, — d.h. ungefähr 6000 Parteimitglieder — so
ergeben sich ungefähr 12.000 Parteimitglieder, die so oder anders mit den
Trotzkisten sympathisiert haben. Da habt Ihr die ganze Kraft der Herren
Trotzkisten. Fügt den Umstand hinzu, daß viele davon vom Trotzkismus enttäuscht
und sich von ihm abgewandt haben, und Ihr bekommt eine Vorstellung von der
Geringfügigkeit der trotzkistischen Kräfte. Und wenn die trotzkistischen
Schädlinge trotzdem unweit unserer Partei noch irgendwo Reserven haben, so
deshalb, weil die unrichtige Politik einiger unserer Genossen in der Frage des
Ausschlusses aus der Partei und der Wiederherstellung der Ausgeschlossenen, das
seelenlose Verhalten einiger unserer Genossen gegenüber dem Schicksal der
einzelnen Parteimitglieder und der einzelnen Funktionäre künstlich eine Anzahl
Unzufriedener und Erbitterter züchtet und den Trotzkisten auf diese Weise
Reserven schafft." Die These von der Entartung der Partei hat Trotzki
schon in der ersten Zeit seiner Opposition in der Sowjetunion vertreten. Stalin
hat ihm bereits damals (in einem Referat auf dem 7. Plenum des ZKs im Dezember
1926) entgegengehalten, „die Verneinung der Möglichkeit des Aufbaus des
Sozialismus führt zur Perspektive der Entartung der Partei, die Perspektive der
Entartung der Partei aber führt ihrerseits zum Aufgeben der Macht und zur Frage
der Bildung einer neuen Partei ...", und eine neue Partei wird „den Weg für
den sich restaurierenden Kapitalismus frei machen."
Trotzki ist folgerichtig diesen Weg gegangen. Von der Opposition innerhalb der
Partei, zur Bekämpfung der „entarteten" Partei, von dort zur Gründung
einer neuen Partei, die im Lande der Diktatur des Proletariats zwangsläufig
eine konterrevolutionäre werden mußte. Der Weg, den der Trotzkismus nach
Trotzkis offener Kriegserklärung gegen die leninistische Partei ging, wird
ausführlich in all seinen Etappen im VI. Teil dieses Buches dargelegt. Als
schon einmal in der Geschichte Ultralinke die Absicht hatten, in der
Sowjetunion eine neue Partei, eine IV. Internationale zu gründen, schrieb
Trotzki (damals noch in der Führung der Bolschewistischen Partei) in einer 1921
erschienenen Schrift „Die neue Etappe" (Seite 80):
„Wenn aber diese sektiererische Spaltung eintreten sollte, werden wir in der
nächsten Zeit nicht nur zur rechten Hand eine Internationale 2 ½ haben, sondern
auch von links eine Internationale Nr. 4, wo Subjektivismus, Hysterie,
Abenteuerlust und revolutionäre Phrase in vollendeter Gestalt vertreten sein
werden.“
Trotzki selbst hat dann diese IV. Internationale begründet, und sie hat in der
Tat alle Eigenschaften, die er ihr vorausgesagt hat. Diese Eigenschaften,
Subjektivismus, Hysterie und Abenteuerlust, haben Trotzkis IV. Internationale
zum offenen Feind der Sowjetunion, zum Feind der geschlossenen Aktion der
Weltarbeiterklasse und zum Helfershelfer der Konterrevolution und des
Faschismus gemacht.
Der Kampf um die Theorie des Sozialismus in einem Lande hat zum
endgültigen Bruch Trotzkis mit der Bolschewistischen Partei geführt. Der
entscheidende Konflikt erwuchs aus den seit dem Jahre 1903 ununterbrochen fortwirkenden
theoretischen, organisatorischen und politischen Gegensätzen zwischen Lenin und
Trotzki, insbesondere aus dem alten Streit zwischen Leninismus und Trotzkismus
über Trotzkis Theorie der permanenten Revolution. Die theoretischen und
politischen Prinzipien Trotzkis standen in unlösbarem Widerspruch zum
Leninismus. Sie mußten — wenn sie von Trotzki nach dem Siege der proletarischen
Revolution konsequent weiter vertreten wurden — unvermeidlich zu den schärfsten
Zusammenstößen mit der Bolschewistischen Partei führen. Nachdem im harten
Bürgerkrieg die alten Gewalten vernichtend geschlagen waren, wurde Lenins
Theorie von der ununterbrochenen Fortführung der siegreichen Revolution in
einem Lande bis zum Siege des sozialistischen Aufbaus aus einem abstrakten
theoretischen Problem zu der aktuellen, realen Tagesaufgabe. Jetzt mußte
entschieden werden: wird die eroberte politische Macht planmäßig und mächtig
eingesetzt, um die Fundamente der Klassengesellschaft restlos zu zerschlagen
und eine neue sozialistische Ordnung aufzubauen, oder muß die Erfüllung dieser
schwierigen Aufgabe bis zum Siege der Weltrevolution zurückgestellt werden.
Soll die Sowjetunion in der Hoffnung auf den baldigen Sieg der Weltrevolution
untätig warten, bis die proletarische Revolution in den anderen Ländern gesiegt
hat, oder soll sie nicht vielmehr versuchen, durch den Sieg des sozialistischen
Aufbaus in ihrem Lande günstigere Voraussetzungen für die proletarische
Revolution in den anderen Ländern und für den endgültigen Sieg des Sozialismus
zu schaffen?
Da es bei dieser Entscheidung um die praktische Durchführung einer Aufgabe
ging, von deren Lösung das Schicksal der Sowjetunion abhing, hatten die
Auseinandersetzungen um den einzuschlagenden Weg zwangsläufig eine viel größere
Bedeutung als die früher nur theoretischen Diskussionen. Die logische Folge
davon war, daß gegen die Opposition, die in der viel schwierigeren Situation
die Aktionseinheit der herrschenden Partei zu stören versuchte, zu schärferen
Maßnahmen gegriffen werden mußte.
Im Kampf um den sozialistischen Aufbau im Lande der siegreichen proletarischen
Revolution wurde das Schicksal der Sowjetunion und darüber hinaus die weitere
Entwicklung des Sozialismus in der ganzen Welt entschieden. Die Entscheidung
fiel nicht durch das Diktat eines Mannes, sie wurde nach einem gründlichen
demokratischen Meinungsaustausch durch eindeutige Beschlüsse der überwiegenden
Mehrheit der Bolschewistischen Partei herbeigeführt. Ausgelöst wurde der
innerparteiliche Kampf durch das Auftreten Trotzkis. Dieser vertrat in der
Situation, in der die Fortführung der russischen Revolution zum Sozialismus die
aktuellste Tagesaufgabe geworden war, mit besonderer Energie seinen alten
theoretischen Standpunkt von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande.
Über seine These wurde in der russischen Arbeiterbewegung wahrlich nicht nur
kurze Zeit, sondern viele Jahre sehr ausführlich diskutiert. Den Höhepunkt
erreichte diese Diskussion in den Jahren 1924 und 1925; einen gewissen Abschluß
fand sie durch den Beschluß des XIV. Parteitages (Ende 1925), in dem es u. a.
heißt:
„Der Kampf für den Sieg des sozialistischen Aufbaus ist die Tagesaufgabe der
Partei. Eine der unerläßlichsten Bedingungen zur Lösung dieser Aufgabe ist die
Bekämpfung des Unglaubens an den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande."
Vor der Entscheidung auf dem XIV. Parteitag haben die Vernemer der Theorie des
Sozialismus in einem Lande in ausgiebiger Weise ihren Standpunkt vertreten
können. Das Für und Wider ist auf breitester Grundlage diskutiert worden. Dem
Parteitag selbst lag eine ausführliche schriftliche Plattform der Opposition
vor, die vor den Parteitagsdelegierten in einem Korreferat Sinowjews begründet
wurde. Eine Diskussion kann nur dann fruchtbar sein und zu praktischen
Ergebnissen führen, wenn sie nach einer gewissen Zeit durch Mehrheitsbeschluß
beendet wird. Demokratie heißt nicht, endlos zu diskutieren, sondern nach der
Mehrheitsentscheidung zu handeln. Demokratische Beschlüsse jedoch können nur
dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn die Minderheit die gefaßten
Beschlüsse anerkennt und positiv an ihrer Verwirklichung mitwirkt. Trotzki aber
hat nach den ganz eindeutigen Beschlüssen des XIV. Parteitages weiter seine
These von der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion
vertreten. Er hat die Aktionseinheit der Partei in der schwierigsten Situation
gestört, hat dadurch die Verschärfung des Konfliktes heraufbeschworen und
schließlich den Bruch erzwungen.
Angesichts der gewaltigen Aufgabe, die nach dem Mehrheitsbeschluß des XIV.
Parteitages in Angriff genommen werden sollte, war es das Recht und die Pflicht
der Bolschewistischen Partei und der Staatsmacht in der UdSSR, jeden
Störungsversuch zu verhindern. Aufbau des Sozialismus in dem rückständigen
Rußland inmitten der kapitalistischen Umwelt: das erschien 1925 noch als eine
unlösbare Aufgabe. Sollte sie trotzdem bewältigt werden, dann mußte der
geschlossene Einsatz aller Kräfte erreicht, mußten alle Hindernisse,
gleichgültig von wem und aus welchen Motiven sie errichtet wurden, beseitigt
werden. Aus der Größe der in Angriff genommenen Aufgabe ergab sich die Schärfe
der Meinungsverschiedenheiten und die Härte gegen diejenigen, die nach der
Entscheidung des Parteitages sich dem Mehrheitsbeschluß nicht fügten und die
Aktionseinheit störten. In seinem Kampf gegen die Bolschewistische Partei ist
Trotzki unterlegen. Im demokratischen Meinungsaustausch war die überwiegende
Mehrheit der Partei gegen seinen Standpunkt, und die Ergebnisse des
sozialistischen Aufbaus haben später eindeutig die Richtigkeit der Entscheidung
des XIV. Parteitages bestätigt. Formal und in der Sache war Trotzki im Unrecht
und die Bolschewistische Partei im Recht. Wie war die internationale Situation
Ende 1925, als der XIV. Parteitag der Bolschewiki den Aufbau des Sozialismus in
der Sowjetunion zur Tagesaufgabe der Partei erklärte?
Die Hoffnung des russischen Proletariats auf die unmittelbare Unterstützung
durch die Weltrevolution war nicht in Erfüllung gegangen. Die proletarische
Revolution hatte in keinem anderen Lande der Welt gesiegt. In den
kapitalistischen Ländern, und selbst in Deutschland, wo nach der militärischen
Niederlage das Kaiserreich zusammenbrach, war die revolutionäre Bewegung
zurückgeschlagen und die kapitalistischen und konterrevolutionären Kräfte
stabilisierten sich. Die mittel- und westeuropäische Arbeiterbewegung, die
schon vor 1914 zahlenmäßig stark war und die viel mächtiger erschien, als die
unter dem Zarismus illegal wirkende russische revolutionäre Bewegung, vermochte
die nach der Kriegskatastrophe vorhandene revolutionäre Situation nicht
auszunützen. Ihr fehlten Zielklarheit, Festigkeit, Geschlossenheit und der
revolutionäre Wille zum Umsturz. Der Reformismus hemmte ihre Kraftentfaltung.
Es mußte mit einer längeren Spanne Zeit bis zum Siege des Proletariats in den
anderen Ländern gerechnet werden. Wenn die siegreiche russische Revolution in
dieser Zeit nicht untätig, passiv sein und absterben wollte, mußte sie den
sozialistischen Aufbau beginnen. Der Kampf um den Sozialismus in einem Lande.
wurde durch das Ausbleiben der Weltrevolution erzwungen.
Lenin ist die unbestrittene Autorität aller Kommunisten in der
Welt. Bei allen Meinungsverschiedenheiten im kommunistischen Lager versuchen
die streitenden Parteien Lenin als Kronzeugen für die Richtigkeit ihrer
Auffassung ins Feld zu führen. Es ist darum kein Wunder, daß Trotzki immer
wieder zu beweisen versucht, daß er in all seinen Konflikten mit der
Bolschewistischen Partei allein den einzig wahren leninistischen Standpunkt
vertrete. Trotzki behauptet, daß die Theorie des Sozialismus in einem Lande
erst von Stalin nach Lenins Tode erfunden wurde, Trotzki sei in der
entscheidenden Streitfrage der einzige wahre Verfechter des Leninismus. In der
„Oktoberrevolution" (Seite 708) schrieb er:
„...Mochten wir noch einmal daran erinnern, daß in den Jahren 1904/1905 keiner
von den russischen Marxisten den Gedanken an die Möglichkeit des Aufbaus der
sozialistischen Gesellschaft in einem Lande überhaupt, und in Rußland im
besonderen, verteidigte und aufstellte. Diese Konzeption wurde zum ersten Male
in der Presse vertreten, etwa zwanzig Jahre später, im Herbst 1924."
Trotzki behauptet also, daß in der russischen Arbeiterbewegung früher niemals
von der Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Lande gesprochen
wurde, daß dieses Problem bis zum Herbst 1924 überhaupt nicht existierte.
Dieselbe Behauptung ist auch in anderen Schriften und Reden Trotzkis des
öfteren anzutreffen. Trotzkis Absicht ist klar. Er will den Eindruck erwecken,
daß Lenin nichts mit der Theorie des Sozialismus in einem Lande zu tun gehabt,
daß dieser universelle Geist sich mit der „völlig abwegigen“ Frage überhaupt
nicht beschäftigt habe.
Diese Darstellung Trotzkis ist unwahr. Lenin war der erste russische Marxist,
der ganz klar und eindeutig die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in
einem Lande bejahte, und niemand anders als Trotzki selbst hat damals gegen
Lenins Auffassung polemisiert. Das war im Jahre 1915. Am 23. August dieses
Jahres veröffentlichte Lenin im „Sozialdemokrat" — dem damals in der
Schweiz erscheinenden Zentralorgan der Bolschewiki — einen gegen Trotzki
gerichteten Artikel „Über die Losung der Vereinigten Staaten Europas".
Darin schrieb Lenin (Siehe „Gegen den Strom", Seite 126):
„Als selbständige Losung wäre jedoch die Losung: Vereinigte Staaten der Welt
kaum richtig; denn 1. verschmilzt sie mit dem Sozialismus und 2. deshalb, weil
sie eine irrtümliche Auffassung über die Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus
in einem Lande und über das Verhältnis eines solchen Landes zu den übrigen
Ländern hervorrufen würde. Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und
politischen Entwicklung ist ein unleugbares Gesetz des Kapitalismus.
Daraus folgt, daß ein Sieg des Sozialismus zuerst in wenigen oder sogar in
einem einzigen Lande möglich Ist." Lenin erklärt aus der Ungleichmäßigkeit
der ökonomischen und politischen Entwicklung der einzelnen Länder die
Möglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande. Als die
Aufgabe des Proletariats in dem Lande, in dem es die politische Macht erobert
hat, bezeichnet Lenin die Expropriierung der Kapitalisten und die Organisierung
der sozialistischen Produktion. Lenin vertrat also schon 1915 unzweideutig die
Theorie des Sozialismus in einem Lande, er bezeichnet es als ganz
selbstverständlich, daß die eroberte politische Macht in einem Lande für die
Organisierung der sozialistischen Produktion, für den Aufbau des Sozialismus
eingesetzt werden muß. Nur dadurch — sagte Lenin — könne die revolutionäre
Entwicklung und auch der Sieg des Sozialismus in den anderen Ländern wirksam
unterstützt werden. Stalin schlußfolgerte in den „Problemen des
Leninismus" aus dem vorstehend angeführten Zitat Lenins, daß „das Land der
proletarischen Diktatur, von kapitalistischen Ländern umgeben, demnach nicht
nur imstande ist, die inneren Widersprüche zwischen dem Proletariat und der
Bauernschaft aus eigenen Kräften aufzuheben, sondern es kann und soll auch den
Sozialismus aufbauen, eine sozialistische Wirtschaft bei sich organisieren und
eine bewaffnete Macht aufstellen..."
Stalin bezeichnet das als die Hauptthese des Leninismus über den Sieg des
Sozialismus in einem Lande. Derselbe Trotzki, der später behauptet, daß vor dem
Herbst 1924 niemand in der russischen Arbeiterbewegung die Möglichkeit des
sozialistischen Aufbaus in einem Lande diskutiert habe, polemisierte schon 1915
gegen Lenins Artikel in „Nasch Golos":
„Die einzige einigermaßen konkrete Erwägung gegen die Losung der Vereinigten
Staaten wurde im schweizerischen ,Sozialdemokrat' in folgendem Satz formuliert:
,Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein
unbedingtes Gesetz des Kapitalismus'. Daraus zog der ,Sozialdemokrat' den
Schluß, daß der Sieg des Sozialismus auch in einem einzigen Lande möglich sei
und daß es deshalb nicht notwendig sei, die Diktatur des Proletariats in jedem
einzelnen Staate von der Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa abhängig
zu machen. Daß die kapitalistische Entwicklung der verschiedenen Länder
ungleichmäßig ist, ist unbestreitbar. Aber diese Ungleichmäßigkeit selbst ist
sehr ungleichmäßig. Das kapitalistische Niveau Englands, Österreichs,
Deutschlands oder Frankreichs ist nicht dasselbe. Aber im Vergleich zu Afrika
und Asien stellen alle diese Länder das kapitalistische ,Europa' dar, das für
die soziale Revolution reif ist. Daß kein anderes Land in seinem Kampfe auf die
anderen ,warten' soll, ist ein elementarer Gedanke, den zu wiederholen nützlich
und notwendig ist, damit nicht anstelle der Idee der parallelen internationalen
Aktion die Idee der abwartenden internationalen Untätigkeit unterschoben wird.
Ohne auf die anderen zu warten, beginnen und setzen wir den Kampf auf
nationalem Boden fort, in der vollen Überzeugung, daß unsere Initiative dem
Kampf in den anderen Ländern einen Anstoß geben wird; wenn das aber nicht
geschehen sollte, dann wäre es hoffnungslos, zu glauben — dafür zeugen sowohl
die geschichtliche Erfahrung wie theoretische Erwägungen — daß z.B. das
revolutionäre Rußland einem konservativen Europa gegenüber sich behaupten oder
ein sozialistisches Deutschland Isoliert in der kapitalistischen Welt bestehen
könnte."
Diese Gegenüberstellung der Artikel Lenins und Trotzkis aus dem Jahre 1915
beweist, daß die Theorie des Sozialismus in einem Lande nicht erst nach Lenins
Tode von Stalin „erfunden" wurde. Aus dieser Gegenüberstellung wird aber
auch der sachliche Gegensatz klar, der zwischen Lenin und Trotzki in dieser
entscheidenden Frage bestand. Es gibt außerdem noch viele Äußerungen Lenins,
die Trotzkis Behauptung widerlegen. Trotzki selbst berichtet an anderer Stelle
noch viel deutlicher, wie intensiv Lenin sich 1918 für den Aufbau des
Sozialismus in der Sowjetunion einsetzte („Über Lenin", Seite 119, 120):
„In den Thesen Lenins über den Frieden, die Anfang Januar 1918 geschrieben
wurden, heißt es: ,Für den Erfolg des Sozialismus in Rußland ist eine gewisse
Zwischenfrist von mindestens einigen Monaten' erforderlich. Jetzt muten einen
diese Worte ganz unverständlich an: ist es nicht ein Schreibfehler, sind hier
nicht einige Jahre oder Jahrzehnte gemeint? Aber nein, es ist kein
Schreibfehler. Man könnte wahrscheinlich eine Reihe anderer Aussprüche Lenins
in der gleichen Art finden. Ich erinnere mich sehr gut, wie Iljitsch in der
ersten Periode auf den Sitzungen des Rats der Volkskommissare im Smolnij
ständig wiederholte, binnen einem halben Jahre würde bei uns der Sozialismus
herrschen und wir seien dann der mächtigste Staat überhaupt. Die linken
Sozialrevolutionäre, und nicht nur sie allein, hoben fragend und befremdet den
Kopf, schauten einander an, aber schwiegen. Es war dies ein System des
Eintrichterns. Lenin wollte allen beibringen, von nun an sämtliche Fragen im
Rahmen des sozialistischen Aufbaus zu behandeln, und zwar nicht in der
Perspektive des ,Endziels', sondern des heutigen und morgigen Tages. Er griff
bei dieser schroffen Umstellung zu der ihm so eigentümlichen Methode, das
Extrem zu betonen: gestern sagten wir, der Sozialismus ist das ,Endziel'; aber
heute heißt es so denken, daß die Herrschaft des Sozialismus binnen wenigen
Monaten gewährleistet wird. Das heißt also, es wäre nur eine pädagogische
Methode gewesen? Nein, nicht nur. Zu der pädagogischen Energie muß man noch
etwas hinzufügen: den mächtigen Idealismus Lenins, seine angespannte
Willenskraft, die bei dem jähen Umschwung zweier Epochen die Etappen verkürzte
und die Termine zusammenrückte. Er glaubte an das, was er sagte. Und diese
phantastische Halbjahrsfrist zur Verwirklichung des Sozialismus stellt ebenso
eine Funktion des Leninschen Geistes dar, als sein realistisches Herantreten an
jede Aufgabe des heutigen Tages. Die tiefe und unbeugsame Überzeugung an die
gewaltigen Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung, für die man jeden
beliebigen Preis an Opfern und Leiden bezahlen könne und müsse, bildete stets
die Hauptsprungfeder in Lenins geistiger Struktur." Trotzki erklärt, warum
Lenin absichtlich eine „phantastische" kurze Zeit für den Sieg des
Sozialismus in Rußland wählte. Das Entscheidende dabei aber ist: Trotzki gibt
hier zu, daß Lenin unmittelbar nach der Oktoberrevolution — im Frühjahr 1918 -
die sofortige Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus propagierte, damals
schon den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion als die Tagesaufgabe der Partei
bezeichnete.
Im Sinne der Auffassungen, die Lenin unmittelbar nach der Oktoberrevolution bei
jeder Gelegenheit entschieden vertrat, wird schließlich ja auch in der ersten
leninschen Verfassung, die Mitte 1918 vom V. Rätekongreß der RSFSR beschlossen
wurde, gesagt, daß die grundlegende Aufgabe der Verfassung:
„in der Errichtung der Diktatur des städtischen und ländlichen Proletariats
sowie der Armbauernschaft in der Form einer kraftvollen allrussischen
Sowjetmacht besteht, zwecks restloser Unterdrückung der Bourgeoisie,
Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Einführung des
Sozialismus, unter welchem es weder eine Scheidung in Klassen noch eine
Staatsgewalt geben wird. Das ist ein deutliches Bekenntnis für die
sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in dem Lande, in dem die
proletarische Revolution eben den ersten entscheidenden Sieg errungen hat.
Später (im April 1921) hat Lenin (in „Die Vorbedingungen und die Bedeutung der
neuen Politik Sowjetrußlands") die Verfassung folgendermaßen kommentiert:
„Kein Kommunist hat, glaube ich, ferner bestritten, daß der Ausdruck
,Sozialistische Räterepublik' die Entschlossenheit der Rätemacht bedeutet, den
Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen.“
Am 14. Mai 1918 sagte Lenin in einer Rede über die internationale Lage:
„Ich weiß, daß es spitzfindige Leute gibt, die sich für sehr klug halten und
die sich sogar Sozialisten nennen, die behaupten, daß man die Macht nicht hätte
ergreifen sollen, solange die Revolution in allen Ländern nicht ausgebrochen
ist. Sie ahnen es nicht, daß sie durch solche Reden von der Revolution abrücken
und auf die Seite der Bourgeoisie übergehen. Warten, bis die werktätigen Massen
die Revolution im internationalen Maßstabe vollbringen, heißt, daß alle in
Erwartung erstarren sollen. Das ist Unsinn." Lenins Äußerung richtet sich
ganz offensichtlich gegen Trotzkis Theorie von der Unmöglichkeit des
Sozialismus in einem Lande, gegen die These, daß der sozialistische Aufbau in
der Sowjetunion erst nach dem Siege der Weltrevolution möglich ist. Im Jahre
1919 schrieb Lenin in dem Aufsatz „Ökonomie und Politik in der Epoche der
Diktatur des Proletariats" (Lenin ausgewählte Werke, Band VIII, Seite
6/7):
„Darum bleibt, wie die Bourgeoisie aller Länder und ihre offenen und versteckten
Helfershelfer (die ,Sozialisten' der II. Internationale) auch lügen und uns
verleumden mögen, eines zweifellos: vom Standpunkt des wirtschaftlichen
Hauptproblems ist der Diktatur des Proletariats bei uns der Sieg des
Kommunismus über den Kapitalismus gesichert. Die Bourgeoisie der ganzen Welt
tobt und wütet ja gerade deshalb gegen den Bolschewismus, organisiert
militärische Invasionen, Verschwörungen u.ä. gegen die Bolschewiki, weil sie
sehr wohl versteht, daß unser Sieg beim Umbau der gesellschaftlichen Wirtschaft
unvermeidlich ist, wenn man uns nicht durch militärische Kraft erdrückt ....
uns aber auf diese Weise zu erdrücken, wird ihr nicht gelingen!" Auch in
diesem Artikel spricht Lenin wieder von dem Aufbau der sozialistischen
Wirtschaft in der noch von kapitalistischen Ländern umgebenen Sowjetunion.
Lenin hat also zu allen Zeiten die Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in
einem Lande bejaht. Den Sieg des Sozialismus in Rußland hielt er für möglich,
wenn durch, ein festes Bündnis der Arbeiter mit den Bauern diese für die aktive
Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnen werden und wenn das rückständige
agrarische Rußland in ein fortgeschrittenes Land mit starker Industrie
umgestaltet wird. Auf dem VIII. Rätekongreß (im Jahre 1920) sagte Lenin:
„Vor uns liegt ein auf mindestens 10 Jahre berechnetes Programm, das beweist,
wie Rußland eine wirkliche kommunistische Wirtschaftsbasis erreichen
kann." Aus dieser Formulierung wird eindeutig erkennbar, daß Lenin die
Schaffung der „kommunistischen Wirtschaftsbasis", den sozialistischen
Aufbau in der Sowjetunion nicht nur wollte, sondern auch für möglich hielt.
„Wir haben an der Kriegsfront erfolgreich gekämpft und gesiegt", fuhr
Lenin in der zitierten Rede fort, und er zog daraus die Schlußfolgerung, daß
der Sieg auch im Kampf um den sozialistischen Aufbau errungen werden kann.
Schließlich sagte Lenin in der gleichen Rede:
„Kommunismus ist: Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes. Sonst
bleibt das Land ein kleinbürgerliches Land, und es ist notwendig, daß wir
dessen bewußt werden. Wir sind schwächer als der Kapitalismus, nicht nur im
Weltmaßstabe, sondern auch innerhalb des Landes, das weiß Jedermann. Wir haben
das erkannt und wir werden es soweit bringen, daß die wirtschaftliche Basis
sich aus einer kleinbäuerlichen in eine große industrielle verwandelt. Erst
wenn das Land elektrifiziert sein wird, wenn die Industrie, die Landwirtschaft
und der Transport auf der technischen Basis der modernen Großindustrie beruhen
werden — erst dann wird unser Sieg ein endgültiger sein."
Lenins Parole, daß Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen
Landes sei, ist zum geflügelten Wort in der Sowjetunion geworden. In „Die
Vorbedingungen und die Bedeutung der neuen Politik Sowjetrußlands" sagte
Lenin am 21. April 1921:
„Ist die Verwirklichung eines unmittelbaren Übergangs von diesem in Rußland
vorherrschenden Zustand zum Sozialismus denkbar? Bis zu einem gewissen Grade
ja, aber nur unter einer Bedingung, die wir jetzt dank einer gewaltigen und
nunmehr abgeschlossen vorliegenden wissenschaftlichen Arbeit genau kennen.
Diese Vorbedingung ist die Elektrifizierung. Wenn wir Dutzende von
Überlandzentralen erbaut haben werden (wir wissen jetzt, wie und wo wir sie
bauen können und müssen), wenn wir elektrischen Strom nach allen Dörfern
leiten, wenn wir eine genügende Menge Elektromotoren und sonstige Maschinen
beschafft haben werden, wird es keiner Übergangsstufen, keiner
Verbindungsglieder vom patriarchalischen Verhältnis zum Sozialismus mehr
bedürfen. Wir wissen aber genau, daß diese eine Vorbedingung zum mindesten 10
Jahre zur Ausführung allein der Arbeiten erster Ordnung benötigt, und daß eine
Abkürzung dieser Frist wiederum nur denkbar ist im Falle eines Sieges der
proletarischen Revolution in solchen Ländern wie England, Deutschland und
Amerika."
Hier betont Lenin wiederum, daß der Übergang zum Sozialismus in der Sowjetunion
möglich ist, auch wenn die Revolution in anderen Ländern noch nicht gesiegt
hat, deren Sieg jedoch kann den Aufbau beschleunigen, kann die Zeit der
Aufbauperiode verkürzen. Noch vor der Oktoberrevolution hat Lenin die
wirtschaftliche Aufgabe der proletarischen Diktatur folgendermaßen
charakterisiert:
„Entweder zugrunde gehen oder die fortgeschrittenen Länder einholen und sie
auch wirtschaftlich überholen ... Untergehen oder mit Volldampf vorausstreben.
So ist die Frage von der Geschichte gestellt."
Vorwärtsstreben, den Untergang vermeiden, das heißt, die Umwandlung Rußlands
aus einem rückständigen zu einem hochentwickelten Lande zu vollziehen. Gelingt
das, so ist die erste entscheidende Voraussetzung für den sozialistischen
Aufbau in der Sowjetunion geschaffen. Trotzki äußert in der 1931 geschriebenen
Broschüre „Probleme der Entwicklung der USSR" die vollkommen
entgegengesetzte Meinung. Er schreibt dort (Seite 31):
„Der Sturz der Weltbourgeoisie im revolutionären Kampf ist eine viel realere
und unmittelbarere Aufgabe, als die Weltwirtschaft ,einzuholen und zu
überholen'." Den Sturz der Weltbourgeoisie im „revolutionären Kampfe“
herbeizuführen, das ist, abstrakt gefordert, eine leere Deklamation. Das von
Lenin empfohlene wirtschaftliche Einholen und Überholen der kapitalistischen
Länder — gegen das sich Trotzki ausspricht — bewahrt dagegen die Sowjetunion
vor dem Untergang und gibt ihr die materielle Kraft, tatsächlich „realer und
unmittelbarer" für den Sturz der Weltbourgeoisie zu wirken.
Als die zweite Schwierigkeit für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion
bezeichnete Lenin die Widersprüche zwischen Arbeitern und Bauern. Es gab
besonders auch in der Zeit des Kriegskommunismus Differenzen zwischen den
beiden Klassen, aber Lenin vertrat in jeder Situation die Auffassung, daß es
möglich sei, mit den im Innern des Landes vorhandenen Kräften auch die zweite
Schwierigkeit zu losen und eine „richtige Regelung der Beziehungen"
zwischen Arbeitern und Bauern zu erreichen. In der Broschüre „Über die
Naturalsteuer" (1921) und in den zur gleichen Zeit gehaltenen Reden zu
diesem Thema hat Lenin wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß eine längere Zeit
der richtigen Beziehungen der russischen Arbeiterklasse zur Bauernschaft den
Sieg im Weltmaßstabe sichern werde.
Am 20. November 1922 sagte Lenin in einer Rede in der Plenarsitzung des
Moskauer Sowjets:
„Der Sozialismus ist jetzt schon nicht mehr eine Frage der fernen Zukunft oder
irgend einer Abstraktion, oder eines Heiligenbildes. Von wegen der
Heiligenbilder sind wir bei der alten, sehr schlechten Meinung geblieben. Wir
haben den Sozialismus in das Alltagsleben hineingezogen, und hier müssen wir
uns zurechtfinden. Das ist die Aufgabe unseres Tages, das ist die Aufgabe
unserer Epoche. Gestattet mir, mit dem Ausdruck der Überzeugung zu schließen,
daß, so schwer die Aufgabe auch sein mag, so neu sie auch im Vergleich zu
unseren früheren Aufgaben ist und so viele Schwierigkeiten sie uns zu bereiten
vermag — wir alle zusammen, nicht morgen, aber in einigen Jahren, diese Aufgabe
lösen werden. Um jeden Preis, so daß aus dem Rußland der NEP ein
sozialistisches Rußland wird."
Auch in dieser Rede wieder bezeichnet Lenin den Aufbau des Sozialismus als die
Tagesaufgabe der Partei, die erfolgreich gelöst werden kann, wenn alle
vorhandenen Kräfte geschlossen für ihre Erfüllung eingesetzt werden. Am 16. und
17. Januar 1923 veröffentlichte Lenin in der „Prawda" zwei Artikel „Über
unsere Revolution" (anläßlich der Aufzeichnungen N. Suchanows), in denen
er sich eindeutig für die Notwendigkeit und die Möglichkeit des sozialistischen
Aufbaus in einem Lande ausspricht. In diesem Artikel schrieb Lenin: „...So ist
ihnen beispielsweise nicht einmal der Gedanke aufgedämmert, daß Rußland, an der
Grenze stehend der zivilisierten Länder und jener, die erstmalig durch diesen
Krieg endgültig in die Zivilisation einbezogen wurden, d.h. der Länder des
Ostens, der nichteuropäischen Länder, — daß Rußland also aus diesem Grunde
gewisse Eigenarten an den Tag legen konnte und mußte, die natürlich in der
allgemeinen Entwicklungslinie liegen, seine Revolution aber von sämtlichen
bisherigen Revolutionen in den westeuropäischen Ländern unterscheiden und beim
Übergang auf die Ostländer gewisse partielle Neuerungen mit sich bringen
müssen.
Unendlich schablonenhaft ist beispielsweise das von ihnen während der
Entwicklung der westeuropäischen Sozialdemokratie auswendig gelernte und darin
bestehende Argument, daß wir für den Sozialismus nicht reif seien, daß wir —
wie sich verschiedene „gelehrte“ Herren von ihnen ausdrücken — keine objektiven
ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus hätten. Und niemand fällt es
dabei ein, sich folgende Frage zu stellen: konnte nicht ein Volk, das eine
revolutionäre Situation vor sich sah, eine Situation, die sich im ersten
imperialistischen Krieg herangebildet hat, konnte es sich nichts unter dem
Einfluß der Ausweglosigkeit seiner Lage, in einen Kampf stürzen, der ihm zumindest
einige Chancen gab zur Eroberung von nicht ganz gewöhnlichen Bedingungen für
ein weiteres Wachstum der Zivilisation?
,Rußland hat jene Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte nicht erreicht, bei
der der Sozialismus möglich ist.' Mit dieser These treiben alle Helden der II.
Internationale, darunter natürlich auch Suchanow, wirklich und wahrhaftig einen
Kult wie mit einem Götzenbild. Diese unbestreitbare These kauen sie auf tausend
verschiedene Arten wieder und meinen, daß sie für die Einschätzung unserer
Revolution ausschlaggebend sei.
Nun und was dann, wenn die Eigenart der Situation Rußland erstens in den
imperialistischen Weltkrieg hineingestellt hat, in den alle einigermaßen
einflußreichen westeuropäischen Länder verwickelt waren, was dann, wenn seine
Entwicklung es an die Grenze der beginnenden und schon begonnenen Revolutionen
des Ostens in solche Bedingungen gestellt hat, wo wir eben jenes Bündnis des
,Bauernkrieges' und der Arbeiterbewegung verwirklichen konnten, über das ein
solcher ,Marxist' wie Marx im Jahre 1856 im Hinblick auf Preußen als über eine
mögliche Perspektive geschrieben hat?
Was dann, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage, die die Kräfte der
Arbeiter und Bauern verzehnfachte, uns die Möglichkeit eines andersgearteten
Übergangs zur Schaffung der grundlegenden Prämissen der Zivilisation eröffnet
hat, als in allen übrigen westeuropäischen Ländern? Ist dadurch die allgemeine
Entwicklungslinie der Weltgeschichte verändert worden? Sind dadurch die
grundlegenden Wechselbeziehungen der Hauptklassen in jedem Staate, der in den
allgemeinen Lauf der Weltgeschichte einbezogen wird und wurde, geändert
worden?...
...Zur Schaffung des Sozialismus bedarf es — sagen sie - der Zivilisation. Sehr
gut. Nun, warum konnten wir nicht zuerst solche Voraussetzungen der
Zivilisation bei uns schaffen, wie die Verjagung der Großgrundbesitzer und die
Verjagung der Kapitalisten Rußlands es ist, und dann erst die Bewegung zum
Sozialismus anfangen? In welchen Schmökern haben sie gelesen, daß derartige Änderungen
der üblichen historischen Reihenfolge unzulässig oder unmöglich seien? ...
Gegenwärtig unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß wir im wesentlichen den Sieg
davongetragen haben." Hatte das rückständige zaristische Rußland noch
nicht „jene Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte ... ereicht, bei der der
Sozialismus möglich ist", so ist das durchaus kein Beweis gegen den
sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. So wie das russische Proletariat im
Sinne der Lehre von Karl Marx die proletarische Revolution im nationalen Rahmen
vor allen anderen Ländern — in denen die Voraussetzungen dafür günstiger
schienen — erfolgreich durchgeführt hat, so kann es durch die Entfaltung der
Produktivkräfte das alte rückständige Rußland verändern und auf jene Höhe der
Entwicklung bringen, die den Sozialismus ermöglicht. Im selben Jahre (1923)
schrieb Lenin in der Broschüre „Über das Genossenschaftswesen"
(Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 437):
„In der Tat, alle großen Produktionsmittel im Besitze des Staates, die
Staatsmacht in den Händen des Proletariats, Bündnis dieses Proletariats mit den
vielen Millionen der Klein- und Zwergbauern, Sicherung der Führerstellung
dieses Proletariat gegenüber der Bauernschaft usw. — ist das denn nicht alles,
was man braucht, um aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als
krämerisch behandelt haben, und die wir in gewisser Hinsicht jetzt unter der
NEP genau so zu behandeln berechtigt sind — ist das nicht alles, was notwendig
ist, um eine vollständige sozialistische Gesellschaft aufzubauen? Das ist noch
nicht der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu
diesem Aufbau notwendig und hinreichend ist."
Das ist Lenins konkrete Erklärung für seine Theorie des Sozialismus in einem
Lande. In der Sowjetunion ist alles vorhanden, um den Wirtschaftsruin zu
überwinden, um das Land rückständiger Kleinbauern zu einem fortschrittlichen
Industrieland zu entwickeln, um die Gegensätze zwischen Bauern und
Arbeiterschaft zu überwinden. Es sind also alle Voraussetzungen für den Aufbau
des Sozialismus im Lande gegeben.
Die Theorie des Sozialismus in einem Lande ist also entgegen der Behauptung
Trotzkis von Lenin selbst begründet worden. Sie ergibt sich konsequent aus
Lenins revolutionärer Theorie, die im Sinne der Lehre von Marx für die
Durchführung der proletarischen Revolution im nationalen Rahmen eintrat, auch
wenn die Voraussetzung für die proletarische Revolution in den anderen Ländern
noch nicht gegeben war. Die Eroberung der politischen Macht durch das
Proletariat in einem Lande, das heißt nach Marx und Lenin: Kampf um die völlige
Vernichtung der kapitalistischen Klassenherrschaft, Kampf um die Schaffung
einer neuen „gesellschaftlichen Wirtschaft", Aufbau des Sozialismus.
Trotzki kann sich in dem entscheidenden Konflikt, der zum Bruch mit der
Bolschewistischen Partei geführt hat, keinesfalls auf Lenin berufen. Selbst in
den Lenin-Zitaten, die Trotzki zum Beweise dafür anführt, daß Lenin gegen die
Theorie des Sozialismus in einem Lande gewesen sein soll, kommt überall sehr eindeutig
zum Ausdruck, daß der Erfolg der sozialistischen Revolution in der Sowjetunion
der internationalen sozialistischen Revolution einen stärkeren Anstoß geben
werde. Das Beispiel, der tatsächliche Nachweis der Überlegenheit des
sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische, schafft nach Lenin
die bessere Möglichkeit zur Revolutionierung der Proletarier in der ganzen
Welt. Wenn dieses Beispiel wirken soll, muß der sozialistische Aufbau
durchgeführt, müssen die inneren Schwierigkeiten überwunden werden, die dem
sozialistischen Aufbau hemmend im Wege stehen.
Im Gegensatz zu Trotzki kann die Bolschewistische Partei — wie die
Stellungnahme Lenins in den verschiedenen Phasen beweist — sich bei ihrem Kampf
für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande mit vollem Recht auf Lenin
berufen. Der Leninismus ist genau wie der Marxismus eine Methode: Auf Grund
theoretischer Erkenntnisse die gesellschaftlichen Verhältnisse, die
Wirklichkeit analysieren und in der jeweiligen Situation das tun, was zur Erreichung
des sozialistischen Zieles vorwärts führt. Die reale Analyse der Wirklichkeit
aber ergab nach der Festigung der proletarischen Herrschaft in der Sowjetunion
auf der einen und nach dem Ausbleiben der Weltrevolution auf der anderen Seite
die unbedingte Notwendigkeit, das mit der Oktoberrevolution begonnene Werk
fortzuführen bis zum endgültigen Siege des Sozialismus. So hat Lenin gehandelt,
so hat nach seinem Tode die Bolschewistische Partei das Werk ihres Begründers
fortgeführt. Und ist Stalin, wie Trotzki behauptet, der Hauptschuldige an der
Theorie des Sozialismus in einem Lande, dann gebührt ihm das historische
Verdienst, die siegreiche russische Revolution im Geiste Lenins einen großen
Schritt vorwärts geführt zu haben. Durch den sozialistischen Aufbau ist die
Sowjetunion eine gewaltige Macht geworden. Ihr Vorhandensein erleichtert den
Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus.
Im steten
Gegensatz zu Lenin hat Trotzki seit 1905 konsequent seine Theorie von der
Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande vertreten, die er zwangsläufig aus
seiner permanenten Revolution entwickelte. Wegen der entscheidenden Bedeutung
des Kampfes um den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, und um jedem die
Möglichkeit zur objektiven Urteilsbildung zu geben, ist es zweckmäßig, Trotzkis
Standpunkt nicht nur zusammenfassend darzustellen, sondern ihm selbst zur
Begründung seiner Position ausführlicher das Wort zu geben. Anhand von
Äußerungen Trotzkis soll gezeigt werden, wie und mit welchen Argumenten er
seine Ablehnung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion begründet. Die
Grundlage für Trotzkis Theorie ist bereits in seiner unmittelbar nach der
Revolution 1905 erschienenen Broschüre „Unsere Revolution" enthalten. Dort
ist zu lesen:
„0hne direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats wird die
Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein, sich an der Macht zu halten und
ihre zeitweise Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur zu
verwandeln. Daran kann man auch nicht einen Augenblick zweifeln."
Dieser Auffassung ist Trotzki in allen seinen Schriften unerschütterlich treu
geblieben. Weiter vertrat Trotzki auf Grund seiner Theorie der permanenten
Revolution bekanntlich schon seit 1905 den Standpunkt, daß das Proletariat in
Rußland nach der Eroberung der politischen Macht „mit den breiten Massen des
Bauerntums, mit deren Hilfe es zur Macht gekommen ist", „feindlich
zusammenstoßen" müsse. Weil Trotzki die Gegnerschaft zwischen Arbeitern
und Bauern als eine unvermeidliche Tatsache betrachtete, kam er zu folgender
Schlußfolgerung:
„Die Widersprüche in der Stellung der Arbeiterregierung in einem rückständigen
Lande, mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können nur im
internationalen Maßstabe gelöst werden, in der Arena der proletarischen
Weltrevolution." (Vorwort zu „1905", Seite 6.) Trotzki verneine
besonders für das rückständige Rußland die Möglichkeit des sozialistischen
Aufbaus mit den im Lande vorhandenen, menschlichen, politischen und
Ökonomischen Kräften. Die Überwindung der vorhandenen Schwierigkeiten, das
heißt der sozialistische Aufbau könne auch in dem Lande, in dem die
proletarische Revolution gesiegt hat, erst nach dem Siege der Weltrevolution
gelingen. In konsequenter Fortführung dieser Theorie schreibt Trotzki in seiner
Broschüre „Programm des Friedens", die er kurz vor dem Oktober — im Juni
1917 - neu herausgab, daß ein revolutionäres Rußland sich gegenüber einem
konservativen Europa nicht behaupten könne, daß der Sieg kein wirklicher sei
und in ganz kurzer Zeit wieder verloren gehen müsse, wenn der russischen
Revolution nicht die Revolution in den anderen Ländern unmittelbar auf dem Fuße
folge. Schon damals hat Trotzki allen, die wie Lenin an die Erhaltung der
siegreichen Oktoberrevolution gegen alle Widerstände und an den sozialistischen
Aufbau auch dann glaubten, wenn die Weltrevolution zunächst noch ausbleibt,
„nationale Beschränktheit" und „Sozialpatriotismus" vorgeworfen. Die
gleichen Vorwürfe hat er dann später gegen Stalin erhoben. Den Versuch, den
Sozialismus in einem Lande allein aufzubauen, bezeichnet Trotzki als
unmarxistisch. Der Kampf für den Sozialismus in der Sowjetunion, der ohne
unmittelbare Verbindung mit dem Kampf der Arbeiter in den anderen Ländern
geführt werde, widerspreche der marxistischen Grundidee. Weil die
Weltwirtschaft — so argumentiert Trotzki — eine Einheit ist, so bleibe die
Sowjetunion wegen der internationalen Verflechtung immer in Abhängigkeit von
den kapitalistischen Ländern. Sie könne von diesen immer wieder in neue
wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht werden. Darum müssen alle die Kräfte,
die für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande nutzlos vertan werden, für
die Weltrevolution, für den Sieg der Revolution in allen Ländern eingesetzt
werden. Das allein schaffe die Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbau des
Sozialismus zugleich in allen Ländern, und damit auch in der Sowjetunion. Der
Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion allein aufzubauen, müsse notwendigerweise
zum Nationalsozialismus und zum Sozialpatriotismus führen, zu der Entartung der
proletarischen Diktatur, die ihren Zusammenbruch und den Sieg der
Konterrevolution vorbereitet.
Die Prophezeiung Trotzkis, daß die sozialistische Diktatur in Rußland ohne die
unverzügliche Hilfe der Weltrevolution nicht dauerhaft sein könne, hat die
Geschichte widerlegt. Seit zwei Jahrzehnten behauptet sich das revolutionäre
Rußland erfolgreich gegenüber dem konservativen Europa. Trotzki aber hält
unentwegt an seinem Standpunkt fest. Er versucht ihn immer wieder neu zu
begründen. Im Jahre 1922 z.B. schreibt Trotzki in einem Nachwort zu dem
„Programm des Friedens":
„Die im ,Programm des Friedens' sich mehrere Male wiederholende Behauptung, daß
die proletarische Revolution im nationalen Rahmen nicht siegreich zu Ende
geführt werden kann, wird manchem Leser vielleicht durch die fast fünfjährige
Erfahrung unserer Sowjetrepublik als widerlegt erscheinen. Eine derartige
Schlußfolgerung wäre aber unbegründet. Die Tatsache, daß der Arbeiterstaat sich
in einem einzelnen und überdies rückständigen Lande gegen die ganze Welt
behaupten konnte, zeugt von der kolossalen Macht des Proletariats, das in
anderen, fortgeschritteneren, zivilisierteren Ländern fähig sein wird, wahrhafte
Wunder zu vollbringen. Aber wenn wir uns politisch und militärisch als Staat
behauptet haben, so sind wir doch zur Aufrichtung einer sozialistischen
Gesellschaft noch nicht gekommen, ja nicht einmal an sie herangekommen ....
Solange in den europäischen Staaten die Bourgeoisie an der Macht sitzt, sind
wir gezwungen, im Kampf gegen die ökonomische Isolierung nach einer
Verständigung mit der kapitalistischen Welt zu suchen; gleichzeitig kann mit
Bestimmtheit gesagt werden, daß diese Verständigung uns bestens helfen kann,
die einen oder die anderen ökonomischen Wunden zu heilen, den einen oder den
anderen Schritt vorwärts zu machen, daß aber ein wirklicher Aufschwung der
sozialistischen Wirtschaft in Rußland nur nach dem Siege des Proletariats in
den wichtigsten Ländern Europas möglich sein wird." 1922 verneint Trotzki
kategorisch die Möglichkeit eines „wirklichen Aufschwungs der sozialistischen
Wirtschaft in Rußland" ohne vorherigen Sieg des Proletariats in den
wichtigsten europäischen Ländern. Fünfzehn Jahre später haben die Proletarier
in den wichtigsten europäischen Ländern zwar noch immer nicht die Macht
erobert, aber der gigantische Aufschwung der sozialistischen Wirtschaft in der
Sowjetunion ist so deutlich, daß er in der ganzen Welt anerkannt werden muß, Im
Jahre 1929, als die siegreiche Behauptung der proletarischen Revolution in der
Sowjetunion unverkennbar war, erschien in deutscher Sprache Trotzkis Buch über
„Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale". In
diesem Buche, in dem der Verfasser sich mit dem im Jahre 1928 vom VI.
Kominternkongreß angenommenen Programm der Kommunistischen Internationale
auseinandersetzt, wiederholt Trotzki seine alte These. Er nennt dieses Programm
das „Programm des Sozialismus in einem Lande" und die diesbezügliche
Theorie eine reaktionäre und utopische, Trotzki schreibt in diesem Buche auf
Seite 54 usf.:
„Die ungleichmäßige, sprunghafte Entwicklung des Kapitalismus bedingt zugleich
den ungleichmäßigen, sprunghaften Charakter der sozialistischen Revolution, die
überall zu verschiedenen Zeiten ausbricht. Die bis zur Höchstspannung
gestiegene gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Länder bedingt die
Unmöglichkeit, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen ....
Wir hatten seit Marx ständig wiederholt, daß der Kapitalismus unfähig ist, den
von ihm herausgeforderten neuen Geist der Technik zu bändigen. Dieser zerstört
nicht nur die reinen Rechtsgrenzen des bürgerlichen Eigentums, sondern, wie es
der Krieg von 1914 uns gezeigt hat, auch die nationalen Grenzen des
bürgerlichen Staates. Der Sozialismus soll nicht allein die vom Kapitalismus
entwickelten Produktivkräfte übernehmen, sondern diese auch sofort über die
kapitalistische Entwicklung weiter und höher hinaus- und hinaufführen. Wie soll
nun aber der Sozialismus die Produktionskräfte wieder in den Rahmen des
nationalen Staates zurückdrängen, welchen diese schon unter dem Kapitalismus
längst gesprengt hatten? Oder sollten wir etwa auf diese ungebändigten
Produktivkräfte verzichten, denen es in dem Rahmen des nationalen Staates, also
auch im Rahmen der Theorie des Sozialismus, in einem Lande zu eng ist, und uns
nur auf gezähmte, sozusagen Hausproduktionskräfte, also auf die Technik der
wirtschaftlichen Rückständigkeit beschränken? Dann müßten wir aber nicht
vorwärts gehen, sondern rückwärts. Selbst noch unter unser armseliges
gegenwärtiges technisches Niveau, welches bereits das bürgerliche Rußland mit
der Weltwirtschaft verbunden und zu dessen Beteiligung an dem imperialistischen
Kriege geführt hatte." Die Entwicklung der letzten Jahre hat auch diese
Voraussage Trotzkis widerlegt. Der Versuch, den Sozialismus in der Sowjetunion
aufzubauen, hat nicht hinter das frühere technische Niveau des bürgerlichen
Rußland zurückgeführt. Im Gegenteil, das technische Niveau der russischen
Wirtschaft ist unvergleichlich höher als unter dem Zarismus. Trotzki setzt sich
mit der Großzügigkeit eines Nichtmarxisten über eine „Kleinigkeit" hinweg:
daß die Produktivkräfte im Sozialismus ganz andere Funktionen haben als im kapitalistischen
Staat. Trotzki fährt (auf Seite 56 bis 61) fort:
„Wenn unter dem ,Sieg des Sozialismus' nur ein anderer Ausdruck der Diktatur
des Proletariats zu verstehen wäre, dann wäre das eine unbestreitbare richtige
Feststellung, die man nur hatte weniger zweideutig ausdrücken sollen. Doch die
Verfasser meinen anders. Unter dem Sieg des Sozialismus verstehen sie nicht die
Eroberung der Macht und die Verstaatlichung der Produktionsmittel, sondern den
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in einem Lande, Wenn man diese
Auslegung annehmen würde, so würden wir keine sozialistische Wirtschaft
bekommen, die auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung bestehen
würde, sondern eine Föderation von selbständigen sozialistischen Gemeinden im
Sinne des Anarchismus seligen Angedenkens, nur daß hier die Gemeinden zur Größe
der gegenwärtigen nationalen Staaten erweitert werden....
...Wenn man aber von der neuen Theorie Stalins, Bucharins, die sich in dem
Programmentwurf überall eingenistet hat, ausgehen würde, so würde man folgendes
Bild bekommen: Vor dem völligen internationalen Sieg des Proletariats wird in
einer ganzen Reihe von Ländern bereits der sozialistische Aufbau vollständig
durchgeführt. Und erst später wird aus diesen sozialistischen Ländern die
sozialistische Weltwirtschaft aufgebaut, ungefähr so, wie die Kinder aus
fertigen Bauklötzern Häuser zu bauen pflegen.
In Wirklichkeit wird sich die sozialistische Weltwirtschaft niemals aus einer
Summe von nationalen sozialistischen Wirtschaftssystemen zusammensetzen. Sie
kann nur in ihren Grundzügen auf dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung
entstehen, die bereits von der vorangehenden kapitalistischen Entwicklung
geschaffen wurde. Die Grundzüge der sozialistischen Weltwirtschaft werden im
Sturm und Gewitter der proletarischen Revolution gebaut und geschaffen werden,
und nicht nach einem ,vollständigen Aufbau des Sozialismus' in einer ganzen
Reihe einzelner Länder. Die wirtschaftlichen Erfolge der ersten Länder der
proletarischen Diktatur werden nicht nach dem Grade der Annäherung derselben an
einem ,selbständigen vollständigen Sozialismus' gemessen werden, sondern nach
dem Grade der politischen Festigkeit der Diktatur selbst und der erfolgreichen
Vorbereitung der Elemente der zukünftigen sozialistischen Weltwirtschaft.
.... In seinem Bestreben, die Theorie des Sozialismus in einem Lande
aufzunehmen, macht der Entwurf doppelte, dreifache und vierfache Fehler. Er
überschätzt das Niveau der Produktionskräfte der UdSSR. Er schließt die Augen
vor dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung der verschiedenen
Industriezweige. Er übersieht die internationale Arbeitsteilung. Und er
verneint endlich den in der imperialistischen Epoche herrschenden Widerspruch
zwischen Produktionskräften und staatlichen Grenzen." Im Gegensatz zu der
Darstellung Trotzkis vertrat Marx der Standpunkt, „das Proletariat eines jeden
Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden".
(„Kommunistisches Manifest".) Mit der Bourgeoisie fertig werden heißt an
Stelle der kapitalistischen Klassenherrschaft und Wirtschaf die sozialistische
Wirtschaft zu setzen. Und wenn das Proletariat mit seiner Bourgeoisie fertig
geworden ist, wenn in den einzelnen Ländern „der Gegensatz der Klassen im
Innern der Nation fällt", fällt „die feindliche Stellung der Nationen
gegeneinander" („Kommunistisches Manifest"). Das heißt, aus einer
Summe vor; nationalen sozialistischen Staaten ergibt sich erst der
sozialistische Welt-Staatenbund und damit der endgültige Sieg des Sozialismus.
Aber es ist ganz selbstverständlich, daß das „Fertig werden mit der
Bourgeoisie" in den einzelnen Ländern untereinander verbunden ist. Auch
darum braucht nach dem Siege des sozialistischen Aufbaus In der Sowjetunion
keiner der kommenden proletarischen Staaten mehr vom Standpunkt des Sozialismus
in einen Lande auszugehen.
Trotzki kann nicht völlig bestreiten, daß der Beweis der Überlegenheit des
sozialistischen Wirtschaftssystems über das kapitalistische — der nur nach
Einführung sozialistischer Wirtschaftsmethoden praktisch geführt zu werden
vermag — die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern fördern wird. Auf
Seite 64 der oben zitierten Schrift schreibt Trotzki:
„Doch die politische Gefahr der neuen Theorie besteht in der falschen
vergleichenden Wertung der beiden Hebel des internationalen Sozialismus: des
Hebels unserer wirtschaftlichen Errungenschaften und des Hebels der
internationalen proletarischen Revolution. Ohne eine siegreiche internationale
proletarische Revolution werden wir niemals den Sozialismus aufbauen können.
Das müssen die europäischen Arbeiter der ganzen Welt klar begreifen. Gewiß hat
der Hebel des wirtschaftlichen Aufbaus eine ungeheure Bedeutung. Bei einer
falschen Leitung desselben würde die Diktatur des Proletariats geschwächt
werden. Der Fall der Diktatur würde aber für die internationale Revolution
einen solchen Schlag bedeuten, von dem sie sich im Laufe einer langen Reihe von
Jahren nicht erholen würde. Allein die Entscheidung des grundsätzlichen
historischen Streites zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen
Welt hängt von dem zweiten Hebel ab, d.h. also von der internationalen
proletarischen Revolution. Die kolossale Bedeutung der Sowjetunion liegt darin,
daß sie den Stützpunkt der Weltrevolution bildet, ganz unabhängig davon, ob sie
imstande sein wird, den Sozialismus aufzubauen oder nicht." Aus diesen
Sätzen wird die fehlerhafte trotzkistische Konzeption deutlich erkennbar.
Trotzki meint, daß es vollkommen gleichgültig sei, ob die Sowjetunion den
Sozialismus aufbaue oder nicht, sie sei auf alle Fälle der Stützpunkt der
Weltrevolution. Das ist ein Trugschluß. Die Wirklichkeit beweist, daß es
durchaus nicht gleichgültig ist, ob in der Sowjetunion der Sozialismus
aufgebaut wird oder nicht. Die Sowjetunion wird nur dann Stützpunkt der
Weltrevolution sein, wenn sie lebensfähig ist und wenn sie den Arbeitern in der
ganzen Welt überzeugend klar machen kann, daß das sozialistische
Wirtschaftssystem dem kapitalistischen überlegen ist. Lebensfähig und kräftig
aber ist die Sowjetunion nur dadurch geworden, daß sie „nicht in Erwartung
erstarrte", sondern den sozialistischen Aufbau vollzog. Der zweite Hebel,
die internationale proletarische Revolution, kann viel wirksamer in Funktion
gesetzt werden, wenn der erste Hebel, der des wirtschaftlichen Aufbaus,
überzeugend funktioniert. Trotzki jedoch glaubt nicht daran, daß der Hebel der
inneren wirtschaftlichen Anstrengungen den Hebel des internationalen Kampfes
des Proletariats in Bewegung setzen kann. Er sagt vielmehr, daß die
Voraussetzung für den wirklichen sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion der
Sieg des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern ist. Auf Seite 67 in
„Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale"
schreibt Trotzki dann weiter:
„Damit der Arbeiter, Landarbeiter oder der arme Bauer, der im elften Jahre nach
der Revolution um sich herum nichts wie Armut, Arbeitslosigkeit, lange
Brotschlangen, Analphabetentum, verwahrloste Kinder, Trunkenheit und
Prostitution sieht, nicht die Hände sinken läßt, braucht man die harte Wahrheit
und keine aufgeputzte Lüge. Anstatt daß man ihm vorlügt, daß wir den
Sozialismus bereits zu neun Zehnteln verwirklicht haben, müßte man ihm sagen,
daß wir gegenwärtig nach unserem Wirtschaftsniveau und nach unseren Daseins-
und Kulturbedingungen noch viel näher zu einer kapitalistischen, dabei noch
rückständigen und unzivilisierten Gesellschaft stehen, als zu einer
sozialistischen Gesellschaft. Wir müssen ihnen sagen, daß wir nur dann auf den
Weg eines wirklichen sozialistischen Aufbaues gelangen werden, wenn das
Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern die Macht ergreifen wird, und daß
wir, ohne die Hände in den Schoß zu legen, unermüdlich daran arbeiten müssen.
Und zwar müssen wir dabei mit zwei Hebeln arbeiten: sowohl mit dem kurzen Hebel
unserer inneren wirtschaftlichen Anstrengungen, wie mit dem langen Hebel des
internationalen Kampfes des Proletariats." Im Jahre 1928 sieht Trotzki
nichts als Armut, Arbeitslosigkeit, Brotschlangen, Analphabetentum,
verwahrloste Kinder usw. Das ist ihm Beweis, daß der sozialistische Aufbau nur
nach der Machtergreifung des Proletariats in den fortgeschrittenen Ländern
erreicht werden kann. Im Jahre 1937 haben die Proletarier noch in keinem Lande
der Welt die Macht erobert. In der Sowjetunion aber sind Arbeitslosigkeit,
lange Brotschlangen, verwahrloste Kinder und noch manches andere, was Trotzki
1928 als Charakteristikum für die Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in
der Sowjetunion anführt, verschwunden. Heute argumentieren nur noch die nationalsozialistischen
Lügner mit dem Hunger und der Armut in der UdSSR. Alle objektiv urteilenden
Menschen in der ganzen Welt müssen die gewaltigen Fortschritte des Aufbaus in
diesem Lande anerkennen. Hätte die Sowjetunion trotz allen vorhandenen
Schwierigkeiten nicht den ernsthaften Versuch gemacht, auch ohne den vorherigen
Sieg der Weltrevolution den Sozialismus aufzubauen, dann könnte sie heute
bereits nicht mehr als Stützpunkt, d.h. als Hebel für die internationale
Revolution wirken. In der im Jahre 1931 in Berlin erschienenen Broschüre
„Probleme der Entwicklung der UdSSR", die in ihrem Untertitel als
„Plattform-Entwurf der internationalen Linksopposition zur russischen
Frage" bezeichnet wird, nennt Trotzki die Bolschewiki, die am
sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion arbeiten, Nationalsozialisten. In
dieser Broschüre schreibt er über die „Widersprüche der Übergangsperiode"
(Seite 6):
„Das kapitalistische Rußland bildete trotz seiner Rückständigkeit bereits einen
untrennbaren Teil der Weltwirtschaft. Diese Abhängigkeit des Teiles vom Ganzen
erbte die Sowjetrepublik von der Vergangenheit zusammen mit der geographischen,
demographischen und ökonomischen Struktur des Landes. Die in den Jahren 1924
bis 1927 entstandene Theorie des selbstgenügsamen Nationalsozialismus
widerspiegelte das erste, sehr niedrige Stadium der Wiederbelebung der
Wirtschaft nach dem Kriege, als deren Weltbedürfnis noch keine Zeit gefunden
hatte, zu erwachen. Der gegenwärtige angespannte Kampf um die Erweiterung des
Sowjet-Exportes stellt eine anschauliche Widerlegung der Illusionen des
Nationalsozialismus dar. Die Zahlen des Außenhandels werden immer mehr zu
Kommandozahlen in Bezug auf Pläne und Tempo des sozialistischen Aufbaus. Indes
beginnt das Problem des Außenhandels, oder anders gesagt, das Problem der
Wechselbeziehungen zwischen Übergangs-Sowjet-Wirtschaft und Weltmarkt erst
seine entscheidende Bedeutung zu offenbaren.
Akademisch läßt sich selbstverständlich innerhalb der Grenzen der UdSSR eine
abgeschlossene und innerlich ausgeglichene sozialistische Wirtschaft
konstruieren-, jedoch der lange historische Weg zu diesem „nationalen"
Ideal würde über gigantische ökonomische Verschiebungen, soziale
Erschütterungen und Krisen führen. Allein schon die Verdoppelung des heutigen
Ernteertrages, d.h. seine Annäherung an den europäischen, würde die
Sowjet-Wirtschaft vor die grandiose Aufgabe der Realisierung eines
landwirtschaftlichen Überflusses von Aberzehnmillionen Tonnen stellen. Mit
diesem, wie mit dem nicht weniger akuten Problem der zunehmenden Bevölkerung
auf dem Lande fertig werden könnte man nur durch radikale Neueinteilung der
gigantischen Menschenmassen auf verschiedene Wirtschaftszweige, und durch
völlige Liquidierung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Aber diese
Aufgabe — eine der grundlegenden Aufgaben des Sozialismus — würde ihrerseits
eine Ausnützung des Weltmarktes in bisher ungeahntem Ausmaße erfordern."
1928 klagt Trotzki über die langen Brotschlangen, die ein Beweis für den
Nahrungsmittelmangel und das Mißlingen des sozialistischen Aufbaus sind. 1931
fürchtet er die Verdoppelung des Ernteertrages der Sowjetwirtschaft, die
Unmöglichkeit, den landwirtschaftlichen Überfluß von Aberzehnmillionen Tonnen
zu realisieren. Trotzki fährt in der vorgenannten Broschüre fort (S. 7):
„Letzten Endes führen somit alle Widersprüche der Entwicklung der UdSSR auf den
Widerspruch zwischen dem isolierten Arbeiterstaat und seiner kapitalistischen
Umkreisung zurück. Die Unmöglichkeit des Aufbaus einer selbstgenügsamen
sozialistischen Wirtschaft in einem Lande erzeugt die grundlegenden
Widersprüche des sozialistischen Aufbaus in jedem neuen Stadium in immer
größerem Maßstabe und immer bedeutenderer Tiefe. In diesem Sinne müßte die
Diktatur des Proletariats in der UdSSR unvermeidlich zusammenbrechen, wäre das
kapitalistische Regime in der ganzen Welt fähig, sich noch eine lange
historische Epoche zu halten. Eine solche Perspektive jedoch für unvermeidlich
oder auch nur für die Wahrscheinlichkeit halten können nur jene, die an die
Unerschütterlichkeit des Kapitalismus oder an seine Langlebigkeit glauben. Die
linke Opposition hat mit einem solchen kapitalistischen Optimismus nichts
gemein. Aber ebensowenig kann sie sich mit der Theorie des Nationalsozialismus
abfinden, die ein Ausdruck der Kapitulation vor dem kapitalistischen Optimismus
ist." Auch hier begegnen wir der immer wiederkehrenden Prophezeiung
Trozkis, daß die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion unvermeidlich
zusammenbrechen muß, wenn das kapitalistische Regime in der anderen Welt sich
noch lange hält. Die Dauer der Lebensfähigkeit des kapitalistischen Regimes in
der übrigen Welt jedoch wird nicht unwesentlich davon abhängen, ob durch das
Gelingen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion den Arbeitern in den
anderen Ländern Rüstzeug zur Überwindung des Kapitalismus gegeben wird.
In der im Jahre 1932 in deutscher Sprache erschienenen „Oktoberrevolution"
hat Trotzki in einem Anhang noch einmal ausführlich zusammenfassend seine
Stellung zu dem Problem „Sozialismus in einem Lande" dargelegt. Er
schreibt dort (Seite 676/706 usf.) unter anderem:
„Die Schaffung einer nationalen sozialistischen Gesellschaft, wäre ein solches
Ziel überhaupt zu verwirklichen, wurde die äußerste Herabminderung der
ökonomischen Macht des Menschen bedeuten; und gerade deshalb ist sie
undurchführbar ... In Wirklichkeit bleibt das Wachsen der heutigen
Sowjetwirtschaft ein antagonistischer Prozeß. Indem sie den Arbeiterstaat
festigen, führen die ökonomischen Erfolge keinesfalls automatisch zur Schaffung
einer harmonischen Gesellschaft. Im Gegenteil, sie bereiten auf einer höheren
Grundlage die Zuspitzung der Widersprüche des isolierten sozialistischen
Aufbaus vor. Das russische Dorf bedarf nach wie vor eines wirtschaftlichen
Gesamtplanes mit der europäischen Stadt. Die internationale Arbeitsteilung
steht über der Diktatur des Proletariats in einem Lande und schreibt ihr
gebieterisch die weiteren Wege vor ... Der heutige Stand der Wirtschaft erlaubt
es, ohne Bedenken zu sagen: Der Kapitalismus ist viel näher an die
proletarische Revolution herangegangen, als die Sowjetunion an den
Sozialismus...“ Die ökonomischen Erfolge des sozialistischen Aufbaus bestreitet
Trotzki in der im November 1932 in Berlin herausgekommenen Broschüre
„Sowjetwirtschaft in Gefahr". Dort schreibt er (Seite 22 usf.):
„Wenn das durch den ersten Fünfjahrplan beabsichtigte allgemeine
wirtschaftliche Niveau anstatt in vier Jahren in sechs oder sieben erreicht
worden wäre; wenn der Plan auch nur zu 50% verwirklicht worden wäre, so würde
das an und für sich noch keinen Anlaß zur Sorge geben. Die Gefahr liegt nicht
in der Verlangsamung des Wachstums, sondern in dem zunehmenden Mißverhältnis
der verschiedenen Gebiete der Wirtschaft. Auch wenn a priori alle Bestandteile
des Planes in volle Übereinstimmung gebracht worden wären, würde die
Herabsetzung des die durchschnittliche Zunahme ausdrückenden Koeffizienten um
50% an sich große Schwierigkeiten zur Folge haben: an Stelle von zwei Millionen
Paar Schuhe nur eine Million herzustellen, ist eines; eine Schuhfabrik nur zur
Hälfte fertig bauen, das ist ein anderes. Aber die Wirklichkeit ist bei weitem
verwickelter und widerspruchsvoller als unser angenommenes Beispiel. Die
Disproportionen stammen noch aus der Vergangenheit. Die Programme des Plans
enthalten unvermeidliche Mängel und Rechenfehler. Die Nichterfüllung des Plans
vollzieht sich unter dem Einfluß der in jedem einzelnen Falle vorliegenden
besonderen Ursachen nicht gleichmäßig. Eine durchschnittliche Zunahme der
Wirtschaft um 50% kann bedeuten, daß im Gebiet von A der Plan zu 90% erfüllt
ist, im Gebiet von B aber nur zu 10%; wenn A von B abhängig ist, so kann im
folgenden Produktionszyklus das Gebiet von A auf unter 10% herabsinken.
Nicht darin liegt folglich das Unglück, daß sich die Unausführbarkeit des
abenteuerhaften Tempos herausgestellt hat. Das Übel liegt darin, daß die
Rekordrennen der Industrialisierung die verschiedenen Elemente des Planes in
gefährliche Widersprüche zueinander gebracht haben: Das Übel liegt darin, daß
die sozialen und politischen Instrumente zur Bestimmung des Nutzeffektes des
Plans zerschlagen oder verstümmelt sind. Das Übel liegt darin, daß die keiner
Kontrolle unterworfene Bürokratie ihr Ansehen mit der Anhäufung weiterer Fehler
verbunden hat. Das Übel liegt darin, daß sich eine Krise mit einer Reihe
solcher Folgen, wie die notgedrungene Schließung von Betrieben und die
Arbeitslosigkeit, vorbereitet...
...Krisen sind bei uns nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Die kommende
Krise hat die Bürokratie schon vorbereitet."
Die hier erneut angekündigte Wirtschaftskrise ist ausgeblieben, ebenso die
Schließung von Betrieben und die prophezeite Arbeitslosigkeit. Die
Sowjetwirtschaft ist frei von Krisen und Arbeitslosigkeit geblieben, die
vermehrte Produktion hat nicht wie im kapitalistischen Wirtschaftssystem zur
Stillegung der Betriebe geführt, sondern zur Vermehrung des Wohlstandes für das
ganze Volk. Trotzki aber behauptet unentwegt in allen seinen Publikationen bis
in die Gegenwart, daß der sozialistische Aufbau in einem Lande nicht möglich
sei. Er hat seine Angriffe im Laufe der Zeit noch verschärft. Er behauptet, daß
die Erfolge des Aufbaus in der Sowjetunion zu immer schlimmeren Entartungen
führen, die die proletarische Diktatur untergraben und den Sieg der
Konterrevolution ermöglichen. Und da Trotzki proklamiert, daß der Sieg der
Konterrevolution nur durch den Sturz Stalins verhindert werden könne, predigt
er den Putsch gegen die in der Sowjetunion herrschende Partei Lenins.
In konsequenter Fortführung der leninistischen Theorie vertrat die
Bolschewistische Partei im Gegensatz zu Trotzki die Meinung, daß die Eroberung
der politischen Macht überhaupt nur Sinn habe, wenn sie für den Aufbau des
Sozialismus in der Sowjetunion eingesetzt werde. In dem Kampf, der um die
Durchführung der leninistischen Theorie des Sozialismus in einem Lande zwischen
Trotzki und der Bolschewistischen Partei entbrannte, war Stalin als
Repräsentant der Partei ihr Wortführer.
Was sollte die russische Revolution nach dem Ausbleiben der Weltrevolution tun?
Sollte sie auf der Stelle treten, sollte sie passiv warten, bis die Situation
für die proletarische Revolution im Westen reif geworden war? Als Konsequenz
aus der Theorie Trotzkis ergab sich das Verlangen nach abwartender Passivität,
die zum Untergang der russischen Revolution und zur Rückentwicklung der
Sowjetunion in einen kapitalistischen Staat geführt hätte. Im Sinne der
leninschen Theorie entschied sich die Bolschewistische Partei für den aktiven
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft, durch dessen Gelingen allein der
Rückmarsch zu einem bürgerlichen Staat verhindert werden konnte. In den
Äußerungen zu den Aufzeichnungen N. Suchanows („Prawda" vom 16. und 17.
Januar 1923) setzte sich Lenin mit den Marxisten auseinander, die nicht
begreifen wollten, daß es durchaus im Sinne der Marxschen Lehre war, die
proletarische Revolution in einem Lande auch dann zu beginnen, wenn nicht
gleichzeitig in anderen Ländern die Revolution durchgeführt werden kann.
„Sie alle nennen sich Marxisten" - schrieb Lenin zu den Aufzeichnungen
Suchanows (Ausgewählte Werke, Band VI, Seite 521) — „doch fassen die den
Marxismus bis zur Unmöglichkeit pedantisch auf. Das Entscheidende am Marxismus,
nämlich seine revolutionäre Dialektik, haben sie ganz und gar nicht begriffen.
Sogar Marx direkte Hinweise darauf, daß in den Augenblicken der Revolution
maximale Elastizität erforderlich sei, haben sie absolut nicht
verstanden..." Für die Durchführung der Revolutionen gibt es kein Schema.
Die „maximale Elastizität", die in Zeiten der Revolution nötig ist,
gebietet unterschiedliche Entscheidungen und nicht immer gleichartige Maßnahmen
für die Erringung des Sieges. In „Die Grundlagen des Leninismus" schreibt
Stalin („Probleme des Leninismus", Seite 97):
„Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem einzelnen Lande für
unmöglich, da man annahm, daß zum Siege über die Bourgeoisie ein gemeinsames
Auftreten der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der
Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Heute entspricht dieser Standpunkt
nicht mehr der Wirklichkeit. Heute muß man von der Möglichkeit eines solchen
Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der
Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen
des Imperialismus, die unausbleiblich zu Kriegen führen, das Anwachsen der
revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt — all das führt nicht nur zur
Möglichkeit, sondern auch zur Notwendigkeit des Sieges des Proletariats in den
einzelnen Ländern."
In voller Übereinstimmung mit Lenin hält Stalin den Sieg der proletarischen
Revolution in einem Lande durchaus für möglich. Er wendet sich gegen die im
reformistischen Lager weit verbreitete Auffassung, daß die proletarische
Revolution auch in den fortgeschrittenen Ländern erst siegen könne, wenn die
Voraussetzung für die revolutionäre Entwicklung in allen Ländern gleichmäßig
gegeben sei. Aus der Erkenntnis aber, daß mit der Durchführung der Revolution
in dem dafür reifen Lande nicht gewartet werden kann, bis es in allen Ländern
so weit ist, ergibt sich konsequent die Notwendigkeit, in dem Lande der
siegreichen proletarischen Revolution unverzüglich mit dem Aufbau des
Sozialismus zu beginnen. Denn der Sieg des Sozialismus in einem Lande ist die
wirkungsvollste Waffe im Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus in der
Welt.
Die bolschewistische Theorie des Sozialismus in einem Lande ist
von den Trotzkisten sehr oft entstellt worden. Um gegen den „Stalinismus"
polemisieren zu können, unterschob man Stalin, er wolle — losgelöst von dem
revolutionären Kampf der Arbeiter in den anderen Ländern — nur durch den sozialistischen
Aufbau in der Sowjetunion den endgültigen Sieg des Sozialismus erreichen.
Stalin dagegen unterschied immer sehr klar zwischen dem Siege des
sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion und dem endgültigen Siege des
Sozialismus. Der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion kann mit den im Lande
vorhandenen Kräften erreicht werden, aber dieser Sieg ist kein endgültiger,
solange noch kapitalistische Staaten existieren und die sozialistische
Sowjetunion bedrohen. Stalin wendet sich scharf gegen diejenigen, die den mit
Hilfe der proletarischen Revolution in den anderen Ländern zu erreichenden
endgültigen Sieg des Sozialismus mit dem Siege des sozialistischen Aufbaus in
der Sowjetunion verwechseln. Eine Konsequenz der klaren Unterscheidung zwischen
dem Siege des Sozialismus in der Sowjetunion und zwischen dem endgültigen Siege
des Sozialismus ist die Außenpolitik der Sowjetunion, deren Tendenzen besonders
nach dem Siege des Faschismus in Deutschland deutlicher erkennbar geworden
sind.
Den Standpunkt der Bolschewistischen Partei hat Stalin in „Zu den Fragen des
Leninismus" (siehe „Probleme des Leninismus", Seite 45) dargelegt:
„Worin besteht der Mangel dieser Formulierung? Ihr Mangel besteht darin, daß
sie zwei verschiedene Fragen in eine Frage zusammenzieht: die Frage der
Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus mit den eigenen Kräften eines einzelnen
Landes — worauf eine bejahende Antwort gegeben werden muß; und die Frage, ob
sich ein Land, in dem die Diktatur des Proletariats aufgerichtet ist, für
vollständig gesichert gegen eine Intervention und folglich für gesichert gegen
eine Restaurierung der alten Ordnung betrachten darf, ohne daß in einer Reihe
anderer Länder eine siegreiche Revolution stattfände — worauf eine verneinende
Antwort gegeben werden muß. Ich spreche schon garnicht davon, daß diese
Formulierung zu dem Gedanken führen kann, daß die Organisierung der
sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften eines einzelnen Landes unmöglich
sei, was natürlich unrichtig ist.
Aus diesem Grunde änderte ich, verbesserte ich diese Formulierung in meiner
Broschüre „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen
Kommunisten" (Dezember 1924), indem ich diese Frage in zwei zerlegte: in
die Frage der vollständigen Garantie gegen eine Restaurierung der bürgerlichen
Ordnung und in die Frage der Möglichkeit des Aufbaus der vollständigen
sozialistischen Gesellschaft in einem einzelnen Lande. Das wurde erreicht,
erstens, indem ich ,den vollen Sieg des Sozialismus' als ,die volle Garantie
gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung' auslegte, was nur durch die
gemeinsame Anstrengung der Proletarier einiger Länder erreicht werden kann, und
zweitens, indem ich auf Grund der Broschüre Lenins ,Über das
Genossenschaftswesen' die unbestreitbare Wahrheit aussprach, daß wir alles Notwendige
zum Aufbau der vollständigen sozialistischen Gesellschaft besitzen."
Diese Feststellung ist der Ausgangspunkt für das Handeln der Bolschewistischen
Partei. Ist in Rußland alles Notwendige für den sozialistischen Aufbau
vorhanden, so kann nach der Eroberung und Festigung der politischen Macht der
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft erfolgreich in Angriff genommen werden
— auch wenn die proletarische Revolution in den anderen Ländern noch nicht
gesiegt hat. Allerdings besteht dann noch immer die Gefahr der Zerschlagung der
sozialistischen Erfolge durch einen Interventionskrieg kapitalistischer Länder.
Der entgültige, garantierte, nicht mehr über den Haufen zu werfende Sieg des
Sozialismus ist erst erreicht, - wenn zumindest in einigen Ländern die
Arbeiterklasse gesiegt hat, wenn durch den Sieg der Weltrevolution die
Interventionsgefahr vollständig beseitigt ist. Um aber die für den endgültigen
Sieg des Sozialismus notwendige siegreiche proletarische Revolution in den
anderen Ländern zu fördern, müssen — so argumentiert Stalin — die in der
Sowjetunion für den sozialistischen Aufbau gegebenen Voraussetzungen ausgenutzt
werden. Das internationale Proletariat braucht die Unterstützung der
Sowjetunion, diese wiederum braucht nicht minder die Unterstützung der
Weltarbeiterklasse. Über die Notwendigkeit der Unterstützung der Sowjetunion
durch das internationale Proletariat schrieb Stalin im Vorwort zu „Auf dem Wege
zum Oktober" (Seite 16/17):
„Keine Frage, um den vollständigen Sieg des Sozialismus zu erreichen, um eine
vollständige Garantie vor der Wiederherstellung der alten Ordnung zu haben,
sind gemeinsame Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder notwendig. Keine
Frage, daß ohne Unterstützung unserer Revolution durch das europäische
Proletariat das Proletariat Rußlands sich gegen den allgemeinen Ansturm nicht
hätte halten können, ebenso wie ohne Unterstützung der revolutionären Bewegung
des Westens durch die russische Revolution diese Bewegung sich nicht in dem
Tempo hätte entwickeln können, wie sie nach der proletarischen Diktatur in
Rußland sich zu entwickeln begann. Keine Frage, daß wir Unterstützung brauchen.
Aber was bedeutet Unterstützung unserer Revolution durch das westeuropäische
Proletariat? Die Sympathie der europäischen Arbeiter für unsere Revolution,
ihre Bereitschaft, die Interventionspläne der Imperialisten zu vereiteln, — ist
das alles eine Unterstützung, eine ernste Hilfe? Unbedingt ja. Ohne eine solche
Unterstützung, ohne solche Hilfe nicht allein von Seiten der europäischen
Arbeiter, sondern auch von Seiten der kolonialen und abhängigen Länder wäre es
der proletarischen Diktatur in Rußland recht schwer geworden. Reichte bisher
diese Sympathie und diese Hilfe, im Verein mit der Kraft unserer Roten Armee
und der Bereitschaft der Arbeiter und Bauern Rußlands, das sozialistische
Vaterland tapfer zu verteidigen, aus — reichte das alles aus, um die Angriffe
der Imperialisten abzuschlagen und die Voraussetzung für eine ernsthafte
Aufbauarbeit zu erkämpfen? Ja, es reichte aus. Nimmt diese Sympathie zu oder
nimmt sie ab? Sie nimmt unbedingt zu. Sind nun bei uns günstige Bedingungen
vorhanden nicht nur, um das Werk der Organisierung der sozialistischen
Wirtschaft vorwärts zu bringen, sondern auch dazu, daß wir unsererseits sowohl
den westeuropäischen Arbeitern, als auch den unterdrückten Völkern des Ostens
helfen können? Ja, sie sind vorhanden. Davon spricht in beredter Weise die
siebenjährige Geschichte der proletarischen Diktatur in Rußland. Kann man das
leugnen, daß bei uns ein mächtiger Arbeitsaufschwung bereits begonnen hat?
Nein, das kann nicht geleugnet werden." Hier spricht Stalin deutlich aus,
wie wichtig die Unterstützung der Arbeiter in den anderen Ländern für den Kampf
um den Sozialismus ist. Aber Stalin widerspricht der These Trotzkis, daß „ohne
direkte staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats die
Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein wird, sich an der Macht zu
halten". Die Unterstützung durch die Arbeiter in den anderen Ländern kann
wirksam werden, auch wenn diese noch nicht die staatliche Macht in ihrem Lande
erobert haben. In der Broschüre „Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV.
Parteikonferenz" (Mai 1925) schreibt Stalin über die zwei
verschiedenartigen Aufgaben, die für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande
und für den endgültigen Sieg des Sozialismus zu erfüllen sind („Probleme des
Leninismus", Seite 46):
„Auf unser Land wirken zwei Gruppen von Widersprüchen. Die eine Gruppe — das
sind die inneren Widersprüche, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft
bestehen (hier ist die Rede von dem Aufbau des Sozialismus in einem einzelnen
Lande). Die andere Gruppe — das sind die äußeren Widersprüche, die zwischen
unserem Lande, als dem Lande des Sozialismus, und den übrigen Ländern, als den
Ländern des Kapitalismus, vorhanden sind (hier ist die Rede von dem endgültigen
Sieg des Sozialismus) .... Wer die erste Gruppe der Widersprüche, die mit den
Kräften eines einzelnen Landes vollständig überwunden werden können, mit der
zweiten Gruppe von Widersprüchen verwechselt, die zu ihrer Lösung die
Anstrengung der Proletarier mehrerer Länder erfordern — der begeht den gröbsten
Irrtum gegen den Leninismus, der ist entweder ein Wirrkopf oder ein
unverbesserlicher Opportunist."
In der „Prawda" vom 12. November 1926 schreibt Stalin zu der Auffassung
Trotzkis, daß auch die Gruppe der inneren Widersprüche nur durch die
Weltrevolution gelöst werden könne:
„Die Meinungsverschiedenheit besteht hier darin, daß die Partei es für möglich
hält, diese inneren Widersprüche und möglichen Konflikte voll und ganz aus der
eigenen Kraft unserer Revolution heraus zu überwinden, während der Genösse
Trotzki und die Opposition meinen, daß diese Widersprüche und Konflikte nur ,im
internationalen Maßstabe, in der Arena der internationalen proletarischen
Revolution' gelöst werden können."
Trotzki bestätigt in seinem Buche „Die internationale Revolution und die
Kommunistische Internationale", daß die Meinungsverschiedenheit gerade in
diesem Punkte bestehe. Er schreibt dort:
„Besser und genauer könnte man den Widerspruch zwischen dem Nationalreformismus
und dem revolutionären Internationalismus gar nicht aufzeichnen. Wenn man
diese, unsere inneren Schwierigkeiten, Widerstände und Widersprüche, die im
Grunde den Spiegel der internationalen Widersprüche bilden, mit den ,eigenen
Kräften unserer Revolution allein' lösen kann, ohne ,daß man in die Arena der
internationalen Revolution steigt', so ist also die Internationale zum Teil
lediglich eine Hilfsorganisation und zum Teil eine Prunkorganisation, deren Kongresse
sich alle vier oder zehn Jahre oder überhaupt nicht zu versammeln
brauchen." Die Entwicklung in den letzten zehn Jahren beweist, daß die
Gruppe der inneren Widersprüche mit den Kräften in der Sowjetunion selbst
gelöst werden können, sie beweist vor allem, daß es möglich ist, die Gegensätze
zwischen Arbeitern und Bauern aus der eigenen Kraft der russischen Revolution
ohne die „europäische Stadt" zu überwinden. Die äußeren Widersprüche
werden um so schneller und erfolgreicher beseitigt, je energischer in der
Sowjetunion alle Kräfte für die im Lande selbst zu lösenden Widersprüche
mobilisiert werden. In dem Briefe an einen zweifelnden Genossen (im Januar
1925) begründet Stalin besonders eindringlich die Notwendigkeit des
sozialistischen Aufbaus in der UdSSR („Probleme des Leninismus", Seite
224):
„Es handelt sich nicht um den vollständigen Sieg, sondern um den Sieg
überhaupt, das heißt darum, die Gutsbesitzer und Kapitalisten zu verjagen, die
Macht zu ergreifen, die Attacken des Imperialismus zurückzuschlagen und mit dem
Aufbau der sozialistischen Wirtschaft zu beginnen. All dies kann dem
Proletariat in einem einzelnen Lande vollständig gelingen, seine absolute
Garantie gegen die Restauration kann jedoch nur das ,Ergebnis gemeinsamer
Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder' sein. Es wäre dumm, in Rußland
eine Revolution zu beginnen in der Überzeugung, daß das siegreiche Proletariat
Rußlands bei offener Sympathie seitens der Proletarier der anderen Länder, aber
ohne den Sieg in mehreren Ländern ,einem konservativen Europa gegenüber nicht
standhalten könnte'. Das ist kein Marxismus, sondern der flachste
Opportunismus. Wäre eine solche Theorie richtig, dann hätte Lenin unrecht, wenn
er behauptet, daß wir das Rußland der NEP in ein sozialistisches Rußland
verwandeln werden, daß wir ,alles, was zum Aufbau der vollständigen
sozialistischen Gesellschaft notwendig ist' haben ....
.... Das Gefährlichste in unserer politischen Praxis wäre, wenn wir das
siegreiche proletarische Land als etwas Passives betrachten wollten, das bis
zum Erscheinen der Hilfe seitens der siegreichen Proletarier der anderen Länder
auf der Stelle treten muß. Angenommen, daß in fünf bis zehn Jahren die
Revolution im Westen noch nicht gesiegt haben wird; angenommen, daß unsere
Republik während dieser Periode dennoch fortbesteht als eine Republik, die
unter den Verhältnissen der Neuen ökonomischen Politik an der sozialistischen
Wirtschaft baut; glauben Sie denn, daß sich unser Land während dieser fünf bis
zehn Jahre mit Wassertreten und nicht mit der Organisation der sozialistischen
Wirtschaft beschäftigen wird? Es genügt, diese Frage zu stellen, um die ganze
Gefährlichkeit der Theorie der Leugnung des Sieges des Sozialismus in einem
einzelnen Lande zu begreifen.“
Aus all diesen Meinungsäußerungen Stalins geht hervor, daß die Bolschewistische
Partei sehr eindeutig zwischen dem Siege des sozialistischen Aufbaus in der
Sowjetunion und dem endgültigen Siege des Sozialismus unterscheidet, und daß
sie den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion bejaht, weil sie für möglich
hält, die Gruppe der Inneren Widersprüche mit den im Lande vorhandenen Kräften
zu lösen. Sie läßt aber keinen Zweifel, daß die Überwindung der zweiten, der
Gruppe der äußeren Widersprüche, die zwischen der Sowjetunion, als dem Lande
des Sozialismus, und allen übrigen Ländern, als den Ländern des Kapitalismus,
bestehen, dagegen nur mit Unterstützung der Proletarier in den anderen Ländern
möglich ist. Stalin beantwortet die Frage, worin diese Widersprüche der zweiten
Gruppe bestehen, in der Broschüre „Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der
KPR" („Probleme des Leninismus", Seite 222/223):
„Sie bestehen darin, daß, solange es eine kapitalistische Umgebung gibt, auch
die Gefahr der Intervention seitens der kapitalistischen Länder vorhanden ist,
und daß, solange eine solche Gefahr besteht, auch die Gefahr der Restauration,
die Gefahr der Wiederherstellung der alten Ordnung, besteht.
Können diese Widersprüche für ein einzelnes Land als überwunden gelten? Nein,
das ist nicht möglich, da die Anstrengungen eines einzelnen Landes, selbst wenn
dieses Land das Land der Diktatur des Proletariats ist, nicht hinreichen, um es
gegen die Gefahr einer Intervention zu sichern. Eine vollkommene Garantie gegen
die Intervention und folglich auch der endgültige Sieg des Sozialismus ist
infolgedessen nur im internationalen Maßstabe, nur als Ergebnis der gemeinsamen
Anstrengungen der Proletarier in einer Reihe von Ländern, oder noch richtiger
gesagt, nur als Ergebnis des Sieges der Proletarier einiger Länder möglich. Was
bedeutet endgültiger Sieg des Sozialismus? Der endgültige Sieg des Sozialismus
ist die volle Garantie gegen die Interventionsversuche und folglich auch gegen
die Restauration; denn irgendein ernstzunehmender Versuch der Restauration kann
nur mit ernster Unterstützung von außen, nur mit Unterstützung des
internationalen Kapitals stattfinden. Infolgedessen ist die Unterstützung
unserer Revolution durch die Arbeiter zumindest in einigen Ländern die
unerläßliche Vorbedingung für die volle Sicherung des ersten siegreichen Landes
gegen die Interventionsversuche und die Restauration, die unerläßliche
Vorbedingung des endgültigen Sieges des Sozialismus."
Stalin widerlegt mit dieser Äußerung auch den ihm oft gemachten Vorwurf, durch
die Theorie des Sozialismus in einem Lande die Weltrevolution preisgegeben zu
haben. In dem Vorwort zu dem Buche „Auf dem Wege zum Oktober" (1926)
schreibt Stalin über die „Oktoberrevolution als Beginn und Voraussetzung der
Weltrevolution" (Seite 33/37):
„Es ist unzweifelhaft, daß die universelle Theorie von dem gleichzeitigen Siege
der Revolution in den ausschlaggebenden Ländern Europas, die Theorie der
Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem einzelnen Lande, sich als
künstlich geschaffene, lebensunfähige Theorie erwiesen hat. Die siebenjährige
Geschichte der proletarischen Revolution in Rußland spricht nicht für, sondern
gegen diese Theorie. Diese Theorie ist nicht nur als Entwicklungsschema der
Weltrevolution unannehmbar, da sie im Widerspruch zu den offenkundigsten
Tatsachen steht, sie ist noch unannehmbarer als Losung, da sie die Initiative
der einzelnen Länder, die infolge gewisser historischer Bedingungen die
Möglichkeit bekommen, die Front des Kapitals selbständig zu durchbrechen,
fesselt, statt sie zu entfesseln; denn diese Theorie spornt nicht die einzelnen
Länder zum aktiven Angriff gegen das Kapital an, sondern zum passiven Warten
auf den Augenblick der ,allgemeinen Entscheidung'; sie kultiviert unter den
Proletariern der einzelnen Länder nicht den Geist revolutionärer
Entschlossenheit, sondern den Geist der Hamlet-Zweifel. ,Und wie, wenn die
anderen plötzlich versagen?' Lenin hat vollkommen recht, wenn er sagt, daß der
Sieg des Proletariats in einem einzelnen Lande den typischen Fall darstelle,
während die ,gleichzeitige Revolution in mehreren Ländern' nur ,eine seltsame
Ausnahme sein könne'....
Doch die leninsche Theorie der Revolution beschränkt sich bekanntlich nicht auf
diese eine Seite der Frage. Sie ist gleichzeitig die Theorie der Entwicklung
der Weltrevolution. Der Sieg des Sozialismus in einem einzelnen Lande ist nicht
Selbstzweck, Die Revolution des siegreichen Landes darf sich nicht als eine
sich selbst genügende Größe betrachten, sondern als Stütze, als Hilfsmittel zur
Beschleunigung des proletarischen Sieges in allen anderen Ländern, Denn der
Sieg der Revolution in einem Lande, im gegebenen Falle in Rußland, ist nicht
nur das Produkt der ungleichmäßigen Entwicklung und des fortschreitenden
Verfalls des Imperialismus. Er ist zugleich der Beginn und die Voraussetzung
der Weltrevolution ....
Am wahrscheinlichsten ist es, daß die Weltrevolution sich so entwickeln wird,
daß eine Reihe neuer Länder auf revolutionärem Wege vom imperialistischen
Staatensystem sich lostrennen werden, wobei die Proletarier dieser Länder die
Unterstützung des Proletariats der imperialistischen Staaten finden werden. Wir
sehen, daß das erste Land, das sich losgetrennt und gesiegt hat, schon jetzt
von den Arbeitern und überhaupt von den werktätigen Massen der anderen Länder unterstützt
wird. Ohne diese Unterstützung hätte sich dieses Land nicht halten können. Es
ist unzweifelhaft, daß diese Unterstützung noch wachsen und sich verstärken
wird. Aber es ist ebenso unzweifelhaft, daß die Entwicklung der Weltrevolution
selbst, der Prozeß der Lostrennung einer Reihe neuer Länder vom Imperialismus
sich um so schneller und gründlicher vollziehen wird, je schneller dieses Land
sich in eine Basis für die weitere Entfaltung der Weltrevolution, in einen
Hebel zur weiteren Zersetzung des Imperialismus verwandelt.
Wenn es richtig ist, daß der endgültige Sieg des Sozialismus in dem ersten
befreiten Lande ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer
Länder unmöglich ist, so ist ebenso richtig, daß die Weltrevolution sich um so
schneller und gründlicher entfalten wird, je wirksamer die Hilfe des ersten
sozialistischen Landes für die Arbeiter und die werktätigen Massen aller
übrigen Länder sein wird ....
Die charakteristische Eigenschaft dieser Hilfe seitens des siegreichen Landes
besteht nicht allein darin, daß sie den Sieg der Proletarier in den anderen
Ländern beschleunigt, sondern auch darin, daß sie durch die Erleichterung
dieses Sieges zugleich den endgültigen Sieg des Sozialismus in dem ersten
siegreichen Lande gewährleistet.
Am wahrscheinlichsten ist es, daß im Verlauf der Entwicklung der Weltrevolution
neben den Herden des Imperialismus in den einzelnen kapitalistischen Ländern
und dem System dieser Länder in der ganzen Welt sich Herde des Sozialismus in
einzelnen Sowjetländern und ein System dieser Herde in der ganzen Welt
herausbilden werden, wobei dei Kampf zwischen diesen beiden Systemen die
Geschichte dei Entfaltung der Weltrevolution ausfüllen wird. ,Denn' — sagt
Lenin — ,eine freie Vereinigung der Nationen im Sozialismus ist unmöglich ohne
einen mehr oder weniger langwierigen, hartnäckigen Kampf der sozialistischen
Republiken gegen die rückständigen Staaten.' (Siehe „Gegen den Strom".)
Die universelle Bedeutung der Oktoberrevolution besteht nicht nur darin, daß
sie die große Initiative eines einzelnen Landes darstellt, das imperialistische
System zu durchbrechen, daß sie den ersten Herd des Sozialismus im Ozean der
imperialistischen Länder bildet, sondern auch darin, daß sie die erste Etappe
der Weltrevolution und eine mächtige Basis für deren weitere Entwicklung ist.
Deshalb haben nicht allein diejenigen Unrecht, die den internationalen
Charakter der Oktoberrevolution vergessen, den Sieg der Revolution in einem
Lande als eine rein nationale und nur nationale Erscheinung hinstellen. Unrecht
haben auch diejenigen, die zwar den internationalen Charakter der
Oktoberrevolution im Auge behalten, aber geneigt sind, diese Revolution als
etwas Passives zu betrachten, das lediglich auf Unterstützung von außerhalb
angewiesen ist. In Wirklichkeit braucht nicht nur die Oktoberrevolution die
Unterstützung der Revolution in den anderen Ländern, sondern auch die
Revolution in diesen Ländern braucht die Unterstützung der Oktoberrevolution,
um das Werk der Niederwerfung des Weltimperialismus zu beschleunigen und
vorwärts zu treiben."
Der erfolgreiche Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion unterstützt
wirkungsvoll die Weltrevolution. Die Bolschewistische Partei hat auf dem XIV.
Parteitag den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion als ihre Tagesaufgabe
bezeichnet, weil ohne diesen Versuch die Oktoberrevolution, die Eroberung der
politischen Macht durch das Proletariat, sinnlos gewesen wäre. In der Broschüre
„Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" schreibt Stalin weiter
(„Probleme des Leninismus", Seite 221):
„Denn wenn die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Aufbaus der vollständigen
sozialistischen Gesellschaft auf Grund dieser oder jener Erwägung
ausgeschlossen wird, so verliert doch dadurch die Oktoberrevolution selbst
ihren Sinn. Wer die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande
leugnet, der muß unbedingt auch die Berechtigung der Oktoberrevolution leugnen.
Und umgekehrt, wer nicht an den Oktober glaubt, der kann auch die Möglichkeit
des Sieges des Sozialismus unter den Verhältnissen einer kapitalistischen
Umgebung nicht anerkennen. Es besteht ein vollständiger und unmittelbarer
Zusammenhang zwischen dem Unglauben an den Oktober und der Nichtanerkennung der
sozialistischen Möglichkeiten in unserem Lande." Die Frage des
Verhältnisses zwischen dem Kampf zur Überwindung der nationalen und der
internationalen Bourgeoisie hat Stalin noch oft behandelt. So unter anderem
auch in seinem Referat auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember 1926:
„Wenn die Frage der Errichtung des Sozialismus in der Sowjetunion eine Frage
der Überwindung der eigenen nationalen Bourgeoisie ist, so ist die Frage des
endgültigen Sieges des Sozialismus eine Frage der Überwindung der
internationalen Bourgeoisie. Die Partei sagt, daß das Proletariat eines
einzelnen Landes nicht imstande ist, aus eigenen Kräften die internationale
Bourgeoisie zu überwältigen. Die Partei sagt, daß für den endgültigen Sieg des
Sozialismus in einem Lande die Überwindung oder zumindest die Neutralisierung
der internationalen Bourgeoisie erforderlich ist.
...Die Partei geht davon aus, daß die ,nationalen' und internationalen Aufgaben
des Proletariats der Sowjetunion sich zu der einen gemeinsamen Aufgabe der
Befreiung der Proletarier aller Länder vom Kapitalismus verschmelzen, daß sich
die Interessen des Aufbaus des Sozialismus aller Länder zu dem einen
gemeinsamen Interesse des Sieges der Revolution völlig verschmelzen...
...den Sozialismus in der Sowjetunion aufbauen heißt deshalb, die Sache der
Proletarier aller Länder betreiben, heißt, den Sieg über das Kapital nicht nur
in der Sowjetunion, sondern in allen kapitalistischen Ländern schmieden, denn
die Revolution in der Sowjetunion ist ein Teil der Weltrevolution, ihr Anfang
und die Basis für ihre Entfaltung."
Stalin hat sich bei seiner Begründung des Kampfes für den sozialistischen
Aufbau vollkommen der leninistischen Theorie angepaßt. Aus Äußerungen Lenins,
daß mit den revolutionären Kräften eines Landes nicht die internationale
Bourgeoisie überwunden werden kann, hat Trotzki Beweise für die Richtigkeit
seiner Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande zu sammeln
versucht. In der „Oktoberrevolution" zitiert Trotzki in einem besonderen
Anhang über „Die Theorie des Sozialismus in einem Lande" Meinungsäußerungen
von Lenin, die dessen Gegnerschaft gegen die Theorie des Sozialismus in einem
Lande beweisen sollen. Aber selbst aus diesen von Trotzki aus dem Zusammenhang
gerissenen Zitaten geht nur hervor, daß Lenin genau so wie Stalin sorgfältig
zwischen dem Siege in der Sowjetunion und dem endgültigen Siege unterschieden
hat. Auch in diesen Zitaten ist sehr oft von dem Siege in der Sowjetunion und
dann von dem vollen, dem endgültigen Siege des Sozialismus, der erst das
Ergebnis der Weltrevolution sein wird, die Rede. Aber Lenin hat aus der
Erkenntnis, daß zum endgültigen Siege die Machteroberung des Proletariats in
mehreren Ländern notwendig ist, keinesfalls die Schlußfolgerung gezogen, in der
Sowjetunion auf die aktive Arbeit für den sozialistischen Aufbau zu verzichten.
Er hat im Gegenteil die Erkämpfung des sozialistischen Sieges in der
Sowjetunion als unbedingt erforderlich bezeichnet, um dem Proletariat in den
anderen Ländern einen mächtigen Antrieb für seinen Kampf, für den Sieg der
Weltrevolution zu geben.
Der Sieg des
Sozialismus in der Sowjetunion ist also nur davon abhängig, daß es im Lande
selbst gelingt, mit der Gruppe der inneren Widersprüche fertig zu werden. Das
alte zaristische Rußland war in wirtschaftlicher und technischer Beziehung das
rückständigste Land in Europa. Gelang es, dieses Land in ein hochentwickeltes
Industrieland mit moderner Landwirtschaft umzuwandeln, dann war die größte
Schwierigkeit in der Gruppe der inneren Widersprüche überwunden. Stalin bejahte
in voller Übereinstimmung mit Lenin die Möglichkeit, mit den im Lande
vorhandenen Kräften diese erste Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in
der Sowjetunion zu schaffen. Lenin hat zuletzt in der Broschüre „Über das Genossenschaftswesen"
(1923) eindeutig ausgesprochen, daß in der Sowjetunion alles vorhanden sei, um
das alte rückständige Agrarland zu einem fortgeschrittenen Staate mit
hochentwickelter Industrie umzugestalten. Zu dem gleichen Thema sagte Stalin in
seinem Referate auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember 1926:
„...Wenn man also davon spricht, ob es möglich ist, den Sozialismus in der
Sowjetunion zu errichten, so will man damit sagen: ist das Proletariat der
Sowjetunion imstande, aus eigenen Kräften die Bourgeoisie der Sowjetunion zu
überwinden? So, und nur so steht die Frage bei der Lösung des Problems der
Errichtung des Sozialismus in einem Lande.
Die Partei beantwortet diese Frage bejahend, denn sie geht davon aus, daß das
Proletariat der Sowjetunion, die proletarische Diktatur in der Sowjetunion die
Möglichkeit hat, die Bourgeoisie der Sowjetunion aus eigener Kraft zu
überwinden.
Wenn das nicht richtig wäre, wenn die Partei nicht Grund hätte, zu behaupten,
daß das Proletariat der Sowjetunion imstande ist, die sozialistische
Gesellschaft zu errichten trotz der relativen technischen Rückständigkeit
unseres Landes, so hätte die Partei keinen Grund, weiter an der Macht zu
bleiben, sie müßte so oder so die Macht aufgeben und die Rolle einer
oppositionellen Partei übernehmen. Denn eins von beiden: entweder können wir
den Sozialismus aufbauen und ihn letzen Endes errichten, indem wir unsere
,nationale' Bourgeoisie überwinden, — und dann ist die Partei verpflichtet, an
der Macht zu bleiben und den sozialistischen Aufbau im Lande im Namen des
Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt zu leiten; oder wir sind nicht
imstande, aus eigenen Kräften unsere Bourgeoisie zu überwinden, — und dann
müssen wir, angesichts des Ausbleibens einer sofortigen Unterstützung von außen
her durch die siegreiche Revolution in anderen Ländern, ehrlich und offen von
der Macht zurücktreten und Kurs auf die Organisierung einer neuen, künftigen
Revolution in der Sowjetunion nehmen...
Wir haben die Diktatur des Proletariats erobert und dadurch die politische
Basis für das Vorwärtsschreiten zum Sozialismus geschaffen. Können wir aus
eigenen Kräften die ökonomische Basis des Sozialismus, das neue ökonomische
Fundament schaffen, das für die Errichtung des Sozialismus notwendig ist? Worin
besteht das ökonomische Wesen und die ökonomische Basis des Sozialismus? Etwa
darin, ein ,Himmelreich' auf Erden und die allgemeine Zufriedenheit zu
schaffen? Nein, nicht darin. Es ist eine spießerhafte, kleinbürgerliche
Vorstellung von dem ökonomischen Wesen des Sozialismus. Die ökonomische Basis
des Sozialismus schaffen — das heißt die Landwirtschaft mit der sozialistischen
Industrie zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Ganzen zusammenzuschließen,
die Landwirtschaft unter die Führung der sozialistischen Industrie stellen, die
Beziehungen zwischen Stadt und Land auf der Grundlage des direkten Austausches
der Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Industrie regeln, alle jene Kanäle
schließen und liquidieren, mit deren Hilfe die Klassen entstehen und vor allem
das Kapital entsteht, das heißt letzten Endes solche Produktions und
Verteilungsbedingungen schaffen, die direkt und unmittelbar zur Aufhebung der
Klassen führen ..." Der Kommunismus, der Aufbau des Sozialismus ist in der
Sowjetunion möglich. Jedoch nur, „wenn wir Rußland eine andere, höhere Technik
geben als früher", wenn die Volkswirtschaft wiederhergestellt und die
Industrie entfaltet wird. Diese Gedanken hat Lenin sehr eindringlich in einer
Rede ausgesprochen, die er am 20. November 1920 auf der Moskauer Gouvernements-
Parteikonferenz gehalten hat. (Lenin, Gesammelte Werke, Band XXV. Seite 600
usf.) „Die wirtschaftliche Grundlage" (des Sozialismus. D.V.)
— sagte Lenin dort — „aber kann nur dann als gesichert gelten, wenn wirklich im
russischen proletarischen Staat alle Fäden der maschinellen Großindustrie
geknüpft sein werden, einer Industrie, die nach den Grundsätzen der modernen
Technik, das aber heißt der Elektrifizierung, aufgebaut ist. Dazu müssen wir
die Grundbedingungen der Anwendung der Elektrizität und entsprechend die
Industrie und Landwirtschaft verstehen lernen." (Seite 614.) Dieselbe
Auffassung vertrat Stalin auf dem XIV. Parteitage (1925). Dort bezeichnete er
als die erste Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion,
die UdSSR aus einem Agrarland in ein Industrieland zu verwandeln, das fähig
ist, aus eigenen Kräften die notwendige maschinelle Ausrüstung herzustellen.
Darin liege das Wesen, die Grundlage der Generallinie.
Die Sowjetunion mit ihrem riesigen Rohstoffreichtum ist in der Lage, diese
Aufgabe mit den im Lande vorhandenen Kräften zu erfüllen. In der Broschüre „Die
Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" sagte Stalin („Probleme des
Leninismus", Seite 219/220):
„Das Land der proletarischen Diktatur, von kapitalistischen Ländern umgeben,
ist demnach nicht nur imstande, die inneren Widersprüche zwischen dem
Proletariat und der Bauernschaft aus eigenen Kräften aufzuheben, sondern es
kann und soll auch den Sozialismus aufbauen, eine sozialistische Wirtschaft bei
sich organisieren .... Lenin ist sich über die technischen Schwierigkeiten des
Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande vollkommen klar, aber er zieht daraus
nicht die absurde Schlußfolgerung, daß ,ein wirklicher Aufschwung der
sozialistischen Wirtschaft in Rußland nur nach dem Siege des Proletariats in
den wichtigsten Ländern Europas möglich sein wird', sondern er ist der Ansicht,
daß wir diese Schwierigkeiten aus eigener Kraft überwinden können...
Lenin ist sich über die politischen Schwierigkeiten des Aufbaus In unserem Lande
vollkommen klar, aber er zieht daraus keineswegs die unrichtige
Schlußfolgerung, daß ,ohne direkte staatliche Unterstützung durch das
europäische Proletariat die Arbeiterklasse Rußlands nicht imstande sein wird,
sich an der Macht zu halten', sondern er ist vielmehr der Auffassung, daß wir
bei einer richtigen Politik gegenüber der Bauernschaft den ,Sieg im
Weltmaßstäbe', im Sinne eines vollständigen Aufbaus des Sozialismus erringen
können..."
Die im Jahre 1925 noch stark spürbare wirtschaftliche Rückständigkeit der
Sowjetunion betrachtet Stalin nicht als unüberwindbares Hindernis, weil ja
alles für den sozialistischen Aufbau Notwendige vorhanden ist, und weil durch
die Anspannung aller Kräfte die wirtschaftliche Rückständigkeit überwunden
werden kann. In der Polemik gegen diejenigen, die die Theorie des Sozialismus
in einem Lande verneinen, wendet Stalin sich auch gegen Sinowjew. In dem
Vorwort zu dem im Jahre 1926 in deutscher Sprache erschienenen Buche „Probleme
des Leninismus" schreibt er (Seite 48):
„Unter dem Sieg des Sozialismus In einem Lande aber versteht Genosse Sinowjew
ein solches Bauen am Sozialismus, das nicht zum Aufbauen des Sozialismus führen
kann und führen soll. Ein Bauen aufs Geradewohl, ohne Perspektive den
Sozialismus bauen, ohne daß es möglich wäre, die sozialistische Gesellschaft
aufzubauen — das ist die Position des Genossen Sinowjew.
Den Sozialismus bauen, ohne die Möglichkeit ihn aufzubauen, bauen mit dem
Bewußtsein, daß du ihn doch nicht aufbauen wirst — in diese Ungewißheiten hat
sich Genosse Sinowjew verrannt.
Aber das ist doch eine Verhöhnung, aber keine Entscheidung der Frage!
Noch eine Stelle aus dem Schlußwort des Genossen Sinowjew auf dem XIV.
Parteitage (auf dem Sinowjew das Korreferat hielt, d.V.):
,Schaut einmal an, wohin sich zum Beispiel Genosse Jakowlew auf der letzten
Kursker Gouvernements-Parteikonferenz verrannt hat. Können wir — fragt er — in
einem einzelnen Lande, wo uns von allen Seiten kapitalistische Feinde umgeben,
können wir unter solchen Umständen in einem einzelnen Lande den Sozialismus
aufbauen? Und er antwortet: Auf Grund des Gesagten haben wir das Recht zu
behaupten, daß wir nicht nur den Sozialismus bauen, sondern daß wir, trotzdem
wir einstweilen allein sind, trotzdem wir einstweilen das einzige Sowjetland in
der Welt, der einzige Sowjetstaat sind, den Sozialismus aufbauen werden ... Ist
das eine leninistische Fragestellung, riecht das nicht nach nationaler
Beschränktheit?'
Demnach — antwortet Stalin — scheint es nach Sinowjew eine nationale
Beschränktheit zu sein, wenn man die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in
einem einzelnen Lande anerkennt, und es wäre der Standpunkt des
Internationalismus, wenn man diese Möglichkeit verneint.
Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über
die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus,
daß ein solcher Sieg unmöglich ist? Die Kapitulation vor den kapitalistischen
Elementen unserer Wirtschaft — dahin führt die innere Logik der Argumentation
des Genossen Sinowjew."
Als die zweite und entscheidende Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in
der Sowjetunion bezeichnet Stalin ebenso wie Lenin die Überwindung der
Widersprüche zwischen Bauern- und Arbeiterklasse. Trotzki zitiert in dem Buch
„Die internationale Revolution und die Kommunistische Internationale" eine
Äußerung Lenins aus dem Jahre 1921, mit der er beweisen will, daß Lenin die
Möglichkeit des sozialistischen Sieges in der Sowjetunion verneinte. In diesem
Zitat sagt Lenin, daß die soziale Revolution in Rußland, in dem das
Industrieproletariat eine Minderheit neben der großen Mehrheit von Kleinbauern
ist, nur siegreich sein kann, wenn „die Verständigung zwischen dem die Diktatur
ausübenden und die Staatsgewalt in Händen habenden Proletariat mit der
Bauernbevölkerung" erfolgt. „Wir wissen, daß nur das Zustandekommen einer
Verständigung mit den Bauern die sozialistische Revolution in Rußland retten
kann..." Auch dieses Zitat spricht gegen Trotzkis Auffassung, denn Lenin
hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Verständigung zwischen den beiden
entscheidenden revolutionären Klassen in Rußland zustande kommen wird. Er hat
schon lange vor der Oktoberrevolution, in den Auseinandersetzungen um Trotzkis
„permanente Revolution" klargelegt, daß und warum er ein festes
Kampfbündnis der Arbeiterklasse mit den überwiegenden Bauernmassen, und darum
den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion für möglich hielt. Stalin sagte in
„Die Ergebnisse der XIV. Reichskonferenz der KPR" über dieses Problem
(Probleme des Leninismus. Seite 216/18):
„Es läßt sich natürlich nicht leugnen, daß gewisse Widersprüche zwischen dem
Proletariat und der Bauernschaft vorhanden sind. Es genügt nur, daran zu
erinnern, was bei uns im Zusammenhang mit der Preispolitik für landwirtschaftliche
Erzeugnisse, im Zusammenhang mit der Festsetzung von Höchstpreisen, der
Kampagne für Herabsetzung der Preise für die Industrieprodukte, vor sich ging
und vor sich geht, um die ganze Realität dieser Widersprüche zu begreifen. Zwei
Hauptklassen stehen vor uns: die Klasse der Proletarier und die Klasse der
Privateigentümer, d.h. der Bauernschaft. Hieraus entspringt die
Unvermeidlichkeit eines Gegensatzes zwischen ihnen. Die ganze Frage ist die, ob
wir diese Widersprüche, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft
bestehen, aus eigenen Kräften überwinden können. Wenn man fragt, ob es möglich
ist, den Sozialismus aus eigener Kraft aufzubauen? — so will ich damit sagen:
ist es möglich, die zwischen Proletariat und Bauernschaft in unserem Lande
bestehenden Widersprüche zu überwinden, oder nicht?
Der Leninismus beantwortet diese Frage bejahend: ja, wir können den Sozialismus
aufbauen, und wir werden ihn aufbauen, zusammen mit der Bauernschaft, unter
Führung der Arbeiterklasse.
Wo ist die Begründung für eine solche Antwort? Die Begründung dieser Antwort
besteht darin, daß es zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft außer den
Gegensätzen auch noch gemeinsame Interessen gibt, und zwar in den grundlegenden
Fragen der Entwicklung, die diese Widersprüche aufwiegen, und jedenfalls
aufwiegen können, und die die Basis, die Grundlage des Bündnisses zwischen den
Arbeitern und Bauern bilden. Worin bestehen diese gemeinsamen Interessen? Es
handelt sich darum, daß es zwei Entwicklungswege der Landwirtschaft gibt: den
kapitalistischen und den sozialistischen. Der kapitalistische Weg bedeutet die
Entwicklung durch die Verelendung der Mehrheit der Bauernschaft im Interesse
der Bereicherung der oberen Schichten der städtischen Bourgeoisie. Der
sozialistische Weg hingegen bedeutet die Entwicklung durch die fortwährende
Hebung des Wohlstandes der Mehrheit der Bauernschaft. Wie das Proletariat, so
ist auch insbesondere die Bauernschaft daran interessiert, daß die Entwicklung
den zweiten, den sozialistischen Weg einschlägt, da dieser Weg die einzige
Rettung der Bauernschaft vor der Verelendung und vor dem Hungerdasein
darstellt. Es ist überflüssig, zu erwähnen, daß die Diktatur des Proletariats,
die die Hauptfäden der Wirtschaft in ihren Händen hält, alle Maßnahmen ergreifen
wird, dem sozialistischen Wege zum Siege zu verhelfen. Andererseits liegt es
selbstverständlich im ureigensten Interesse der Bauernschaft, daß die
Entwicklung diesen zweiten Weg einschlägt.
Hieraus entspringt die Gemeinsamkeit der Interessen des Proletariats und der
Bauernschaft, die die Gegensätze zwischen ihnen aufwiegt.
Deshalb sagt der Leninismus, daß wir die vollkommene sozialistische
Gesellschaftsordnung zusammen mit der Bauernschaft auf der Grundlage des
Bündnisses zwischen den Arbeitern und Bauern aufbauen können und aufbauen
müssen.
Deshalb sagt der Leninismus, gestützt auf die gemeinsamen Interessen der
Proletarier und Bauern, daß wir aus eigenen Kräften die zwischen dem
Proletariat und der Bauernschaft bestehenden Widersprüche überwinden können und
müssen."
Zur Begründung der Möglichkeit, die Widersprüche zwischen Arbeiter- und
Bauernschaft im Lande selbst zu lösen und die ausschlaggebenden Massen der
Bauernschaft in die Sache des sozialistischen Aufbaus hineinzuziehen, stellt
Stalin in der Broschüre „Die Grundlagen des Leninismus" zwei Grundthesen
auf („Probleme des Leninismus", Seite 118—121):
1. Man darf die Bauernschaft der Sowjetunion nicht verwechseln mit der
Bauernschaft Westeuropas. Die Bauernschaft, die durch die Schule dreier
Revolutionen gegangen ist, die gegen den Zarismus und die Bourgeoisie zusammen
mit dem Proletariat in den vordersten Reihen kämpfte, die Land und Frieden aus
der Hand der proletarischen Revolution erhalten hatte — und deshalb zur Reserve
des Proletariats wurde — diese Bauernschaft unterscheidet sich von jener, die
während der bürgerlichen Revolution zusammen mit der liberalen Bourgeoisie
kämpfte, die das Land aus der Hand dieser Bourgeoisie erhielt und deshalb zur
Reserve der Bourgeoisie wurde. Es erübrigt sich wohl zu beweisen, daß die
Bauernschaft des Sowjetstaates, die die politische Kameradschaft und die
politische Zusammenarbeit mit dem Proletariat schätzen gelernt hat, und die
dieser Kameradschaft und Zusammenarbeit ihre Freiheit verdankt, ein besonders
dankbares Material für die Ökonomische Zusammenarbeit mit dem Proletariat sein
muß...
2. Man darf die Landwirtschaft Rußlands nicht verwechseln mit der Westeuropas.
Dort vollzieht sich die Entwicklung der Landwirtschaft in den gewöhnlichen
Bahnen des Kapitalismus, unter den Verhältnissen einer scharfen Differenzierung
der Bauernschaft, mit großen Gütern und privatkapitalistischen Latifundien auf
dem einen Pol und dem Pauperismus, der Verelendung und der Lohnsklaverei auf
dem anderen. Dort ist der Zerfall und die Zersetzung infolgedessen eine ganz
natürliche Erscheinung. Ganz anders in Rußland. Hier kann die Entwicklung der
Landwirtschaft schon deswegen in dieser Richtung nicht stattfinden, weil das
Bestehen der Sowjetmacht und die Nationalisierung der wichtigsten Produktionsmittel
eine derartige Entwicklung verhindern. In Rußland dürfte die Entwicklung der
Landwirtschaft einen anderen Weg gehen, und zwar den Weg der
Vergenossenschaftlichung der Millionen kleiner und mittlerer Bauern, den Weg
der Entwicklung des Massen umfassenden Genossenschaftswesens auf dem Lande, das
vom Staat durch Gewährung von günstigen Krediten unterstützt wird. Lenin hat in
seinen Artikeln über das Genossenschaftswesen richtig darauf hingewiesen, daß
die Entwicklung unserer Landwirtschaft einen neuen Weg einschlagen muß, den Weg
der Hineinziehung der Mehrheit der Bauern in den sozialistischen Aufbau durch
die Genossenschaften, den Weg der allmählichen Durchdringung der Landwirtschaft
mit den Prinzipien des Kollektivismus, zuerst auf dem Gebiete des Absatzes, und
dann — auf dem Gebiete der Produktion der landwirtschaftlichen Erzeugnisse ...
Es erübrigt sich wohl zu beweisen, daß die überwiegende Mehrheit der
Bauernschaft diesen neuen Entwicklungsweg einschlagen wird, um nicht den Weg
einschlagen zu müssen, der zur Bildung privatkapitalistischer Latifundien, zur
Lohnsklaverei, zur Verelendung und zum Verfall führt.
Obwohl Lenin und Stalin in Rußland besonders günstige Bedingungen für das
Bündnis der Arbeiterklasse mit der Bauernschaft sahen, haben beide niemals
übersehen, daß auch in den Ländern außerhalb der Sowjetunion die Bauernschaft
eine Reserve der Revolution ist, daß auch dort Voraussetzungen für das
Zusammengehen der Arbeiter mit den Bauern gegeben sind. In der Sowjetunion war
die Politik der Bolschewistischen Partei gerade auch um der Erreichung des
sozialistischen Aufbaus willen planmäßig auf die Überwindung vorhandener
Gegensätze zwischen Arbeiter- und Bauernklasse abgestellt. „Eine richtige
Politik gegenüber der Bauernschaft" — sagte Stalin in „Die Ergebnisse der
XIV. Reichskonferenz" — „ist etwas, das voll und ganz von uns und nur von
uns abhängt, von der Partei, die den Aufbau des Sozialismus in unserem Lande
leitet". Die richtige Politik gegenüber der Bauernschaft schuf die zweite
Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion. Über die
Verdrehung des Standpunktes der Bolschewistischen Partei durch die Opposition
äußerte sich Stalin in seinem Referat auf dem VII. Plenum des ZKs im Dezember
1926:
„Nun schön, sagt uns die Opposition, mit wem aber ist es letzten Endes besser
im Bündnis zu sein: mit dem Weltproletariat oder mit der Bauernschaft unseres
Landes; wem sollen wir den Vorzug geben: dem Weltproletariat oder der
Bauernschaft der Sowjetunion? Dabei wird die Sache so dargestellt, als ob zwei
Verbündete vor dem Proletariat der Sowjetunion stünden — das Weltproletariat,
das bereit ist, sofort seine Bourgeoisie zu stürzen, aber darauf wartet, daß
wir ihm hierzu unser bevorzugendes Einverständnis geben, und unsere
Bauernschaft, die bereit ist, dem Proletariat der Sowjetunion zu helfen, aber
nicht ganz davon überzeugt ist, daß das Proletariat der Sowjetunion diese
Unterstützung annehmen werde. Das, Genossen, ist eine kindische Fragestellung.
Eine solche Fragestellung hat weder mit dem Verlauf der Revolution in unserem
Lande noch mit dem Kräfteverhältnis an der Front des Kampfes zwischen dem
internationalen Kapitalismus und dem Sozialismus etwas gemein .... Leider steht
es um die Sache nicht so, wie dies einige Oppositionelle darstellen, wobei kein
Grund vorliegt, daran zu zweifeln, daß wir mit Vergnügen die Hilfe sowohl der
einen, wie der anderen Seite annehmen würden, wenn das nur von uns abhinge.
Nein, so steht die Frage im wirklichen Leben nicht.
Die Frage steht folgendermaßen: da das Tempo der internationalen revolutionären
Bewegung sich verlangsamt hat, der Sozialismus im Westen noch nicht den Sieg
davongetragen hat, das Proletariat der Sowjetunion aber an der Macht steht,
diese Macht von Jahr zu Jahr festigt, die Hauptmassen der Bauernschaft um sich
zusammenschließt, bereits ernste Erfolge an der Front des sozialistischen
Aufbaus aufzuweisen hat und mit Erfolg die Freundschaftsbande mit den
Proletariern und den unterdrückten Völkern aller Länder festigt, gibt es da
einen Grund dafür, zu leugnen, daß das Proletariat der Sowjetunion seine
Bourgeoisie überwinden und den siegreichen Aufbau des Sozialismus in unserem
Lande trotz der kapitalistischen Einkreisung fortsetzen kann?
So steht jetzt die Frage, natürlich wenn man nicht von Phantasien ausgeht, wie
das der Oppositionsblock tut, sondern von dem wirklichen Kräfteverhältnis an
der Front des Kampfes zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Die Partei antwortet auf diese Frage, daß das Proletariat der Sowjetunion unter
diesen Verhältnissen imstande ist, seine ,nationale' Bourgeoisie zu überwinden
und die sozialistische Wirtschaft mit Erfolg aufzubauen. Die Opposition sagt
dagegen:
,Ohne direkte staatliche. Unterstützung des europäischen Proletariats kann die
Arbeiterklasse Rußlands die Macht nicht behaupten und seine zeitweilige
Herrschaft nicht in eine dauernde sozialistische Diktatur umwandeln.' (Trotzki,
„Unsere Revolution" Seite 278.)
Was aber ist der Sinn dieses Satzes von Trotzki und was bedeutet die
„staatliche Unterstützung des europäischen Proletariats“? Das bedeutet, daß
ohne den vorherigen Sieg des Proletariats im Westen, ohne die vorherige.
Machtergreifung durch das Proletariat im Westen das Proletariat der Sowjetunion
nicht nur nicht imstande ist, seine Bourgeoisie zu überwinden und den
Sozialismus aufzubauen, sondern nicht einmal imstande ist, die Macht zu
behaupten."
Die Bolschewistische Partei hat im Kampf um den sozialistischen Aufbau alle
ihre Kraft eingesetzt, um trotz den vorhandenen Schwierigkeiten die
Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion zu schaffen.
Hat sie die gestellte Aufgabe erfüllt? Ist es ihr in dem Jahrzehnt von 1925 an
gelungen, das feste Bündnis zwischen Arbeiter- und Bauernklasse zu schaffen und
das rückständige zaristische Rußland in ein fortgeschrittenes Land mit starker
Industrie und leistungsfähiger Landwirtschaft umzugestalten? Die Beantwortung
dieser Fragen ist für die Stellung des Weltproletariats außerordentlich
wichtig, weil bei der Untersuchung der geleisteten Aufbauarbeit zugleich auch
die Frage beantwortet wird, ob in dem entscheidenden Konflikt, der zum Bruche
Trotzkis mit der Bolschewistischen Partei führte, diese oder Trotzki sachlich
im Recht war. Das Urteil in dem ursprünglich nur theoretischen Meinungsstreit
hat die Praxis, die tatsächliche Entwicklung in der Sowjetunion gefällt. Wie
dieses Urteil ausgefallen ist, ergeben die Untersuchungen über die Ergebnisse
des sozialistischen Aufbaus (im IV. Teil), über die Weltrevolution und Trotzkis
Kampf gegen die UdSSR (im V. und VI. Teil dieses Buches).
Der Trotzkismus hat sich in seinem Kampfe gegen den sozialistischen Aufbau in
der Sowjetunion vollkommen verrannt. Die Erfolge dieses Aufbaus, die die
Sowjetvölker täglich erleben, haben die These Trotzkis praktisch widerlegt,
haben dem Trotzkismus die politischen Wirkungsmöglichkeiten unter den Massen
genommen. Da Trotzki vor diesen Tatsachen nicht kapitulieren, da er die
Verfehltheit seiner Theorie nicht zugeben und den Kampf gegen die
Bolschewistische Partei und den erfolgreichen sozialistischen Aufbau nicht
aufgeben will, muß er zwangsläufig zu immer zweifelhafteren Kampfmethoden
kommen. Die Massenbasis des Sowjetregimes ist immer breiter geworden. Die
Sowjetmacht ist so fest fundiert, daß sie überhaupt nur noch durch einen verlorenen
Krieg erschüttert werden könnte. Trotzkis letzte verzweifelte Konzeption ist
darum, seine Konterrevolution zu „machen", wenn die Sowjetunion gegen
Hitlerdeutschland und Japan im Kriege steht. Die von Trotzki gewollte Auslösung
des Bürgerkrieges im Kriege würde aber nicht ihn zur Macht bringen, sondern zum
Siege des Faschismus, zur Restaurierung der alten zaristischen und
kapitalistischen Gewalten unter faschistischer Flagge führen. Die ganze
Tätigkeit Trotzkis fördert praktisch die Herstellung der faschistischen
Herrschaft. Der Trotzkismus hat sich darum zu einer konterrevolutionären
Strömung entwickelt, die bekämpft werden muß, wenn man den Sieg des Sozialismus
in der Sowjetunion sichern will, um damit den endgültigen Sieg des Sozialismus
zu ermöglichen.
In den Diskussionen um die Theorie des Sozialismus in einem Lande
wurden von Lenin und Stalin, wurden von der Bolschewistischen Partei als
Voraussetzungen für den Sieg des Sozialismus in der UdSSR bekanntlich
bezeichnet:
1. Das rückständige Agrarland zu einem hochentwickelten Industrieland mit einer
leistungsfähigen mechanisierten Landwirtschaft umzuwandeln; eine Industrie
aufzubauen, die die riesigen Rohstoffreichtümer des Landes mobilisieren und
verwerten kann, um dadurch die Sowjetunion von den Kapitalisten der anderen
Länder unabhängig zu machen.
2. Die Widersprüche, die zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft bestehen, zu
überwinden; die Massen der Bauernschaft zu einem festen Bündnis mit der
Arbeiterklasse zu bringen und sie für die aktive Mitarbeit am sozialistischen
Aufbau zu gewinnen.
Die nächste konkrete Aufgabe im Kampf um den Aufbau des Sozialismus in der
Sowjetunion war die Schaffung dieser Voraussetzungen. Wer beurteilen will, ob
es der Bolschewistischen Partei gelungen ist, die Theorie des Sozialismus in
einem Lande praktisch zu verwirklichen, der muß zunächst untersuchen, ob sie
die nächste konkrete Aufgabe erfolgreich gelöst hat. Nach einem reichlichen
Jahrzehnt intensiver Aufbauarbeit und nach nüchterner und sachlicher Prüfung
der Entwicklung in der Sowjetunion kann man — wie hier vorweg festgestellt und
später ausführlich bewiesen werden soll — sagen, daß die zuerst von Lenin
formulierten Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande
geschaffen wurden und der Sozialismus im Wesen bereits aufgebaut ist. Trotzkis
Theorie ist durch die Tatsachen widerlegt worden.
Wenn man rückschauend den Kampf um den sozialistischen Aufbau wertet, sind die
Ergebnisse gewaltig. Aber der Weg zum Erfolge war nicht so geradlinig, wie er
manchem bei der rückschauenden Wertung erscheint. Im Jahre 1918 — unmittelbar
nach der Eroberung der politischen Macht — waren die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten ungeheuer. Bürgerkrieg und Interventionskrieg, Wirtschaftsblockade
und die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen die Binnenwirtschaft
funktionieren zu lassen, führten zu dem aus der Situation sich zwangsläufig
ergebenden Versuch, mit einem Schlage den Sozialismus in der Form einer
proletarischen Naturalwirtschaft zu verwirklichen. Das ging nicht. Der
Kriegskommunismus erfüllte allerdings die eine und damals wichtigste Aufgabe,
alle wirtschaftlichen Kräfte für die erfolgreiche Durchführung des
Bürgerkrieges zu mobilisieren und die Kommandohöhen der Wirtschaft fest in die
Hand der proletarischen Diktatur zu legen. Das Experiment führte jedoch nicht
zum wirtschaftlichen Aufbau; es zeitigte Ergebnisse, die Lenin zur Liquidierung
des Kriegskommunismus und zur Einführung der Neuen Ökonomischen Politik
veranlaßten. Nach dem Bürgerkrieg war das Land verwüstet, die Wirtschaft
desorganisiert und noch weit unter dem Stand des traurigen Erbes, das die
Sowjetmacht vom Zarismus übernommen hat. Nach all den Opfern, die Krieg und
Bürgerkrieg gefordert hatten, war es schwer, von den ausgepumpten Volksmassen
immer neue Opfer für den sozialistischen Aufbau zu verlangen. Um die
Riesenaufgabe zu meistern, war vielerlei notwendig: Geduld und Ausdauer des
Volkes, unerschütterlicher Glaube und begeisterte Hingabe der Avantgarde und eine
zielbewußte, überzeugte, fest zupackende zentralistische Führung, die eine
klare Konzeption hatte — und die über die Nöte des Tages hinaus die Aufgaben
für die Zukunft sah.
Im Jahre 1925 — als die Diskussion um die Theorie des Sozialismus in einem
Lande in der Bolschewistischen Partei den Höhepunkt erreichte, als der XIV.
Parteitag den sozialistischen Aufbau zur Tagesaufgabe der Partei erklärte —
stand man mitten in jener Periode der Neuen ökonomischen Politik, in der dem
Kapitalismus Konzessionen gemacht wurden. Das war in der Zeit, in der in
Mittel- und Westeuropa überall festgestellt wurde, die Diktatur des
Proletariats sei unfähig, die Ökonomischen Aufgaben zu meistern. Die
Entwicklung hat allerdings das Gegenteil gelehrt. Die Diktatur des Proletariats
hatte die entscheidenden Trümpfe, den staatlichen Machtapparat, immer fest in
der Hand. Mit diesem griff sie korrigierend zugunsten des sozialistischen
Wirtschaftssystems ein, baute sie nach der Vollendung des Wiederaufbaus der
Wirtschaft planmäßig die Reste des Kapitalismus ab. Die NEP wurde von den
Gegnern der Bolschewiki zu unrecht als Kapitulation vor dem Kapitalismus
bezeichnet. Sie war die aus der Situation geborene Maßnahme, die zum Wieder-
und Neuaufbau der Wirtschaft unbedingt notwendig war. Die mit ihr verbundenen
Konzessionen an kapitalistische Kreise wurden planmäßig liquidiert, als die NEP
ihre Aufgabe erfüllt hatte. Dann erst konnte der große Aufbau beginnen — der
sozialistische Aufbau, der gleicher weise für die Entwicklung der russischen Revolution
und für ihre Fernwirkung auf die Proletarier in den anderen Ländern notwendig
war.
Als die große Aufgabe des sozialistischen Aufbaus in Angriff genommen wurde,
schrieb Stalin („Probleme des Leninismus", Seite 47):
„Man kann den Sozialismus nicht bauen, ohne überzeugt zu sein, daß es möglich
ist, ihn aufzubauen, ohne überzeugt zu sein, daß die technische Rückständigkeit
unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für den Aufbau der vollständigen
sozialistischen Gesellschaft bildet. Die Leugnung einer solchen Möglichkeit
bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, ein Abweichen vom
Leninismus."
Aber nicht nur mit diesem starken Glauben, sondern mit allen Verstandeskräften,
mit Plänen und Berechnungen, wurde das gigantische Werk begonnen. Nach dem
entscheidenden Parteitagsbeschluß im Jahre 1925 geht es sofort mit Feuereifer
an die Arbeit. Das nächste Jahrzehnt war die Zeit eines atemraubenden Kampfes,
in dem rücksichtslos alle Kräfte für die Erfüllung der auf dem XIV. Parteitage
proklamierten Tagesaufgabe eingesetzt wurden.
Die Generallinie
der Bolschewistischen Partei für den sozialistischen Aufbau fand ihren
konkreten Ausdruck in den Fünfjahresplänen. Im Jahre 1928 — als mit Hilfe der
NEP die Periode des Wiederaufbaus zu einem gewissen Abschluß gelangt war —
begann mit dem ersten Fünfjahrplan die Epoche des großen sozialistischen
Aufbauwerkes. Ein gigantisches Ringen! ... Die in diesem harten Ringen an die
Sowjetvölker gestellten Anforderungen waren andere, aber nicht weniger schwere
als die im Bürgerkrieg. Das kühne Ziel war, die fortgeschrittenen
kapitalistischen Länder in wirtschaftlicher und technischer Beziehung
einzuholen und zu überholen. Darum war die vordringlichste Aufgabe des ersten
Fünfjahrplans der Aufbau einer großen Schwer- und Produktionsmittelindustrie.
Im ersten Planjahrfünft werden alle Kräfte auf die Erreichung dieses Zieles
konzentriert. Große Massen zum Teil bäuerlicher Bevölkerung werden im
schnellsten Tempo für die industrielle Produktion mobilisiert, der
Rückständigkeit des alten zaristischen Rußland wird energisch zu Leibe
gegangen. Der erste Fünfjahrplan wird schon in vier Jahren vollendet. In diesen
vier Jahren wurden neue Schächte und Erzgruben erschlossen, wurden Fabriken und
Maschinen gebaut. Es gelang, eine neue technische Basis für die wichtigsten
Teile der Volkswirtschaft aufzubauen, die Grundlage für den zweiten
Fünfjahrplan und die endgültige Liquidierung der Reste des kapitalistischen
Wirtschaftssystems zu schaffen.
Aber mit der erfolgreichen Durchführung des ersten Fünfjahrplans war der Mangel
an Lebensmitteln und Bedarfsgütern, unter dem das Volk litt, noch nicht
behoben. Weil zunächst die Produktionsmittelindustrie aufgebaut werden mußte,
konnten noch nicht sofort genügend Waren zur ausreichenden Versorgung des
Volkes produziert werden. Hinzu kam noch, daß die steigenden Bedürfnisse der
Massen den Mangel an Bedarfsgütern vermehrten. Die Beseitigung dieses Mangels
war eine der wichtigsten Aufgaben des zweiten Fünfjahrplans. Wenn in diesem
auch der weitere Ausbau der Schwer- und Produktionsmittelindustrie noch einen
sehr breiten Raum einnahm, so brachte er doch bereits einen großen Aufbau und
Ausbau der Verbrauchsgüterindustrie und eine ergiebige Steigerung der
landwirtschaftlichen Produktion. Dadurch konnten dem Volke mehr Lebensmittel
und mehr Bedarfsgüter gegeben werden. Das Volk braucht nicht mehr zu darben,
sein Lebensniveau wird erhöht, sein Wohlstand wächst. Aber der zweite
Fünfjahrplan hatte noch andere Aufgaben zu erfüllen. In der Resolution des
XVII. Parteitages (1934) wird über seine Ziele gesagt:
„Die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans ist die endgültige
Liquidierung der kapitalistischen Elemente und der Klassen überhaupt, die
vollständige Beseitigung der Ursachen, die Klassenunterschiede und Ausbeutung
erzeugen, sowie die Überwindung der Überbleibsel des Kapitalismus in der
Wirtschaft und im Bewußtsein der Menschen, die Umwandlung der gesamten
werktätigen Bevölkerung des Landes in zielbewußte und aktive Schöpfer der
klassenlosen sozialistischen Gesellschaft.
Die endgültige Liquidierung der Überreste der parasitären Klassen und das
allgemeine Anwachsen des Volkseinkommens, das voll und ganz den Werktätigen zur
Verfügung steht, sollen in der zweiten Fünfjahrperiode einen noch rascheren
Aufschwung des Wohlstandes der Arbeiter- und Kollektivbauernmassen, ein
bedeutendes Steigen des Reallohnes, eine Erhöhung des Verbrauchs der
Werktätigen auf das Zwei- bis Dreifache ermöglichen.
Die Bewältigung dieser Aufgaben ist nur auf dem Boden einer entfalteten
technischen Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft, der Industrie, des
Verkehrswesens und der Landwirtschaft möglich. Deshalb ist die grundlegende,
entscheidende wirtschaftliche Aufgabe des zweiten Fünfjahrplans die Vollendung
der Rekonstruktion der gesamten Volkswirtschaft. Die entscheidende Bedingung
für die Vollendung der technischen Rekonstruktion der Volkswirtschaft in der
zweiten Fünfjahrperiode muß die Beherrschung der neuen Technik und der neuen
Produktionszweige werden." Die Resolution des XVII. Parteitages stellt
schließlich fest, „daß der zweite Fünfjahrplan der Entwicklung der
Volkswirtschaft, den die staatliche Plankommission der UdSSR vorgelegt und das
ZK der KPDSU(B) und der Rat der Volkskommissare der UdSSR angenommen haben,
sicherstellt: die Liquidierung der kapitalistischen Elemente der Klassen
überhaupt, die endgültige Liquidierung des Privateigentums an
Produktionsmitteln auf der Grundlage der vollständigen Kollektivierung der
bäuerlichen Wirtschaften und der Vergenossenschaftung aller Handwerker; die
Liquidierung der Vielheit der gesellschaftlichen Wirtschaftsformationen in der
Sowjetunion und die Behauptung der sozialistischen Produktionsweise als der
einzigen Produktionsweise, bei Verwandlung der gesamten werktätigen Bevölkerung
des Landes in aktive und zielbewußte Schöpfer der sozialistischen
Gesellschaft."
Auch der zweite Fünfjahrplan wurde vorfristig erfüllt. Im dritten Fünfjahrplan
können schon wieder viel weiter gesteckte Aufgaben gestellt werden. Die
Voraussetzungen dafür, daß die bereits eingeholten kapitalistischen Länder
jetzt überholt werden, sind gegeben. Die Erziehung qualifizierter Arbeiterkader
hat die ausländischen Spezialisten, die in der ersten Periode unentbehrlich
waren, überflüssig gemacht. Die Wirtschaft der Sowjetunion kann nunmehr mit den
eigenen Kräften gewaltige Leistungen vollbringen, so daß — nachdem die Aufgabe
der Meisterung der Technik bis zu einem gewissen Grade gelöst ist — viel mehr
Kraft für die politische Schulung der Massen aufgewandt werden kann.
Knapp zehn Jahre nachdem der Kampf um den Aufbau des Sozialismus als
Tagesaufgabe der Partei bezeichnet wurde, konnte Stalin (auf dem XVII.
Parteitag im Jahre 1934) erklären:
„Das Fundament der sozialistischen Gesellschaft ist in der Sowjetunion bereits
gelegt. Übrig bleibt uns nur die Krönung" mit dem Überbau — zweifellos
eine leichtere Sache als der Bau des Fundamentes der sozialistischen
Gesellschaft." In der ganzen Welt wird das Wirtschaftswunder in der UdSSR
angestaunt. Das Volk in den Sowjetrepubliken kann keinesfalls mehr mit dem
unter der Knute des Zarismus lebenden russischen Volke verglichen werden. Was
im letzten Jahrzehnt in der Sowjetunion geschaffen wurde, ist eine
unvergleichliche Leistung. In keinem anderen Jahrzehnt der ganzen
Weltgeschichte wurde eine gleich gewaltige Tat vollbracht. Und das ist das
Große und Herrliche: Schöpfer des neuen sozialistischen Staates sind die
arbeitenden Klassen, deren schöpferische Kräfte bis zur Eroberung der
politischen Macht in Rußland gewaltsam unterdrückt waren.
„Kommunismus ist: Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen
Landes." Im Sinne dieser Parole Lenins ist die Bolschewistische Partei an
die Lösung der ersten Aufgabe gegangen: das alte rückständige Agrarland in ein
fortschrittliches Industrieland umzuwandeln. Die industrielle Produktion der
Sowjetunion hat sich seit dem Jahre 1924 in riesigem Maße vergrößert. Das
technisch-wirtschaftliche Niveau des Landes hat sich völlig verändert. Während
die ärgste Wirtschaftskrise in der kapitalistischen Welt wütete, wurden in der
Sowjetunion neue, gewaltige, nie stillstehende Industriewerke aus der Erde
gestampft. In den mittelasiatischen Republiken und in den fernöstlichen Gauen
entstanden eigene Industrien, die diese Gebiete selbständig versorgen. Tausende
gigantische Betriebe wurden neu geschaffen: Flugzeugfabriken, Automobil- und
Maschinenfabriken, chemische Werke, Kohlengruben und Hüttenwerke, Werften, Betriebe
der Fertigwaren- und der Lebensmittelindustrie. Die rückständigste
Landwirtschaft der Welt wurde industrialisiert und zur fortschrittlichsten auf
dem Erdball. In der Landwirtschaft Turkestans z.B., in der zur Zeit des
Zarismus 800 Pflüge ackerten, arbeiteten 1934 bereits 500.000 Pflüge und 15.000
Traktoren.
Von 1924 an ist die industrielle Produktion in jedem Jahre erheblich gewachsen.
Die prozentuale Steigerung wurde von Jahr zu Jahr größer. Der Wert der
Gesamtproduktion aller Industriezweige war 1935 um 16% höher als 1934, im Jahre
1936 um 31% höher als im Jahre 1935. Das letzte Jahr des zweiten Fünfjahrplans,
1937, brachte eine weitere erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Der
Wert der Produktion von Produktionsmitteln war 1936 um 32% höher als im
Vorjahre, der Wert der Produktion von Bedarfsartikeln stieg 1936 um 29% über
den Stand von 1935, der Wert der Lebensmittelindustrie gleichfalls um 29%. Die
Leichtindustrie hat 1936 um 2 Milliarden Rubel mehr Güter produziert als 1935.
Die Bedarfsgüter- und die Nahrungsmittelindustrie hatten — wie Molotow auf dem
VII. Sowjetkongreß (1935) klagte — im Jahre 1934 ihre Pläne nicht erfüllen
können. Wegen des Rückstandes in den vergangenen Jahren war den beiden
Industrien in dem Plan des Jahres 1936 eine besonders große Aufgabe gestellt.
Sie haben sie nicht nur erfüllt, sondern erstmalig übererfüllt. Dieses
Ergebnis, das auf der Grundlage des erfolgreichen Aufbaus der Schwerindustrie
möglich wurde, schafft im Verein mit der steigenden Produktivität der Landwirtschaft
die reale Möglichkeit der besseren und billigeren Versorgung des ganzen Volkes
mit Lebens- und Bedarfsgütern. Auch die Steigerung der Arbeitsproduktivität,
die z.B. bei den Arbeitern der Leichtindustrie 1936 um 20 % höher war als 1935,
trägt sehr wesentlich zur Hebung des Wohlstandes bei. Die ganz außerordentliche
Leistung des industriellen Aufbaus in der Sowjetunion charakterisiert die
Entwicklung der Schwerindustrie in besonders überzeugender Weise. Im Jahre 1936
repräsentierte allein die Produktionszunahme der Schwerindustrie gegenüber 1935
einen Wert von 8 Milliarden Rubel, das ist fast ebensoviel, wie — im gleichen
Geldwert gemessen — der Wert der gesamten industriellen Produktion im Jahre
1913.
Auch das Verkehrswesen, das in der ersten Zeit des industriellen Aufbaus
zurückblieb und ein schwacher Punkt im Gesamtplan war, hat in den letzten
Jahren erheblich aufgeholt. In dem Bericht, den der damalige Volkskommissar für
das Verkehrswesen, L. Kaganowitsch, über die Leistungen des Verkehrswesens im
Jahre 1936 erstattete, schreibt er u. a.:
„Die Eisenbahnen der UdSSR sollten dem Plane nach in diesem Jahr 28.731.000
Waggons verladen. 1936 wurden 31.534.466 Waggons verladen, was 109.8 Prozent
des Jahresplans ausmacht, bei einer täglichen Durchschnittsverladung von 86.160
Waggons, das sind 109.8 Prozent der festgelegten täglichen
Durchschnittsverladung (78.500 Waggons) und 126.5 Prozent gegenüber dem Jahre
1935.
Der Jahresplan der Güterbeförderung in Tonnen war für dieses Jahr in einer Höhe
von 457 Millionen Tonnen festgesetzt. 1936 wurden 484.2 Millionen Tonnen
befördert, d.h. 105.9 Prozent des Jahresplans und 124.6 Prozent der Verladung
im Jahre 1935.
Für 1936 war die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter und Angestellten
hinsichtlich der Leistung der Eisenbahnen mit 310.000 Tonnenkilometern
festgesetzt. Im Jahre 1936 wurde eine Arbeitsproduktivität von 354.810
Tonnenkilometer erreicht, das sind 114.4 Prozent des Jahresplans und 123.7
Prozent der 1935 erreichten Arbeitsproduktivität.
Die Gestehungskosten der Beförderung wurden in neun Monaten um 3.4 Prozent
herabgesetzt, während sie dem Plan zufolge im Jahre 1936 um 2.6 Prozent
herabgesetzt werden sollten."
Das bessere Funktionieren des Verkehrswesens erleichtert die Rohstoffzufuhr an
die Produktionsstätten, steigert die industrielle Produktion, verbessert die
Versorgung des Volkes mit Lebensmitteln und Bedarfsgütern.
Alle Wirtschaftsstatistiken beweisen das gewaltige Anwachsen der industriellen
Produktion. Die Gesamtproduktion der Industrie ist — bei Umrechnung auf
gleichen Geldwert — von 4.7 Milliarden Rubel im Jahre 1924 auf 92.7 Milliarden
im Jahre 1937 gestiegen.
Die vollbrachten Leistungen sind gigantisch. Trotzdem bleibt noch viel zu tun,
um die steigenden Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen. So ist z.B. die
Steigerung der Lederschuh- und der Automobilproduktion ganz außerordentlich,
aber die Erzeugung von 180 Millionen Paar Schuhen für ein 180-Millionenvolk ist
noch ebensowenig ausreichend, wie die jährliche Produktion von 200.000
Automobilen.
Besonders groß sind die Anstrengungen und die Erfolge in der Schwerindustrie.
Während die Hüttenindustrie im ersten Jahre des zweiten Fünfjahrplans — 1932 —
schon 16.100 Tonnen Stahl und 12.200 Tonnen Walzgut pro Tag produzierte, betrug
im Oktober 1936 die tägliche Stahlproduktion 48.700 Tonnen und die tägliche
Walzgutproduktion 37.500 Tonnen. Das Ziel, das in der Hüttenindustrie durch
sozialistischen Wettbewerb erreicht werden soll, ist die tägliche Produktion
von 60.000 Tonnen Stahl und 45.000 Tonnen Walzgut. In einigen Tagen des Jahres
1936 wurde ebensoviel Stahl und Roheisen gegossen wie im ganzen Jahre 1920.
Dieser Vergleich zeigt symbolisch das gewaltige Stück, das auf dem Wege zur
Industrialisierung der Sowjetunion in anderthalb Jahrzehnten zurückgelegt worden
ist.
Die nachfolgende Aufstellung gibt eine Übersicht, in welchem Ausmaße in den
zwei Fünfjahrplänen die Bruttoproduktion der Großindustrie von Jahr zu Jahr
angewachsen ist: (in den Preisen der Jahre 1926/27)
Jahre |
Bruttoproduktion in Milliarden Rubel |
Anwachsen der Produktion in Milliarden
Rubel |
in Prozenten gegenüber dem Vorjahre |
1924 |
4.5 |
|
|
1929 |
21.2 |
+ 4.4 |
152.8 |
1930 |
27,8 |
+ 6.6 |
130.7 |
1931 |
34.2 |
+ 6.6 |
123.3 |
1932 |
38.8 |
+ 4.6 |
113.5 |
1933 |
42.2 |
+ 3.4 |
108,8 |
1934 |
50.0 |
+ 7.8 |
118.3 |
1935 |
59.6 |
+ 9.5 |
117.3 |
1936 |
71.3 |
+11.7 |
119.6 |
1937 |
(Plan) 86.4 |
+15.1 |
121.2 |
Vergleicht man die industrielle Produktion von 1924 bis 1937, so ergibt sich,
daß in diesen 13 Jahren die Industrieproduktion fast um das 19fache vergrößert
wurde. Nach der vorfristigen Erfüllung des zweiten Fünfjahrplans sollte gemäß
dem besonderen Volkswirtschaftsplan für das Jahr 1937 eine Produktion im Werte
von 103 Milliarden Rubel erreicht werden, also noch 17 Milliarden Rubel mehr
als im zweiten Fünf jahrplan für 1937 ursprünglich bestimmt war. 1924 war das
Vorkriegsniveau der Industrieproduktion noch nicht einmal zur Hälfte erreicht,
während es 1937 weit überholt ist. Auf dem VIII. Sowjetkongreß — am 26.
November 1936 — stellte Stalin in seiner Rede über die neue Verfassung fest,
daß die Industrie der Sowjetunion siebenmal so viel produziere wie die
russische Industrie im letzten Jahre vor dem Kriege. 1937 war es mehr als
achtmal so viel.
Durch dieses stürmische Tempo der industriellen Produktionssteigerung hat sich
das Verhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft in der Sowjetunion
erheblich verändert. Im Jahre 1913 lieferte die Landwirtschaft annähernd 60%
der Gesamtproduktion des Landes, die Industrie nur 40%. Im Jahre 1936 dagegen,
wo die landwirtschaftliche Produktion 1 1/2 mal größer war als 1913. lieferte
die Industrie 80% der Gesamtproduktion des Landes, und die landwirtschaftliche
Produktion trotz der sehr erheblichen Steigerung nur noch 20%. Diese
grundlegende Veränderung ist ein durchschlagender Beweis für die Industrialisierung
des Landes und vor allem dafür, daß es in einem reichlichen Jahrzehnt gelungen
ist, die Sowjetunion aus einem ökonomisch rückständigen zu einem der
fortgeschrittensten Lander der Welt umzuwandeln. In der Sowjetunion kann man
1936 alle Maschinen aus eigenen Kräften, mit eigenen Materialien, in eigenen
Fabriken entwerfen und bauen. Die kompliziertesten Produktionsmittel, die
leistungsfähigste Ausrüstung für die Lebensmittel- und die Leichtindustrie
können nunmehr in der Sowjetunion selbst hergestellt werden.
Der besondere Vorzug des industriellen Produktionsapparates der Sowjetunion ist
seine Jugend, seine Modernität. Während in dem industriell leistungsfähigsten
Lande der Welt, in den USA, nach einer Anfang 1935 gemachten Statistik zwei
Drittel der gesamten Ausrüstung der metallverarbeitendenden Industrie mehr als
10 Jahre alt waren, hatten in der SU zur gleichen Zeit 60% der
metallschneidenden Drehbänke ein Alter unter sechs Jahren.
„Wir wollen nicht übertreiben" — sagte Molotow 1935 auf dem VII. Sowjetkongreß
— „und sagen nicht, daß die Sowjetunion bereits ein reiches Land ist. Die
Werktätigen der Sowjetunion wissen jedoch, daß unser Land auf dem Wege ist,
reich zu werden."
Wie hat die gewaltige Industrialisierung das Verhältnis der
Sowjetunion zu den anderen Ländern der Welt verändert?
1929 war das Jahr der letzten Hochkonjunktur in der kapitalistischen Welt.
Vergleicht man den Umfang der industriellen Produktion der einzelnen Länder in
Prozenten zu 1929, so kommt man zu folgendem Ergebnis:
Land |
1929 |
1930 |
1931 |
1932 |
1933 |
1934 |
1935 |
1936 |
Sowjetunion |
100 |
130 |
162 |
185 |
202 |
239 |
288 |
351 |
USA |
100 |
81 |
68 |
54 |
65 |
67 |
72 |
90 |
Großbritannien |
100 |
92 |
84 |
84 |
88 |
96 |
105 |
117 |
Deutschland |
100 |
88 |
72 |
60 |
69 |
86 |
94 |
106 |
Frankreich |
100 |
101 |
89 |
69 |
77 |
71 |
66 |
70 |
Italien |
100 |
92 |
78 |
67 |
74 |
80 |
93 |
|
Die ganze Welt
ohne Sowjetunion |
100 |
85 |
74 |
62 |
71 |
76 |
98 |
103 |
Daraus ist zu ersehen, in wie starkem Maße die industrielle Produktion in der
Sowjetunion gerade in den Jahren gewachsen ist, in denen die industrielle
Produktion den kapitalistischen Länder einschrumpfte. Der Anteil der
Sowjetunion an der industriellen Weltproduktion ist ganz erheblich gestiegen. Bei
Abschluß des zweiten Fünf jahrplans ist die UdSSR, wie in dem Ende 1936 von der
Staatlichen Plankommission herausgegebenen Buch „Der zweite Fünfjahrplan"
festgestellt wird, „...nicht nur in Bezug auf den Stand der technischen
Grundlage der Volkswirtschaft, sondern auch in Bezug auf die absolute Hohe der
industriellen Produktion an die erste Stelle Europas" gerückt.
Die nachfolgende Aufstellung, die dem gleichen Buche entnommen ist, zeigt,
welche Stelle in der Weltproduktion die UdSSR in den einzelnen Produktionszweigen
in früheren Jahren eingenommen hat und welchen Platz sie heute einnimmt:
Produktionszweige |
1913 in der Welt |
1928 in der Welt |
1932 in der Welt |
1932 in Europa |
1937 in der Welt |
1937 in Europa |
Gesamtproduktion |
- |
5 |
3 |
2 |
2 |
1 |
Energieerzeugung |
15 |
10 |
7 |
4 |
2 |
1 |
Steinkohle |
6 |
6 |
4 |
3 |
4 |
3 |
Torf |
- |
- |
1 |
1 |
1 |
1 |
Erdöl |
2 |
3 |
2 |
1 |
2 |
1 |
Roheisen |
5 |
6 |
5 |
4 |
2 |
1 |
Stahl |
5 |
5 |
5 |
4 |
2 |
1 |
Allgemeiner
Maschinenbau |
4 |
4 |
2 |
1 |
2 |
1 |
Landwirtschaftlicher |
- |
4 |
2 |
1 |
2 |
1 |
Traktoren |
- |
4 |
2 |
1 |
2 |
1 |
Mähdrescher |
- |
- |
2 |
1 |
2 |
1 |
Automobile
insgesamt |
- |
12 |
7 |
5 |
5 |
3 |
Darunter
Lastkraftwagen |
- |
11 |
6 |
4 |
2 |
1 |
Kupfer |
7 |
9 |
9 |
2 |
3 |
1 |
Aluminium |
- |
- |
11 |
9 |
2 |
1 |
Zement |
- |
8 |
7 |
5 |
2 |
1 |
Phosphordüngemittel
|
- |
18 |
9 |
6 |
2 |
1 |
Schuhe |
- |
5 |
3 |
2 |
2 |
1 |
Seife |
6 |
5 |
5 |
4 |
2 |
1 |
1937 hat also die Sowjetunion in allen Produktionszweigen, ausgenommen die
Steinkohlenförderung und die Automobilproduktion, den ersten Platz in Europa
und fast überall den zweiten Platz in der Welt erreicht. Im Maschinenbau betrug
der Anteil der Sowjetunion an der Weltproduktion im Jahre 1928 nur 4.2%, im
Jahre 1937 dagegen 37.5%. Bei all diesen Vergleichen mit den kapitalistischen
Ländern ist nicht das Produktionsniveau dieser Staaten aus den Jahren der Krise
herangezogen worden, sondern aus dem Jahre 1929, in dem der Höhepunkt der
Produktion der kapitalistischen Staaten erreicht war.
Die Sowjetunion hat aber nicht nur die kapitalistischen Staaten eingeholt und
teilweise überholt, sie hat die Steigerung ihrer industriellen Produktion in
einem so raschen Tempo erreicht wie kein kapitalistisches Land vorher. Zum
Beispiel hat die Sowjetunion die Eisenproduktion in vier Jahren von 5 Millionen
Tonnen auf 10 Millionen Tonnen gebracht, während die USA zu einer solchen
Erhöhung ihrer Eisenproduktion 15 Jahre, und England sogar 36 Jahre brauchten.
Das außerordentlich schnelle Tempo der industriellen Produktionssteigerung in
der Sowjetunion berechtigt zu der Auffassung, daß die UdSSR in gar nicht allzu
ferner Zeit alle kapitalistischen Länder überflügeln und an erster Stelle in
der Welt stehen wird. In dem gleichen Maße, wie in der Sowjetunion die gesamte
industrielle Produktion gewachsen ist, wurde auch die Produktivität der Arbeit
gesteigert. Eine Übersicht darüber gibt die nachfolgende Aufstellung, die
gleichfalls aus dem Buche „Der zweite Fünfjahrplan" stammt:
1. Jährliche Roheisengewinnung pro Arbeiter (in t):
UdSSR ... |
1932 |
255 |
|
1937 |
710 |
Deutschland
... |
1929 |
611.9 |
USA ... |
1929 |
1734.6 |
2. Steinkohlenförderung pro Arbeiter und Schicht (in kg):
UdSSR ... |
1932 |
697 |
|
1937 |
1302 |
Deutschland
... |
1929 |
1271 |
Großbritannien
... |
1929 |
1102 |
Frankreich |
1929 |
694 |
Die Leistung pro Arbeiter in der Großindustrie ist 1937 63% höher als 1932, die
Leistung der Bauarbeiter um 75%, die der Eisenbahnarbeiter um 43%.
Diese großen Erfolge der UdSSR konnten erreicht werden, weil das Riesenreich im
Osten ein Kontinent für sich ist, der über alle Rohstoffe und Materialien für
den gigantischen Aufbau verfügt. Aber nicht nur das Vorhandensein der
materiellen Voraussetzungen hat das grandiose Ergebnis gezeitigt, sondern die
begeisterte Hingabe des Volkes für den sozialistischen Aufbau und die zielklare
Führung, die diese Begeisterung in die rechten Bahnen zu lenken verstand.
Die Richtigkeit dieser Behauptung beweist ein Vergleich mit der Entwicklung des
entscheidenden kapitalistischen Landes, den Vereinigten Staaten von
Nordamerika. Die USA sind mindestens ebenso reich wie die Sowjetunion. Sie
verfügen über alle Naturreichtümer, über ein ungeheures Territorium, über einen
mächtigen Produktionsapparat, der bei voller Inanspruchnahme das Volkseinkommen
bis auf 300 Milliarden Dollar jährlich heben könnte, und über eine
hochentwickelte Landwirtschaft, die imstande wäre, zwei solche Länder wie
Amerika zu ernähren. Trotzdem gibt es in Amerika 10 Millionen Arbeitslose, eine
heftige Agrarkrise, einen zusammenbrechenden Mittelstand, eine latente
Wirtschaftskrise, in der Millionen Existenzen vernichtet und ständig bedroht
werden. Das kapitalistische Regime hemmt die freie Entfaltung der Produktivkräfte
und macht es unmöglich, die ungeheuren Reichtümer Amerikas zu mobilisieren, sie
allen Bürgern des Landes dienstbar zu machen und den Wohlstand des Volkes zu
heben. Der Sowjetunion — die nicht reicher ist als Amerika — gelang es dank der
vom Kapitalismus befreiten Planwirtschaft, das Land von Krisen frei zu halten,
die Arbeitszeit zu verkürzen, die Reallöhne zu erhöhen und allen arbeitenden
Menschen eine gesicherte Existenz und steigenden Wohlstand zu gewährleisten.
Viel deutlicher noch wird die Überlegenheit des sozialistischen über das
kapitalistische Wirtschaftssystem klar, wenn man die wirtschaftliche
Entwicklung in der Ukraine mit der in Polen vergleicht. Die Ukraine und Polen
gehörten beide früher zu dem zaristischen Rußland, sie waren dort gewissermaßen
ein einheitliches Wirtschaftsgebiet, in dem unter den gleichen Bedingungen
produziert wurde. Polen ist heute ein kapitalistisches Land, die Ukraine gehört
zur UdSSR. Amtliche Statistiken ergeben folgendes Bild:
Die Kohlengewinnung ist auf dem Gebiet, das jetzt zu Polen gehört, von
40.972.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 28.543.000 Tonnen im Jahre 1935
zurückgegangen. In der Ukraine ist die Kohlengewinnung von 23.485.000 Tonnen im
Jahre 1913 auf 61.000.000 Tonnen im Jahre 1935 gestiegen.
Die Roheisenerzeugung ist in Polen von 1.055.000 Tonnen im Jahre 1913 auf
394.000 Tonnen im Jahre 1935 gesunken. In der Ukraine ist die Roheisenerzeugung
von 2.876.000 Tonnen auf 7.623.000 Tonnen gestiegen.
Die Stahlerzeugung ist in Polen von 1.677.000 Tonnen im Jahre 1913 auf 946.000
Tonnen im Jahre 1935 zurückgegangen. In der Ukraine ist die Stahlerzeugung von
2.441.000 Tonnen auf 6.012.000 Tonnen gestiegen. Als Unterlage für den
Vergleich ist das Material der offiziellen polnischen Statistik, das
„Kurzgefaßte Statistische Jahrbuch" Polens für 1936 genommen worden. In
der Ukraine kennt man die Arbeitslosigkeit nicht mehr, in Polen gibt es nach
der amtlichen Statistik 250.000 Arbeitslose. Die tatsächliche Arbeitslosenzahl
in Polen ist jedoch noch wesentlich größer, weil Polen das charakteristischste
Land für das Bauernelend ist. In Polen gibt es Hunderttausende ruinierter
Bauernwirtschaften, deren Besitzer weder in ihrer Wirtschaft noch in der
Industrie Arbeit finden können.
Dieser Vergleich zwischen Polen und der Ukraine zeigt plastisch die
Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems. Die freie Entfaltung der
Produktivkräfte in der UdSSR ermöglicht die Mobilisierung der ungeheuren
Reichtümer des Landes. Sie befähigt die Sowjetunion, in der industriellen und
landwirtschaftlichen Produktion einen immer größeren Vorsprung vor den
kapitalistischen Ländern zu erringen.
Ist durch die gewaltige Steigerung der industriellen Produktion
die Sowjetunion unabhängiger von der übrigen kapitalistischen Welt geworden?
1924 war die Sowjetunion in starkem Maße von den kapitalistischen Ländern
abhängig. Eines der wichtigsten Argumente Trotzkis gegen die Theorie des
Sozialismus in einem Lande war der Hinweis auf diese Abhängigkeit. Durch den
erfolgreichen industriellen Aufbau hat sich das damalige Verhältnis wesentlich
geändert. In seinem dem VII. Sowjetkongreß — 1935 — erstatteten Bericht
schildert Molotow die Schwierigkeiten des Außenhandels und ihre Überwindung
folgendermaßen:
„Unser Außenhandel hatte seine schwierige Zeit. Noch vor kurzer Zeit waren wir
technisch rückständig und mußten infolgedessen zu Beginn des ersten
Fünfjahrplanes viele Maschinen importieren, um die Industrialisierung und
technische Umgestaltung der Landwirtschaft unseres Landes zu beschleunigen.
Nachdem aber das Fundament gelegt war und sich in den letzten Jahren der
Maschinenbau in unseren eigenen Betrieben entfaltete, bestand für uns die
Möglichkeit, die Maschineneinfuhr stark einzuschränken. Das bewirkte eine
Änderung unserer Außenhandelsbilanz. Die letzten zwei Jahre gaben uns ein
beträchtliches Übergewicht der Ausfuhr über die Einfuhr, was früher nicht der
Fall war. Wir vermochten die aus der Vergangenheit stammende große Verschuldung
an das Ausland im Laufe der letzten Jahre auf ein Viertel zu verringern, so daß
die Überreste der Verschuldung unbeträchtlich genannt werden können. Zugleich
wurde in den letzten vier Jahren die Goldausbeute (die Goldeinnahme der Torgsin
mit eingerechnet) versechsfacht. Dadurch wurde unsere Währungslage und
überhaupt die Lage auf dem Außenmarkt von Grund auf geändert, um so mehr, da
die Sowjetunion allen ihren Handelsverpflichtungen pünktlich nachkommt. Im
Ausland ist allen bekannt, daß die Sowjetunion ihre Verpflichtungen aus den
Handelsverträgen nicht so erfüllt, wie es gegenwärtig in vielen bürgerlichen
Ländern üblich ist — sie zahlt nicht ,symbolisch', sondern wie es sich gehört,
nicht in Versprechungen, sondern in Valuta. Daraus folgt, daß wir heute mehr
denn je die Möglichkeit haben, unserem Außenhandel normale Bedingungen zu
sichern." An anderer Stelle derselben Rede sagt Molotow zu dem gleichen
Thema:
„Es ist noch nicht lange her, als die Sowjetunion zehntausende Traktoren aus
dem Auslande importieren mußte. Für die Einfuhr von Traktoren (von 1929 bis
1931 86.000 Stück) wurden über 200 Millionen Goldrubel vom Staat in der
Erkenntnis ausgegeben, daß dies in jenen Jahren notwendig war. Es genügt, sich
daran zu erinnern, daß wir z.B. im Vorjahre, wo das Ausland für ein Pud Weizen
48 Goldkopeken und für ein Pud Roggen 27 Goldkopeken zahlte, zur Deckung dieser
Auslagen für die Traktoren 500 Millionen Pud Getreide an das Ausland hätten
verkaufen müssen. Die Lage hat sich geändert. Wir bauten unsere eigenen
Traktorenfabriken auf und erhielten von ihnen allein im Vorjahre 93.500
Traktoren."
Die Sowjetunion produzierte 1937 rund 167.000 Traktoren, das ist ungefähr
doppelt so viel, wie in den drei Jahren von 1929 bis 1931 aus dem Ausland
bezogen wurden. Viele Millionen Pud Getreide, die damals als Gegenleistung an
das Ausland geliefert und der Ernährung des eigenen Volkes entzogen werden
mußten, können jetzt im Lande verbleiben und die Ernährung des Volkes erheblich
verbessern.
Seit dieser im Januar 1935 gehaltenen Rede Molotows ist die wirtschaftliche
Abhängigkeit der Sowjetunion von der kapitalistischen Umwelt noch geringer
geworden. Nach den Ende 1936 veröffentlichten offiziösen Mitteilungen über den
Stand des Außenhandels der UdSSR ergibt sich folgendes Bild:
Die Einfuhr der Sowjetunion ist von 1103 Millionen Rubel im Jahre 1931 auf 241
Millionen Rubel im Jahre 1935 (nach altem Kurs) gesunken. Der Import im Jahre
1936 hält sich ungefähr auf der Höhe des Jahres 1935, ohne den Import auf
Rechnung der Zahlung für die ostchinesische Eisenbahn und auf Rechnung der
Abkommen über die langfristigen Finanzkredite. Die Einfuhr von Maschinen und
anderen Metallwaren, die im Jahre 1931 582 Millionen amerikanische Dollar
erreichte, beträgt bei einer eigenen Maschinenproduktion von 7.4 Milliarden
Rubel und bei einem eigenen Maschinenbau und Metallverarbeitungsplan im Werte
von 22 Milliarden Rubel 110 bis 120 Millionen amerikanischer Dollar. In den
Jahren 1927 und 1928 wurden 145.000 Tonnen Baumwolle bei einer Eigenproduktion
von 235.000 Tonnen gereinigter Baumwolle importiert. Im Jahre 1936 betrug der
Baumwollimport nur noch 17.000 Tonnen auf Rechnung des Warenaustausches mit den
östlichen Ländern. Die eigene Baumwollproduktion ergibt im Jahre 1936 nicht
weniger als 660.000 Tonnen. Die Außenhandelsschuld der Sowjetunion für den
Import betrug Anfang des Jahres 1929 410 Millionen amerikanischer Dollar. Ende
1931 erreichte sie ihr Maximum mit 1220 Millionen amerikanische Dollar.
Gegenwärtig beträgt sie aber nur mehr 75 Millionen amerikanischer Dollar, was
ihre praktische Liquidierung bedeutet.
Der erste Fünfjahrplan konnte nur mit Unterstützung der kapitalistischen Länder
durchgeführt werden. Obwohl die unter dem Zarismus gemachten Auslandsschulden
von der Sowjetmacht gestrichen wurden, obwohl gerade diese Tatsache die Wut der
Kapitalisten über den Sowjetstaat gesteigert hat, haben später die Kapitalisten
in allen Ländern um des Geschäftes willen nicht gezögert, der Sowjetunion große
Kredite zu geben. Diese Kredite aus den kapitalistischen Ländern haben nicht
wenig dazu beigetragen, den industriellen Aufbau durchzuführen. Die Sowjetunion
wurde dadurch in die Lage versetzt, sich selbst zu versorgen und billige
Fertigwaren auf den Weltmarkt zu bringen, die die Produkte aus den
kapitalistischen Ländern zurückdrängten. „Der rote Handel lockt" schrieb
damals der amerikanische Journalist Knickerbocker. Er wollte zum Ausdruck
bringen, daß die Kapitalisten in der anarchischen kapitalistischen Wirtschaft
nicht an die Zukunft, sondern immer nur an die Gegenwart denken. Um des
Geschäftes willen, das sie in der Gegenwart mit der Sowjetunion machen können,
übersehen sie die daraus für sie erwachsenden Gefahren für die Zukunft. 1220
Millionen amerikanischer Dollar hatten die ausländischen Kapitalisten im Jahre 1931
der Sowjetunion kreditiert. Sie haben die Schuld bezahlt bekommen, aber für
dieses Geld kamen ausländische Maschinen nach der Sowjetunion, mit deren Hilfe
heute die eigenen Maschinen und die Waren produziert werden, die die UdSSR von
dem kapitalistischen Ausland immer unabhängiger machen.
Für den zweiten Fünfjahrplan hat die Sowjetunion schon viel weniger
Unterstützung aus dem Ausland gebraucht als für den ersten, und der dritte
Fünfjahrplan kann bereits ganz ohne ausländische Hilfe durchgeführt werden. Die
Sowjetunion braucht die Kredite aus dem Auslande nicht mehr. Wenn sie ihr
gemachte Angebote in Anspruch nimmt, um das Tempo des Aufbaus noch zu
beschleunigen, dann braucht sie das nicht mehr zu den ungünstigen Bedingungen,
wie während des ersten Fünfjahrplans; sie macht von solchen Krediten nur dann
Gebrauch, wenn ihr ganz besonders günstige Bedingungen gewährt werden.
So hat sich das Verhältnis der Sowjetunion zu der kapitalistischen Umwelt
verändert. Bei dem Fortgang des industriellen Aufbaus, bei der
Industrialisierung der Landwirtschaft und der Mobilisierung der vorhandenen
Naturreichtümer baut der Kontinent der Sowjetrepubliken unabhängig von den
kapitalistischen Ländern eine sozialistische Wirtschaft auf, die die ständig
steigende Menge der produzierten Güter zu dauernden Verbesserungen des
Lebensstandards des eigenen Volkes benutzt.
Die Umwandlung
der Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland in ein fortgeschrittenes Land
mit moderner Industrie hat auch das zahlenmäßige Verhältnis der Arbeiterschaft
zu den anderen Bevölkerungsschichten verändert. Im Jahre 1913 gab es in Rußland
23.300.000 Menschen, die zur Arbeiterklasse gezählt wurden (Arbeiter,
Angestellte, Techniker, Ingenieure und andere in der Industrie Beschäftigte mit
ihren Angehörigen), 1928 wurden in dieser Kategorie 26.343.000 gezählt, am 1.
Januar 1934 aber schon 47.118.000 Menschen. Das heißt, 1913 gehörten 16.7% der
Gesamtbevölkerung zur Arbeiterklasse, 1928 17.3% und am 1. Januar 1934 schon
28.1%. Die zur Arbeiterklasse zählende Bevölkerung hat sich danach von 1913 bis
1934 mehr als verdoppelt, der prozentuelle Anteil der Arbeiterklasse an der
Gesamtzahl der Bevölkerung ist gleichfalls erheblich gestiegen, er ist bis 1937
noch größer geworden. Diese Daten hat Molotow auf Grund der Angaben der
Zentralverwaltung der Volkswirtschaftsstatistik auf dem VII. Sowjetkongreß
mitgeteilt.
In einem Lande, in dem die Arbeiterklasse die politische Führung hat, ist ihr
zahlenmäßiges Erstarken von ganz besonderer Bedeutung. Die Kritik europäischer
Sozialisten wies immer wieder darauf hin, daß die durch die schwache russische
Industrie bedingte geringe Zahl der Arbeiter der Arbeiterklasse die Behauptung
der politischen Macht unmöglich mache. Die Tatsachen haben diese Argumente
widerlegt. Der Aufbau einer gewaltigen Industrie ist gelungen, der zahlenmäßige
Anteil der Arbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung ist enorm gewachsen. Die
weitere Sicherung ist das Bündnis mit den Kollektivbauern, mit denen zusammen
die Arbeiterklasse schon Anfang 1934 die überwiegende Mehrheit, über 74%, des
Volkes bildete; 1937 aber schon rund 94% der Gesamtbevölkerung.
Die zweite große Aufgabe, deren Lösung 1924 als Voraussetzung für
das Gelingen des sozialistischen Aufbaus bezeichnet wurde, war die Überwindung
der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern. Nach einem reichlichen Jahrzehnt
kann anhand der Tatsachen nachgeprüft werden, wie weit die Erfüllung dieser
Aufgabe gelungen ist, ob die Bauern für die aktive Mitarbeit am sozialistischen
Aufbau gewonnen wurden.
In Rußland gab es neben Gegensätzen zwischen Arbeitern und Bauern unendlich
viel mehr Gemeinsames zwischen den beiden Klassen als in irgendeinem anderen
Lande der Welt. Darum vertrat Lenin schon sehr frühzeitig die Auffassung, daß
in Rußland mehr noch als in anderen Ländern des Westens ein festes Bündnis
zwischen Arbeitern und Bauern möglich sei, darum auch ist es im Verlaufe der
russischen Revolution gelungen, vorhandene Gegensätze zu mildern und
schließlich mehr und mehr zu überwinden. Im revolutionären Kampfe konnte die
Politik der Bolschewistischen Partei gegenüber den Bauern nicht immer die
gleiche sein; sie mußte der oft geänderten Situation jeweils angepaßt werden.
Nicht in allen Perioden des Kampfes war die Bauernschaft ein geschlossenes
Ganzes mit übereinstimmenden Interessen; mit der Entwicklung traten
entgegengesetzte Interessen der verschiedenen Schichten innerhalb der Bauernschaft
stärker in den Vordergrund. Für die darum wechselnde Taktik gegenüber den
Bauern hat Lenin sehr klare Richtlinien gegeben. In dem politischen
Tätigkeitsbericht, den Stalin im Auftrage des Zentralkomitees dem XIV.
Parteitag (1925) erstattete, sagte er über die „drei Losungen Lenins in der
Bauernfrage" (Stalin. „Probleme des Leninismus", Seite 371 usf.):
„Es wird gesagt, daß auf dem II. Kongreß der Komintern eine Resolution zur
Bauernfrage angenommen worden sei, in der es heißt, daß in der Epoche des Kampfes
um die Macht nur die Dorfarmut ein Bundesgenosse des Proletariats sein könne
und daß man den Mittelbauern lediglich neutralisieren könne. Ist das richtig?
Das ist richtig. Lenin schrieb diese Resolution im Hinblick auf die Parteien,
die sich erst auf dem Wege zur Macht befinden. Wir aber sind eine Partei, die
bereits die Macht übernommen hat. Das ist der Unterschied. In der Bauernfrage,
in der Frage des Bündnisses der Arbeiter mit den Bauern oder mit einzelnen
Schichten der Bauernschaft hat der Leninismus drei grundlegende Losungen
aufzuweisen, die drei Perioden der Revolution entsprechen...
Früher, als wir der bürgerlichen Revolution entgegengingen ... da sagte Lenin;
Bündnis mit der ganzen Bauernschaft gegen den Zaren und die Großgrundbesitzer
und Neutralisierung der kadettischen Bourgeoisie. Mit dieser Losung sind wir
damals in die bürgerliche Revolution gegangen und wir haben gesiegt. Das war
die erste Etappe unserer Revolution.
Später, als wir der zweiten Etappe, dem Oktober, entgegengingen, da stellte
Lenin eine neue Losung auf, die der neuen Lage entsprach: Bündnis des
Proletariats mit der Dorfarmut gegen alle Bourgeois bei Neutralisierung der
Mittelbauern. Das ist eine Losung, die die kommunistischen Parteien, die um die
Macht kämpfen, brauchen. Und selbst dann, wenn sie bereits die Macht erobert,
sie aber noch nicht befestigt haben, können sie nicht auf ein Bündnis mit dem
Mittelbauern rechnen. Der Mittelbauer, das ist ein Mensch, der abwartet. Er
schaut zu, wer der Stärkere ist, er wartet ab, und erst dann, wenn wir die
Oberhand gewonnen und die Großgrundbesitzer und Bourgeois verjagt haben, ist er
zu einem Bündnis mit uns geneigt ... Wir sind also in die zweite Etappe unserer
Revolution nicht mehr mit der Losung des Bündnisses der Arbeiter mit der ganzen
Bauernschaft, sondern mit der Losung des Bündnisses des Proletariats mit den
armen Bauern hineingegangen.
... Im weiteren, als wir unsere Macht bereits genügend befestigt, als wir die
Angriffe der Imperialisten abgeschlagen hatten, und als wir in den Abschnitt
eines breiten sozialistischen Aufbaus eintraten, da stellte Lenin eine dritte
Losung auf, die Losung des festen Bündnisses des Proletariats und der Dorfarmut
mit den Mittelbauern. Diese Losung ist die einzig richtige, die der neuen
Periode unserer Revolution, der Periode des breiten Aufbaus, entspricht. Sie
ist nicht nur deshalb richtig, weil man jetzt auf dieses Bündnis rechnen kann,
sondern auch deshalb, weil wir beim Aufbau des Sozialismus nicht mit Millionen,
sondern mit Dutzenden von Millionen ländlicher Bewohner operieren müssen...
Dieser Übergang von der alten Losung des ,Bündnisses des Proletariats und der
Dorfarmut', von der alten Losung der Neutralisierung der Mittelbauern zur
Losung eines festen Bündnisses mit den Mittelbauern ist bereits auf unserem
VIII. Parteitag vollzogen worden. Ich will eine Stelle aus der Rede Lenins bei
Eröffnung dieses Parteitages anführen. Sie lautet folgendermaßen:
,Die besten Vertreter des Sozialismus in der alten Zeit haben, als sie noch an
die Revolution glaubten und theoretisch für sie eintraten, von einer
Neutralisierung der Bauernschaft gesprochen, d.h. davon, diese mittlere
Bauernschaft in eine gesellschaftliche Schicht zu verwandeln, die, wenn sie
auch der proletarischen Revolution nicht aktiv beisteht, so doch wenigstens
unsere Arbeit nicht stört. Diese abstrakte theoretische Aufgabestellung ist für
uns vollkommen klar. Aber sie ist ungenügend. Wir sind in ein solches Stadium
des sozialistischen Aufbaus eingetreten, wo wir anhand der Erfahrungen der Arbeit
auf dem Lande konkret und eingehend die Hauptregeln ausarbeiten müssen, an die
wir uns zu halten haben, um unser Verhältnis zum Mittelbauern auf die Grundlage
eines festen Bündnisses zustellen.'“
Warum in der Periode des sozialistischen Aufbaus das aktive Bündnis auch mit
den Mittelbauern angestrebt werden mußte, hat Lenin in einem Referat, das er am
9. April 1921 vor den Sekretären und Zellenleitern der Moskauer
Parteiorganisation hielt, folgendermaßen formuliert (Lenin, Ausgewählte Werke,
Band IX, Seite 170/171):
„Um diese Frage zu beantworten, muß man aufmerksam die Veränderungen
betrachten, die in der Bauernwirtschaft stattgefunden haben. Anfangs war die
Lage so, daß wir einen Ansturm der gesamten Bauernschaft gegen die Herrschaft
der Gutsbesitzer sahen. Gegen die Gutsbesitzer marschierten gleichermaßen
sowohl die armen Bauern, als auch die Kulaken, wenn auch natürlich mit
verschiedenen Absichten: die Kulaken marschierten mit dem Ziel, das Land den
Gutsbesitzern wegzunehmen und auf ihm ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln. Da
traten eben die verschiedenen Bestrebungen und Interessen der Kulaken und der
armen Bauern in Erscheinung ... Die arme Bauernschaft konnte unmittelbar den
Übergang der Ländereien von den Gutsbesitzern sehr wenig ausnutzen, denn sie
verfügte dazu weder über Materialien, noch über Gerätschaften. Und so sehen
wir, daß die arme Bauernschaft sich organisiert, um nicht zuzulassen, daß die
Kulaken die beschlagnahmten Ländereien an sich reißen. Die Sowjetunion
unterstützt die entstandenen Komitees der Dorfarmut bei uns und Komitees der
armen Bauern in der Ukraine. Was war das Ergebnis? Das Ergebnis war, daß die
Mittelbauern zum überwiegenden Element auf dem Lande wurden ... Die Extreme in
der Richtung des Kulakentums auf der einen und der Verelendung auf der anderen
Seite nahmen ab, und die Mehrheit der Bevölkerung begann, sich dem Niveau der
Mittelbauern zu nähern. Wenn wir die Produktivität unserer Bauernwirtschaft
heben sollen, so müssen wir in erster Linie mit dem Mittelbauern rechnen. Die
Kommunistische Partei mußte dann auch dementsprechend ihre Politik gestalten...
Die veränderte Politik gegenüber der Bauernschaft findet also ihre Erklärung
darin, daß die Lage der Bauernschaft selbst sich geändert hat. Das Dorf ist
mehr mittelbäuerlich geworden, und bei der Hebung der Produktivkräfte müssen
wir damit rechnen." Die konkrete Einstellung auf die Veränderung der
wirtschaftlichen Verhältnisse im Dorfe hat die Überwindung der vorhandenen
Widersprüche zwischen Arbeitern und Bauern erleichtert. Die russischen Bauern
führten in der Vergangenheit unter dem Druck der Gutsherren ein besonders
elendes Leben, das sie oft zu revolutionären Erhebungen gegen ihre Unterdrücker
veranlaßte. Es war darum durchaus verständlich, daß diese Bauern in der Revolution
des Jahres 1917 mit der Arbeiterklasse gegen Zarismus und Gutsbesitzer
marschierten. Die Bauern wollten Land. Sie sahen die Ursache ihres elenden
Lebens in der Verweigerung des Landes durch die Gutsbesitzer. Die
Oktoberrevolution gab den Bauern Land, aber die Verwüstungen durch Krieg und
Bürgerkrieg und der Mangel an Werkzeugen zur Bearbeitung des Landes
verringerten die Erträgnisse der bäuerlichen Produktion in katastrophaler
Weise. Deswegen ist im Verlaufe der russischen Revolution das Verhältnis zwischen
Arbeitern und Bauern zeitweise getrübt worden und manchmal sehr kritisch
gewesen. Was nützte den Bauern das Land, wenn ihnen die Hilfsmittel und
Maschinen zur intensiven Bearbeitung fehlten? Die Stadt, die Arbeiter brauchten
Lebensmittel, die Bauern vermochten sie nicht zu liefern.
„Kriegskommunismus“ sagte Lenin im April 1921 (Ausgewählte Werke, Band IX,
Seite 190 usf.) „bestand darin, daß wir tatsächlich den Bauern alle
Überschüsse, ja mitunter nicht die Überschüsse, sondern einen Teil der dem
Bauern notwendigen Lebensmittel wegnahmen, um die Ausgaben für die Armee und
den Unterhalt der Arbeiter zu decken ... Der ,Kriegskommunismus' war durch den
Krieg und den Ruin erzwungen. Er war keine Politik, die den wirtschaftlichen
Aufgaben des Proletariats entspricht, und konnte es auch nicht sein. Er war
eine provisorische Maßnahme. Eine richtige Politik des Proletariats, das seine
Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande verwirklicht, ist der Austausch von
Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer benötigt." Der Zwang,
der von der herrschenden Arbeiterklasse in der ersten Periode zeitweilig gegen
die Bauernschaft ausgeübt werden mußte, um die Ablieferung von Lebensmitteln zu
steigern, vermehrte die Not auf dem Lande, schuf Gegensätze zwischen Arbeitern
und Bauern, das gewaltsame Vorgehen gegen die Bauern verminderte die bäuerliche
Produktion noch weiter. Gegensätze ergaben sich auch aus der verschiedenartigen
sozialökonomischen Basis der in verstaatlichten Betrieben arbeitenden Arbeiter
und der bäuerlichen Privateigentümer. Es wurde immer klarer, daß die
Arbeiterklasse nicht imstande war, die Bauern zur Mitarbeit am sozialistischen
Aufbau zu zwingen. Die russische Arbeiterklasse war dafür zahlenmäßig zu
schwach und die Bauernschaft zu zahlreich.
Darum mußte ein anderer Weg gegangen werden. Die Bauern mußten überzeugt
werden. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Bauern und Arbeitern, der aus
dem Mangel an landwirtschaftlichen Produkten erwachsen war, konnte nur durch
eine planmäßige Steigerung der Erträgnisse der bäuerlichen Produktion erreicht
werden. In dem Entwurf der Broschüre über die Naturalsteuer schrieb Lenin:
„Jetzt wird die Vermehrung der Produktion der Angelpunkt, der
Probierstein." Erst nach der Steigerung der bäuerlichen Produktion, erst nach
der Beseitigung des vorhandenen Mangels, erst nach der Änderung der
ökonomischen Basis der Bauernschaft konnten die letzten Gegensätze überwunden
und das richtige Verhältnis zwischen Arbeitern und Bauern geschaffen werden.
Die Voraussetzung für die bessere Bearbeitung des Bodens und für die Steigerung
der Ernteerträgnisse war die ausreichende Belieferung der Landwirtschaft mit
Maschinen und Werkzeugen. Die erfolgreiche Industrialisierung des Landes, der
schnelle Aufbau der Schwer- und der Maschinenindustrie ermöglichte die
Erfüllung der gestellten Aufgabe. Aber noch ein anderes war notwendig. Durch
die Landverteilung waren Millionen kleiner Bauernwirtschaften neu entstanden,
die jede für sich die Ergebnisse der Industrialisierung nicht in ausreichendem Maße
nutzbar machen konnten. Erst der Zusammenschluß dieser Einzelwirtschalten zu
Kollektiven ermöglichte den gemeinsamen Einsatz der neugeschaffenen Traktoren
und Mähdrescher für die erfolgreiche Bearbeitung des Bodens. Erst der
Zusammenschluß der Bauern in Kollektivwirtschaften machte die Bauern zu
Genossenschaftlern, deren ökonomische Basis nicht mehr das Privateigentum war,
und die damit in ihrer sozialen Stellung näher an die Arbeiterschaft
heranrückten.
Zur Zielsetzung des zweiten Fünfjahrplans gehörte auch die Steigerung der
landwirtschaftlichen Produktion. Diese sollte, wie die „Staatliche
Plankommission" in ihrem Buch „Der zweite Fünfjahrplan" schreibt,
erreicht werden durch „Verstärkung der Rolle der Sowjetgüter als Muster der
maschinellen Produktion auf großer Stufenleiter, Erfassung aller
Kollektivwirtschaften durch die Maschinen- und Traktorenstationen,
organisatorische und wirtschaftliche Stärkung der Kollektivwirtschaften,
sozialistische Umerziehung der Kollektivbauern durch Festigung der sozialistischen
Arbeitsdisziplin und damit Umwandlung aller Werktätigen des Dorfes in Erbauer
der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft". Erzeugung
landwirtschaftlicher Maschinen und Werkzeuge, Kollektivierung der
Bauernwirtschaften, Bereitstellung von Maschinen und Staatskrediten an die
kollektivierten Bauernwirtschaften, sozialistische Erziehung der
Kollektivbauern — das war das Programm zur Steigerung der landwirtschaftlichen
Erträgnisse, zur Überwindung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern, zur
Gewinnung der Bauern für den sozialistischen Aufbau. Wie ist die Verwirklichung
dieses Programms gelungen?
Traktoren, Mähdrescher, Kartoffelerntemaschinen, Kraftwagen der
verschiedensten Art und andere für die Intensivierung der Landwirtschaft
notwendige Maschinen sind den Kollektivwirtschaften und den Sowjetgütern zur
Verfügung gestellt worden. Bereits im Jahre 1936 wurden vier Fünftel der
Saatfläche der Sowjetunion mit Traktoren und landwirtschaftlichen Maschinen bearbeitet.
Neben den Sowjetgütern, die ihre eigenen vorzüglichen Maschinenparks haben,
standen den Kollektivwirtschaften 1936 rund 4000 Maschinen- und
Traktorenstationen zur Verfügung, für deren Errichtung der Staat nicht weniger
als neun Milliarden Rubel ausgegeben hat. Mit dem Abschluß des zweiten
Fünfjahrplans — Ende 1937 - sind 6000 Maschinen- und Traktorenstationen im
Betrieb, gegenüber 2440 Maschinenstationen, die zu Beginn des zweiten
Fünfjahrplans vorhanden waren. Bei der Ernte des Jahres 1936 verrichteten auf
den Feldern der Kollektivwirtschaften 50.000 Mähdrescher und 316.000 Traktoren
mit einer Leistungsfähigkeit von 5.700.000 Pferdekräften die Arbeit, die früher
mit dem Hakenpflug oder mit Hilfe von Pferden geleistet wurde. Rechnet man noch
die Maschinen der Sowjetgüter hinzu, so bearbeiteten 1936 rund 400.000
Traktoren mit 7.580.000 Pferdekräften die Felder in der Sowjetunion. Im Laufe
des zweiten Fünfjahrplans, also bis Ende 1937, wird die Landwirtschaft mit
Traktoren von 8.680.000 Pferdekräften beliefert. Davon bekommen die Maschinen-
und Traktorenstationen 6.600.000 Pferdekräfte, die Sowjetgüter 2.080.000
Pferdekräfte. In der gleichen Zeit werden der Landwirtschaft 86.600 Mähdrescher
und 170.000 Kraftfahrzeuge neu zugeführt. Im Laufe der ersten Fünfjahrperiode
wurden der Landwirtschaft 5000 Raupenschlepper geliefert, in der zweiten
Fünfjahrperiode 100.000. Neben 3554 neuen Maschinen- und Traktorenstationen
werden zu den vor Beginn des zweiten Fünfjahrplans bestehenden 1800 rund 3500
neue Maschinen- und Traktorenreparaturwerkstätten geschaffen. Aber nicht nur
die Zahl der Maschinen- und Traktorenstationen hat sich erhöht, sondern auch
ihre durchschnittliche Leistungsfähigkeit, die von 1932 bis 1937 von 30 auf
65—70 Traktoren pro Station gestiegen ist. Von insgesamt 139.7 Millionen ha
Anbaufläche in dem gesamten Gebiet der UdSSR werden Ende 1937 ca. 115 Millionen
ha der kollektivwirtschaftlichen Anbaufläche maschinell bearbeitet, gegen 52.6
Millionen ha im Jahre 1932.
Alle diese Maschinen und Traktoren werden in der Sowjetunion selbst produziert.
1937 wurden 167.000 Traktoren produziert, eine Riesenzahl, die in den nächsten
Jahren noch weiter gesteigert werden kann, so daß die volle Mechanisierung der
gesamten Landwirtschaft der UdSSR nur noch die Frage einer sehr kurzen Zeit
ist.
Die Revolution gab den Bauern Land — die Mechanisierung und Kollektivierung hat
neues Land nutzbar gemacht. Von 1917 bis 1937 stieg die Gesamtanbaufläche der
UdSSR von 102 Millionen ha auf 139.7 Millionen ha, von denen 1937 rund 123
Millionen ha von Kollektivwirtschaften bearbeitet wurden. Schon 1936 verfügte
ein Kollektivwirtschaftshof im Durchschnitt über doppelt so viel Land pro Kopf
wie der Klein- und Mittelbauer 1924 besessen hat. Mit Hilfe der gleichen
Maschinen, mit denen neues Land erschlossen wurde, kann der Boden
fruchtbringender bearbeitet werden, als es den Einzelbauern mit Pflug und Pferd
jemals möglich war. Die Große der technischen Revolution in der Landwirtschaft
der Sowjetunion gibt die nachfolgende Tabelle wieder, die dem schon zitierten
Buche „Der zweite Fünfjahrplan" entnommen ist:
|
|
1928 |
1937 |
Pflügen der
Sommersaaten |
Holzpflug |
9.8 |
- |
|
Pferdepflug |
89.2 |
20 |
|
Traktorenpflug |
1 |
80 |
Saat von
Sommergetreide |
Handsaat |
74.4 |
- |
|
Pferdesämaschinen |
25.4 |
45 |
|
Traktorensämaschinen |
0.2 |
55 |
Getreideernte |
Sichel und
Sense |
44.4 |
- |
|
Pferdeantrieb |
55.4 |
40 |
|
Traktoreninventar |
0.2 |
60 |
Getreidedrusch |
Dreschflegel
u. |
40.7 |
- |
|
Pferdeantrieb |
58 |
15 |
|
Mechan.
Antrieb |
1.3 |
85 |
Während 1928 noch 9.8% der Gesamtanbaufläche mit dem Holzpflug beackert wurden,
89.2% mit dem Pferdepflug und nur 1% mit dem Traktorenpflug, ist 1937 der
Holzpflug völlig verschwunden, 80% des Landes werden von Traktoren gepflügt und
nur 20% noch mit dem Pferdepflug. Ebenso ist es bei der Aussaat, bei der Ernte
und dem Drusch. Die Handarbeit bei diesen Tätigkeiten ist völlig verschwunden,
den überwiegenden Teil der Arbeit leisten die 1928 nur spärlich vorhandenen
Maschinen, und der kleinere Rest der Arbeit wird mit Pferdeantrieb bewältigt.
Der industrielle Aufbau in der UdSSR ermöglichte einen grundlegenden Umbau der
gesamten Agrarwirtschaft. Aus der einst rückständigen russischen Landwirtschaft
ist die fortschrittlichste, mechanisierteste der Welt geworden. Schon zu Beginn
des zweiten Fünfjahrplans war das Niveau der Mechanisierung der sowjetischen
Agrarwirtschaft höher als das in allen europäischen Ländern. Im Laufe des
zweiten Fünfjahrplans wurde auch das Niveau der Landwirtschaft in den USA
überholt. In der europäischen Landwirtschaft arbeitet der größere Teil der
Einzelwirtschaften noch ohne Maschinen, in der Sowjetunion wird nur noch ein
verschwindend geringer Prozentsatz des Bodens ohne Maschinen bearbeitet. Nur
die Landwirtschaft der USA verfügt noch über einen größeren Traktorenpark als
die Sowjetunion (11 gegen 8.6 Millionen PS), aber die Gesamtarbeitsleistung des
sowjetischen Traktorenparks übertrifft den nicht voll ausgenutzten der USA um
ein Vielfaches. Die 11 Millionen PS der USA bearbeiteten 1936 (auf Pflugarbeit
umgerechnet) 66 Millionen ha, die 8.6 Millionen PS der Sowjetunion dagegen im
Jahre 1937 schon 270 Millionen ha. Die Zahl der Mähdrescher in der Sowjetunion
übertrifft die der USA um 39.000 Stück (100.000 gegen 61.000), das Übergewicht
der Arbeitsleistung der Mähdrescher in der UdSSR ist noch größer. Auf 1000 ha
Anbaufläche stehen den Sowjetgütern 131 PS Traktorenzugkraft und 2.3
Mähdrescher zur Verfügung; in den Maschinen- und Traktorenstationen 53 PS
Traktorenzugkraft und rund 1 Mähdrescher.
Die Mechanisierung der gesamten Landwirtschaft ist erfolgreich vorangegangen.
Im Jahre 1937 steht die technische Ausrüstung der Agrarwirtschaft der UdSSR an
erster Stelle in der Welt. Die Folge der großzügigen Mechanisierung der
Agrarwirtschaft ist die ständige Steigerung der landwirtschaftlichen
Erträgnisse. Der Mangel an Lebensmitteln schwindet, der Warenverkehr zwischen
Stadt und Land funktioniert reibungsloser, die Ursachen der Gegensätze zwischen
Arbeitern und Bauern werden überwunden.
Die günstige Aufwärtsentwicklung der Agrarwirtschaft wurde
beschleunigt, weil die Sowjetmacht die Millionen Einzelbauern von der
Notwendigkeit der Kollektivierung zu überzeugen vermochte. Parallel mit der
Erzeugung, von Traktoren und Mähdreschern schritt die Kollektivierung der
bäuerlichen Einzelwirtschaften voran. Was nutzten die schönsten Maschinen, wenn
der einzelwirtschaftende Bauer sie nicht anschaffen, sie für die rationelle
Bewirtschaftung seines Bodens nicht einsetzen konnte. Erst die Zusammenfassung
der Einzelbauern zu Kollektiven ermöglichte die Ausnutzung der Traktoren und
Mähdrescher. Das günstige Ergebnis des gemeinschaftlichen Schaffens bewies in
der Praxis den Vorteil, den die Kollektivierung dem Bauern brachte. Der Bauer
konnte nur durch den kollektivistischen Gedanken von der Schicksalsgemeinschaft
zwischen ihm und dem Arbeiter überzeugt und für die aktive Mitarbeit am
sozialistischen Aufbau gewonnen werden. Darum hat die Staatsmacht alle Mittel
eingesetzt, um den Einzelbauern klar zu machen, daß er mit dem Eintritt in die
Kollektive seinen eigenen Interessen am besten diene. Die Einzelbauern wurden
nicht zum Eintritt in die Kollektivwirtschaften gezwungen, aber die Regierung
hat die Kollektive in der Belieferung mit Maschinen und Material, in der
Gewährung von Krediten so bevorzugt, daß die Zugehörigkeit zu einer
Kollektivwirtschaft dem Bauern viel größere materielle Vorteile brachte, als er
je als individualistischer Einzelbauer erschuften konnte.
Die überwiegende Mehrheit der Bauern ist schließlich auch den
Kollektivwirtschaften beigetreten. 1928 gab es erst 4.400.000 Kollektivbauern
und Handwerker der Genossenschaften gegen 111.100.000 Einzelbauern (ohne
Kulaken). Am 1. Januar 1934 dagegen waren 77.037.000 oder rund 46% der Gesamtbevölkerung
Kollektivbauern und Handwerker der Genossenschaften, gegen nur noch 37.902.000
Einzelbauern mit Angehörigen, die nur noch 22.5% der Gesamtbevölkerung
ausmachten. 1936 waren ca. 90%, das sind über 22 Millionen bäuerliche
Wirtschaften von den 25 Millionen, in den wichtigsten Getreidegebieten sogar
95—98% aller Wirtschaften, in Kollektiven vereinigt. Die Zahl der
Kollektivbauern wächst tagtäglich, und es ist anzunehmen, daß das Ziel des
zweiten Fünfjahrplans, den letzten Einzelbauern für die Kollektive zu gewinnen,
erreicht wird. 1938 sind dann 100% der Bauern in Kollektivwirtschaften.
Die bäuerlichen Kollektivwirtschaften sind noch keine kommunistischen
Gemeinschaften, in denen das Eigentum im Kollektiv allen gemeinsam gehört. In
einem ganz geringen Teil der Kollektivwirtschaften ist dieses Prinzip
allerdings schon verwirklicht. Diese Form nennt man Kommune, in ihr gehört der
ganze Betrieb den Kolchosbauern gemeinsam. Sie leben in Gemeinschaft und keiner
hat privates Eigentum. In der landwirtschaftlichen Kommune sind die
Produktionsmittel und die Verteilung vergesellschaftet.
Die zweite Form der Kollektivwirtschaften ist das Artel. Im Artel sind die
ausschlaggebenden Produktionsmittel, Arbeit, Boden, Maschinen und Geräte,
Arbeitsvieh und Wirtschaftsgebäude vergesellschaftet. Der Gesamtbetrieb gehört
auch allen Kollektivmitgliedern, die das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit je
nach der Leistung verteilen. Daneben ist im Artel aber Jeder Kolchosbauer
Eigentümer seines Hauses, seines Gartens, seiner Kuh und seines Geflügels. Er
bleibt gewissermaßen Privateigentümer eines Teiles des Gesamtbetriebes. Im
Statut des landwirtschaftlichen Artels wird bestimmt: „Die allgemeine
Versammlung ist das höchste Verwaltungsorgan des Artels." Das heißt, daß
alle wichtigen Fragen, die Mitgliedschaft und die Wahl der Leitung in der
Kollektivwirtschaft, die Produktions- und Baupläne, die Leistungsnormen, die
Lohnsätze und die Verteilung der Einkünfte auf demokratischer Basis durch die
allgemeine Mitgliederversammlung entschieden werden.
Die überwiegende Mehrzahl der Kollektivwirtschaften sind die Artel, also nicht
die vollkommenere Form der landwirtschaftlichen Kommune. Warum das so ist, hat
Molotow auf dem VII. Sowjetkongreß (1935) folgendermaßen dargelegt:
„Auf dem XVII. Parteitag hat Genösse Stalin erklärt, weshalb in der letzten
Periode das landwirtschaftliche Artel die Hauptform des
kollektivwirtschaftlichen Aufbaus darstellt und nicht die Kommune, die eine
spätere Entwicklungsform ist. Es ist klar, daß die Kollektivbauern heute nur im
Artel ihre persönlichen Interessen mit dem gesellschaftlichen Interesse der
Kollektivwirtschaft richtig in Einklang bringen können und die Sache der
Kollektivierung weiter nur dadurch vorwärts gebracht werden kann. Die
Kollektivwirtschaft (das Artel und nicht die Kommune) entscheidet heute den
Aufstieg der Landwirtschaft, und nur dieser Weg führt zum Erfolg des
Sozialismus auf dem Lande, da er den Einklang der Interessen des einzelnen
Kolchosbauern und der Kollektivwirtschaft als Ganzes sichert, der das
kollektivwirtschaftliche System entfaltet und das Leben des Kolchosbauern
verbessert.
Erst nachdem sie auf die kleinbürgerliche Gleichmacherei verzichteten und vom
Artel zur Kollektivwirtschaft übergingen, zeigte sich bei allen
Kollektivwirtschaften ein gesunder wirtschaftlicher Aufschwung, eine straffere
Disziplin und eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Kampf gegen die
gleichmacherischen Tendenzen in den Kollektivwirtschaften ist auch heute eine
durchaus aktuelle Aufgabe, wie auch jeder andere Kampf gegen die Überreste des
Kapitalismus im Bewußtsein der Kollektivbauern."
Die Bemühungen der Sowjetmacht, die Bauern zunächst für das Artel zu gewinnen,
wurde vielfach Rechtsabweichung, Opportunismus genannt. Die Forderung, alle
Bauern sofort in die Kommune zu bringen, erschien viel radikaler,
grundsatzfester, viel revolutionaristischer. Der Versuch, die Bauern sofort in
die Kommune zu zwingen, ohne daß die ökonomische und ideologische Situation für
eine solche Maßnahme herangereift war, wäre jedoch nur eine opportunistische
Verbeugung vor dem revolutionären Endziel gewesen. Ein Vorstoß in dieser
Richtung hätte in der Gegenwart keine revolutionäre Wirkung gehabt. Er hätte
die Masse der Bauern nicht in die Kollektivwirtschaften gebracht, er hätte nicht
ermöglicht, die im Interesse des sozialistischen Aufbaus dringend nötige
Liquidierung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern zu erreichen, sondern
er hätte diese Gegensätze verschärft, vielleicht auf die Spitze getrieben und
die ganze Revolution gefährdet. In der gegebenen Situation war die Losung, die
Bauern für das Artel zu gewinnen, die wirkungsvollste und darum die
revolutionärste Losung. Mit ihrer Hilfe wurde die überwiegende Mehrheit der
Bauern Kollektivbauern, genossenschaftlicher Mitarbeiter am sozialistischen
Aufbau, mit ihrer Hilfe wurde die mangelnde landwirtschaftliche Produktion
gesteigert, mit ihrer Hilfe wurden genügend Lebensmittel produziert. Die
Ursache der materiellen Gegensätze zwischen Arbeitern und Bauern wurde
beseitigt, und in dem Maße, wie der Kollektivbauer an dem Gemeinschaftseigentum
in ähnlicher Weise interessiert wurde, wie der Arbeiter in den
vergesellschafteten Betrieben, schwanden auch die ideologischen Gegensätze. Es
wurde die Voraussetzung geschaffen, die Bauern für die höhere Gesellschaftsform
zu gewinnen, das Werk weiter zu bauen und die vollendete sozialistische
Gesellschaft zu erreichen. Die radikalste Forderung am unrechten Ort, in der
falschen Situation, ohne Beachtung der materiellen Zusammenhänge gestellt, ist
nicht revolutionär, sondern opportunistisch. Sie ist eine Rechtsabweichung, die
zur Gefährdung der Revolution führen kann. Wirklich revolutionär ist nur die
Maßnahme, die das in der gegebenen Situation jeweilig notwendige und richtige
nächste Stück für die Vollendung des klar vor Augen stehenden revolutionären
Gesamtwerkes schafft. Nur die Wirkung entscheidet, was rechts oder links,
revolutionär oder opportunistisch ist.
Dank der Anwendung der richtigen Mittel hat sich die Kollektivierung
durchgesetzt. Die Kollektivwirtschaften arbeiten erfolgreich.
In dem Prozeß gegen Pjatakow und Genossen hat Radek den Inhalt eines Briefes
mitgeteilt, in dem Trotzki die Rückgängigmachung der Kollektivierung forderte.
In diesem Briefe, in dem eine gewisse Angleichung der sozialen Struktur der
UdSSR an die kapitalistischen Mächte für die Zeit nach der Machteroberung durch
die trotzkistische Opposition als notwendig bezeichnet wurde, stand weiter, daß
die Deutschen und Japaner „von uns die Entspannung der Atmosphäre im Dorfe
verlangen" werden, „daher wird man auf Zugeständnisse eingehen und die
Auflösung der Kollektivwirtschaften oder den Austritt aus den
Kollektivwirtschaften zulassen müssen." In dem gleichen Prozeß sagte
Sokolnikow, daß der zur Macht gekommene Trotzkismus die Kollektivwirtschaften
dadurch abbauen werde, daß er ihnen die staatliche Unterstützung und die
materiellen Lebensmöglichkeiten entzieht. Wer die in der Sowjetunion geführten
Diskussionen über die Kollektivierung nicht kennt, wird die von Radek angegebenen
Zitate für unglaubwürdig halten. Sie erscheinen in einem anderen Lichte, wenn
man weiß, daß Trotzki selbst in seiner Broschüre „Sowjetwirtschaft in
Gefahr" schrieb (Seite 28):
„Das Jahr 1933 muß dazu dienen, die kollektive Landwirtschaft in Übereinstimmung
mit den technischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hilfsquellen zu bringen.
Das heißt Auswahl der lebensfähigsten Kollektive, ihre Umformung aufgrund der
Erfahrung und der Wünsche der Hauptbauernmassen, vor allem der armen Bauern.
Gleichzeitig — Ausarbeitung von solchen Bedingungen für den Austritt aus den
Kollektivgütern, durch die die Erschütterungen für die Landwirtschaft auf das
geringste Maß beschränkt werden ...“
Die vorstehend genannte Broschüre mit der Forderung, aus den Kollektivwirtschaften
auszutreten, ist im November 1932 erschienen — zu einer Zeit, wo bereits 61,5%
aller Bauernwirtschaften kollektiviert waren und wo schon jeder objektiv
Urteilende den Erfolg der Kollektivierung anerkennen mußte. Aber diese von
Trotzki selbst niedergeschriebene Forderung stimmt vollkommen mit der
Charakterisierung seiner Stellungnahme in dem Briefe an Radek überein. Trotzki
selbst propagiert in seinen Schriften ganz offen den Austritt aus den
Kollektivwirtschaften, in der Konsequenz also die Auflösung derselben, um die
verlangte „Entspannung der Atmosphäre im Dorfe" herbeizuführen. Schon
angesichts der im Jahre 1932 erreichten Tatbestände war die Forderung Trotzkis
offensichtlich konterrevolutionär; sie verlangte die Rückgängigmachung der
erfolgreich durchgeführten Einbeziehung der Bauern in den sozialistischen
Aufbau, die Torpedierung des immer fester werdenden Bündnisses zwischen
Arbeiter- und Bauernklasse. Die Forderung Trotzkis diente nicht der russischen
Revolution, sondern ihren Feinden.
Die glänzende Entwicklung der Kollektivierung ist allerdings durch die Aktion
Trotzkis nicht gehindert worden. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans wird die
Kollektivierung hundertprozentig durchgeführt sein. Zu diesem Erfolge hat
natürlich die Staatshilfe sehr viel beigetragen. Bis Anfang 1935 gab die
Regierung den Kollektivwirtschaften Geldkredite in Höhe von 1.168.000.000
Rubel. Für die Organisierung der Traktorenstationen, die den Kollektivbauern
zur Verfügung standen, gab die Regierung in der gleichen Zeit 4.800.000.000
Rubel aus. Die Geldverschuldung der Kollektivwirtschaften bis zum 1. Januar
1933 in Höhe von 435.6 Millionen wurde Ende 1934 von der Regierung gestrichen.
Diese „Subventionierung" der Kollektivbauern hat sich vielfach bezahlt
gemacht: Die Produktivität der landwirtschaftlichen Erzeugung wurde gesteigert,
der Wohlstand des ganzen Volkes wurde gehoben und die Bauern wurden für die
aktive Mitarbeit am sozialistischen Aufbau gewonnnen.
Als Ergebnis der Kollektivierung und Mechanisierung der
Landwirtschaft ist auf allen Gebieten der agrarischen Erzeugung ein großer
Aufschwung festzustellen. Besonders angewachsen ist die Getreideproduktion.
Schon 1933, unmittelbar nach Beendigung des Rekonstruktionsprozesses der
Landwirtschaft, war der Bruttoertrag der Getreideernte um 590 Millionen Pud
großer, — nach dem Plan ist er 1937 um 2 Milliarden Pud großer — als in dem
sehr ertragreichen Erntejahr 1913. Da 1913 aber 700 Millionen Pud Brotgetreide
ins Ausland ausgeführt wurden gegen nur 60 Millionen Pud im Jahre 1934, stand
zur Volksernährung 1934 eine um rund 1200 Millionen Pud, im Jahre 1937 eine um
rund 2200 Millionen Pud höhere Getreidemenge zur Verfugung als 1913. Im Jahre
1935 wurden über 920 Millionen Doppelzentner Getreide geerntet, das ist 30%
mehr als 1932, 162.1 Millionen Doppelzentner Zuckerrüben gegen gen 12.7
Millionen im Jahre 1932. Im letzten Jahre des zweiten gen 12.7 Millionen im
Jahre 1932. Im letzten Jahre des zweiten Fünfjahrplans (1937) wurden nach dem
Plan 34.5 Millionen Tonnen Getreide (gegen 19.8 Millionen Tonnen im ersten
Jahre des zweiten Fünfjahrplans), 16.4 Millionen Tonnen Kartoffeln (gegen 8.9),
Gemüse 8.7 Millionen Tonnen (gegen 4.19), Fleisch 2.5 Millionen Tonnen (gegen
0.93), Milch und Molkereiprodukte 9.6 Millionen Tonnen (gegen 4.09) produziert.
Das ist ein ganz gewaltiger Anstieg. Die 1937 eingebrachte Getreideernte
ermöglicht, den Durchschnittsverbrauch von Getreide um weitere 20% pro Kopf der
Bevölkerung zu steigern. Ähnlich ist es mit den anderen agrarischen Produkten,
deren Produktionsvermehrung die Arbeit der Nahrungsmittelindustrie wesentlich
verbessert hat. Die ebenso erhebliche Steigerung der Ernteerträge von
Baumwolle, Flachs, Hanf usw. bedeutet eine wesentliche Stärkung der
Rohstoffbasis für die Leichtindustrie und damit die bessere Versorgung des
Volkes mit Textilwaren. Die Baumwollfabriken, die sich mit der ersten
Verarbeitung der Baumwolle beschäftigen, lieferten im Jahre 1933 rund 378.500
Tonnen Baumwollfasern, im Jahre 1936 aber schon 576.200 Tonnen. Die
Bruttoproduktion der Landwirtschaft wächst im Jahre 1937 auf 26.16 Milliarden
Rubel an, gegen 13.07 Milliarden Rubel am Ende des ersten Fünfjahrplans und 8.2
Milliarden Rubel im Jahre 1924. Der Bruttowert der Viehwirtschaft soll sich von
3.2 Milliarden Rubel 1932 auf 7.1 Milliarden Rubel im Jahre 1937 vermehren. Am
Ende des zweiten Fünfjahrplans wird die Sowjetunion in den wichtigsten
agrarischen Produktionszweigen an der ersten Stelle in der Welt stehen. Eine
Übersicht, welchen Platz die UdSSR einnimmt, gibt die nachfolgende Aufstellung
der Staatlichen Plankommission:
|
1928 |
1932 |
1937 |
Weizen |
2 |
2 |
1 |
Gerste |
2 |
2 |
1 |
Hafer |
2 |
2 |
1 |
Rohbaumwolle |
5 |
4 |
3 |
Flachsfaser |
1 |
1 |
1 |
Zuckerrüben |
2 |
2 |
1 |
Pferdebestand |
1 |
1 |
1 |
Rindviehbestand |
2 |
4 |
3 |
In der Weizenerzeugung hatte die Sowjetunion schon 1935 den ersten Platz in der
Welt erobert. Die Bruttoernte an Weizen betrug in diesem Jahre in der
Sowjetunion 320 Millionen Doppelzentner gegen 245 Millionen, die die
Vereinigten Staaten und Kanada, die bisher die Spitze in der Weizenerzeugung
hatten, 1935 produzierten. 1937 erzeugt die Sowjetunion 378.4 Millionen Doppelzentner
und vergrößert damit ihren Vorsprung noch mehr.
In den Jahren 1926—1929 betrug die Zunahme der landwirtschaftlichen Produktion
im Durchschnitt jährlich nur 2.7%, in den ersten zwei Jahren des zweiten
Fünfjahrplans schon 6.5%, im Jahre 1935 rund 14%, das heißt in diesem Jahr
wurden für ca 2.5 Milliarden Rubel mehr landwirtschaftliche Produkte erzeugt
als 1934. Das durchschnittliche jährliche Wachtstumstempo in den einzelnen
Jahren des zweiten Fünfjahrplans beträgt 14.9%. Damit hielt das Wachstumstempo der
Landwirtschaft gleichen Schritt mit dem industriellen Aufbau. Kein anderes Land
der Welt hat ein ähnliches Wachstumstempo der Landwirtschaft aufzuweisen. In
der Periode des stärksten Aufstiegs des deutschen Kapitalismus betrug der
durchschnittliche Jahreszuwachs der landwirtschaftlichen Produktion in
Deutschland 2.5%, in den USA in den Jahren der Hochkonjunktur 1,7%.
Im Jahre 1936 lieferte die Landwirtschaft der Sowjetunion tVa mal so viel
Produkte wie in den besten Jahren der Vorkriegszeit. Diese Vermehrung der
landwirtschaftlichen Gesamtproduktion ist zum guten Teil das Verdienst der
Kollektivwirtschaften. Bereits im Jahre 1933 war der Bruttoertrag der
Getreideernte pro Kopf der Bevölkerung in den Kollektivwirtschaften um 10%
höher als in den 1929 noch existierenden Großbauernwirtschaften. Eine
Untersuchung in 83.000 Kollektivwirtschaften stellte fest, daß 1934 in den
Kollektivwirtschaften auf jeden Kollektivbauern und auf jedes seiner
Familienmitglieder 10.9 Doppelzentner Getreide kamen, gegen 5.5 im Jahre 1932,
gegen 6.2 Doppelzentner in den Wirtschaften der Klein- und Mittelbauern und
gegen 9.2 Doppelzentner in den Großbauernwirtschaften in dem für diese
günstigen Jahr 1929. Der Ertrag der Getreideernte, der in den Jahren 1909—1913
durchschnittlich 7.4 Doppelzentner pro ha betrug, 1922—1932 schon 7.5
Doppelzentner, beträgt 1937 rund 10 Doppelzentner pro ha.
In der Sowjetunion gibt es keine Agrarkrise. Der Sowjetbauer hat keinen Mangel
an Land und an Saatgut, ihm stehen Geräte und Maschinen in ausreichendem Maße
zur Verfügung. Der Bauer in der Sowjetunion braucht sich nicht zu sorgen, ob er
für die von ihm erzeugten Produkte Abnehmer findet. Die Steigerung der
Produktivität führt dank der planwirtschaftlichen sozialistischen Organisation
nicht zur Absatzkrise, sondern zur Verbesserung des Lebensniveaus des ganzen
Volkes und zur Hebung des Wohlstandes der Bauern.
Der schroffe
Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern, der nach dem Bürgerkrieg die russische
Revolution bedrohte, wurde überwunden. Es ist gelungen, die Widersprüche
zwischen Arbeiterklasse und Bauernklasse zu lösen und die Bauern für den
sozialistischen Aufbau zu gewinnen. Kollektivbauern und Arbeiter marschieren
gemeinsam zum Sozialismus.
Otto Bauer, der sehr viel kritische Einwände gegen die Sowjetunion macht, muß
in seinem letzten Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" zugeben (Seite 158
usf.), daß es gelungen ist, die Klassengegensätze zwischen Arbeitern und Bauern
zu überwinden:
„... Wachsen die Erträge der Landwirtschaft, so verliert der Kampf zwischen
Stadt und Land um ihre Überschüsse an Schärfe. Mehr als früher vermengen sich
Arbeiter und Bauern und beeinflussen einander gegenseitig; sind Millionen
Bauernsöhne zu Industriearbeitern geworden, so bringen andererseits die großen
Werkstätten der Maschinen- und Traktorenstationen Industriearbeiter ins Dorf.
Die sozialen Daseinsbedingungen der Arbeiter und Bauern sind einander ähnlicher
geworden. Der Bauer arbeitet um einen Akkordlohn für den Kolchos, wie der
Fabrikarbeiter für die nationalisierte Fabrik. Die Arbeitsweise und damit auch
die Denkweise des Bauern wird der des Industriearbeiters ähnlicher, seitdem der
Bauer den Traktor, die komplizierten Anbau- und Erntemaschinen bedienen lernt. Die
Überschüsse der Kollektivwirtschaften werden dazu verwendet, Wasserleitungen zu
errichten, elektrisches Licht, Kino und Radio in das Dorf zu bringen,
Kinderhorte und Schulen, Krankenanstalten und Klubs im Dorfe zu errichten; so
verringert sich auch die kulturelle Kluft zwischen Stadt und Land.
Mit dem Wachstum der landwirtschaftlichen und der industriellen Produktion
steigt die Lebenshaltung der Volksmassen. Im Jahre 1935 konnte die
Sowjetregierung das Rationierungssystem aufheben, — ein Anzeichen, daß die
produzierten Konsumgüter nunmehr zureichen, nicht nur eine begünstigte
Minderheit, sondern das ganze Volk zu versorgen. Zugleich konnten die
Warenpreise Schritt für Schritt bedeutend ermäßigt werden, — ein Anzeichen, daß
die vorhandenen Gütermengen zureichen, den Konsumbedarf der Volksmassen
reichlicher zu befriedigen.
Mit diesen großen Erfolgen des Industrialisierungs- und
Kollektivierungsprozesses verbreitert sich die soziale Basis der Diktatur.
Mögen sich große Teile der erst in den letzten Jahren in Industriearbeiter
verwandelten Bauernsöhne noch gegen die industriellen Betriebsnotwendigkeiten
innerlich auflehnen, — sie werden der Diktatur innerlich gewonnen in dem Maße,
als die Diktatur ihre wirtschaftliche Lebenshaltung zu verbessern vermag."
Über den neuen Bauern der Kollektivwirtschaften hat Stalin auf dem VIII.
Sowjetkongreß, am 26. November 1936, gesagt:
„Gewöhnlich pflegt man zu sagen, daß die Bauernschaft eine solche Klasse von
Kleinproduzenten ist, deren Mitglieder atomisiert, über das ganze Land
verstreut sind, die einzeln in ihren Kleinwirtschaften mit ihrer rückständigen
Technik herumwühlen, Sklaven des Privateigentums sind und straflos von
Gutsbesitzern, Kulaken, Kaufleuten, Spekulanten, Wucherern usw. ausgebeutet
werden. Und tatsächlich ist die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern,
wenn man ihre Hauptmasse ins Auge faßt, gerade eine solche Klasse. Kann man
sagen, daß unsere heutige Bauernschaft, die Sowjetbauernschaft, in ihrer Masse
dieser Bauernschaft ähnlich ist? Nein, das kann man nicht sagen. Eine solche
Bauernschaft gibt es bei uns schon nicht mehr. Unsere Sowjetbauernschaft ist
eine vollständig neue Bauernschaft. Bei uns gibt es keine Gutsbesitzer und
Kulaken, keine Kaufleute und Wucherer mehr, die die Bauern ausbeuten könnten.
Unsere Bauernschaft ist also eine von der Ausbeutung befreite Bauernschaft.
Weiter, unsere Sowjetbauernschaft ist in ihrer überwiegenden Mehrheit eine
Kollektivbauernschaft, d.h. ihre Arbeit und ihr Eigentum beruhen nicht auf
Einzelarbeit und auf einer rückständigen Technik, sondern auf kollektiver
Arbeit und auf der modernen Technik. Schließlich liegt der Wirtschaft unserer
Bauernschaft nicht das Privateigentum, sondern das Kollektiveigentum zugrunde,
welches sich auf der Basis der kollektiven Arbeit entwickelt hat.
Wie Ihr seht, ist die Sowjetbauernschaft eine vollständig neue Bauernschaft,
wie sie die Menschheitsgeschichte noch nicht gekannt hat."
Die ökonomischen Gegensätze zwischen den beiden Klassen sind gefallen, und
damit auch die politischen Gegensätze. Die Kollektivbauern arbeiten unter der
Führung der Arbeiterklasse, mit der zusammen sie die überwiegende Mehrheit des
russischen Volkes darstellen, an einer gemeinsamen Aufgabe, am Aufbau des
Sozialismus in der Sowjetunion. Die zweite Voraussetzung für den
sozialistischen Aufbau ist erfüllt. Die größten Hindernisse sind beseitigt, die
schwierigste Aufgabe ist gelöst, das Fundament ist gelegt, das Werk wird
gelingen.
Die Umwandlung der Sowjetunion aus einem rückständigen Agrarland
in ein fortgeschrittenes industrialisiertes Land ist nicht so reibungslos vor
sich gegangen, wie die enormen Endzahlen des zweiten Fünfjahrplans vermuten
lassen. Die Erfolge der stürmischen Industrialisierung kamen den Volksmassen
nicht sofort zugute. Im Gegenteil. In den ersten Jahren des Aufbaus wurden von
dem Volke große Leistungen verlangte ohne daß ihm in ausreichendem Maße
Lebensmittel und Bedarfsgüter geliefert werden konnten. Die großzügige Planung,
die ein sicheres, unerschütterliches ökonomisches Fundament schaffen wollte,
verlangte die Konzentrierung aller Kräfte zunächst auf den Aufbau der
Schwerindustrie und der Produktionsmittelindustrie. Die wichtigsten
Bedarfsgüter konnten noch nicht in ausreichendem Maße produziert werden.
Das Ziel des ersten Fünfjahrplans war nicht, dem Volke schnell und unmittelbar
mehr Nahrung, mehr der überall fehlenden Bedarfsguter zu geben, sondern eine
große moderne Industrie aufzubauen, mit deren Hilfe dann allerdings nach
einiger Zeit die Bedürfnisse aller Bürger im Lande selbst befriedigt werden
konnten. Jedoch am Anfang brauchte die Sowjetunion für den industriellen Aufbau
Maschinen, Kredite und Hilfe aus den kapitalistischen Ländern. Sie mußte dafür
mit Lebensmitteln an das Ausland zahlen, mit der Nahrung, die dem eigenen Volke
entzogen wurde.
Diese Opfer waren aber notwendig, um die Grundlage für eine gesunde
Weiterentwicklung zu schaffen. Nur durch den industriellen Aufbau konnten die
gewaltigen Rohstoffe des Landes mobilisiert, konnten die Voraussetzungen für
die Intensivierung der Landwirtschaft, für die Steigerung der
Lebensmittelerzeugung und der Verbrauchsgüterproduktion geschaffen werden. Nur
durch die planmäßig fortschreitende Industrialisierung konnte die Sowjetunion —
die ein Sechstel der Erdoberfläche umfaßt und mit ihren riesigen
Rohstoffreichtümern ein selbständiger Kontinent ist — immer unabhängiger von
den kapitalistischen Ländern der Welt werden. Nur dadurch konnte sie — was
nicht weniger wichtig ist — die militärische Macht und die wirtschaftliche
Potenz schaffen, die ihr eine Sicherung gegen Interventionskriege gibt. Nur
wenn das Volk die harte opfervolle Periode des Aufbaus durchhielt, konnten die
Früchte der geleisteten Arbeit geerntet werden.
Theoretisch wäre es durchaus möglich gewesen, schon im Jahre 1930 den Mangel an
Bedarfsgütern zu beheben. Man brauchte nur die im Lande vorhandene
wirtschaftliche Kraft und die Auslandskredite nicht für den Aufbau der
Produktionsmittelindustrie, sondern für die Beschaffung von Lebensmitteln und
Verbrauchsgütern verwenden. Dann wäre es zwar gelungen, das Volk schon Jahre
früher satt zu machen, aber der Preis für diesen Erfolg wäre der Verzicht auf
eine dauernde, stetig sich verbessernde Versorgung des Volkes gewesen. Der
sofortige Einsatz aller Mittel für die unverzügliche Verbesserung der
Lebenshaltung wäre eine sehr zweifelhafte Volksversorgung auf Pump gewesen.
Reserven und Auslandskredite wären aufgegessen worden, anstatt sie zum Aufbau
einer eigenen starken wirtschaftlichen Basis zu verwenden. Wäre die Schaffung
des eigenen festen Fundaments um der sofortigen Lösung der Tagesnöte willen
versäumt worden, dann wäre die Sowjetunion immer in Abhängigkeit vom
kapitalistischen Auslande geblieben, dann wären Krisen eingetreten, die aus
eigener Kraft zu überwinden die UdSSR zu schwach gewesen wäre. Hätte die
Sowjetregierung den vordringlichen Aufbau der Bedarfsgüterindustrie an die
Spitze der Fünfjahrpläne gestellt, dann wäre dem Volke vielleicht zwar der
ärgste Mangel der Aufbau-Jahre erspart geblieben, aber nach einem nicht
fundierten Aufschwung wäre der Niedergang gefolgt, der zum Zusammenbruch der
Sowjetunion führen konnte. Wäre die Sowjetregierung, nur um im Augenblick die
Massen zu befriedigen, diesen Weg gegangen, so hätte sie wie ein Bankrotteur
gehandelt, der heute aufißt was er hat und was er gepumpt bekommt, und der
nicht danach fragt, was morgen wird.
Da die Sowjetregierung nicht nur für den Augenblick den drückendsten Mangel
beseitigen, sondern eine stabile sozialistische Wirtschaft aufbauen wollte, hat
sie zu Beginn des industriellen Aufbaus alle Kraft für den Ausbau der
Produktionsmittelindustrie eingesetzt, hat sie planmäßig Traktoren und
Mähdrescher produziert, die die spätere Industrialisierung der Landwirtschaft
und dadurch die dauernde Steigerung der Lebensmittelproduktion ermöglichten. Es
war ein weitsichtiger Plan, der aber nur verwirklicht werden konnte, weil die
Regierung von der Mehrheit des Volkes aktiv unterstützt wurde.
Die konsequente Durchführung dieses Planes erforderte eine starke
zentralistische Regierungsgewalt, die um ihres großen und richtigen Zieles
willen mit allen Mitteln dafür sorgte, daß ihr Wollen nicht durch Ungeduld und
Unzufriedenheitsausbrüche gestört wurde.
Trotzki jedoch war auch in der Frage, in welcher Reihenfolge der große Aufbau
der Sowjetwirtschaft vollzogen werden müsse, anderer Meinung als die
Sowjetregierung. In der Rede, die er am 14. November 1922 auf dem IV.
Weltkongreß der Kommunistischen Internationale über die NEP-Politik hielt,
sagte er u.a. (Broschüre über diese Rede, Seite 17/18):
„Das bedeutet, daß wir vor allem sehr arm sind und für die Belebung der
Industrie beginnen müssen, unsere technischen und finanziellen Kräfte dort
anzuwenden, wo es am dringendsten ist. Am dringendsten ist es aber da, wo der
Konsum beginnt — bei den Arbeitern, Bauern und roten Soldaten. Es ist also
klar, daß Mittel in erster Linie dorthin wandern. Erst wenn die
Fertigfabrikatindustrie sich entwickelt, wird die Möglichkeit für eine gesunde
Entwicklung der Schwerindustrie entstehen. In dem Maße, wie die
Fertigfabrikat-Industrie uns die Möglichkeit gibt, dem Lande reale Reichtümer
zu entnehmen und dabei Profit abwirft, bekommen wir auch eine Grundlage für die
Schwerindustrie." Hätte man nach dem Vorschlage Trotzkis erst die
Bedarfsgüterindustrie aufgebaut, wäre der Aufbau nie gelungen. Die Entwicklung
hat bewiesen, daß die Bolschewistische Partei recht damit getan hat, im
Gegensatz zu den Vorschlägen Trotzkis zuerst die Schwer- und
Produktionsmittelindustrie aufzubauen. Heute vermag niemand mehr zu bezweifeln,
daß die Entwicklung auch in dieser Frage Trotzki sachlich widerlegt hat, daß
die Erfolge der Sowjetmacht auf dem von ihr beschrittenen Wege groß sind.
In den ersten Jahren nach Beginn des Fünfjahrplans war das durchaus nicht so
klar erkenntlich. Die Opfer, die das russische Volk für die Erreichung dieses
Zieles bringen mußte, gaben der sozialdemokratischen Presse in West- und
Mitteleuropa nur zu oft Gelegenheit, in kurzsichtiger Verkennung der Lage gegen
den Aufbau in der Sowjetunion Stellung zu nehmen und den sozialdemokratischen
Arbeitern ein ganz schiefes Bild von dem gewaltigen Ringen des russischen
Proletariats um die Freiheit zu geben. Unzählige Äußerungen der deutschen
sozialdemokratischen Presse könnten dafür angeführt werden. So schrieb z.B. die
Mannheimer sozialdemokratische „Volksstimme" am 7. Juli 1931 unter der
Überschrift „Neo-Nep in Sowjet-Rußland! Sieg der Methoden der kapitalistischen
Rationalisierung":
„Der russische Fünfjahrplan ist ein Abklatsch der kapitalistischen
Rationalisierung. Die Parallele der Folgen der fehlerhaften Rationalisierung
der kapitalistischen Welt und Sowjetrußlands ist ganz überraschend. Der
volkswirtschaftlichen Vergeudung auf der einen Seite steht die bittere Not auf
der anderen gegenüber. Gigantische Werke werden in Sowjetrußland erbaut, aber
der Hunger, das Schlangestehen vor den Lebensmittelläden, die Wohnungsnot, das
Absinken des Reallohnes, das ist die Kehrseite der technischen Phantasie. Von
den technischen Meisterwerken, den Renommierbauten, den gigantischen
Industriepalästen, die die russische Propaganda der kapitalistischen Welt in
teuersten Drucken zeigt, werden die russischen Arbeiter nicht satt. Das
Experiment des russischen Fünfjahrplanes wird auf dem Rucken des russischen
Volkes durchgeführt. Wie ein Alpdruck lastet der Fünfjahrplan auf dem
russischen Volke ....
So überwindet man den Kapitalismus nicht, weder organisatorisch noch geistig.
Diese Methoden münden schließlich ein in kapitalistische Bahnen. Und was sie
erreichen werden, das wird nur ein Zerrbild des Kapitalismus sein, und noch
dazu ein häßliches."
Die Entwicklung hat diese im sozialdemokratischen Lager weit verbreitete
Auffassung widerlegt. Im Jahre 1937 sind die gewaltigen Erfolge der
Fünfjahrpläne für den sozialistischen Aufbau unbestreitbar. Vor allem kann ein
objektiver Beurteiler nicht mehr behaupten, daß der gewaltige Aufbau zu einem
häßlichen Zerrbild des Kapitalismus geführt habe. Im Gegenteil, gerade durch
diesen Aufbau konnten die kapitalistischen Einflüsse immer mehr ausgeschaltet
und liquidiert werden. Hätte die sozialdemokratische Presse in den
kapitalistischen Ländern schon einige Jahre früher die große Bedeutung des
Aufbaus in der Sowjetunion begriffen, dann wäre der Kampf der Sowjetvölker für
den Sozialismus in stärkerem Maße durch das internationale Proletariat
unterstützt worden. Die Früchte dieses Aufbaus wären dann auch schneller und
spürbarer dem Freiheitskampfe der Proletarier in den anderen Ländern zugute
gekommen.
Die Anforderungen, die in den Jahren des Aufbaus an die Völker in der UdSSR
gestellt wurden, hat Manuilski in seinem vor dem VII. Weltkongreß der
Kommunistischen Internationale (1935) erstatteten Bericht über „Die Ergebnisse
des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion" geschildert:
„Unser Aufbauwerk ging nicht reibungslos vonstatten, wie es aus der Ferne
scheinen mochte. Wir brauchten Metall zum Bauen, doch es gab keines; wir
brauchten Baumaterial, doch es war knapp; man mußte diese Materialien und große
Menschenmassen nach neuen Orten transportieren, doch das Verkehrswesen
versagte; die Bauarbeiter und die Arbeiter mußten mit Nahrung, Kleidung und
Schuhen versorgt werden, es mußten die elementarsten Wohnbedingungen für sie geschaffen
werden, doch es mangelte an Hilfsquellen und Vorräten; man brauchte
qualifizierte Arbeiter, doch woher sollten sie alle auf einmal genommen werden?
Es gab keine Ingenieure, Techniker, es mangelte an elementarster industrieller
Ausbildung. Auf uns lastete die vom alten Regime ererbte alte russische
Loddrigkeit, die jahrhundertealte Trägheit, der Bürokratismus. Der Klassenfeind
aber nutzte jeden Fehlgriff unserer unerfahrenen jungen Kader aus, stellte
aufgebauschte Kostenvoranschläge zusammen, verwirrte die Pläne, legte
wissentlich untaugliche Projekte vor, beschädigte die Maschinen, organisierte
Brandstiftungen, Sprengattentate und ruinierte die kostspieligen
Betriebseinrichtungen.
Im Laufe dieser Jahre waren die Muskeln und Nerven des ganzen Landes wie ein
straffes Seil gespannt. Wir lebten nur für unsere Bauten. Wenn wir dachten, so
dachten wir in den Zahlen dieser Bauten, wenn wir sprachen, so sprachen wir nur
von ihnen, wenn wir tagten, so diskutierten, stritten wir nur über sie, wenn
wir einschliefen, so träumten wir nur von ihnen. Alles war dem einen Ziel
untergeordnet, der Erfüllung des Planes der großen Arbeiten, den sich unsere
Partei und unser Land gestellt hatten: die Anspannung aller materiellen Mittel
des Landes, der mobilisierte menschliche Wille, die organisierte menschliche
Energie, die bolschewistische Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit — dieses Ziel
bestimmte die bescheidene Lebenshaltung unseres Volkes ....
Nicht alle vermochten diese sozialistische Offensive auszuhalten, die die
Feldzüge aller Zeiten und aller Völker in den Schatten stellte. Alles Feige,
Selbstsüchtige, Gemeine, Faule blieb am Wege liegen, ließ den Kopf hängen,
flennte, säte Unglauben, weissagte den Untergang ..." Der Untergang ist
ausgeblieben. Die Anspannung der Kräfte bis zum Äußersten ist nicht umsonst
gewesen.
Der schnelle Aufbau der Produktionsmittelindustrie war allerdings
nur auf Kosten des Konsums der Volksmassen durchzuführen. Die europäischen
Sozialisten schlußfolgerten aus dieser Tatsache, daß der erste Fünfjahrplan
mißlingen und die Diktatur des Proletariats scheitern müsse.
Ja, Millionen Bauern, die für die industrielle Produktion gewonnen werden
mußten, waren nicht sofort qualifizierte Industriearbeiter. Sie mußten erst
lernen, mit den modernen Maschinen umzugehen. Zweifellos ist dabei viel kaputt
gegangen, viel Schaden entstanden, der die schnelle Aufwärtsentwicklung hemmte
und die Produktionskosten steigerte. Stalin hat in einem späteren Stadium
einmal auf diese Tatsachen hingewiesen und dabei die Frage aufgeworfen, ob die
dadurch entstandenen Verluste vermieden werden konnten. Er hat das verneint,
weil seiner Meinung nach eine qualifizierte Industriearbeiterschaft eben aus
dem vorhandenen russischen Menschenmaterial überhaupt nur heranzubilden war,
wenn die Menschen an die Maschine gestellt wurden und praktisch lernen konnten.
Dieses praktische Erlernen hat trotz den entstandenen Verlusten den Aufbau
schnell vorwärts gebracht. Der relativ große Verschleiß der ersten Aufbauzeit,
der unter den besonderen Bedingungen Rußlands unvermeidlich war, steigerte
allerdings die Produktionskosten und zwang das Volk zu größeren
Einschränkungen. Die große Aktion, die später von der Sowjetregierung für die
bessere Qualifikation der Arbeitenden, für die Steigerung der
Arbeitsproduktivität und für die Senkung der Produktionskosten durchgeführt
wurde, diente in erster Linie dem Zwecke, die früher notwendigen
Einschränkungen zu beseitigen.
Aufklärung über die Entwicklung in der Sowjetunion erhielten die
sozialdemokratischen Massen zunächst fast ausschließlich durch Gegner des
Sowjetregimes, die als besondere Sachkenner vorgestellt wurden. Einer dieser
Spezialisten, der vorübergehend in der Sowjetunion war, schrieb 1930 in einem
von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands herausgegebenen Material über
die Lage in der Sowjetunion:
„In Rußland wird jetzt das geschaffen, was in den fortgeschritteneren Ländern
der Kapitalismus geschaffen hat. Die roten Fahnen verhüllen das wahre Wesen
dieser Wirtschaft. Aufbau einer Großindustrie auf Kosten der werktätigen
Massen, genau so wie die Großindustrie überall aufgebaut worden ist."
In der Tat: Die Großindustrie in den kapitalistischen Ländern ist auf Kosten
der arbeitenden Menschen aufgebaut worden und auch in der Sowjetunion haben die
werktätigen Massen große Opfer bringen müssen, um den industriellen Aufbau zu
ermöglichen. Aber das ist der grundlegende Unterschied zwischen der
Sowjetunion und den kapitalistischen Ländern: In den kapitalistischen Ländern
haben die den Massen aufgebürdeten Lasten nur den Kapitalisten Vorteile
gebracht, die Massen wurden nach dem Aufbau eines qualifizierten
Industrieapparates, nach der Rationalisierung in Arbeitslosigkeit und Elend
gestoßen. Ihre Löhne und Lebenshaltung wurden herabgedrückt. In der Sowjetunion
dagegen führten die von den Massen gebrachten Opfer zu einer
Produktionssteigerung, die den Wohlstand des ganzen Volkes hob. Die durch
den Aufbau der Großindustrie ermöglichte Gütervermehrung führte in der
Sowjetunion nicht zu Absatzstockungen, zu Arbeitslosigkeit und Elend, sondern
zu einer besseren Befriedigung der Bedürfnisse der Volksmassen, zur Erhöhung
des Reallohnes und zu einer weiteren Steigerung der Produktion.
„Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine
Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so
wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft." So hat Karl Marx schon vor 90
Jahren den Kapitalismus charakterisiert. Und überall in diesen 90 Jahren war in
allen kapitalistischen Ländern festzustellen, daß der Arbeiter ärmer wurde, je
mehr Reichtum er produzierte. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte ist in der
Sowjetunion der Beweis erbracht worden, daß unter einem besseren als dem
kapitalistischen Wirtschaftssystem der von den Arbeitenden produzierte Reichtum
zu einem Segen für sie selbst wird. Noch nie haben die Arbeiter und auch die
Bauern ihre Produktion so gesteigert, wie in der UdSSR in den Jahren von 1924
bis 1937. Wäre die Sowjetunion nichts anderes als ein kapitalistisches oder
staatskapitalistisches Land, dann hätte dort nach dem von Marx festgestellten
ehernen Gesetz des Kapitalismus die Vermehrung der Produktion die Arbeiter
ärmer, und ihre Ware, die Arbeitskraft, wohlfeiler gemacht. Dann hätte die
gewaltige Steigerung der Produktion zu Absatzschwierigkeiten, zur Krise und zur
Arbeitslosigkeit von Millionen geführt. Auch das ist ein Beweis für das
Funktionieren des sozialistischen Wirtschaftssystems in der Sowjetunion, daß
dort die Vermehrung der von den Arbeitern erzeugten Güter nicht einer kleinen
kapitalistischen Oberschicht, sondern dem ganzen Volke zugute kommt und damit
auch den Wohlstand der Erzeuger, der Arbeiter, vermehrt. Ihre Arbeitskraft wird
nicht wohlfeiler, sondern teurer. Werden in der Sowjetunion mehr Waren
produziert, so werden mehr Waren immer billiger an das Volk verteilt, so können
immer mehr der Bedürfnisse aller Bürger befriedigt werden. Die bessere
Befriedigung der Bedürfnisse macht eine immer weitere Vergrößerung der
Produktion nötig und die Arbeitslosigkeit unmöglich.
Die Opfer, die das Volk der Sowjetunion in den ersten schweren Jahren des
Aufbaus brachte, waren sinnvoll. Die Frucht dieser Opfer kam den Massen
unmittelbar zugute. Wertet man die erste Periode des Aufbaus im großen geschichtlichen
Zusammenhang, dann kann man feststellen, daß die Massen in dieser Zeit Mangel
und Not weniger als eine drückende Dauererscheinung empfunden, sondern in dem
Bewußtsein ertragen haben, daß ohne diese Opfer der Aufstieg zu einem besseren
Leben nicht erreicht werden kann. Sie wußten, daß zur Erzeugung größerer Mengen
von Lebensmitteln Maschinen notwendig waren; sie wußten, daß zur besseren
Versorgung ein gut funktionierender Eisenbahnverkehr gebraucht wurde; sie
wußten, welches traurige Erbe die Sowjetmacht vom Zarismus übernommen hat; und
sie wußten vor allem, daß zum Bau von Maschinen, von Lokomotiven, zur Schaffung
eines guten Eisenbahnnetzes Eisen und Stahl, und immer wieder Eisen und Stahl
gebraucht wurden, die erst in ausreichendem Maße produziert werden mußten, um
die vorhandenen Mängel zu beheben. Die große Masse des Volkes glaubte fest und
unerschütterlich daran, daß die Erfolge in der Steigerung der Eisen- und
Stahlproduktion mit mathematischer Sicherheit zur Vermehrung der Bedarfsgüter, zur
Liquidierung des Mangels fuhren würden. Wenn die herrschende Partei und die
Sowjetmacht ankündigten, zu einem bestimmten Zeitpunkt wird die Brotmenge
erhöht, wird die Menge der Bedarfsgüter vermehrt, wird der Brotpreis, werden
die Preise für Lebens- und Bedarfsmittel gesenkt, dann waren die Massen von der
Erfüllung dieser Voraussagen überzeugt. Die tatsächliche Durchführung der von
einer zielbewußten Führung gemachten Versprechen befestigte das Vertrauen des
Volkes zur Sowjetmacht. Die Massen brachten darum die von ihnen geforderten
Opfer in der Überzeugung, daß sie nicht für den Profit kapitalistischer
Ausbeuter leiden, sondern daß der Weg, den sie durch Fahrnisse und
Schwierigkeiten marschieren, sie selbst sicher vorwärts und aufwärts führt zu
einem besseren Leben. Ohne diese Überzeugung großer Teile des Volkes wäre das
schwierige Werk des sozialistischen Aufbaus nicht gelungen. Der Aufbau der
Großindustrie, der „auf Kosten der werktätigen Massen" vollzogen wurde,
wirkt sich zu ihrem Nutzen aus. Die Opfer, die das arbeitende Volk nach der
Revolution für eine bessere Zukunft brachte, wurden nicht sinnlos vertan. Nicht
nur spätere Generationen ernten die Früchte, sondern schon die Generation, die
die schwersten Lasten auf sich nahm, ist Nutznießerin eines besseren Lebens
geworden.
Die große Masse der Völker in der Sowjetunion lebt — ohne Angst
vor Krise und Arbeitslosigkeit — froh in der Gegenwart, mit dem
unerschütterlichen Glauben an die Zukunft.
Der ununterbrochene Aufschwung der Wirtschaft führt zu einer ständigen
Verbesserung der Lebensverhältnisse der werktätigen Massen. Die erfolgreiche
Durchführung der Fünfjahrpläne bringt dem ganzen Volke die von diesem selbst
täglich festzustellenden Vorteile. Über die Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus
äußerte sich der französische Gesundheitsminister Henri Sellier nach einem
Besuch in der Sowjetunion (im Februar 1937) in einer Unterredung, die er dem
Vertreter des „Journal de Moscou“ gewährte:
„Meine zweite Reise in die Sowjetunion hat die Empfindungen bestätigt und
verstärkt, die ich bereits bei meiner ersten Reise im August des letzten Jahres
tief empfunden hatte. Der Eindruck eines unerhörten Aufbauwerks, von Macht und
Methode beherrscht den, der Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hat .... Die Besserungen
der materiellen Bedingungen und des allgemeinen Komforts — die man, wie mir ein
besonders gut informierter, in Moskau ansässiger Franzose sagte, von Tag zu Tag
merkt — ist charakteristisch für die letzten sechs Monate. Die Zeit der
Entbehrten ist entschieden zu Ende und alle Hoffnungen sind dem russischen
Volke erlaubt: das Ende der Hungersnot, die Normalisierung des Lebens, das Ende
der Wahnvorstellungen, die Revolution und Krieg hinterließen, sind natürlich
von der Art, daß sie die krankhaften Empfindungen einiger dekadenter Literaten
verringern, für die die Leiden der anderen ein geistiges Anregungsmittel sind.
Jene, die sich ihrer Vertrautheit mit dem Marxismus rühmen, als ob sie versucht
hätten, in ihn einzudringen, um den sozialistischen Aufbau Rußlands zu
verdammen, sollten wissen, daß eine der Grundlagen des dialektischen
Materialismus ist, daß das Individuum nicht zur vollen Entfaltung seiner
intellektuellen Möglichkeiten kommen kann, solange es nicht von allen Sorgen um
die materielle Sicherheit befreit ist.
...Der Ruhm Stalins und seiner Mitarbeiter wird sein, daß sie mit einer
unbezwingbaren Energie an der Vollendung dieses Programms gearbeitet
haben." Die täglich wachsende Besserung der materiellen Verhältnisse ist
in der Tat unbestreitbar. Die Produktion der Massenbedarfsartikel ist ganz
erheblich gewachsen. Sie ist im letzten Jahre des zweiten Fünfjahrplans
zweieinhalbmal größer als 1932. Die Produktionskosten sind erheblich gesenkt
worden, sie sind im Jahre 1937 in der Industrie um 26%, in der Landwirtschaft
um 63.3% niedriger als 1932. Die Produktivität der Arbeit ist in der gleichen
Zeit ungefähr ebenso gesteigert worden, wie die Produktionskosten gesenkt
wurden. Das Ergebnis ist: Es gibt allenthalben mehr Waren und die Waren werden
billiger.
Die Löhne sind in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Der durchschnittliche
Jahreslohn der Arbeiter und Angestellten stieg von 936 Rubel im Jahre 1930 auf
1783 Rubel im Jahre 1934. Das ist in vier Jahren eine Steigerung um 90.4%. Im
Jahre 1935 betrug der durchschnittliche Jahreslohn des Arbeiters in der
Großindustrie 2200 Rubel, oder um weitere 12% mehr als 1934. Im Jahre 1936
stieg der Durchschnittslohn bei gleichzeitig billigeren Lebensmittelpreisen auf
2770 Rubel. Ein mittelqualifizierter Arbeiter in einer Maschinenfabrik verdient
durchschnittlich 400 Rubel im Monat.
Die Lohnsteigerung ist parallel gegangen mit einer nicht unerheblichen Senkung
der Preise für die wichtigsten Bedarfsartikel.
Die Kleinhandelspreise für Nahrungsmittel sind nach den amtlichen Angaben im
Jahre 1937 in der Stadt um 35.2%. auf dem Lande um 32% niedriger als 1932; die
Kleinhandelspreise für die industriellen Massenbedarfsartikel waren 1937 in der
Stadt um 33.1%, auf dem Lande um 38.1% niedriger als 1932.
Vergleicht man die Preise, die im Jahre 1937 für die wichtigsten Nahrungsmittel
gezahlt wurden, mit den im Jahre 1933 gezahlten Preisen, so ergibt sich eine
ganz erhebliche Senkung. 1933 kostete ein Kilogramm Roggenbrot im freien Handel
2.50 Rubel, 1937 85 Kopeken; der Preis für Weizenbrot betragt nur noch ein
Drittel des 1933 gezahlten Preises, ebenso ist es bei Butter. Grütze, Fleisch-
und Wurstwaren sind um die Hälfte billiger geworden, ähnlich ist es noch bei
sehr vielen anderen Lebensmitteln. Die Gesamtsumme der Preissenkung für
Lebensmittel bellet sich bereits im Jahre 1935 - im staatlichen,
genossenschaftlichen und kollektivbäuerlichen Handel — auf insgesamt 5
Milliarden Rubel, und im Jahre 1936 gegenüber 1935 auf weitere 5 Milliarden
Rubel. Also allein in diesen zwei Jahren betrug der Gesamtwert der Preissenkung
für Lebensmittel 10 Milliarden Rubel. Das heißt, das Volk konnte mit dem
gleichen Einkommen für 10 Milliarden Rubel mehr Waren kaufen, seinen Verbrauch
steigern und sein Lebensniveau erhöhen. Nach den Regierungsverordnungen, die
für 1. Juni, bzw. 1. Juli 1937 die Herabsetzung der Preise für die industriell
erzeugten Massenbedarfsartikel bestimmten, sind auch die Bedarfsgüter mit einem
Schlage um weitere 10 bis 20% billiger geworden. Die von der Zentralverwaltung
für Volkswirtschaftsstatistik durchgeführten Untersuchungen ergeben, daß der
Verbrauch der Arbeiterfamilien an Fleisch im Jahre 1935 um 9.6% und 1936 um
weitere 48.2%, an Milch im Jahre 1935 um 21.1% und 1936 um weitere 22.8%, an
Eiern 1935 um 57.7% und 1936 um weitere 129.3% gestiegen ist. Nach der gleichen
Quelle ist die Verbrauchssteigerung bei Fett, Zucker und Obst noch größer. Aber
auch die Qualität der verbrauchten Lebensmittel hat sich gebessert. Zur Zeit
des Kartensystems entfielen von der gesamten Brotproduktion 71% auf Roggenbrot
und 29% auf Weizenbrot, aber schon in der ersten Hälfte des Jahres 1936 wurden
28% Roggenbrot und 72% Weizenbrot gekauft. Nach den Preissenkungen des Jahres
1937 sind die Lebens- und Bedarfsmittel noch billiger geworden, der Verbrauch
der einzelnen Familie an Lebens- und Bedarfsgütern konnte -weiter erhöht
werden. Der dritte Fünfjahrplan sieht nicht nur weitere erhebliche
Produktionssteigerungen, sondern auch noch weitere Preissenkungen vor. Die
gleichzeitige Erhöhung der Löhne und Senkung der Preise hat den Verbrauch der
Massen in den letzten Jahren enorm gesteigert. Der Warenumsatz stieg 1934 um
24.5%, 1935 um 32.8%, 1936 um 30.2%, 1937 um 23.2% jeweils gegenüber dem
Vorjahre. Er beträgt im jähre 1937 rund 131 Milliarden Rubel. Und im jähre 1942
soll der Einzelhandelsumsatz und damit das Lebensniveau des Volkes — nach
amtlichen Berechnungen — mindestens doppelt so hoch sein wie im jähre 1937.
Die gleichzeitige absolute Erhöhung des Lohnes und die Senkung der Preise bedeutet
für alle arbeitenden Menschen eine stark spürbare Erhöhung des Reallohnes. Wie
sich die Erhöhung des Reallohnes im einzelnen zum Vorteil der Volksmassen
auswirkt, beweist die Verbrauchssteigerung, über die im vorhergehenden Absatz
berichtet wird. Nach den amtlichen Angaben erhöhte sich der Reallohn von 1932
bis 1937 um rund 100%. Neben der Senkung der Preise erhöhen außerdem die
vermehrten unentgeltlichen Leistungen, die die Arbeiter und Angestellten aus
den Fonds für kulturelle und soziale Versorgung erhalten, den Reallohn noch
ganz wesentlich über den gezahlten Nominallohn hinaus. Es gibt kein anderes
Land in der Welt, in dem der Reallohn der Arbeitenden in fünf Jahren verdoppelt
wurde. Noch ist der durchschnittliche Jahreslohn des Arbeiters in der Sowjetunion
niedriger als der Lohn seines Kollegen in den USA oder in den europäischen
Ländern mit den höchsten Lehnen, aber die fortschreitende Aufwärtsentwicklung
der nach sozialistischen Prinzipien dirigierten Sowjetwirtschaft schärft die
Voraussetzung für eine weitere Steigerung des Reallohns. Darum ist die
Behauptung, daß der Reallohn in der Sowjetunion in nicht allzu ferner Zeit
höher sein wird als in allen kapitalistischen Ländern, mehr als eine
Prophezeiung.
Die sozialen Leistungen für die arbeitenden Menschen sind außerordentlich
gesteigert worden. Sie sind unendlich viel höher als in der Vorkriegszeit.
Während im Staatsbudget des Jahres 1923/1924 ganze 119.7 Millionen Rubel für
soziale und kulturelle Zwecke eingesetzt waren, ist im Jahre 1937 der Haushalt
der Sozialversicherung allein auf 6750 Millionen Rubel festgesetzt, gegen 4400
Millionen Rubel im Jahre 1932. Gegenüber dem ersten Jahre des zweiten
Fünfjahrplans sind die Ausgaben für Sozialversicherung um 53.4% Prozent erhöht
worden.
Hinzu kommt noch, daß der Fonds für kulturelle und soziale Versorgung der
Arbeiter, der vom Staat und den Gewerkschaften aufgebracht wird, erheblich
erhöht wurde. Allein für die nichtlandwirtschaftlichen Arbeiter wurden durch
diesen Fonds im letzten Jahre des zweiten Fünf Jahrplans 9284.3 Millionen Rubel
aufgewendet, gegenüber 4308.4 Millionen Rubel im Jahre 1932. Die Ausgaben des
Fonds für kulturelle und soziale Versorgung der Arbeiter sind in den fünf
Jahren des zweiten Fünfjahrplans um 215.5% gestiegen.
Die Zahl der Erholungsheime und Sanatorien, der Krankenhäuser und Kinderheime
hat sich ganz außerordentlich vermehrt. Das Wichtigste aber ist, daß alle diese
Einrichtungen, die im zaristischen Rußland nur einer kleinen Zahl Besitzender
zugute kamen, heute den Werktätigen, Arbeitern, Angestellten und Bauern zur
Verfügung stehen. Im Jahre 1937 besuchten von je 1000 Versicherten 75
Erholungsheime und Sanatorien. Für die Kinder wird mit großer Liebe gesorgt.
Kinderkrippen, Kinderheime und Erziehungsanstalten sind wie Pilze aus der Erde
geschossen. Die Zahl der Plätze in den ständigen und den Saisonkinderkrippen
ist noch nicht ausreichend, wächst aber ständig.
Der Wohnungsnot, die bis in die gegenwärtige Zeit zu den nicht überwundenen
Mängeln gehört, wurde kräftig zu Leibe gegangen. 1937 betrug die
Durchschnittsnorm der Wohnfläche pro Person 5.35 m², in den wichtigsten
Industriezweigen 7 m². Das ist wesentlich mehr als 1924, aber noch lange nicht
genügend. Die Modernisierung der Städte hat große Fortschritte gemacht. Die unter
dem Kapitalismus geschaffenen Elendshütten in den Arbeitervierteln sind durch
neue große Wohnbauten ersetzt worden. Mitten in ehemals nur agrarischen oder
Steppengebieten wurden riesige Großstädte mit hellen, luftigen Wohnvierteln neu
geschaffen. Viele alte Städte werden umgebaut, so zum Beispiel Moskau, das nach
einem Zehnjahrplan die schönste, luftigste und gesündeste Stadt der Welt werden
soll. Das langsame Tempo der Überwindung der Wohnungsnot hatte zwei ganz
besondere Ursachen: Das Erbe, das die Sowjetunion auf diesem Gebiete von dem
Zarenreich übernehmen mußte, war ganz besonders kläglich. Nirgends in der Welt
waren die Wohnverhältnisse für die werktätigen Massen so erbärmlich, nirgendwo
standen den Arbeitern und Angestellten so wenige Wohnungen zur Verfügung wie im
zaristischen Rußland. Die zweite Ursache war der durch die gigantische
Industrialisierung bedingte ungewöhnliche Zustrom der Massen in die Städte.
Einen so rapiden Bevölkerungszuwachs wie z.B. Moskau hat keine andere Stadt der
Welt gehabt. Der prozentuale Bevölkerungszuwachs der anderen Städte in der
Sowjetunion ist nicht wesentlich geringer als der Moskaus. Die Überwindung der
Wohnungsnot in den Städten braucht darum eine längere Zeit, aber die
Voraussetzungen sind geschaffen, daß auch dieser Mangel allmählich beseitigt
wird.
Das kulturelle Niveau des Volkes wurde ganz beträchtlich gehoben. Im Jahre 1937
wurden für kulturelle und damit zusammenhängende soziale Zwecke 22.16
Milliarden Rubel ausgegeben, gegen 1.19 Millionen Rubel im Jahre 1924. Die
22.16 Milliarden Rubel verteilen sich folgendermaßen: für Volksbildung 6.34
Milliarden Rubel, für Kaderheranbildung 6.16, für Wissenschaften 0.27, für
Kunst 0.25, für Presse 0.14, für Gesundheitspflege und körperliche Ausbildung
5.62, für soziale Fürsorge und Arbeiterschutz 2.66 Milliarden Rubel. Im Jahre
1937 besuchten 29.9 Millionen Schüler die allgemeinen Elementar- und
Mittelschulen, gegen 5.9 Millionen Volksschüler im Jahre 1913 im zaristischen
Rußland, 35,6 Millionen die Schulen für allgemeine und Fachausbildung, 1.8
Millionen Schüler die Hochschulen und technischen Mittelschulen. Auf je 1000
Einwohner kommen 197 Besucher der Schulen für allgemeine und Fachausbildung
(Arbeiterfakultäten, Betriebsschulen, technische Mittelschulen usw.). Die Zahl der
Mittel- und Hochschüler ist um das Vielfache höher als 1924. Über 600.000
Lehrer unterrichten an diesen Schulen. Diese Zahl ist in der letzten Zeit durch
besondere Förderung der Lehrerausbildung und durch Erhöhung der Lehrergehälter
noch erheblich gesteigert worden.
Das Analphabetentum, das im zaristischen Rußland weit verbreitet war, ist
liquidiert. Aber nicht nur das. Die Schülerzahl der höheren Schulen, der
Universitäten und der Fachschulen ist so groß geworden, daß eine immer
steigende Anzahl Menschen des neuen Rußland über die allgemeine Volksbildung
hinaus eine qualifizierte und technische Bildung besitzt. Im zweiten
Fünfjahrplan erhöht sich die Zahl der qualifiziert ausgebildeten Fachleute von
2.737.200 auf 4.009.000. In der UdSSR sind 1937 im Steinkohlenbergbau 6%
Fachleute (in Deutschland 4.2%), in der Hüttenindustrie 10.5% (in Deutschland
6.2%), im Maschinenbau 12.6% (in Deutschland 9.8 %). 1937 sind von den
Fachleuten in der Sowjetunion 57.0 % von höherer Qualifikation, gegen 49.9 % im
Jahre 1932. Im Laufe der zweiten Fünfjahrperiode wurden außerdem der Wirtschaft
der UdSSR 5 Millionen qualifizierte Facharbeiter neu zugeführt, die in den
fachlichen Vorbereitungsschulen ihre Ausbildung fanden. Von diesen neu
ausgebildeten Kadern erhielt die Landwirtschaft 1.5 Millionen Traktoristen,
Mähdrescherführer, Brigadiere usw. Hunderttausende einfacher Bauernburschen und
Bauernmädel erwarben das Traktorenführerzeugnis und wurden qualifizierte
Fachkräfte.
Das alles ist der sichtbare Ausdruck für die Hebung des kulturellen Niveaus des
Volkes in der Sowjetunion. Aber auch die sonstigen kulturellen Leistungen sind
viel größer geworden. Während 1932 erst 26.950 Schaustätten (Theater,
Lichtspieltheater usw.) vorhanden waren, gibt es 1937 deren 71.500. Die Zahl der
Theatertruppen hat sich von 560 auf 1080 erhöht, die Zahl der Kinoanlagen
allein in den städtischen Klubs von 6073 auf 10.230. Über Bücher und Presse
sagte Manuilski auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale:
„... Nehmt unsere Bücher, Zeitungs- und Zeitschriften-Produktion Die Werke
Lenins und Stalins, des größten proletarischen Schriftstellers Gorki werden in
Dutzenden von Millionen Exemplaren verkauft .... Wissenschaftliche Bücher
erscheinen bei uns in Auflagen von je 50.000 Exemplaren. Die Gesamtauflage
aller Zeitungen ist von 8.8 Millionen im Jahre 1928 auf 38.5 Millionen im Jahre
1934 gestiegen, und trotzdem gehören Buch und Zeitung bei uns zu den Artikeln,
an denen größte Knappheit herrscht, denn unermeßlich schneller und breiter wachsen
unsere kulturellen Bedürfnisse."
Jede Zeitungsredaktion in der Sowjetunion hat eine besondere Bauern- und
Arbeiter-Abteilung, deren Aufgabe die unmittelbare Verbindung mit den
werktätigen Massen ist. Aus allen Teilen des Landes kommen Berichte und Briefe
an diese Abteilung, in denen sich das Alltagsleben der Sowjetmenschen
widerspiegelt. Sie schreiben in diesen Briefen ihre Beschwerden, ihre Wünsche,
sie verlangen Rat in den verschiedensten Fragen des Lebens. Die Arbeiter- und
Bauern-Abteilung der Redaktion ist verpflichtet, sich mit den gestellten Fragen
auseinanderzusetzen, die Briefe zu beantworten, Rat und Auskunft zu erteilen.
Sind in einem Briefe Fragen von allgemeiner Bedeutung gestellt, so erfolgt die
Antwort in der Zeitung. Die überwiegende Mehrzahl der Antworten erfolgt aber an
die Fragesteller brieflich. Es hat sich auf diese Weise neben der gedruckten
noch eine zweite, geschriebene Zeitung herausgebildet, durch die eine
unmittelbare, persönlichere Verbindung zwischen Presse und Volk hergestellt
wird. Diese persönliche Verbindung hat in der Sowjetunion einen Umfang
angenommen, von dem sich Leser und Redakteure in den kapitalistischen Ländern
keine Vorstellung machen können. Die „Prawda" zum Beispiel, die einen
Redaktionsstab von 200 Redakteuren und Mitarbeitern umfaßt, hat in ihrer
Bauern- und Arbeiter-Abteilung nicht weniger als 13 Redakteure und 25
Mitarbeiter sitzen, deren einzige Aufgabe es ist, die eingehenden Briefe zu
beantworten. In der „Prawda" laufen täglich Hunderte von Briefen ein, die
zu allen Fragen des Alltagslebens Stellung nehmen und die ein besseres Bild von
der Entwicklung und Stimmung des Volkes geben als die gedruckte Zeitung selbst.
Während noch 1932 und 1933 die Mehrzahl der Briefe Beschwerden über die
Unzulänglichkeiten in den Kollektivwirtschaften, in den Sowchosen und in den
Fabriken, über Ernährungsschwierigkeiten und ähnliche materielle Fragen
enthielten, beschäftigte sich 1936 die Mehrzahl der eingegangenen Briefe mit
kulturellen Fragen, mit Kunstproblemen, Sport und ähnlichem. In dem Maße, wie
durch den erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbau die materiellen Fragen eine
bessere Lösung gefunden haben, wendet sich das Interesse der Massen stärker den
kulturellen Fragen zu.
Kritiker der
Sowjetunion haben oft die großen Anforderungen bemängelt, die während des
Aufbaus an die Menschen gestellt wurden. Die Umwandlung der kapitalistischen
Gesellschaft in die sozialistische ist ein harter, langwieriger Kampf, in
dessen Verlauf dem Menschen schwere Opfer nicht erspart werden können. Der
letzte tiefe Sinn des Sozialismus ist zweifellos, dem Menschen das Leben
schöner, reicher, glücklicher zu machen. Die Krönung des sozialistischen
Kampfes ist die vollständige Befreiung des Menschen, die nach Marx in der
höchsten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der kommunistischen
Gesellschaft, erreicht wird. In der Sowjetunion ist der sozialistische Aufbau
nicht um eines neuen Wirtschaftssystems, nicht um eines gut funktionierenden
Apparates, sondern um des Menschen willen vollzogen worden. Bald nach der
Lösung der wichtigsten materiellen Fragen wurde der Mensch Mittelpunkt allen
Wirkens. Auf dem XVII. Parteitag (1934) sagte Stalin (Broschüre über diese
Rede, Seite 80):
„Was hätte es für einen Sinn gehabt, den Kapitalismus im Oktober 1917 zu
stürzen und im Laufe einer Reihe von Jahren den Sozialismus zu errichten, wenn
wir es nicht erreichen, daß die Menschen bei uns im Wohlstand leben?
Sozialismus bedeutet nicht Elend und Entbehrungen, sondern die Beseitigung des
Elends und der Entbehrungen, die Schaffung eines wohlhabenden und kulturellen
Lebens für alle Mitglieder der Gesellschaft."
Sollen alle Menschen ein Leben in Wohlstand und Kultur führen, so kann das auch
mit einem qualifizierten Produktionsapparat nur erreicht werden, wenn die
Menschen diesen Produktionsapparat zu gebrauchen verstehen, wenn die
Arbeitsproduktivität so gesteigert wird, daß alle Produkte und
Gebrauchsgegenstände im Überfluß zur Verteilung stehen. Die eine Voraussetzung
für die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist die Herausbildung
qualifizierter Kader. Ein weiteres Mittel für die Steigerung der
Arbeitsleistung ist der sozialistische Ansporn.
„Insofern — sagte Stalin 1934 zu dieser Frage — wir bereits gelernt haben, die
Technik zu schätzen, ist es Zeit, offen zu erklären, daß das Wichtigste jetzt
die Menschen sind, die sich die Technik angeeignet haben ... Man muß jeden
fähigen und verständigen Funktionär wohl behüten, man muß ihn wohl behüten und
großziehen." Dank dieser Aufmerksamkeit, die dem Problem der
Menschenheranbildung gewidmet wurde, sind in kurzer Zeit qualifizierte Kader
buchstäblich aus der Erde gestampft worden. Am Ende des zweiten Fünfjahrplans
steht eine neue Armee von Spezialisten zur Verfügung. Die Sowjetunion ist nicht
mehr angewiesen auf Spezialisten aus dem Auslande, sie verfügt über genügend
qualifizierte Arbeiter, Techniker und Ingenieure für ihren modernen
Produktionsapparat. Aus der großen Masse der Arbeiter und Bauernschaft sind
aber nicht nur Ingenieure, Techniker, Organisatoren und Betriebsleiter
herausgewachsen, sondern auch Wissenschaftler und Forscher, die auf den
verschiedensten Gebieten Unübertreffliches geleistet haben. Die
Stratosphärenflieger zum Beispiel, die in der kühnen Erforschung der Stratosphäre
größere Erfolge zu verzeichnen hatten als ihre Kollegen in anderen Ländern,
waren wenige Jahre vorher noch Arbeiter- und Bauernburschen. Ebenso beweist die
Eroberung des Nordpols, beweisen die Taten der Nordpolüberflieger, zu welchen
heroischen Leistungen der sozialistische Staat anspornt.
Die Mobilisierung der Menschen für den Sozialismus hat aber nicht nur aus der
Masse des werktätigen Volkes kühne Forscher, Wissenschaftler und Techniker
hervorgebracht, die unlösbar scheinende Aufgaben bewältigt haben, sondern sie
hat auch aus den Kreisen der alten Intelligenz Gelehrte und Künstler,
Ingenieure und Forscher zu begeisterten freien Mitkämpfern für den
sozialistischen Aufbau gemacht.
Die Ausschaltung der kapitalistischen Einflüsse, die Beseitigung der Ausbeuterklasse
aus der Wirtschaft der Sowjetunion und die Heranziehung der werktätigen Massen
zur unmittelbaren tätigen Mitarbeit an der Gestaltung der sozialistischen
Wirtschaft, haben die Voraussetzungen für den sozialistischen Menschen
geschaffen. In der Rede, die Manuilski auf dem VII. Weltkongreß der Komintern
über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion hielt, sagte er: „Unsere
Massen sind nicht mehr die Massen, die man nur für die proletarische Revolution
zu gewinnen braucht, es sind Massen von Miterbauern der klassenlosen
sozialistischen Gesellschaft. Aber die klassenlose sozialistische Gesellschaft
aufbauen, heißt nicht allein die Klassen aufheben, sondern die Überreste des
Kapitalismus in der Ökonomik und im Bewußtsein des Menschen überwinden. Der Kommunist
kann aber in den Massen nicht für die Überwindung dieser Überbleibsel kämpfen,
wenn er selbst nicht durch sein persönliches Beispiel im politischen und
öffentlichen Leben, in seinem Privatleben, in allen seinen Beziehungen zur
Umgebung zeigt, daß er diese Überreste überwunden hat oder erfolgreich
überwindet. Daher die unnachgiebige Strenge unserer Partei gegen alle ihre
Mitglieder in Bezug auf ihre moralische Gesinnung. Das ist kein sinnloser
religiös-sittlicher Asketismus eines Savonarola, sondern der Kampf um den
sozialistischen Menschen, der sich des schmählichen Erbes der kapitalistischen
Gesellschaft entledigt."
Dieser sozialistischen Neuerziehung der Menschen dienen in der Sowjetunion
Schule, Presse, Kunst und der ganze Staatsapparat. Es ist eine unbestreitbare
Tatsache, daß nach der Schaffung des materiellen Unterbaues der sozialistischen
Gesellschaft die Wandlung der Menschen beträchtliche Fortschritte gemacht hat,
Ein neuer Menschentyp ist herangereift. Der tschechoslowakische Journalist Kubka,
der nach seiner Reise mit der tschechoslowakischen Journalistendelegation in
die UdSSR (1936) ein kleines Büchlein „Menschen in der Sowjetunion"
geschrieben hat, schildert dort den Typ des Sowjetmenschen folgendermaßen:
„... eine andere Masse, differenziert durch Beruf und Bildung, aber in ihrer
Mannigfaltigkeit auf ein einziges Ziel gerichtet: Dienst am Aufbau —
Verbundenheit mit dem Schicksal der Massen auf der Straße und in den Fabriken.
Und ein eiserner Wille: vorwärts durch Mühsal und Darben, vorwärts durch Eis
und Steppe. Wir müssen das schönste, das reichste, das kulturvollste Land der
Erde werden! So sprachen sie alle, in Moskau und überall." Es hat sich
eine neue Weltanschauung des Sowjetmenschen gebildet, eine grundlegende andere
Einstellung zur Gesellschaft, zu den staatlichen Fabriken und Werken. Millionen
Menschen fühlen sich als Eigentümer der Produktionsmittel und der
Riesenbetriebe. Mit derselben fieberhaften Leidenschaft, mit der in den
kapitalistischen Ländern die Kapitalisten die täglichen Börsenkurse lesen,
verfolgen die Sowjetmenschen die täglich in den Zeitungen erscheinenden
Berichte über die Produktionsziffern. Jeden Tag wird kontrolliert, ob am
vorhergehenden Tage in den wichtigsten Produktionszweigen die Planziffern
erreicht wurden, ob die Erzeugung hinter dem Plan zurückgeblieben ist, oder um
wieviel die Planziffern übertroffen wurden. Jede Schädigung der Produktion,
Jeden Verlust in seinem Betriebe, betrachtet der Sowjetmensch als einen gegen
ihn gerichteten Schlag. Jede hervorragende Leistung seiner Fabrik verbucht er
mit Stolz als eigenen Gewinn. Unzählige Fälle gibt es, wo die
Kameradschaftsgerichte der Betriebe Belegschaftsmitglieder, die aus
Unachtsamkeit Sachschaden anrichten, hart bestrafen. Versündigung gegen das
Eigentum des Sowjetstaates betrachtet der Sowjetmensch darum als ein so großes
Verbrechen, weil er in ihm eine Schädigung der Gesamtheit sieht. Es kommt auch
in Fabriken kapitalistischer Länder vor, daß durch einen Zufall oder durch
falsche Berechnungen der Akkordsatz für ein Arbeitsstück besonders günstig
festgesetzt wird. Wenn der Arbeiter im kapitalistischen Betrieb diese
Möglichkeit nicht so ausnutzt, daß der günstige Akkordsatz erhalten bleibt und
auch seinen Arbeitskameraden zugute kommt, dann wird ein solcher Arbeiter als
Schädiger der proletarischen Klasseninteressen betrachtet. Wenn in einem
Betrieb in der Sowjetunion genau der gleiche Vorfall sich ereignet, und wenn
der Arbeiter, der zuerst das Arbeitsstück mit dem zu günstigen Akkordsatz in
Arbeit bekommt, nicht sofort den zuständigen Stellen die Fehlkalkulation
berichtet, dann wird er vom Kameradschaftsgericht und von der ganzen
Belegschaft des Betriebes verurteilt wegen Vergehens gegen das Eigentum, das
dem Staat und allen Werktätigen gehört.
Zwei Welten! Im Bewußtsein des Sowjetmenschen schwinden die Überreste des
Kapitalismus. Es formt sich die sozialistische Weltanschauung, es formt sich in
der nach dem sozialistischen Wirtschaftssystem geleiteten Produktion der
sozialistische Mensch.
Nach Lenins Parole ist in der Sowjetunion als stabile Grundlage
für die politische Macht ein gewaltiger moderner Industrieapparat und eine
mechanisierte, elektrifizierte Agrarwirtschaft aufgebaut worden, die den
Vergleich mit der Wirtschaft jedes anderen Landes der Welt verträgt.
In der UdSSR hat sich seit 1924 eine gigantische Umwälzung vollzogen. Die
Kritiker der Sowjetmacht können den erfolgreichen Aufbau nicht mehr bestreiten.
Aber sie haben neue Einwände ersonnen. Sie behaupten, daß das, was geschaffen
wurde, kein Sozialismus sei. Sie nennen das sowjetische System
„staats-kapitalistisch" oder im besten Falle „staatssozialistisch".
Der niedrige Lebensstandard des Volkes in den Jahren des Aufbaus, die mangelnde
Rücksichtnahme auf die Menschen in dieser harten Zeit und die Behauptung, daß
die Arbeiter in der Sowjetunion angeblich ebenso ausgepreßt werden wie in den
kapitalistischen Ländern, sind ihnen Beweise für die Richtigkeit ihrer negativen
Einstellung.
Für die Stellungnahme des Weltproletariats zur Sowjetunion ist die Frage, ob
das Fundament des ersten Arbeiterstaates sozialistisch ist, zweifellos von
entscheidender Bedeutung. Um diese Frage beantworten zu können, muß zunächst
untersucht werden, in welchem Maße die kapitalistischen Einflüsse in der
Wirtschaft der Sowjetunion liquidiert wurden, ob der gewaltige Aufbau nach den
Prinzipien des kapitalistischen oder des sozialistischen Systems vollzogen
wurde.
Die neue ökonomische Politik, die den Kriegskommunismus ablöste, leitete die
Periode einer vorübergehenden Belebung des Kapitalismus ein. Um die
zusammengebrochene alte Wirtschaft wieder aufzubauen, mußten dem Kapitalismus
Konzessionen gemacht, mußte den kapitalistischen Kräften eine gewisse
Bewegungsfreiheit eingeräumt werden. Um den Wiederaufbau schneller und sicherer
zu erreichen, wurde das sozialistische Wirtschaftssystem zu einem Wettkampf mit
dem kapitalistischen gezwungen. In diesem Wettkampf ist das sozialistische
Wirtschaftssystem Sieger geblieben. Nach dem Wiederaufbau der Wirtschaft begann
mit dem ersten Fünfjahrplan der gigantische Kampf um den industriellen
Neuaufbau, in dessen Verlauf die kapitalistischen Einflüsse immer mehr
ausgeschaltet wurden.
Im Jahre 1924 arbeiteten in der russischen Wirtschaft noch alle
gesellschaftlich-sozialen Formen, die Lenin einmal folgendermaßen
charakterisierte: die patriarchalische Wirtschaft, die kleine Warenwirtschaft,
der privatwirtschaftliche Kapitalismus, der Staatskapitalismus und der Sozialismus.
Im Jahre 1925 machte der sozialistische Sektor der Wirtschaft 48.8%, der
kapitalistische Sektor 6.5% und die kleine Privatwirtschaft 44.7% der
Gesamtwirtschaft aus 1925 überwog noch die Privatwirtschaft. Inzwischen hat
sich dieses Verhältnis gründlich geändert.
In der Industrie wurden die kapitalistischen Elemente vollkommen beseitigt. In
dem Jahre 1923/1924 war der Anteil der Privatindustrie an der Bruttoproduktion
der gesamten Industrie noch 23.7%, 1924/1925 war er auf 19% zurückgegangen,
1926/1927 auf 14%, 1927/1928 auf 13.1%, 1929 auf 10.5%, 1930 auf 5.6%, 1932 auf
0.5%, 1933 auf 0.45%, 1934 auf 0.33%. Im Jahre 1936 war der Privatbesitz, waren
die kapitalistischen Elemente aus der Industrie vollkommen ausgeschaltet.
Nicht anders verlief die Entwicklung im Handel. 1923/1924 entfielen auf den
Privatsektor noch 57.7%, also über die Hälfte. 1924/1925 sank der prozentuale
Anteil des Privathandels auf 42.5%, 1926/1927 auf 38.9%, 1928 auf 22.5%, 1929
auf 13.5%, 1930 auf 5.6%. In der Periode von 1930 bis 1934, in der sich der
Warenverkehr in der Sowjetunion von 20 auf 61 Milliarden Rubel erhöhte, also
verdreifacht hat, ist der Privatsektor im Handel vollkommen liquidiert worden.
Der Handel ist dadurch nicht geringer, er ist größer geworden. Auf dem VIII.
Sowjetkongreß (1936) sagte Stalin zu dieser Frage:
„Was den Warenumsatz im Lande betrifft, so sind die Kaufleute und
Spekulanten... von diesem Gebiet vertrieben.
Der gesamte Warenumsatz liegt jetzt in Händen des Staates, der
Konsumgenossenschaften und der Kollektivwirtschaften. Der neue, der
Sowjethandel, ein Handel ohne Spekulanten, ein Handel ohne Kapitalisten, ist
entstanden und hat sich entwickelt."
In der Landwirtschaft ist der privatwirtschaftliche Sektor durch die
Kollektivwirtschaften immer mehr zurückgedrängt worden. Die Entwicklung auf dem
Lande vollzog sich in einem stürmischen Tempo. 1927 waren nur 0.8% der gesamten
Bauernwirtschaften Kollektivwirtschaften. 1938 sollen es 100% sein. Ein Bild
über diese Entwicklung gibt die nachstehende Tabelle: Prozentsatz der
Kollektivierung:
Jahre |
Nach der Zahl der Wirtschaften |
Nach Saatfläche |
1927 |
0.8 |
0.7 |
1928 |
1.7 |
1.2 |
1929 |
3.9 |
3.6 |
1930 |
23.6 |
30.9 |
1931 |
52.7 |
63.0 |
1932 |
61.5 |
75.7 |
1933 |
64.4 |
81.0 |
1934 |
71.4 |
84.7 |
1935 (1.
April) |
81.0 |
- |
1936 (1.
April) |
89.0 |
- |
Zu diesen Kollektivwirtschaften kommen noch die Sowjetgüter, die gleichfalls
über beträchtliche Saatflächen verfügen. So waren 1936 zwar noch 11%
Einzelbauernwirtschaften, aber diese verfügten nur noch über 3% der gesamten
Saatfläche, 97% wurden von den vergesellschafteten Staatsgütern und den
Kollektivwirtschaften bearbeitet. Im Jahre 1936 lieferte die gesamte
Landwirtschaft der Sowjetunion rund 6380 Millionen Pud Körnerfrüchte. Davon
entfielen auf die Kollektivwirtschaften 5690 Millionen Pud, auf die Sowjetgüter
700 Millionen Pud und auf die bäuerlichen Einzelwirtschaften nur 290 Millionen
Pud. In der wichtigsten agrarischen Produktion, der Körnerfrüchte, ist der
Anteil des privatwirtschaftlichen Sektors auf 5% herabgedrückt worden. Durch
die Erfolge der Kollektivwirtschaften werden immer mehr Einzelbauern sich den
Kollektivwirtschaften anschließen, so daß in absehbarer Zeit auch in der
Landwirtschaft der kleine Privateigentümer verschwunden und der letzte Rest des
Kapitalistischen Einflusses liquidiert sein wird.
Die soziale Struktur des Landes hat sich vollkommen verändert. Laut einer
Aufstellung der Zentralverwaltung der Volkswirtschaftsstatistik, die Molotow
auf dem VII. Sowjetkongreß verlesen hat, waren Anfang 1934 74% der
Gesamtbevölkerung Arbeiter und Kollektivbauern. Die weitere zahlenmäßige
Vermehrung dieser beiden Gruppen erhöhte bis 1936 ihren prozentualen Anteil auf
rund 90%. Außerdem ist diesen beiden Gruppen noch die Gruppe Schüler, Soldaten
usw. zuzurechnen, so daß 1936 nur noch zirka 6% der Bevölkerung mit der
Privatwirtschaft zusammenhingen. Aber die Menschen, die zu dieser Gruppe
gerechnet werden, sind keine großen Kapitalisten, sondern in der überwiegenden
Mehrzahl kleine Einzelbauern, Handwerker, die noch selbständig wirtschaften und
die noch nicht den Weg zu den Produktivgenossenschaften gefunden haben. Das
ökonomische Gewicht dieser kleinen Privatwirtschaften ist gering, aber mit
ihrem Vorhandensein muß gerechnet werden.
Der Anteil dieser 6% Menschen an dem gesamten Volkseinkommen beträgt jedoch nur
1.5%. Eine Untersuchung der Steigerung des Volkseinkommens in den letzten
Jahren und des Anteils, der davon auf den sozialistischen Sektor entfällt,
ergibt folgendes Bild:
|
Volkseinkommen |
Anteil des sozialistischen Sektors |
1913 |
21.0 |
0 |
1932 |
45.5 |
93 |
1933 |
48.5 |
95 |
1934 |
55.8 |
96 |
1935 |
65.7 |
97.8 |
1936 (Plan) |
83.1 |
98.5 |
1937 (Plan) |
100.2 |
100 |
Das Volkseinkommen ist von 1935 bis 1937 ganz enorm gewachsen. Es stieg in
jedem der beiden Jahre um je rund 18 Milliarden Rubel. Der prozentuale Anteil
des nichtsozialistischen Sektors an dem gewaltig gestiegenen Volkseinkommen ist
immer weiter zurückgedrängt worden. Von den im Jahre 1935 auf den
nichtsozialistischen Sektor des Volkseinkommens entfallenden 4% kamen auf die
Überreste der kapitalistischen Elemente nur noch 0.09% des Volkseinkommens.
1937 ist dieser Anteil ganz verschwunden. Die 1936 beschlossene neue Verfassung
charakterisiert nur den inzwischen geschaffenen Tatbestand, wenn sie
feststellt, daß „... die ökonomische Grundlage der UdSSR das sozialistische
Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln
bilden. Sie behaupteten sich nach der Liquidierung des kapitalistischen
Wirtschaftssystems, des Privateigentums an den Produktionsmitteln und nach der
Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen."
Für das gesellschaftliche Eigentum gibt es, wie Stalin feststellte, zwei
Formen: „Staatliches, das heißt Eigentum des ganzen Volkes, sowie Eigentum der
Genossenschaften und Kollektivwirtschaften." Die kapitalistischen
Einflüsse sind aus der Sowjetwirtschaff völlig ausgeschaltet. Die alte
Bourgeoisie wurde bereits in der ersten Phase der Revolution vernichtet. Die
NEP-Bourgeoisie, die während der NEP neu in Erscheinung trat und deren
Auftreten von vielen als Beweis gegen den Sozialismus gewertet wurde, ist mit
der erfolgreichen Durchführung der Fünfjahrpläne wieder verschwunden. Ihr wurde
durch die Verstaatlichung des Handels die Existenzmöglichkeit genommen.
Und Stalin charakterisiert den Ende 1936 vorhandenen Zustand in der Sowjetunion
auf dem VIII. Sowjetkongreß folgendermaßen:
„Wenn wir damals (1924. d. V.) die erste Periode der NEP, den Beginn der NEP
hatten, die Periode einer gewissen Belebung des Kapitalismus, so haben wir
jetzt die letzte Periode der NEP, das Ende der NEP, die Periode der restlosen
Liquidierung des Kapitalismus in allen Sphären der Volkswirtschaft.
Beginnen wir vielleicht damit, daß unsere Industrie in dieser Periode sich zu
einer gigantischen Kraft entwickelt hat. Jetzt kann man sie nicht mehr schwach
und technisch schlecht ausgerüstet nennen. Im Gegenteil, sie beruht jetzt auf
einer neuen, reichen modernen Technik mit stark entwickelter Schwerindustrie
und noch stärker entwickeltem Maschinenbau. Die Hauptsache besteht jedoch
darin, daß der Kapitalismus überhaupt aus der Sphäre unserer Industrie
vertrieben worden ist, die sozialistische Produktionsform aber jetzt auf dem
Gebiete unserer Industrie das unumschränkt herrschende System ist. Man kann die
Tatsache nicht als Kleinigkeit betrachten, daß unsere heutige sozialistische
Industrie hinsichtlich des Produktionsumfanges die Industrie der Vorkriegszeit
um mehr als das Siebenfache übertrifft." Stalin spricht von der
sozialistischen Produktionsform als dem „unumschränkt herrschenden"
System. Weil noch Reste des privatwirtschaftlichen Sektors vorhanden sind, sagt
er nicht, daß die sozialistische Wirtschaft die einzige, die ausschließlich
vorhandene sei. Aber weil die sozialistische Produktionsform schon unumschränkt
herrscht, kommt Stalin nach einer Betrachtung über die Liquidierung der
nichtsozialistischen Einflüsse im Handel und in der Landwirtschaft zu folgendem
Schluß:
„Der restlose Sieg des sozialistischen Systems in allen Sphären der
Volkswirtschaft ist somit jetzt Tatsache. Was bedeutet das aber?
Es bedeutet, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen vernichtet,
liquidiert, das sozialistische Eigentum an den Produktionsmitteln aber als
unantastbare Grundlage unserer Sowjetgesellschaft gefestigt ist."
Nach der Liquidierung der kapitalistischen Einflüsse in der
Wirtschaft der UdSSR kann mit gutem Gewissen gesagt werden, daß die von Lenin
im Jahre 1922 aufgestellte Forderung „aus dem Rußland der NEP ein
sozialistisches Rußland" zu machen, im wesentlichen erfüllt ist. In der
Sowjetunion gibt es keine Kapitalisten mehr. In der Industrie und im Handel
sind die privatkapitalistischen Einflüsse restlos beseitigt. Und auch die
kleinen Privateigentümer, die noch übrig blieben, die noch keiner
Kollektivwirtschaft und keiner Genossenschaft angeschlossen sind, dürfen nur
von dem Ertrag ihrer eigenen Arbeit leben. Die neue Verfassung, die die
vorhandene Wirklichkeit registriert, verbietet auch den kleinen, noch
zugelassenen Privateigentümern die Beschäftigung von Arbeitskräften. Es kann
kein Mensch mehr von einem anderen ausgebeutet werden, die ausbeutenden Klassen
sind restlos liquidiert.
Wo es aber keine Kapitalisten gibt, kann es keinen Kapitalismus geben. Wo kein
Kapitalismus ist, kann auch kein Staatskapitalismus sein. Zu der Behauptung,
daß in der Sowjetunion im besten Falle eine Form von „Staatssozialismus"
sei, hat Stalin in dem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Roy Howard
(1936) gesagt:
„Die Gesellschaft, die wir gebaut haben, kann keinesfalls mit
,Staatssozialismus' bezeichnet werden. Unsere sowjetische Gesellschaft ist eine
sozialistische Gesellschaft, weil das Privateigentum an Fabriken, Werken,
Boden, Banken, Transportmitteln bei uns aufgehoben und durch das
gesellschaftliche Eigentum ersetzt ist. Die soziale Organisation, die wir
geschaffen haben, kann eine sowjetische, sozialistische, eine, noch nicht
vollkommen ausgebaute (in einer anderen Übersetzung heißt es, eine noch nicht
ganz fertig gebaute d. V.), aber in ihrem Kern dennoch sozialistische
Organisation der Gesellschaft genannt werden. Grundlage dieser Gesellschaft ist
das gesellschaftliche Eigentum, das staatliche, das heißt, Eigentum des ganzen
Volkes, sowie das genossenschaftliche und kollektivwirtschaftliche Eigentum.
Weder der italienische Faschismus, noch der deutsche National-,Sozialismus'
haben mit einer solchen Gesellschaft irgend etwas gemein. Vor allem darum, weil
dort das Privateigentum an Fabriken, Werken, Boden, Banken, Verkehrsmitteln
usw. unberührt geblieben ist, und darum bleibt der Kapitalismus in Deutschland
und in Italien vollkommen in Kraft." Dieser Tatbestand ist im Artikel 6
der neuen Verfassung folgendermaßen festgehalten:
„Grund und Boden, Bodenschätze, Wälder, Werke, Fabriken, Gruben, Bergwerke,
Eisenbahnen, Wasser- und Luftverkehrsmittel, Banken, Verbindungsmittel, die vom
Staat organisierten landwirtschaftlichen Großbetriebe (Sowjetwirtschaften,
Maschinen- und Traktorenstationen usw.), sowie die Hauptmasse der Wohnungen in
den Städten und Industrieorten, sind Staatseigentum, das heißt, allgemeines
Volkseigentum."
Nichtmarxisten mag die Unterscheidung zwischen sozialistischer und
kapitalistischer Wirtschaft schwer fallen. Der Marxist hat für die Feststellung
des Charakters der gesellschaftlichen Organisation einen unfehlbaren Maßstab.
Nach der marxistischen Theorie ist die gesellschaftliche Organisation eine
sozialistische, wenn in ihr die „Expropriateure expropriiert", die
Produktionsmittel, der Grund und Boden und die Bodenschätze vergesellschaftet
sind. Das alles ist in der Sowjetunion geschehen. Darum kann Stalin sagen, daß
die soziale Organisation der Sowjetunion eine im Kern sozialistische ist. Nur
weil in der sowjetischen Produktion und Verteilung das sozialistische Prinzip
angewandt wird, sind der Sowjetunion schwere wirtschaftliche Krisen erspart
geblieben. Die ungeheure Steigerung der Produktion in den letzten anderthalb
Jahrzehnten hätte zu Absatzschwierigkeiten, zur Stillegung von Betrieben führen
müssen, wenn nicht die ganze Wirtschaft unter Ausschaltung der kapitalistischen
Profitinteressen planvoll organisiert wäre, wenn nicht das Mehr der erzeugten
Güter entsprechend der sozialistischen Grundidee zur Mehrbefriedigung der
Bedürfnisse des arbeitenden Volkes verwandt worden wäre. In der Sowjetunion hat
die große Masse der mehr erzeugten Güter nicht wie in allen kapitalistischen
Ländern die Mehrwerte schaffenden Arbeiter ärmer gemacht, in Arbeitslosigkeit
und Elend gestoßen, sondern das Lebensniveau des ganzen Volkes verbessert. Was
Karl Marx als das unlösbare Wesen der kapitalistischen Gesellschaft
charakterisierte, was in dieser zwangsläufig zu immer neuen Krisen und zur
Verelendung der arbeitenden Massen führt, fehlt der sowjetischen Gesellschaft
vollkommen. Dagegen sind alle die ökonomischen Tatbestände, die der Begründer
des wissenschaftlichen Sozialismus als Voraussetzungen für den Sozialismus
bezeichnete, in der Sowjetunion vorhanden.
Trotzki kann trotz all seiner Feindschaft gegen die Sowjetmacht nicht
bestreiten, daß die Grundlage der Sowjetgesellschaft eine sozialistische ist.
Er kann den Marxismus nicht widerlegen, nach dem die Eigentumsverhältnisse das
Kriterium für die Bestimmung des sozialen Charakters einer Gesellschaft sind.
In seiner im Jahre 1931 veröffentlichten Broschüre über die „Probleme der
Entwicklung der UdSSR" schreibt Trotzki (Seite 3):
„Der Charakter eines sozialen Regimes wird vor allem durch die
Eigentumsverhältnisse bestimmt. Nationalisierung des Bodens, der Mittel
industrieller Produktion und des Tausches bei staatlichem Außenhandelsmonopol
bilden die Grundlagen des gesellschaftlichen Regimes der USSR ... Mit diesen
Eigentumsverhältnissen, die die Grundlage der Klassenbeziehungen bilden, ist
für uns der Charakter der Sowjetunion als der eines proletarischen Staates
bestimmt...
Die Möglichkeit der gegenwärtigen wahrhaft gigantischen Erfolge der
Sowjetwirtschaft wurde durch die revolutionäre Umwälzung der
Eigentumsverhältnisse geschaffen, die die Voraussetzung planmäßiger Überwindung
der Marktanarchie herstellte. Der Kapitalismus erzeugte niemals und ist
unfähig, jene Progression des Ökonomischen Wachstums zu erzeugen, die sich
gegenwärtig auf dem Territorium der Sowjetunion entwickelt. Beispiellos hohe
Tempos der Industrialisierung, die sich entgegen den Erwartungen und Plänen der
Epigonenleitung den Weg bahnten, haben ein für allemal die Macht der
sozialistischen Wirtschaftsmethoden gezeigt. Der rasende Kampf der
Imperialisten gegen den angeblichen ,Dumping' ist deren unbeabsichtigte, aber
um so echtere Anerkennung der Überlegenheit der sowjetischen
Industrieformen." Der Abwechslung wegen kritisiert Trotzki hier die
Parteileitung, weil angeblich die erfolgreichen „beispiellos hohen Tempos der
Industrialisierung" erst gegen ihren Willen durchgesetzt werden mußten.
Später macht er der „Epigonenleitung" gerade dieses Tempo und ihre
Steigerung zum Vorwurf. Das Entscheidende jedoch an dieser Meinungsäußerung
Trotzkis ist das Geständnis, daß die gesellschaftliche Form. die sich in der
Sowjetunion entwickelt hat, mit Kapitalismus nichts mehr zu tun hat. Mit der
grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse sind die entscheidenden
Voraussetzungen für die sozialistische Gesellschaft gegeben, auch wenn Trotzki
(um seiner alten Konzeption nicht zu widersprechen) daraus nur schlußfolgert,
daß damit „für uns der Charakter der Sowjetunion als der eines proletarischen
Staates bestimmt" sei.
Auch Otto Bauer gibt zu, daß der Kapitalismus in der Sowjetunion beseitigt ist.
In seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen“ schreibt er über den Charakter des
gesellschaftlichen Regimes in der UdSSR (Seite 161):
„Die Sowjetunion hat auf diese Weise einen großen Teil des Umwandlungsprozesses
von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft schon zurückgelegt.
Das Privateigentum an den Produktions- und Zirkulationsmitteln besteht nicht
mehr; in Stadt und Land sind Produktions- und Zirkulationsmittel gesellschaftliches
Eigentum. Die Bourgeoisie ist vernichtet, die gesellschaftlichen
Daseinsbedingungen der Arbeiter und der Bauern sind einander angenähert... Die
überaus schnelle Entwicklung der Arbeitsproduktivität in der neuen Industrie
und in den neuen Kollektivwirtschaften, die eine ebenso schnelle Hebung der
Lebenshaltung der Volksmassen ermöglicht, erweist die schöpferischen Kräfte,
die die Befreiung der Gesellschaft vom Kapitalismus entfesselt hat." Das
kapitalistische System ist in der Sowjetunion überwunden. Die schöpferischen
Kräfte, die durch die Befreiung der Gesellschaft vom Kapitalismus entfesselt
wurden, haben eine gigantische geschichtliche Leistung vollbracht. Der
Sozialismus hat aus dem alten Zarenreich ein diesem unvergleichbar neues Land
geschaffen.
„Wir waren" — sagte Manuliski auf dem VII. Weltkongreß der Komintern
(1935) — „das Land der am meisten ausgebeuteten, entrechteten und unterdrückten
Arbeiterklasse in Europa, der ärmsten, niedergedrücktesten und rechtlosesten,
katastrophalen Hungersnöten ausgesetzten Bauernschaft. Wir waren das Land des
rückständigsten, extensivsten Ackerbaus, der chronischen Dürren, Mißernten, das
Land des Hakenpfluges, der Hacke, der Wolgatreidler. Wir waren das Land der
Typhus- und Choleraepidemien, der Degeneration, des Alkoholismus, einer
erschreckenden Sterblichkeit, ein Land der Unkultur, des Analphabetentums, des
Aberglaubens, ein Land der religiösen Verdummung, des finstersten Pfaffentums.
Um ihre durch und durch verfaulte Herrschaft aufrecht zu erhalten, wurde von
den herrschenden Klassen unseres Landes die nationale Feindschaft künstlich
gezüchtet, wurden Legenden von Ritualmorden erfunden, Judenpogrome, Armenier-
und Tatarenmassaker ins Werk gesetzt ...
Und heute? ... Die proletarische Revolution ... entfaltet die Produktivkräfte
in einem in der Geschichte der Menschheit nicht dagewesenen Tempo, sie ersetzt
Hacke, Hakenpflug und Sense durch Traktoren und Mähdrescher, verwandelt die
,Verdammten dieser Erde' in Herren des Landes und in Schöpfer eines neuen herrlichen
Lebens, hebt unaufhörlich das materielle Niveau der Massen, schafft eine neue,
hohe sozialistische Kultur und stellt ein brüderliches Zusammenleben der Völker
her. Sie hat einen mächtigen Arbeiterstaat errichtet, eine neue
sozialökonomische Ordnung, in der sich das Antlitz eines neuen, des
sozialistischen Menschen formt, sie hat in die Tat umgesetzt, wovon die besten
Geister der Menschheit träumten — den Sozialismus." Das Fundament ist
gelegt. Die sozialistische Gesellschaft ist — wie es Stalin formuliert hat —
noch nicht vollkommen ausgebaut, sie ist noch nicht vollendet. Aber auch das
bisher geschaffene Werk steht turmhoch über der kapitalistischen Gesellschaft.
Die Sowjetgesellschaft kennt im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern keine
Krise und keine Arbeitslosigkeit, keine von der Zukunft bedrohten Existenzen
und keine Bankrotte. Sie gewährt allen ihren Staatsbürgern ein Leben, das
täglich reicher wird und dessen kultureller Inhalt ständig wächst. Das
sozialistische Wirtschaftssystem hat nicht nur die unter dem Kapitalismus
gefesselten Produktivkräfte befreit, es hat auch die freie Entfaltung der
höchsten menschlichen Fähigkeiten ermöglicht. Das Lebens- und Arbeitsbewußtsein
der Menschen ist gewachsen. Der Mensch wird aus dem Sklaven zum Herrn der
Maschine. Die menschliche Arbeit wird sinnvoller, fruchtbarer. Die
Arbeitsproduktivität steigt. Die dadurch erhöhte Menge der zur Verteilung
stehenden Güter macht die Menschen leistungsfähiger, wodurch eine weitere
Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht wird. Diese ständige
Wechselwirkung ist eine der Voraussetzungen für die Schaffung des Überbaus, für
die Vollendung der sozialistischen Gesellschaft.
Die kapitalistischen Klassen sind in der Sowjetunion endgültig
beseitigt. Es gibt weder industrielle noch Handelskapitalisten, es gibt keine
Gutsbesitzer, keine Spekulanten und keine Kulaken mehr. Die Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen ist abgeschafft. Das ist ein riesiger Fortschritt.
Damit aber ist das Endziel, die klassenlose Gesellschaft, noch nicht erreicht.
Es gibt noch — wie das Stalin in seiner Rede zur neuen Verfassung auf dem VIII.
Sowjetkongreß ausdrücklich feststellte — verschiedene Klassen: die
Arbeiterklasse, die Klasse der Bauern und die Intelligenz. Die Intelligenz
bezeichnet Stalin nicht als Klasse, sondern als eine „Zwischenschicht, die ihre
Mitglieder aus allen Klassen der Gesellschaft rekrutiert".
Die Liquidierung der kapitalistischen Klassen, die Beseitigung der Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen ist aber nicht ohne Wirkung auf die in der
sowjetischen Gesellschaft noch vorhandenen Klassen geblieben. Der Charakter
dieser Klassen hat sich gründlich gewandelt. Die Intelligenz, sagt Stalin auf
dem VIII. Sowjetkongreß:
„... ist schon nicht mehr jene alte, verknöcherte Intelligenz, die sich über
die Klassen zu stellen versuchte, tatsächlich aber in ihrer Masse den
Gutsbesitzern und Kapitalisten diente. Unsere Sowjetintelligenz ist eine
vollständig neue Intelligenz, die mit allen Fasern mit der Arbeiterklasse und
der Bauernschaft verbunden ist. Verändert hat sich erstens die Zusammensetzung
der Intelligenz. Die Abkömmlinge des Adels und der Bourgeoisie machen einen
kleinen Prozentsatz unserer Sowjetintelligenz aus. 80 bis 90 Prozent unserer
Sowjetintelligenz sind Abkömmlinge der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der
anderen Schichten der Werktätigen Geändert hat sich schließlich auch der
Charakter der Tätigkeit der Intelligenz selbst. Früher mußte sie den reichen
Klassen dienen, denn sie hatte keinen anderen Ausweg. Jetzt muß sie dem Volke
dienen, denn es gibt keine Ausbeuterklassen mehr. Und gerade deshalb ist sie
jetzt gleichberechtigtes Mitglied der Sowjetgesellschaft, wo sie zusammen mit
den Arbeitern und Bauern, Schulter an Schulter mit ihnen, den Aufbau der neuen,
klassenlosen Gesellschaft führt.
.... das ist eine vollständig neue, werktätige Intelligenz, wie ihr sie sonst
in keinem Lande des Erdballs findet." Die Arbeiterklasse der Sowjetunion
ist nicht vergleichbar mit der Arbeiterklasse des zaristischen Rußland oder der
irgendeines kapitalistischen Landes. Auf die Arbeiterklasse der UdSSR trifft —
sagt Stalin — die Bezeichnung Proletariat nicht mehr zu:
„Das Proletariat ist die Klasse, die in dem Wirtschaftssystem keine Produktionsmittel
besitzt, wo die Produktionsmittel den Kapitalisten gehören und wo die
Kapitalistenklasse das Proletariat ausbeutet. Das Proletariat ist die Klasse,
die von den Kapitalisten ausgebeutet wird. Die Klasse der Kapitalisten ist bei
uns aber bekanntlich schon liquidiert, die Produktionsmittel sind den
Kapitalisten weggenommen und dem Staat übergeben worden, dessen führende Kraft
die Arbeiterklasse ist. Es gibt also keine Kapitalistenklasse mehr, welche die
Arbeiterklasse ausbeuten könnte. Unsere Arbeiterklasse ist also nicht nur der
Produktionsmittel nicht beraubt, sondern im Gegenteil, sie besitzt sie
gemeinsam mit dem ganzen Volke. Sobald sie sie aber besitzt und die Klasse der
Kapitalisten liquidiert ist, ist jede Möglichkeit der Ausbeutung der Arbeiterklasse
ausgeschlossen. Kann man danach unsere Arbeiterklasse Proletariat nennen? Es
ist klar, daß man sie nicht so nennen kann. Marx hat gesagt: um sich zu
befreien, muß das Proletariat die Klasse der Kapitalisten zerschmettern, den
Kapitalisten die Produktionsmittel wegnehmen und jene Produktionsverhältnisse
vernichten, die das Proletariat hervorbringen. Kann man behaupten, daß die
Arbeiterklasse der UdSSR diese Bedingungen ihrer Befreiung schon verwirklicht
hat? Zweifellos kann und muß man das behaupten. Was bedeutet das aber? Es
bedeutet, daß das Proletariat der UdSSR sich in eine vollkommen neue Klasse, in
die Arbeiterklasse der UdSSR verwandelt hat, die das kapitalistische
Wirtschaftssystem vernichtet, das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln
gefestigt und die Sowjetgesellschaft auf die Bahn des Kommunismus gelenkt
hat."
Das ökonomische Fundament, auf dem die Arbeiterklasse der Sowjetunion steht,
ist grundlegend verändert worden, aber trotzdem bestehen zunächst noch in der
Arbeiterklasse selbst Differenzierungen. Noch ist nicht die soziale Lage aller
Arbeiter gleich. Der Ansporn, der im Kampf um die Vollendung der
sozialistischen Gesellschaft notwendig ist, gewährt in der Periode des
Überganges dem leistungsfähigeren Arbeiter bessere Lebensverhältnisse als dem
minderleistungsfähigen. In der gegenwärtig erreichten Phase der Gesellschaft
ist die Differenzierung der Einkommen, die Verteilung der vorhandenen Güter
nach der geleisteten Arbeit unvermeidlich. Ausführlich ist zu diesem wichtigen
Problem in dem Kapitel „Neue Klassenbildung?" (Siehe VI. Teil) Stellung
genommen, so daß hier einige grundsätzliche Bemerkungen zu diesem Thema
genügen. Die Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse wird von den Führern
der Sowjetunion nicht bestritten, aber die „Unterschiede in der Vermögenslage,
die es teilweise noch gibt" — sagt Stalin — „können weder irgendwelche
Privilegien noch Nachteile mit sich bringen". Denn: keiner kann seine
bessere Vermögenslage ausnützen, um sich Produktionsmittel oder Boden oder
Waren zur Spekulation zu kaufen, keiner kann andere ausbeuten, keiner kann auf
Kosten der Arbeit anderer Kapitalist werden. Die ökonomische Grundlage der
sowjetischen Gesellschaft macht es unmöglich, daß sich aus den Unterschieden in
der Vermögenslage eine neue Klassenschichtung entwickelt. Die durch den Ansporn
hervorgerufene Differenzierung ist eine Zwischenstation auf dem Wege zum
endgültigen Sozialismus. Sie wird von der zielbewußt auf die klassenlose
Gesellschaft zusteuernden Sowjetmacht zur gegebenen Zeit ebenso liquidiert
werden, wie andere notwendige Zwischenstationen bereits liquidiert wurden.
Die Tatsache. daß auch auf dem Lande die kapitalistischen Klassen, die
Gutsbesitzer und die Kulaken, vernichtet sind, hat den Charakter der
Bauernklasse in der UdSSR verändert. Es entstand eine Bauernschaft, mit der die
Bauernschaft keines kapitalistischen Landes verglichen werden kann. Der Boden
in der Sowjetunion gehört keinem Privatkapitalisten, er kann nicht von
Spekulanten aufgekauft und zur Ausbeutung der Bauern verwertet werden. Der
Boden ist ebenso wie die industriellen Produktionsmittel Nationaleigentum, das
heißt er gehört dem ganzen Volke. Er wird von der Sowjetmacht den Bauern als
unveräußerliches Gut zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt. Der Bauer ist
nicht mehr Privateigentümer wie der Bauer in den kapitalistischen Ländern. Die
überwiegende Mehrzahl der Bauern ist in den Kollektivwirtschaften und
Produktionsgenossenschaften. Die ökonomische Grundlage ihrer Existenz ist das
Kollektiveigentum.
Natürlich besteht auch innerhalb der Bauernschaft noch eine Differenzierung,
auch unter den Bauern schafft der Anreiz noch verschieden große Vermögen.
Außerdem bestehen ja noch mehrere Formen der Bauernwirtschaft. Die Landarbeiter
in den staatlichen Sowjetgütern (den Sowchosen) unterscheiden sich von den
Kollektivbauern im Artel, diese von den Kollektivbauern in den Kommunen, alle
drei von den noch vorhandenen kleinen Privatbesitzern in den
Einzelbauernwirtschaften; aber da in der gesamten Landwirtschaft der Sowjetunion
die Einzelbauernwirtschaften nur noch einen kleinen Prozentsatz ausmachen, wird
die Klassenlage und das Denken fast der gesamten Bauernschaft von der
kollektivistischen und genossenschaftlichen Produktionsform bestimmt. Die
soziale Organisation für die Bauernklasse ist ebenso wie für die Arbeiterklasse
das gesellschaftliche sozialistische Eigentum. Nur die Formen sind noch
verschieden: Die Arbeiterklasse ist durch ihre Arbeit in den
vergesellschafteten Betrieben unmittelbar mit dem staatlichen, dem ganzen Volke
gehörenden Eigentum verbunden, die Bauernklasse mit dem
kollektivwirtschaftlichen, genossenschaftlichen Eigentum.
Der gemeinsame Ausgangspunkt für beide Klassen ist jedoch das sozialistische
Wirtschaftssystem. Beide Klassen arbeiten nicht mehr für Privateigentümer, für
Kapitalisten, für Ausbeuter. Beide Klassen stehen auf dem gleichen Fundament
und ganz zwangsläufig haben sich daraus gemeinsame Interessen ergeben. Die
scharfen ökonomischen Gegensätze zwischen diesen beiden Klassen sind beseitigt,
die politischen Gegensätze schwinden.
Aber noch ist
nicht die völlige Übereinstimmung, die völlige Gleichheit der beiden Klassen
hergestellt. Es ist noch ein gewisser Unterschied vorhanden, weil die Form des
sozialistischen Eigentums der Arbeiterklasse von der der Bauernklasse
verschieden ist: staatliches, dem ganzen Volke gehörendes Eigentum als
ökonomische Grundlage für die Arbeiterklasse, kollektivwirtschaftliches
Eigentum für die Bauernklasse. In der bisherigen erfolgreichen Annäherung und
Zusammenführung der beiden Klassen sind die Elemente entwickelt worden, die für
die völlige gesellschaftliche und ideologische Übereinstimmung von Arbeiter und
Bauernklasse notwendig sind.
Das kollektivwirtschaftliche und genossenschaftliche Eigentum hat das
Bewußtsein der Bauern gewandelt. Die Psychologie des Kollektivbauern ist eine
andere als die des kleinen Privateigentümers. Der Bauer in der Sowjetunion
wandelt sich zum Kollektivmenschen, der sich in seinen Interessen und auch in
seinem Denken und Fühlen dem in der sozialistischen Produktion stehenden
Arbeiter angenähert hat. Der Wandlungsprozeß ist nicht abgeschlossen. Er wirkt
weiter, er wird den Kollektivbauern der Artel reif machen für eine höhere Form
der gesellschaftlichen Ordnung. In der Vergangenheit wurden alle Mittel
eingesetzt, um den Bauern für das kollektivistische Artel zu gewinnen und der
zweiten Form der Kollektivwirtschaften, der Kommune, wurde noch keine
entscheidende Bedeutung beigemessen. Das Heranreifen der ökonomischen
Voraussetzungen und der fortschreitende Prozeß der Bewußtseinswandlung der
Bauern wird allmählich die Kommune und die Sowjetgüter stärker in den
Vordergrund rücken. Die weitere Annäherung der Bauernklasse an die
Arbeiterklasse wird sich vollziehen, bis es nur noch eine Form des
gesellschaftlichen, sozialistischen Eigentums gibt, bis der letzte ökonomische
und ideologische Unterschied zwischen Arbeitern und Bauern beseitigt ist, bis
die beiden letzten in der Sowjetunion noch vorhandenen Klassen in eins
verschmelzen und die klassenlose Gesellschaft herangewachsen ist. Aber soweit
ist es noch nicht. Molotow hat auf dem VIII. Sowjetkongreß (1936) darauf
hingewiesen, daß bis zum endgültigen Schwinden aller Überreste der
Klassenunterschiede zwischen Arbeitern und Bauern noch „ein langer Weg ist. Man
darf aber auch nicht übersehen, daß die Lösung dieser Aufgabe davon abhängen
wird, wie erfolgreich bei uns, wie Genosse Stalin sich ausgedruckt hat, die
,staatliche Führung der Gesellschaft (die Diktatur)' verwirklicht wird, die die
,Arbeiterklasse', als fortgeschrittenste Klasse der Gesellschaft,
innehat."
Der Weg ist lang, aber das Ziel kann erreicht werden. In der Rede, mit der
Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß die neue Verfassung begründete, hat er den
erreichten gesellschaftlichen Zustand, der in der Verfassung niedergeschrieben
wurde, und die noch zu erkämpfende höhere gesellschaftliche Form, die im
Programm steht, folgendermaßen formuliert:
„Unsere Sowjetgesellschaft hat es erreicht, daß sie den Sozialismus im Grunde
schon verwirklicht, daß sie die sozialistische Gesellschaftsordnung geschaffen,
das heißt das verwirklicht hat, was von den Marxisten nicht anders als die
erste oder unterste Phase des Kommunismus genannt wird. Das bedeutet, daß die
erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, bei uns im Grunde schon
verwirklicht ist. Grundprinzip dieser Phase des Kommunismus ist bekanntlich die
Formel: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.' Soll
unsere Verfassung diese Tatsache, die Tatsache der Erringung des Sozialismus,
zum Ausdruck bringen? Soll sie auf dieser Errungenschaft basieren? Unbedingt
muß sie das. Sie muß das darum, weil der Sozialismus für die UdSSR dasjenige
ist, was bereits erreicht und errungen ist.
Aber die Sowjetgesellschaft hat noch nicht die Verwirklichung der höheren
Phase, des Kommunismus, erreicht, in der das herrschende Prinzip die Formel
sein wird: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen',
obgleich sie es sich zum Ziele gesetzt hat, in der Zukunft die Verwirklichung
der höchsten Phase des Kommunismus zu erringen. Kann unsere Verfassung auf der
höchsten Phase des Kommunismus basieren, die noch nicht existiert und die erst
errungen werden muß? Nein, sie kann das nicht, denn die höchste Phase des
Kommunismus ist für die UdSSR das, was noch nicht verwirklicht ist und was in
Zukunft verwirklicht werden soll. Wenn die Verfassung sich nicht in ein
Programm oder in eine Deklaration über die künftigen Errungenschaften
verwandeln will, so kann sie das nicht." Der erste Artikel der neuen
Verfassung, der davon spricht, daß der Verband der sozialistischen
Sowjetrepubliken ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern ist, wurde
absichtlich so formuliert. Er drückt aus, daß es in der Sowjetunion noch
mehrere Klassen gibt und daß die klassenlose Gesellschaft noch nicht
verwirklicht ist. Gegenüber den Abänderungsanträgen, die dem ersten Artikel
einen anderen Wortlaut geben wollten, sagte Stalin:
„Die Verfasser der Berichtigung haben offenbar nicht die gegenwärtige, sondern
die künftige Gesellschaft im Auge, wo es schon keine Klassen mehr geben wird
und wo die Arbeiter und die Bauern sich in Werktätige der einheitlichen
kommunistischen Gesellschaft verwandeln werden. Sie eilen also offenkundig
voraus."
Molotow, der nach Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß sprach, hat die
Formulierung Stalins von der Verwirklichung der ersten, der untersten Stufe des
Kommunismus aufgegriffen. Er hat ergänzend hinzugefügt:
„Sogar diese erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, ist weitaus noch
nicht vollendet, sie ist erst im Rohbau errichtet."
Im Rohbau steht das Werk, um dessen Errichtung der Meinungskampf zwischen der
Bolschewistischen Partei und dem Trotzkismus tobte. Der sozialistische Aufbau
in der Sowjetunion ist vorangekommen, obwohl die proletarische Revolution in
den anderen Ländern noch nicht gesiegt hat. Der Sieg des Sozialismus in der
Sowjetunion ist eine Tatsache — aber wie 1924 sagt Stalin auch 1936, daß der
endgültige Sieg des Sozialismus erst dann völlig garantiert ist, wenn
mindestens in einigen der entscheidenden Länder das Proletariat die Macht
erobert und jede Intervention gegen die sozialistischen Sowjetrepubliken
unmöglich gemacht hat. Inzwischen geht der Kurs in der Sowjetunion zielklar und
eindeutig auf das Endziel: auf die klassenlose Gesellschaft.
Am 5. Dezember 1936 hat der VIII. Sowjetkongreß einstimmig die
neue Verfassung der UdSSR beschlossen, die das sozialistische Aufbauwerk krönen
soll. Am Schlusse seiner auf diesem Kongreß gehaltenen Rede sagte Stalin:
„Die neue Verfassung wird ein historisches Dokument sein, das in einfacher,
gedrängter Form, fast im Protokollstil, Tatsachen des Sieges des Sozialismus in
der UdSSR, Tatsachen der Befreiung der Werktätigen der UdSSR von
kapitalistischer Sklaverei, Tatsachen des Sieges der entfalteten, restlos
konsequenten Demokratie in der UdSSR behandelt. Es wird dies ein Dokument sein,
das davon zeugt, daß das, wovon Millionen ehrlicher Menschen in den
kapitalistischen Ländern träumten und weiter träumen, in der UdSSR bereits
verwirklicht ist, es wird dies ein Dokument sein, das davon zeugt, daß das, was
in der UdSSR verwirklicht ist, auch in den anderen Ländern restlos verwirklicht
werden kann." Die Verfassung von 1936 unterscheidet sich von den ersten
Verfassungen der Sowjetunion, der Verfassung von 1918 und der von 1923, in sehr
vielen Punkten. Vor allem aber auch darin, daß sie nur Tatbestände
protokolliert, während die alten Verfassungen die inzwischen geschaffenen
Tatbestände noch als Zielforderungen enthielten.
Die gesamte Weltöffentlichkeit hat die Änderung der Sowjetverfassung mit sehr
großem Interesse verfolgt. Die widersprechendsten Kommentare und die
verschiedenartigsten Hoffnungen wurden mit dem neuen Verfassungswerk verknüpft:
ob die neue Verfassung die Diktatur des Proletariats praktisch liquidiert, ob
sie zur bürgerlichen Demokratie zurückführt, ob sie den Verfassungen der
demokratischen Länder sich nähert, oder ob sie, weiter in die Zukunft
schreitend, unter Beibehaltung der Diktatur des Proletariats eine höhere Form
der Demokratie entwickelt.
Mit der „Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte" durch
die große französische Revolution von 1793 ist die „Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit" aller Menschen proklamiert worden. Alle Menschen sollen
gleiche Freiheiten haben, alle Menschen sollen vor dem Gesetz gleich sein und
brüderlich miteinander leben. Die große demokratische Forderung ist in der
Praxis aber nicht verwirklicht worden, sie ist in der kapitalistischen
Gesellschaft bis heute eine Zielforderung geblieben, weil die materielle
Voraussetzung für die praktische Durchführung dieser großen Gedanken nicht
geschaffen wurde. Die französische Revolution hat das Privateigentum nicht
angetastet, sie hat im Gegenteil ausdrücklich die Unantastbarkeit des
Privateigentums proklamiert. Bis auf den heutigen Tag gewährt die große Macht
des privatkapitalistischen Eigentums den ausbeutenden Klassen die Möglichkeit,
den nichtbesitzenden Volksschichten die Ausnützung der ihnen gewährten
politischen Freiheiten zu erschweren oder unmöglich zu machen.
Wirkliche Demokratie: die Gewährung gleicher Freiheiten, gleicher Rechte, die
Garantie von Arbeit und ausreichenden Lebensmöglichkeiten für alle Staatsbürger
ist nur möglich, wenn ein gesellschaftlicher Zustand geschaffen ist, in dem die
ökonomischen Bedingungen für alle gleich sind, in dem keiner in die materielle
Abhängigkeit von dem anderen geraten kann, in dem es keine ausgebeuteten
Klassen gibt. Die herrlichen Vorstellungen Owens und Fouriers von einer
Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen sind Utopien geblieben, weil sie in
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht zu verwirklichen sind. Hegel,
der Philosoph des deutschen Bürgertums, ist bei der Untersuchung der großen
französischen Revolution zu dem Ergebnis gekommen, daß Demokratie und
Vermögensungleichheit unvereinbar sind, daß das eine dem anderen früher oder
später weichen muß.
Der Verlauf der Entwicklung in Mitteleuropa hat die Richtigkeit dieser
Auffassung vollauf bestätigt. In einem Teil der Länder, in denen nach dem
Weltkrieg die Demokratie erobert, aber die Vermögensungleichheit nicht
beseitigt wurde, stießen in der Wirtschaftskrise Demokratie und Kapitalismus
schroff aufeinander.
„In Deutschland und Österreich — schreibt Otto Bauer in „Zwischen zwei
Weltkriegen“ (Seite 162) — wo das Proletariat im Jahre 1918 die Demokratie
errungen hat, hat der Klassenkampf die Demokratie gesprengt; hier herrscht der
Faschismus. In Rußland, wo das Proletariat wenige Monate vorher seine Diktatur
aufgerichtet hat, hat der Klassenkampf die Klassen aufgehoben; hier ist eine
sozialistische Gesellschaft im Werden."
In der bürgerlichen Demokratie ist es — wie Anatole France trefflich
formulierte — den Reichen ebenso wie den Armen verboten, unter Brücken zu
schlafen. Aber was nützt dem Armen diese Gleichheit? Der Reiche braucht dieses
Gesetz nicht zu übertreten, weil er in dem warmen Bett schlafen kann, das dem
Armen fehlt. Noch drastischer hat Walter Rathenau, der im Jahre 1922 von den
deutschen Nationalisten ermordete bedeutendste Kopf der deutschen bürgerlichen
Demokraten, den zweifelhaften Wert der Demokratie in der kapitalistischen
Gesellschaft geschildert. In einem Vortrag über die „Demokratische
Entwicklung“, den Rathenau am 28. Juni 1920 im Demokratischen Klub zu Berlin
hielt, sagte er (Gesammelte Reden, S.62/63):
„Nehmen wir den äußersten Fall; nehmen wir den Fall, daß wir in
Deutsch-Ostafrika das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht
errichtet hätten. Was wäre das Ergebnis gewesen? Daß jede beliebige Abstimmung
mühelos vom Gouverneur hätte herbeigeführt werden können, und zwar mit Hilfe
einiger Glasperlen, einiger Einschüchterung, einiger Stichworte und religiöser
Begriffe und einiger militärischer Nachhilfe...
Es ist mir manchmal verteufelt amerikanisch zumute geworden, und wenn ich mir
sage, daß es immer in Deutschland wohlhabende Gruppen geben wird, die unter
Umständen 50 Millionen für einen Wahlfeldzug ausgeben können, so glaube ich,
auch hier liegt eine grundsätzliche Schwierigkeit der Verwirklichung des streng
demokratischen Gedankens..."
Diese Schwierigkeit: Das ist das kapitalistische Wirtschaftssystem. Unter
seiner Herrschaft fehlen alle materiellen Voraussetzungen für eine wirkliche
Demokratie. Rathenau unterstreicht seine Gedanken auch noch an anderer Stelle.
Er schreibt in „Von kommenden Dingen" (Gesammelte Werke, Band 3, Seite 43,
68/70):
„Ein Blendwerk äußerer Freiheit bedeckt die mechanistische Bindung: der
Unzufriedene kann Rücksicht auf Form verlangen, auftrumpfen, die Arbeit
niederlegen, wegziehen, auswandern: und doch befindet er sich nach Wochen bei
veränderten Namen, Personen und Ortschaften im gleichen Verhältnis. Die
Anonymität der Unfreiheit vollbringt durch ihren Zauber, was den alten Despoten
und Oligarchien mit ihren Häschern und Spähern nicht gelang: die Abhängigkeit
zu verewigen....
Keinen ihrer Ruhmestitel schlägt unsere Zeit höher an als die Überwindung der
Sklaverei. Leibeigen ist niemand; Untertan heißt der Mensch nur noch in
anmaßenden Erlässen; er selbst nennt sich Staatsbürger, genießt ungezählte
persönliche und politische Rechte, gehorcht niemand als der Staatsgewalt,
bündelt, wählt und verwaltet. Er verdingt sich nicht, sondern schließt
Arbeitsverträge, er ist nicht Knecht und Geselle, sondern Personal,
Arbeitnehmer und Angestellter; er hat keinen Brotherrn, sondern einen
Arbeitgeber, und der darf ihn nicht schelten und strafen. Er kann kündigen und
seiner Wege gehen, er darf feiern und wandern, er ist, wie er sagt, ein freier
Mann.
Und doch seltsam! Gehört er nicht zu den wenigen, die man gebildet und
vermögend nennt, so sitzt er nach wenigen Tagen in den Räumen eines anderen
Arbeitgebers, bei der gleichen achtstündigen Arbeit, unter der gleichen
Aufsicht, mit gleichem Lohn und mit gleichen Genüssen, mit gleicher Freiheit
und mit gleichen Rechten. Niemand zwingt ihn, niemand tritt ihm in den Weg, und
dennoch verläuft sein frühalterndes Leben ohne Muße und ohne Sammlung. Die
mechanische Welt tritt ihm entgegen als ein verworrenes Rätsel, das eine
Parteizeitung einfarbig beleuchtet; die höhere Welt erscheint im Ausschnitt
einer billigen Predigt und eines populären Abrisses; der Mensch erscheint als
Feind, wenn er dem fremden, als wortkarger Genosse, wenn er dem eigenen Kreise
angehört, der Arbeitgeber als Ausbeuter, der Arbeitsraum als Knochenmühle.
Die Bürgerrechte bestehen, vor allem das Wahlrecht in beiderlei Form. Doch
wiederum seltsam! Im behördlichen Leben bleibt der Mensch stets Objekt; Subjekt
sind die anderen, gleichviel, ob sie als militärische Vorgesetzte ihn duzen,
als Richter aburteilen, als Polizei und Beamte ihn behandeln, ausfragen, verwalten.
Er mag sich verbünden und organisieren, versammeln und demonstrieren, er bleibt
der Regierte und Gehorchende, auf den goldenen Stühlen sitzen die gleichen, die
in breiten Straßen unter Bäumen wohnen, in Wagen fahren; sie tragen die
Verantwortung, die Würden und die Macht...
So erheben sich gläserne Mauern von allen Seiten, durchsichtig und
unübersteiglich, und jenseits liegt Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und
Macht. Die Schlüssel des verbotenen Landes aber heißen Bildung und Vermögen,
und beide sind erblich."
Freiheit und Selbstbestimmung gibt es in der kapitalistischen Welt nur für die
Besitzenden. Für die anderen ist die Freiheit zwar hinter gläsernen Mauern
sichtbar, aber nicht erreichbar. Ihre materielle Abhängigkeit macht diejenigen,
die nicht über Bildung und Vermögen verfügen, in der Tat zu unfreien Menschen,
auch wenn ihnen in einer demokratischen Verfassung das Recht auf Freiheit
feierlich auf dem Papier gewährt wird. Lenin nannte darum die bürgerliche
Demokratie eine Demokratie der Reichen. Stalin charakterisierte das Wesen der
bürgerlichen Demokratie in der gleichen Weise. In den „Problemen des
Leninismus" (Seite 104/105) schreibt er:
„Das Gerede .... über allgemeine Gleichheit, ,reine' Demokratie, ,vollkommene'
Demokratie usw. ist nichts weiter als die bürgerliche Verschleierung der
unzweifelhaften Tatsache, daß eine Gleichheit zwischen Ausgebeuteten und
Ausbeutern nicht möglich ist ... Unter dem Kapitalismus gibt es für die
Ausgebeuteten keine wirklichen ,Freiheiten' und kann es sie nicht geben, schon
aus dem einfachen Grunde, weil alle Räumlichkeiten, Druckereien, Papierlager
usw. die zur Ausnutzung dieser ,Freiheiten' notwendig sind, ein Privilegium der
Ausbeuter bilden. Unter dem Kapitalismus gibt es und kann es keine wirkliche Beteiligung
der ausgebeuteten Massen an der Verwaltung des Landes geben, weil selbst unter
dem demokratischen System die Regierungen hier nicht vom Volk, sondern von den
Rothschild und Stinnes, Rockefeller und Morgan eingesetzt werden. Die
Demokratie unter dem Kapitalismus ist eine kapitalistische Demokratie, eine
Demokratie der ausbeuterischen Minderheit, die auf der Beschränkung der Rechte
der ausgebeuteten Mehrheit beruht und gegen diese Mehrheit gerichtet ist. Nur
unter der proletarischen Diktatur sind für die Ausgebeuteten wirkliche
,Freiheiten' und eine wirkliche Beteiligung der Proletarier und Bauern an der
Verwaltung des Landes möglich. Die Demokratie unter der Diktatur des
Proletariats ist eine proletarische Demokratie, eine Demokratie der ausgebeuteten
Mehrheit, die auf der Beschränkung der Rechte der ausbeutenden Minderheit
beruht und gegen diese Minderheit gerichtet ist.“
Die wahre Demokratie ist in der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht zu
verwirklichen; der ernsthafte Versuch zur Durchführung der vollkommenen
Demokratie im bürgerlichen Staat müßte den Rahmen der kapitalistischen
Klassenherrschaft sprengen. Die Voraussetzung für die wahre Demokratie ist die
Schaffung eines neuen ökonomischen Fundaments, die Ersetzung des
kapitalistischen Wirtschaftssystems durch das sozialistische.
Die Änderung des ökonomischen Fundaments ist — das beweist die
Geschichte — nicht mit dem Stimmzettel zu erreichen. Die herrschenden
kapitalistischen Klassen treten nicht freiwillig ab; wenn es um ihre Existenz
geht, kapitulieren sie nicht vor der Entscheidung des Stimmzettels. Dort, wo
trotz Einsatz ihrer überlegenen ökonomischen Mittel die Entscheidung der
Volksmehrheit gegen die herrschenden kapitalistischen Klassen ausfällt und
deren Vorherrschaft ernsthaft bedroht, wird gegen die bürgerliche Demokratie
der Faschismus mobilisiert. So war es in Italien, in Deutschland, in
Österreich, in Spanien.
Soll die Demokratie leben, muß die Diktatur der herrschenden kapitalistischen
Klassen sterben.
Die grundlegende Änderung der Eigentumsverhältnisse, die Überführung des Grund
und Bodens und der Produktionsmittel aus den Händen der Großgrundbesitzer und
der Großkapitalisten in das Eigentum des Staates, das heißt des ganzen Volkes,
ist nicht durch Überredung, sondern nur im harten Kampf zu erreichen. Zur
erfolgreichen Führung dieses Kampfes brauchen die ausgebeuteten Klassen, deren
Ziel die Überwindung der Ausbeutung und der Klassengesellschaft ist, die
Diktatur des Proletariats. Marx und Engels haben gelehrt, daß zwischen der
kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft „die Periode der
Umwandlung der einen in die andere" liegt. „Den entspricht auch eine
politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die
revolutionäre Diktatur des Proletariats." Lenin hat diese Lehre des
Marxismus aufgegriffen und vertieft. Nach seiner Auffassung ist die in der
Übergangsperiode notwendige Diktatur des Proletariats eine Waffe, die nach der
Eroberung der politischen Macht zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur restlosen
Brechung ihres Widerstandes, zur völligen Liquidierung der Ausbeuterklassen
eingesetzt werden muß. Ebenso aber für die Losreißung der nichtproletarischen
Schichten der Werktätigen von der Bourgeoisie zum gemeinsamen Kampf für die
Organisierung der sozialistischen Gesellschaft. Die Diktatur des Proletariats
ist Waffe zur Niederschlagung der kapitalistischen Klassenherrschaft, ist
Werkzeug zum Aufbau des Sozialismus.
„Die Diktatur des Proletariats" — schrieb Lenin in dem Artikel „Über den
Volksbetrug mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit" im Jahre 1919 —
„bedeutet nicht die Beendigung des Klassenkampfes, sondern dessen Fortsetzung
in neuen Formen. Die Diktatur des Proletariats ist der Klassenkampf des
Proletariats, das gesiegt und die politische Macht errungen hat, gegen die
Bourgeoisie, die ihren Widerstand verstärkt hat."
Was heißt das? Das heißt, daß die Diktatur des Proletariats nicht ein
Herrschaftsmittel für die Ewigkeit ist, sondern daß mit diesem
Herrschaftsmittel die Aufgabe erfüllt werden muß, die von der bürgerlichen
Demokratie in der kapitalistischen Gesellschaft nicht erfüllt werden kann: Die
Liquidierung der Ausbeuterklasse, die Liquidierung der Klassengesellschaft, die
Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, in der erst, — wie Lenin in „Staat
und Revolution" dargelegt hat, — „eine wirklich volle Demokratie, wirklich
ohne irgendwelche Ausnahmen durchgeführt werden könne." Ist die Aufgabe
durchgeführt, bestehen keine Klassen mehr, kann auch die Diktatur des
Proletariats nicht mehr existieren und muß abgelöst werden durch den
Kommunismus, die Gesellschaftsform ohne Staat.
Stalin hat zu dem Problem Demokratie und Diktatur des Proletariats stets den
gleichen Standpunkt wie Lenin eingenommen. In den „Fragen des Leninismus",
in denen er auch den Unterschied zwischen der proletarischen und der
bürgerlichen Revolution klarstellt, schreibt er (siehe „Probleme des
Leninismus" S. 15/16):
„1. Die bürgerliche Revolution beginnt gewöhnlich, wenn schon mehr oder weniger
fertige Gebilde der kapitalistischen Formation vorhanden sind, die bereits vor
der offenen Revolution im Schöße der feudalen Gesellschaft entstanden und
ausgereift sind, während beim Beginn der proletarischen Revolution fertige
Gebilde der sozialistischen Formation fehlen oder fast fehlen.
2. Die Grundaufgabe der bürgerlichen Revolution läuft darauf hinaus, die Macht
zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomik in Einklang zu
bringen, während die Grundaufgabe der proletarischen Revolution darauf
hinausläuft, mit der Ergreifung üer Macht eine neue sozialistische Ökonomik
aufzubauen.
3. Die bürgerliche Revolution wird gewöhnlich mit der Machtergreifung
vollendet, während für die proletarische Revolution die Machtergreifung nur den
Anfang bildet, wobei die Macht als Hebel zum Umbau der alten Ökonomik und zur
Organisierung der neuen benutzt wird.
4. Die bürgerliche Revolution beschränkt sich darauf, die eine an der Macht
stehende Ausbeutergruppe durch eine andere Ausbeutergruppe zu ersetzen, und
braucht deshalb die alte Staatsmaschinerie nicht zu zerbrechen, während die
proletarische Revolution alle wie immer gearteten Ausbeutergruppen beseitigt
und den Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten, die Klasse der Proletarier,
an die Macht hingt, weshalb sie ohne Zerschlagung der alten Staatsmaschinerie
und deren Ersetzung durch eine neue nicht auskommen kann.
5. Die bürgerliche Revolution kann schon deshalb nicht die Millionenmasse der
Werktätigen und Ausgebeuteten für längere Zeit um die Bourgeoisie scharen, weil
sie eben werktätig sind und ausgebeutet werden, während die proletarische
Revolution sie gerade als Werktätige und Ausgebeutete mit dem Proletariat zu
einem dauernden Bunde vereinigen kann und muß, wenn sie ihre Grundaufgabe der
Befestigung der Macht des Proletariats und des Aufbaues der neuen
sozialistischen Ökonomik erfüllen will.“
Der Sieg der proletarischen Revolution ist nicht möglich ohne die Diktatur des
Proletariats.
Aber diese dient einem bestimmten Zweck, dem Aufbau der neuen sozialistischen
Ökonomik, die erst die wahre Demokratie ermöglicht. Auf Seite 22/23 der
gleichen Schrift stellt Stalin die folgenden drei grundlegenden Seiten der
Diktatur des Proletariats fest:
„1. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur
Verteidigung des Landes, zur Befestigung des Bandes mit den Proletariern der
anderen Länder, um in allen Ländern die Revolution zur Entfaltung und zum Siege
zu bringen.
2. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur endgültigen Lostrennung der
werktätigen und ausgebeuteten Massen von der Bourgeoisie, zur Befestigung des
Bündnisses des Proletariats mit diesen Massen, zur Einbeziehung dieser Massen
in den sozialistischen Aufbau, zur staatlichen Leitung durch das Proletariat.
3. Ausnutzung der Macht des Proletariats zur Organisierung des Sozialismus, zur
Vernichtung der Klassen, zum Übergang in eine Gesellschaft ohne Klassen, ohne
Staat... Nur alle diese drei Seiten zusammengenommen geben uns einen
vollständigen und abgerundeten Begriff der Diktatur des Proletariats."
Stalin setzt dann weiter auseinander, daß es für die Diktatur des Proletariats
verschiedene Perioden gibt, in denen die eine oder die andere der grundlegenden
Seiten stärker im Vordergrund steht. Zum Beispiel in der Periode des
Bürgerkrieges ist das Moment der Gewalt besonders auffällig und die
Aufbauarbeit mehr im Hintergrund. Auch in dieser Periode muß Aufbauarbeit
geleistet werden. Ebenso wie in der Periode des Aufbaus, in der die friedliche
aufbauende Arbeit das Entscheidende ist, das Moment der Gewalt jedoch noch
nicht wegfallen kann. Erst wenn die drei grundlegenden Seiten immer vorhanden
sind, funktioniert die Diktatur des Proletariats. Mit anderen Worten
ausgedrückt heißt das: Unter der Diktatur des Proletariats wird die notwendige
Gewalt nicht um der Gewalt willen angewandt, sondern sie dient einem ganz
bestimmten Zweck, dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Nach der
Erfüllung dieser Aufgabe wird die Gewalt ebenso liquidiert, wie vorher mit
ihrer Hilfe die Klassengesellschaft und die Klassen liquidiert wurden. Ganz
eindeutig spricht Stalin diesen Gedanken in einer Rede aus, die er 1925 an der
Swerdlow-Universität hielt und die unter dem Titel „Fragen und Antworten"
in den „Problemen des Leninismus" (Seite 275) abgedruckt ist:
„Die Diktatur des Proletariats ist nicht Selbstzweck. Die Diktatur ist das
Mittel, der Weg zum Sozialismus. Und was ist Sozialismus? Der Sozialismus ist
der Übergang von einer Gesellschaft der Diktatur des Proletariats zur
staatenlosen Gesellschaft."
Lenin und Stalin haben der Diktatur des Proletariats die Aufgabe gestellt, die
ökonomischen, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung der
wahren Demokratie zu schaffen. Für beide sind ebenso wie für Marx und Engels
Demokratie und Diktatur des Proletariats vereinbar gewesen. Aus diesem Grunde
auch ist Lenin zu der Formulierung gekommen, daß die Diktatur des Proletariats
zugleich der höchste Typus der Demokratie, die proletarische Demokratie, sei.
Das Bekenntnis zur Diktatur des Proletariats als Herrschaftsmittel zur
Liqidlerung der Klassen, als Werkzeug zum Aufbau der klassenlosen,
sozialistischen Gesellschaft schließt den Kampf um die demokratischen
Freiheiten im kapitalistischen Staat nicht aus. Es verpflichtet vielmehr zum
leidenschaftlichen Ringen um den besten Kampfboden für die konsequente
Wahrnehmung der proletarischen Klasseninteressen, die früher oder später zu den
entscheidenden Auseinandersetzungen um die Umwandlung der Klassengesellschaft
führt. Die bürgerliche Demokratie in der kapitalistischen Klassengesellschaft
gewährt nur einem kleinen Teil des Volkes — den Reichen — alle Freiheiten. Die
Diktatur des Proletariats gewährt in der sozialistischen Aufbauperiode dem
überwiegenden Teil der Bevölkerung wirkliche demokratische Freiheiten, deren
realer Wert mit dem Fortschreiten der gesellschaftlichen Umwandlung immer mehr
Menschen und schließlich — in der klassenlosen Gesellschaft — allen ohne
Ausnahme zugänglich wird.
Die Diktatur des Proletariats ist das Kampfmittel zur Erzwingung
der wahren Demokratie, Die faschistische Diktatur dagegen ist der Todfeind
jeder Demokratie. Die faschistische Diktatur hat in den Ländern, in denen sie
herrscht, die bürgerliche Demokratie zerschlagen, sie hat alle demokratischen
Freiheiten beseitigt und für die große Masse des Volkes einen Zustand völliger
Unfreiheit geschaffen. Der Faschismus hat an der ökonomischen Grundlage der
kapitalistischen Gesellschaft nichts verändert, aber er hat den ausgebeuteten
Klassen die legalen Möglichkeiten zum Kampf um die Verbesserung dieser
Verhältnisse genommen: das Vereinigungsrecht, die Pressefreiheit, die
Meinungsfreiheit, das Streikrecht.
Die faschistische Diktatur kann in keiner Weise mit der Diktatur des
Proletariats auf eine Stufe gestellt werden. Das Wesen, die Funktionen und die
Ziele der beiden Herrschaftsformen sind grundverschieden.
Die faschistische Diktatur ist die Diktatur einer kleinen herrschenden
Oberschicht über die große Masse der ausgebeuteten werktätigen Klassen. Sie
dient der gewaltsamen Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft, der Sicherung
dauernder Ausbeutung der überwiegenden Mehrheit des Volkes durch Trusts und
Kartelle. Sie kann diese ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie mit den
furchtbarsten terroristischen Mitteln jede Freiheit unterdrückt und das von ihr
beherrschte Land in einen Friedhof verwandelt. Die faschistische Diktatur ist
kein Hebel, mit dem eine höhere Gesellschaftsform erzwungen werden kann, sie
ist nicht als eine Übergangsperiode gedacht, die zu einer allen Menschen
Freiheit gewährenden vollkommeneren gesellschaftlichen Organisation hinführen
soll, sondern sie ist von den Diktatoren als ein Zustand für die Ewigkeit
gedacht, als (wie Hitler es verkündete) ein „tausendjähriges Reich".
Die Diktatur des Proletariats dagegen ist die Herrschaft der großen Mehrheit
des Volkes über die kleine Schicht der Ausbeuter. Ihre Aufgabe ist, die
Klassengesellschaft zu beseitigen und die höhere Gesellschaftsform der
klassenlosen Gesellschaft, in der Freiheit, Recht und Gleichheit allen Menschen
gewährleistet wird, zu schaffen. Die proletarische Diktatur ist ihrer Funktion
nach nur ein Übergangsstadium, sie ist kein Zustand für die Ewigkeit. Hat sie
ihre Aufgabe, die klassenlose Gesellschaft zu schaffen, erfüllt, dann wird,
ökonomisch wie politisch, vollendete Demokratie herrschen. Die faschistische
Diktatur ist ein Bollwerk gegen den Aufstieg der Menschheit, eine furchtbare
Waffe zur Verewigung der sozialen Ungleichheit, der Unfreiheit und Sklaverei —
die Diktatur des Proletariats ist ein gewaltiger Schritt vorwärts auf dem Wege
zur Befreiung der Menschheit. Sie beseitigt die Hindernisse, die der sozialen
Gleichheit im Wege stehen, sie schafft das Fundament für ein wirklich freies
Menschengeschlecht, sie ist ein Sturmbock zur Zertrümmerung der den Aufstieg
der Menschheit hindernden Bollwerke. Der grundlegende Unterschied zwischen der
proletarischen und der faschistischen Diktatur zwingt zur verschiedenen
Beurteilung der manchmal äußerlich ähnlich ausschauenden Taten. Die
Gewaltanwendung der faschistischen Diktatur dient der Unterdrückung, der
endgültigen Vernichtung der Freiheit, die Gewaltanwendung der Diktatur des
Proletariats dient der Erlösung aus der Knechtschaft, der Schaffung des
gesellschaftlichen Zustandes, in dem Freiheit für alle Menschen garantiert ist.
„Wahre Freiheit gibt es nur dort, wo die Ausbeutung aufgehoben
ist, wo es keine Unterdrückung der einen Menschen durch andere gibt, wo es
keine Erwerbslosigkeit und kein Elend gibt, wo der Mensch nicht darum zittere
daß er morgen vielleicht Arbeit, Behausung und Brot verliert."
Stalin in dem Interview mit dem Amerikaner Roy Howard (März 1936).
Die neue Verfassung der UdSSR beweist, daß die Diktatur des Proletariats kein
Selbstzweck ist, sondern die Übergangsperiode zur vollkommenen Demokratie. In
dem Maße, wie die proletarische Diktatur ein neues gesellschaftliches Fundament
geschaffen hat, wurden die demokratischen Freiheiten für alle Staatsbürger
erweitert. Die Verfassung von 1936 registriert den inzwischen geschaffenen
Zustand. Weil das Endziel, die klassenlose Gesellschaft, noch nicht erreicht
ist, kann — von außenpolitischen Gründen ganz abgesehen — der Staat der
Sowjetmacht sich noch nicht in eine staatenlose Gesellschaft auflösen, darum
kann auch die Diktatur des Proletariats noch nicht liquidiert werden. Noch
bestehen zwei Klassen in der Sowjetunion, die Arbeiter- und die Bauernklasse.
Aber die beiden Klassen stehen sich nicht feindlich gegenüber. Sie verlieren
unter der Führung der Sowjetmacht immer mehr ihre noch vorhandenen
Klassenbesonderheiten und werden reif für die klassenlose Gesellschaft.
Diese tatsächlich vollzogene sozialistische Umwälzung der Gesellschafts- und
Eigentumsordnung kommt eindeutig im ersten Kapitel der neuen Verfassung, das
die Artikel über den „Gesellschaftsaufbau" enthält, zum Ausdruck. Die
entscheidenden Artikel dieses Kapitels haben folgenden Wortlaut:
„Artikel 4. Die ökonomische Grundlage der UdSSR bildet das sozialistische
Wirtschaftssystem und das sozialistische Eigentum an den Produktionswerkzeugen
und -mitteln, gefestigt im Ergebnis der Liquidierung des kapitalistischen
Wirtschaftssystems, der Aufhebung des Privateigentums an den
Produktionswerkzeugen und -mitteln und der Abschaffung der Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen.
Artikel 5. Das sozialistische Eigentum in der UdSSR hat entweder die Form von
Staatseigentum (Gemeinbesitz des Volkes) oder die Form von
genossenschaftlich-kollektivwirtschaftlichem Eigentum (Eigentum einzelner
Kollektivwirtschaften, Eigentum genossenschaftlicher Vereinigungen).
Artikel 6. Der Grund und Boden, die Bodenschätze, die Gewässer, die Waldungen,
die Werke, die Fabriken, die Gruben, die Bergwerke, das Eisenbahn-, Wasser- und
Luftverkehrswesen, die Banken, die Verbindungsmittel, die vom Staat
organisierten Großbetriebe (Sowjetwirtschaften, Maschinen- und
Traktorenstationen usw.) sowie die Kommunalbetriebe und die Hauptmasse der
Wohnungen in den Städten und Industrieorten sind Staatseigentum, das heißt
Gemeinbesitz des Volkes.
Artikel 7. Die gesellschaftlichen Unternehmungen in den Kollektivwirtschaften
und den genossenschaftlichen Organisationen mit ihrem lebenden und toten
Inventar, die von den Kollektivwirtschaften und den genossenschaftlichen
Organisationen erzeugten Produkte, ebenso wie ihre gesellschaftlichen
Baulichkeiten sind gesellschaftliches, sozialistisches Eigentum der
Kollektivwirtschaften und der genossenschaftlichen Organisationen.
Der Hof jedes Kollektivbauern hat außer dem Grundeigentum von der
gesellschaftlichen kollektivwirtschaftlichen Wirtschaft in persönlicher Nutzung
ein kleines Stück Hofland und als persönliches Eigentum eine zusätzliche
Wirtschaft auf dem Hofland, ein Wohnhaus, Nutzvieh und landwirtschaftliches
Kleininventar — gemäß dem Statut des landwirtschaftlichen Artels.
Artikel 8. Der Boden, den die Kollektivwirtschaften innehaben, wird ihnen zu
unentgeltlicher und unbefristeter Nutzung, d.h. für ewig, zuerkannt.
Artikel 9. Neben dem sozialistischen Wirtschaftssystem, der herrschenden
Wirtschaftsform in der UdSSR, ist die private Kleinwirtschaft der Einzelbauern
und Gewerbetreibenden, die auf persönlicher Arbeit beruht und die Ausbeutung
fremder Arbeit ausschließt, gesetzlich zugelassen."
Diese Verfassungsgrundsätze schaffen die materielle Voraussetzung für die
Gewährung wahrer Freiheit an alle Staatsbürger. In der UdSSR sind die
Produktionsmittel in Stadt und Land vergesellschaftet. Das
privatkapitalistische Eigentum ist beseitigt, keine der übriggebliebenen
Klassen kann die andere ausbeuten. Selbst der kleine Rest von
Privateigentümern, dessen Existenz im Artikel 9 der Verfassung anerkannt wird,
darf keine fremden Arbeitskräfte beschäftigen. Die klassenmäßige
Vermögensungleichheit, die nach Hegel mit der Demokratie unvereinbar ist,
existiert nicht mehr. Die soziale Gleichheit ist hergestellt, der Mensch ist in
der Sowjetunion, wo die sozialistische Wirtschaftsordnung verwirklicht wurde,
materiell frei und unabhängig. Die unter diesen Umständen allen Bürgern
gewährten gleichen demokratischen Rechte und Freiheiten sind nicht mehr
unerreichbar hinter gläsernen Mauern, sondern sie können von allen ohne
Ausnahme praktisch ausgenutzt werden.
Die besondere soziale Grundlage der neuen Verfassung, die sich grundsätzlich
von den Ökonomischen Verhältnissen der kapitalistischen Länder unterscheidet,
hat Stalin in seiner Verfassungsrede auf dem VIII. Sowjetkongreß besonders
hervorgehoben: „Zum Unterschied von ihnen (den Verfassungen der bürgerlichen
Länder. D.V.) geht der Entwurf der neuen Verfassung der UdSSR von der Tatsache
der Liquidierung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus, von der
Tatsache des Sieges der sozialistischen Gesellschaftsordnung m der UdSSR. Die
Hauptgrundlage des Entwurfes der neuen Verfassung der UdSSR bilden die
Prinzipien des Sozialismus, seine wichtigsten, bereits errungenen und
verwirklichten Stützpfeiler: das sozialistische Eigentum an Grund und Boden,
Waldungen, Fabriken und Werken und anderen Produktionsmitteln; die Liquidierung
der Ausbeutung und der Ausbeuterklasse; die Liquidierung der Armut der Mehrheit
und des Luxus der Minderheit; die Liquidierung der Erwerbslosigkeit; die Arbeit
als Verpflichtung und Ehrenpflicht jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers nach der
Formel ,Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen'. Das Recht auf Arbeit, das
heißt das Recht jedes Staatsbürgers, gesicherte Arbeit zu erhalten, das Recht
auf Erholung, das Recht auf Bildung usw. usf. Der Entwurf der neuen Verfassung
stützt sich auf diese und ähnliche Stützpfeiler des Sozialismus. Er bringt sie
zum Ausdruck, er legt sie auf dem Wege der Gesetzgebung fest."
Aber die Festlegung all dieser Rechte wäre nicht ausreichend, wenn nicht
zugleich auch die Garantien dafür geschaffen würden, daß jeder Staatsbürger von
diesen Rechten auch Gebrauch machen kann. In den Verfassungen der
bürgerlich-demokratischen Staaten sind mitunter auch schöne Proklamationen zu
lesen, die aber nur auf dem Papier stehen, weil es in den kapitalistischen
Staaten an den materiellen Garantien für die praktische Verwirklichung dieser
Proklamation fehlt. Stalin sagt in seiner Verfassungsrede weiter:
„Die Eigentümlichkeit des Entwurfs der neuen Verfassung besteht darin, daß sie
sich nicht mit der Feststellung formeller Rechte für die Staatsbürger begnügt,
sondern den Schwerpunkt auf die Frage der Garantien für diese Rechte, auf die
Frage der Mittel zur Verwirklichung dieser Rechte verlegt. Sie verkündet nicht
einfach Gleichheit der Rechte für die Staatsbürger, sondern sichert auch die
gesetzgeberische Verankerung der faktischen Liquidierung des Regimes der
Ausbeuter, der faktischen Befreiung der Staatsbürger von jeglicher Ausbeutung.
Er verkündet nicht einfach das Recht auf Arbeit, sondern sichert auch die
gesetzgeberische Verankerung der Tatsache, daß es in der Sowjetgesellschaft
keine Krisen gibt, der Tatsache, daß die Erwerbslosigkeit vernichtet ist. Er
verkündet nicht einfach die demokratischen Freiheiten, sondern sichert sie auch
auf gesetzlichem Weg durch gewisse materielle Mittel. Es ist daher begreiflich,
daß der Demokratismus des Entwurfes der neuen Verfassung kein gewöhnlicher und
allgemein anerkannter Demokratismus überhaupt, sondern ein sozialistischer
Demokratismus ist."
Der grundlegende Unterschied, der zwischen den demokratischen Verfassungen
bürgerlicher Länder und der Verfassung der Sowjetunion besteht, ist das
ökonomische Fundament, auf dem die Verfassungsrechte basieren. Dort das
kapitalistische, hier das sozialistische Wirtschaftssystem. Die Demokratie, die
sich auf der Basis des sozialistischen Wirtschaftssystems entwickelt, kann mit
Recht eine von den Demokratien der anderen Länder sich vorteilhaft
unterscheidende, eine sozialistische Demokratie genannt werden. Die bürgerliche
Demokratie in den kapitalistischen Ländern ist eine besondere Form der
Klassenherrschaft des Kapitalismus, die sozialistische Demokratie ist die
Herrschaft der Massen in einem Lande ohne ausbeutende Klassen, die von keiner
Klasse zur Unterdrückung einer anderen mißbraucht werden kann. Die
sozialistische Demokratie ist das Mittel, mit dem die Erreichung der
klassenlosen Gesellschaft beschleunigt wird.
Die neue Verfassung der Sowjetunion enthält alle wesentlichen Elemente einer
sozialistischen Demokratie. Das neue Grundgesetz der Sowjetunion bedeutet darum
keinen Schritt zurück zur bürgerlichen Demokratie, sondern einen großen Schritt
vorwärts zu einem in keinem der kapitalistischen Länder verwirklichten höheren
Typus der Demokratie.
Die neue Verfassung der Sowjetunion stellt die volle Gleichheit
aller Bürger vor dem Gesetz her. Aber nicht dadurch, daß sie Armen und Reichen
gleicher weise das Nächtigen unter Brücken verbietet, sondern dadurch, daß sie
allen Bürgern das gleiche Recht auf Arbeit gibt. Artikel 118 der neuen
Verfassung besagt: „Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf Arbeit, das
heißt: das Recht auf Zuteilung gesicherter Arbeit mit Entlohnung ihrer Arbeit
gemäß deren Menge und Qualität. Das Recht auf Arbeit wird gesichert durch die
sozialistische Organisation der Volkswirtschaft, durch die unaufhörliche
Entwicklung der Produktivkräfte der Sowjetgesellschaft, durch die Beseitigung
der Möglichkeit von Wirtschaftskrisen und durch die Aufhebung der
Arbeitslosigkeit." Dieses garantierte Recht auf Arbeit ist ein
entscheidender Wertmesser für eine wahrhaft demokratische Verfassung. Das Recht
auf Arbeit fehlt in allen Verfassungen bürgerlicher Demokratien, weil in diesen
Ländern die ökonomische Voraussetzung für die Verwirklichung eines solchen
Verfassungsartikels nicht vorhanden ist. Nur in der Sowjetunion kann dieses
höchste, wahrhaft demokratische Prinzip verwirklicht werden, weil nur dort die
Produktionsmittel vergesellschaftet sind und die sozialistische Planwirtschaft
organisiert ist. Über die entscheidende Bedeutung des Artikels 118 der
sowjetischen Verfassung schreibt Otto Bauer in Nr. 7 (1936) des „Kampf":
„In einer Zeit, in der immer noch mehr als 15 Millionen Arbeiter in der
kapitalistischen Welt arbeitslos sind, ist es die eindrucksvollste Tatsache,
daß die Sowjetunion allen ihren Bürgern das Recht auf Arbeit zu verbürgen
vermag. Damit wird ein alter Traum der in allen kapitalistischen Ländern immer
wieder von der Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeiterklasse verwirklicht.
Das Recht auf Arbeit war, wie Marx sagte, die erste unbeholfene Formel, worin
sich die revolutionären Ansprüche des Proletariats zusammenfassen. Die
Forderung nach dem Recht auf Arbeit ist zuerst aufgetaucht in den Stürmen der
großen französischen Revolution. In der Konstituante von 1789 haben Malouet und
Targe beantragt, in den Katalog der Menschen- und Bürgerrechte auch das Recht
auf Arbeit aufzunehmen; die bürgerliche Konstituante hat diesen Antrag
abgelehnt. Die Forderung nach dem Recht auf Arbeit taucht in den schweren,
große langanhaltende Arbeitslosigkeit hervorrufenden Wirtschaftskrisen der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von neuem auf; sie wird verfochten von dem
utopistischen Sozialismus jener Zeit, von Fourier und Considerant. Als die
Pariser Arbeiterklasse auf den Barrikaden des Februar 1848 das Königtum stürzt,
erzwingt sie die Proklamierung des Rechtes auf Arbeit. Am 25. Februar 1848
diktiert der Arbeiter Marchet der Provisorischen Regierung das Dekret: ,Die
provisorische Regierung der französischen Republik verpflichtet sich, die
Existenz des Arbeiters durch Arbeit zu garantieren. Sie verpflichtet sich also,
allen Bürgern Arbeit zu gewähren.' Aber das Recht auf Arbeit in der
kapitalistischen Gesellschaft reduziert sich auf das elende Experiment der
Nationalwerkstätten. Der Kampf um seine Durchführung endet in dem blutigen
Bürgerkrieg der Junischlacht. Sobald die Arbeiterklasse blutig niedergeworfen
ist, streicht die Bourgeois-Regierung das Recht auf Arbeit aus der
Gesetzsammlung der Republik.
In der Tat kann es in der kapitalistischen Gesellschaft kein Recht auf Arbeit
geben. Solange die Produktionsmittel Privateigentum der Kapitalisten sind, so
lange daher Waren um des Profites willen produziert werden und die Schwankungen
der Profitrate über die Ausdehnung und Einschränkung der Produktion entscheiden,
kann der Kapitalismus die industrielle Reservearmee der Arbeitslosen nicht
entbehren, die er in Zeiten steigender Profitrate an der Produktionsfront
einsetzt, um sie in Zeiten sinkender Profitrate aus seinen Betrieben
auszustoßen. Erst wenn die Produktionsmittel nicht mehr Privatleuten gehören,
sondern der Gesamtheit, erst wenn die Produktion nicht mehr um des Profites
willen erfolgt, erst wenn der Umfang der Produktion nicht mehr durch die
Schwankungen der Profitrate reguliert wird, sondern durch gesellschaftlichen
Plan, erst dann kann die Gesellschaft allen ihren Mitgliedern das Recht auf
Arbeit verbürgen. Die Proklamation des Rechtes auf Arbeit in der neuen
Staatsverfassung der Sowjetunion ist bloße Konsequenz der in der Sowjetunion
vollzogenen sozialistischen Umwälzung der Gesellschafts-, der
Eigentumsordnung." Das unbedingte gleiche Recht auf Arbeit für alle ist
mehr Demokratie, als alle die Freiheiten, die der freieste der bürgerlich
demokratischen Staaten gewähren kann. Erst der Mensch, der unabhängig von
irgendwelchen Ausbeuterklassen auf einer garantiert unantastbaren materiellen
Basis steht, kann die übrigen ihm gewährten demokratischen Freiheiten wirklich
benutzen.
Die nächsten Verfassungsartikel des Kapitels über „Die Grundrechte und
Grundpflichten“ sichern dem Sowjetbürger weitere Rechte, die den Bürgern der
kapitalistischen Staaten gar nicht oder nicht in diesem Ausmaße gewährt werden:
„Artikel 119. Die Staatsbürger der UdSSR besitzen das Recht auf Erholung.
Das Recht auf Erholung wird gesichert durch die Kürzung des Arbeitstages für
die überwältigende Mehrheit der Arbeiter bis auf sieben Stunden, durch
Festlegung eines alljährlichen Urlaubs der Arbeiter und Angestellten mit
Beibehaltung des Arbeitslohnes und durch das in den Dienst der Werktätigen
gestellte dichte Netz von Sanatorien, Erholungsheimen, Klubs.
Artikel 120. Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf materielle Versorgung
im Alter wie auch im Krankheitsfalle und im Falle des Verlustes der
Arbeitsfähigkeit.
Dieses Recht wird durch breite Entwicklung der Sozialversicherung der Arbeiter
und Angestellten auf Staatskosten verbürgt, durch unentgeltliche medizinische
Hilfe für die Werktätigen, durch das dichte Netz von Kurorten, die den
Werktätigen zur Verfügung gestellt werden.
Artikel 121. Die Bürger der UdSSR besitzen das Recht auf Bildung.
Dieses Recht wird gesichert durch die allgemeine obligatorische
Elementarschulbildung, die Unentgeltlichkeit der Bildung einschließlich der
Hochschulbildung, durch das System staatlicher Stipendien für die überwiegende
Mehrheit der Studierenden an den Hochschulen, durch Schulunterricht in der
Muttersprache, Organisierung des unentgeltlichen Fach-, technischen und
agronomischen Unterrichts der Werktätigen in Betrieben, Sowjetwirtschaften,
Maschinen- und Traktorenstationen und Kollektivwirtschaften." Diese
Verfassungsartikel stehen nicht nur auf dem Papier. Die Ausgaben, die in der
Sowjetunion für die Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus der
werktätigen Massen gemacht werden, sind von Jahr zu Jahr gestiegen. Im Jahre
1937 betrug der Haushalt für Sozialversicherung 6750 Millionen Rubel, gegen
4400 im Jahre 1932. Die produktive sozialistische Wirtschaft gewährt die
materielle Voraussetzung für die Verwirklichung der sozialistischen Verfassungsartikel.
Der Frau werden in allen Fragen die gleichen Rechte gewährt wie dem Manne. Sie
hat Insbesondere auch das gleiche Recht auf Arbeit und auf dieselbe
Arbeitsentlohnung wie der Mann. Alle Bürger, gleich welcher Rasse und
Nationalität, sind unbedingt gleichberechtigt. Verstöße gegen dieses Prinzip
werden schwer bestraft.
Jeder Staatsbürger kann nach seinen Anlagen, nach seinen Fähigkeiten seine
Persönlichkeit entwickeln. Bildung und Wissen sind nicht mehr das Monopol einer
dünnen Oberschicht der Besitzenden, sondern sind jedem zugänglich. In den
technischen Hochschulen und Universitäten sitzen nicht mehr die Kinder der
Kapitalisten und Gutsbesitzer, sondern die Söhne und Töchter der Arbeiter, der
Bauern und der Intelligenz. Ihr Studium und ihre freie Entfaltung wird nicht
durch das Geld ihrer Eltern, sondern durch die gesellschaftliche Organisation
des Sowjetstaates ermöglicht. Das in den kapitalistischen Ländern viel
mißbrauchte Wort „Freie Bahn dem Tüchtigen“ ist in der Sowjetunion
verwirklicht. Die materiellen Voraussetzungen sind dafür geschaffen, daß jeder
Begabte und Fleißige lernen und studieren darf, daß er Ingenieur und
Betriebsleiter, Gelehrter und Forscher werden kann. Auch das ist ein wichtiges
demokratisches Recht, das in keinem kapitalistischen Lande verwirklicht ist,
und das das Recht, bei Parlamentswahlen frei eine der kandidierenden Parteien
zu wählen, um das Vielfache an Wert übertrifft. Wirkliche Demokratie ist eben
nicht nur das freie Wahlrecht, sondern die freie, allen Menschen gleich
garantierte, durch Geld und andere kapitalistische Einwirkungen ungehinderte
Entfaltung der Persönlichkeit. Dieser demokratische Grundsatz ist im Artikel 12
der Sowjetverfassung festgelegt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach
seinen Leistungen."
Über einzelne Bestimmungen der neuen Verfassung gab es in der
Sowjetunion verschiedene Meinungen, die im Lande selbst eine breite Diskussion
auslösten. Ferner haben die Sozialisten außerhalb der UdSSR an einzelnen Teilen
der Verfassung Kritik geübt.
Zu der ersten Gruppe der Einwendungen gehören die gegen den Artikel 124 der
Verfassung, der die Gewissensfreiheit garantiert:
„Zur Sicherung der Gewissensfreiheit der Bürger sind in der Sowjetunion die
Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der
Ausübung religiöser Kulte und die Freiheit der antireligiösen Propaganda ist
allen Staatsbürgern zuerkannt."
Stalin bezeichnete die Forderung, die Ausübung religiöser Kulte zu verbieten,
als dem Geiste der Verfassung zuwiderlaufend. Gegen den Antrag, den ehemaligen
Geistlichen und Weißgardisten das Wahlrecht nicht zu geben, nahm Stalin
Stellung. Er erklärte, daß sich die Sowjetmacht so weit entwickelt habe und so
stark sei, daß sie die früher notwendig gewesenen Einschränkungen fallen lassen
könne. Gegen die Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Wahlrechtes an alle Staatsbürger ohne Ausnahme, sind noch andere Einwendungen
erhoben worden. Zu der Zeit, als die Ausbeuterklassen noch nicht liquidiert
waren, konnten den Angehörigen dieser Klassen nicht die gleichen politischen
Rechte gewährt werden, um ihre freie Entfaltung und die Organisierung der
Gegenrevolution zu unterbinden. Die ökonomische Macht, die den Händen der
ausbeutenden Klassen erst entwunden werden mußte, hätte ihnen früher, bei der
vollen Zuerkennung der demokratischen Rechte, die Ausnützung der Demokratie für
ihre Klasseninteressen ermöglicht. Darum mußten sie sichtbar und vollständig
von der Mitentscheidung im Staate ausgeschaltet werden. Wenn damals auch nur
ungefähr 3% der Wahlfähigen das Wahlrecht entzogen wurde, so konnte der Einsatz
ihrer zu Jener Zeit noch vorhandenen ökonomischen Kraft eine weit über ihre
geringe Zahl hinausgehende politische Wirkung erzielen. Sind jedoch die
Ausbeuterklassen beseitigt, können auch diejenigen, die früher diesen
Ausbeuterklassen angehört haben, ihr Recht, zu wählen und gewählt zu werden,
nicht mehr mit ökonomischen Machtmitteln zum Aufbau konterrevolutionärer Kräfte
auswerten. Darum kann, ohne den Bestand der Sowjetmacht zu gefährden, im
Artikel 135 der Verfassung stehen:
„Die Wahlen der Deputierten sind allgemein. Alle Bürger der UdSSR, die ihr
achtzehntes Lebensjahr vollendet haben, haben, unabhängig von der nationalen
und der Rassezugehörigkeit, dem Glaubensbekenntnis, dem Bildungsgrad, der
Ansässigkeit, der sozialen Herkunft, der Vermögenslage und der früheren
Tätigkeit, das Recht, an den Wahlen der Deputierten teilzunehmen und gewählt zu
werden; ausgenommen sind Geisteskranke sowie Personen, die vom Gericht zum
Verlust des Wahlrechtes verurteilt worden sind." Die weiteren
Verfassungsartikel in dem Kapitel über das Wahlsystem bestimmen, daß die Wahlen
zu allen Körperschaften direkt, geheim und gleich sind, daß die Frauen dabei in
allem den Männern gleichgestellt werden, ebenso die Soldaten der Roten Armee,
die wählen und gewählt werden können. Es gibt keine Sowjetbürger ohne Wahlrecht
mehr. Auch die Vorrechte, die die alte Verfassung den Arbeitern gegenüber den
Bauern gewährte, sind abgeschafft worden. Während nach der alten Verfassung
25.000 städtische und 125.000 ländliche Wähler je einen Deputierten zum
Sowjetkongreß wählten, werden nach der neuen Verfassung die Stimmen der
ländlichen Bevölkerung genau so gewertet wie die der städtischen. In der
Gewährung der vollkommen gleichen Rechte an Arbeiter und Bauern spiegelt sich
auch die Veränderung des Verhältnisses der Arbeiter- und Bauernklasse
zueinander wider. Das richtige Verhältnis der beiden Klassen, das Lenin und
Stalin als eine der Voraussetzungen für den Aufbau des Sozialismus in der
Sowjetunion bezeichneten, ist so weit hergestellt, daß den beiden Klassen, die
in gleicher Weise an der Erhaltung der Sowjetmacht und dem Ausbau der
sozialistischen Gesellschaft interessiert sind, die gleichen politischen Rechte
gewährt werden können.
Die öffentliche Wahl ist durch die geheime ersetzt worden. Während früher nur
die unteren Organe der Sowjetmacht in direkter Wahl gewählt wurden, die
mittleren und oberen Organe aber in indirekter Wahl durch die gewählten
Vertreter der unteren Sowjetorgane, werden jetzt auch die mittleren und oberen
Organe der Sowjetmacht in direkter, geheimer Wahl gewählt. Neu eingeführt wurde
außerdem die allgemeine Volksbefragung, das Referendum, bei dem das Volk in
wichtigen Fragen zur direkten Entscheidung aufgerufen werden kann. Die Einwände
gegen die Wahlrechtsgewährung an die früheren reaktionären Elemente wies Stalin
auf dem VIII. Sowjetkongreß mit folgender Begründung zurück:
„Die Sowjetmacht hat den nichtwerktätigen und Ausbeuterelementen die Wahlrechte
nicht für ewige Zeiten, sondern zeitweilige bis zu einer gewissen Periode
entzogen. Es gab eine Zeit, da diese Elemente gegen das Volk einen offenen
Krieg führten und den Sowjetgesetzen zuwider handelten. Das Sowjetgesetz über
den Entzug des Wahlrechts war die Antwort der Sowjetmacht auf diesen
Widerstand. Seitdem ist nicht wenig Zeit verstrichen. In der vergangenen
Periode haben wir es erreicht, daß die Ausbeuterklassen vernichtet, die
Sowjetmacht aber eine unbesiegbare Kraft wurde. Ist nicht die Zeit gekommen,
dieses Gesetz zu revidieren? Ich glaube, daß die Zeit gekommen ist. Man sagt,
daß dies gefährlich sei, denn in die obersten Organe des Landes könnten sich
der Sowjetmacht feindliche Elemente und der eine und der andere aus der Mitte
der ehemaligen Weißgardisten, Kulaken, Popen usw. einschleichen. Aber was ist
hier eigentlich zu fürchten? Wer die Wölfe fürchtet, gehe nicht in den Wald.
Erstens sind nicht alle ehemaligen Kulaken, Weißgardisten oder Popen der Sowjetmacht
feind. Zweitens, wenn das Volk irgendwo feindliche Leute wählen wird, so wird
das bedeuten, daß unsere Agitationsarbeit unter aller Kritik ist und wir diese
Schande durchaus verdient haben; wenn aber unsere Agitationsarbeit auf
bolschewistische Art vorwärts gehen wird, so wird das Volk zu seinen obersten
Organen keine feindlichen Leute zulassen. Das heißt, daß man arbeiten muß und
nicht flennen, man muß arbeiten, und darf nicht erwarten, daß alles in fertiger
Form durch administrative Verfügungen vorgelegt wird. Lenin sagte schon 1919,
die Zeit sei nicht mehr fern, da die Sowjetmacht es für nützlich halten werde,
das allgemeine Wahlrecht ohne jegliche Einschränkungen einzuführen. Beachtet:
ohne jegliche Einschränkung. Das sagte er zu der Zeit, als die ausländische
militärische Intervention noch nicht liquidiert war und unsere Industrie und
Landwirtschaft sich in verzweifelter Lage befanden. Seitdem sind 17 Jahre
vergangen. Ist es nicht Zeit, Genossen, die Weisung Lenins zu erfüllend Ich
glaube, daß es Zeit ist."
Molotow hat an die Erweiterung des Wahlrechts die Erwartung geknüpft, daß diese
zur Verbesserung des Staatsapparates, das heißt auch zur Behebung der Mängel
des Bürokratismus, zur Vergrößerung und Erneuerung der führenden Sowjetkader
und zur Hebung der Arbeit der Parteiorganisationen in den Massen führen werde.
Gefahren, die durch die Erweiterung der demokratischen Rechte entstehen können,
werden von den Führern der Sowjetmacht nicht als eine Bedrohung ihres Regimes,
sondern als Druckmittel zur Beseitigung noch vorhandener Mängel des Systems
betrachtet.
Die Gewährung demokratischer Rechte an alle Staatsbürger und die Erweiterung
der politischen Rechte der Bauern wurden auch als Rechtsschwenkung der
Sowjetmacht bezeichnet. Trotzki z.B. behauptete, daß die neue Verfassung
juristisch die Diktatur des Proletariats liquidiert, und zwar zugunsten eines
Systems der bürgerlichen Demokratie. Stalin hat sich auf dem VIII.
Sowjetkongreß über diesen Vorwurf lustig gemacht. Er warf den Kritikern vor,
daß sie „sich bei ihrer Kritik ... endgültig verwirrt haben und ... rechts mit
links verwechseln." Und in der Tat, die Erweiterung der demokratischen
Rechte ist keine Rechtsschwenkung, ist kein Opportunismus; sie ist vielmehr ein
wichtiger Schritt zur Erreichung des sozialistischen Zieles.
In der zweiten Gruppe der Einwendungen, die von den Sozialisten außerhalb
Rußlands vorgebracht werden, sind die entscheidenden: die neue Verfassung läßt
keine andere als die Bolschewistische Partei zu und sie beseitigt nicht die
Diktatur des Proletariats. Am konzentriertesten wird der aus dem Lager der
Zweiten Internationale gemachte Vorwurf, daß die Nichtzulassung anderer
Parteien den demokratischen Grundprinzipien ins Gesicht schlage, in einem
„Offenen Brief" erhoben, den die Auslandsvertretung der Menschewiki an den
VIII. Sowjetkongreß richtete. Den Kritikern erscheint der Artikel 126 der
Verfassung, der das Vereinigungsrecht in der Sowjetunion umschreibt, als nicht
ausreichend für die Vorstellung, die sie von der Demokratie haben. Dieser
Artikel 126 besagt: „Entsprechend den Interessen der Werktätigen und zur
Entwicklung der organisatorischen Selbsttätigkeit und politischen Aktivität der
Volksmassen wird den Bürgern der UdSSR das Recht auf Vereinigung in
gesellschaftlichen Organisationen gesichert: in Gewerkschaften,
Genossenschaften, Jugendorganisationen, Sport- und Verteidigungsorganisationen,
kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften; die aktivsten
und bewußtesten Bürger aus den Reihen der Arbeiterklassen und anderer Schichten
der Werktätigen vereinigen sich in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
(Bolschewiki), die die Vorhut der Werktätigen in ihrem Kampfe für die Festigung
und Entwicklung der sozialistischen Ordnung ist und den führenden Kern sämtlicher
Organisationen der Werktätigen, sowohl der gesellschaftlichen wie der
staatlichen, darstellt." Gegenüber den Einwänden, daß nur eine politische
Partei zugelassen werde, sagte Stalin in seiner Verfassungsrede:
„Was die Freiheit verschiedener politischer Parteien anbetrifft, so vertreten
wir hier einige andere Ansichten. Die Partei ist ein Teil der Klasse, ihr
fortgeschrittener Teil. Einige Parteien und folglich auch die Freiheit der
Parteien können nur in einer solchen Gesellschaft existieren, wo es antagonistische
Klassen gibt, deren Interessen untereinander feindlich und unversöhnlich sind,
wo es, sagen wir, Kapitalisten und Arbeiter, Gutsbesitzer und Bauern, Kulaken
und Armut usw. gibt. In der UdSSR aber gibt es solche Klassen wie Kapitalisten,
Gutsbesitzer, Kulaken usw. nicht mehr. In der UdSSR gibt es nur zwei Klassen,
Arbeiter und Bauern, deren Interessen nicht feindlich, sondern im Gegenteil
freundschaftliche sind. In der UdSSR gibt es also für die Existenz mehrerer
Parteien und folglich auch für die Freiheit dieser Parteien keinen Boden. In
der UdSSR gibt es nur für eine Partei, die Kommunistische Partei, Boden. In der
UdSSR kann nur eine Partei, die Partei der Kommunisten, existieren, die kühn
und bis zum Ende die Interessen der Arbeiter und der Bauern schützt. Und daß
sie die Interessen dieser Klassen nicht schlecht schützt, daran kann wohl kaum
irgendein Zweifel bestehen."
In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der verschiedene Klassen sich
in heftigem Kampfe gegenüberstehen, muß der Marxist als selbstverständliche
Voraussetzung für demokratische Freiheiten die Zulassung von Parteien fordern,
die die Interessen der arbeitenden Klassen gegenüber der herrschenden
kapitalistischen Klasse und deren Parteien vertreten können. Wird in der kapitalistischen
Gesellschaft nur eine Partei zugelassen, so besteht tatsächlich keine
Demokratie. Dagegen ist in der sozialistischen gesellschaftlichen Organisation,
in der keine ausbeutenden Klassen mehr existieren, die Zulassung nur einer die
arbeitenden Klassen vertretenden Partei kein Beweis gegen die Demokratie. Die
gleichen materiellen Bedingungen und die gleichen materiellen Rechte für alle
Staatsbürger, garantiert durch die gleiche soziale Ordnung — das ist viel mehr
Demokratie, als die Zulassung mehrerer Parteien in der kapitalistischen
Klassengesellschaft.
Der Kampf des Proletariats um die Eroberung der Macht ist schwer. Viel schwerer
aber noch ist die Sicherung der eroberten Macht und der sozialistische Aufbau.
In dieser schwierigeren Periode kann der Bruderkampf mehrerer proletarischer
Parteien zum Mißlingen des Werkes und (wie die Geschichte in anderen Ländern
lehrt) zum Siege der Konterrevolution führen. Das Gleiche gilt auch noch für
die Periode, in der zwar schon das Fundament der sozialistischen Gesellschaft
gelegt, aber das Werk noch nicht vollendet ist; in der es durch innere
Komplikationen und durch die Intervention kapitalistischer Staaten immer wieder
gefährdet werden kann. In dieser Zeit muß ein einheitlicher Wille, eine
einheitlich handelnde revolutionäre Partei, in der die Prinzipien der
sozialistischen Demokratie verwirklicht sind, die Geschicke des Staates lenken.
Die Zulassung verschiedener Parteien würde zurückführen in den Zustand der
bürgerlichen Demokratie, sie könnte die geschlossene Fortführung des Aufbaus
stören und die Erreichung der klassenlosen Gesellschaft hindern. Angenommen: in
irgendeinem europäischen Lande, in dem die sozialistische Partei die
überwältigende Mehrheit im Proletariat hat, siegt die proletarische Revolution.
Will die siegreiche sozialistische Partei die eroberte Macht gegen Rückschläge
sichern und den sozialistischen Aufbau vollziehen, dann muß sie die anderen
Parteien ausschalten. Unterläßt sie das, so würde sie entweder von einer
anderen proletarischen Partei, die diese Prinzipien anwendet, abgelöst, oder
die proletarische Revolution bricht zusammen und die kapitalistische
Konterrevolution richtet ihre Herrschaft wieder auf.
Die Ausschaltung dieser Gefahr ist das Wichtigste. Unvergleichlich wichtiger
als die Erfüllung dessen, was in der kapitalistischen Umwelt mit Recht als ein
entscheidender Bestandteil der Demokratie angesehen wird. Mit der
Einschränkung, daß nur eine Partei zugelassen ist, werden nach Artikel 125
allen Staatsbürgern beiderlei Geschlechts die wichtigsten politischen
Freiheiten gewährt: die Freiheit des Wortes, die Freiheit der Presse, die
Freiheit der Versammlungen und Meetings, die Freiheit der Straßenaufzüge und
Demonstrationen.
Der Fortbestand
der Diktatur der Arbeiterklasse wird von sozialistischen und linksbürgerlichen
Kritikern als weiterer Beweis dafür angeführt, daß trotz der neuen Verfassung
mit ihren weitgehenden demokratischen Rechten in der Sowjetunion keine
Demokratie herrscht. In der Tat, das bisherige Sowjetregime wird durch die neue
Verfassung nicht aufgehoben, sondern — wie die Führer der Sowjetmacht sagen —
nur noch fester untermauert. Die Diktatur der Arbeiterklasse bleibt
unerschüttert, sie soll durch die Demokratisierung, die Vervollkommnung der
Staatsformen besonders gefestigt werden. Gegenüber den Einwänden, die wegen der
Aufrechterhaltung der Diktatur der Arbeiterklasse erhoben wurden, sagte Stalin
in seiner Verfassungsrede (1936):
„Wenn die vorhergehende Gruppe den Entwurf der Verfassung des Verzichts auf die
Diktatur der Arbeiterklasse bezichtigt, so bezichtigt ihn diese Gruppe im
Gegenteil, daß er an der bestehenden Lage in der UdSSR nichts andres, daß er
die Diktatur der Arbeiterklasse unangetastet lasse, die Freiheit politischer
Parteien nicht zulasse und die jetzige führende Stellung der Partei der
Kommunisten in der UdSSR bewahrt...
Ich muß zugeben, daß der Entwurf der neuen Verfassung tatsächlich das Regime
der Diktatur der Arbeiterklasse aufrecht erhält, genau so wie er die jetzige
führende Stellung der Kommunistischen Partei der UdSSR unverändert läßt. Wenn
die verehrten Kritiker dies für einen Mangel des Entwurfes halten, so kann man
dies nur bedauern. Wir Bolschewiki aber halten dies für ein Verdienst des
Entwurfes der Verfassung...
Man spricht von Demokratie, was versteht man aber unter Demokratie? Die
Demokratie in den kapitalistischen Ländern, wo es antagonistische Klassen gibt,
ist schließlich und endlich eine Demokratie für die Starken, eine Demokratie
für die begüterte Minderheit. Die Demokratie in der UdSSR ist dagegen eine
Demokratie für die Werktätigen, das heißt eine Demokratie für alle. Daraus
folgt aber, daß die Grundlagen des Demokratismus nicht durch den Entwurf der
neuen Verfassung der UdSSR verletzt werden, sondern durch die bürgerlichen
Verfassungen. Deshalb glaube ich, daß die Verfassung der UdSSR die einzige bis
zum Ende demokratische Verfassung auf der Welt ist."
Diejenigen, die von der neuen Sowjetverfassung eine Angleichung an die
bürgerliche Demokratie erwartet haben, sind mit Recht enttäuscht. Die in der
Sowjetunion verwirklichte Demokratie ist eine andere Art Demokratie, als die in
den Verfassungen kapitalistischer Staaten niedergeschriebene. Und das ist gut
so. Das kann gar nicht anders sein. Der Weg der siegreichen proletarischen
Revolution führt nicht zurück zu Gewesenem, er kann nur zur Demokratie eines
neuen, höheren, vollkommeneren Typs führen. Die in der neuen Sowjetverfassung
verbriefte Demokratie steht turmhoch über den demokratischen Verfassungen der
kapitalistischen Länder. Nicht die Demokratie in der Sowjetunion muß revidiert
werden, sondern die Demokraten in den kapitalistischen Ländern müssen ihre
Vorstellungen von einer wirklichen Demokratie ändern.
In der Sowjetunion herrscht nicht die volksfremde Diktatur einer Minderheit.
Die Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben immer breitere Massen für die
Sowjetmacht gewonnen, so daß heute zweifellos die überwältigende Mehrheit des
Volkes hinter ihr steht.
Die Arbeiter und Kollektivbauern, die zusammen mit ihren Angehörigen ungefähr
90% der gesamten Bevölkerung ausmachen, sind in einer der beiden bestehenden
Formen mit dem gesellschaftlichen Eigentum verbunden, ihr Tun und ihr Denken
entwickelt sich auf der ökonomischen Grundlage, die untrennbar mit dem
Sowjetregime verbunden ist. Diese überwiegende Mehrheit des Volkes betrachtet
das herrschende Regime als das von ihr getragene, das in ihrem Auftrage für die
Vollendung des sozialistischen Aufbaus, für die Vermehrung der allen
zugänglichen Güter, für die ständige Hebung des Wohlstandes wirkt. Weil das so
ist, kann die Diktatur der Arbeiterklasse dem ganzen Volke die weitest gehenden
demokratischen Rechte gewähren. Darum kann die neue Verfassung allen Bürgern
das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht geben. Darum auch ist
die Sowjetunion die einzige Macht, die die Armee an dem politischen Aufbau
teilnehmen lassen, den Angehörigen der Armee das Recht zu wählen und gewählt zu
werden, gewähren kann. Darum ist die Sowjetunion das einzige Land, das die
werktätigen Massen bewaffnen, den Arbeitern in den Fabriken Gewehre zur
Verteidigung des Landes jederzeit in die Hand geben kann. Diese Diktatur der
Arbeiterklasse, die zielbewußt den Kampf um die klassenlose Gesellschaft führt,
steht auf einer breiten, unantastbaren Massenbasis, auf einer festen
demokratischen Grundlage. Die demokratische Verfassung hebt die Diktatur der
Arbeiterklasse nicht auf, — aber noch weniger wird durch den Fortbestand der
bisherigen Sowjetmacht die in der Verfassung verankerte Demokratie
beeinträchtigt.
Das beides ist miteinander vereinbar: Die Demokratie und die Diktatur der
Arbeiterklasse, die sich in einer sozialistischen Gesellschaft ohne ausbeutende
Klassen auf die überwiegende Mehrheit des Volkes stützt. Es ist die höchste
demokratische Leistung, allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu garantieren
und die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach ihren Fähigkeiten zu
gewährleisten. „Dem Volke" — schrieb „Arbeederbladet", das Blatt der
norwegischen Arbeiterpartei, zu der neuen Verfassung der UdSSR — „ist das Recht
auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Güter - des Landes
gesichert. Und das ist die Grundlage einer wirklichen Demokratie."
Stalin hat die Weltrevolution verraten! Das ist einer der
entscheidenden Vorwürfe, die Trotzki und die Trotzkisten gegen Stalin erheben.
Mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig wäre, versuchen sie bei allen
außenpolitischen Handlungen der Sowjetunion zu beweisen, daß Stalin die
internationale revolutionäre Idee preisgegeben habe. Sie behaupten, daß die
Theorie des Sozialismus in einem Lande zur Unterordnung aller internationalen
Interessen, zur Unterordnung des proletarischen Freiheitskampfes in allen
Ländern unter die eine Aufgabe geführt habe: den wirtschaftlichen Aufbau im
nationalen Rahmen zu lösen. Sie behaupten, Stalin erwürge um seines „nationalen
Sozialismus" willen die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern, er
mache damit die Weltrevolution unmöglich. Dieser Verrat der Weltrevolution — so
dekretiert Trotzki in den letzten Jahren mit gesteigerter Verbissenheit — führe
zwangsläufig zum Zusammenbruch der Sowjetunion, die nur erhalten bleiben könne,
wenn die proletarische Revolution in den anderen Ländern siege. Stalin müsse
stürzen, wenn die Sowjetunion leben solle. Ausgehend von dieser These führt
Trotzki seinen Kampf gegen Stalin mit allen Mitteln. Der ehemalige rote
Volkskommissar wird in der Zeit, wo der Faschismus zum Sturme gegen den ersten
Arbeiterstaat bläst, zum Kronzeugen und Helfer aller Feinde der Sowjetunion.
Ist der Vorwurf, der Ausgangspunkt zu Trotzkis heftigen Ausfällen gegen Stalin
ist, berechtigt? Hat Stalin die Weltrevolution verraten? Basiert die
Außenpolitik der Sowjetunion auf der Preisgabe der internationalen
revolutionären Idee?
Vor der Beantwortung dieser Fragen gilt es zunächst einmal die falsche
Vorstellung von der Weltrevolution zu zerstören, die von den deutschen Faschisten
als internationaler Bürgerschreck planmäßig propagiert wird. Die Marxisten
haben nie daran gedacht, die Weltrevolution durch den Einmarsch einer
bewaffneten Macht in ein anderes Land zu machen. Die Marxisten haben nie
geglaubt, daß proletarische Revolutionen durch aus dem Ausland importierte
Terrorgruppen und durch Anzünden von Parlamentsgebäuden in Schwung gebracht
werden können. Eine solch verschrobene „Weltrevolution" hat Lenin ebenso
wie Stalin immer abgelehnt.
Lenin hat aber auch im Gegensatz zu Trotzki den sozialistischen Aufbau in der
Sowjetunion nicht als einen Verrat an der Weltrevolution betrachtet. Im
Gegenteil: Ein wichtiger Bestandteil der leninschen Theorie über die
Weltrevolution war die Erkenntnis, daß der Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion
der revolutionären Entwicklung in den anderen Ländern den stärksten Antrieb
geben werde. Lenin verlangte, alle Kräfte aufzubieten, um die Sowjetunion von
der kapitalistischen Umwelt unabhängig zu machen, um dem ersten Arbeiterstaat
die militärische Macht zum Schutze gegen alle Interventionsversuche zu
schaffen. Und Lenin betonte, daß dieses Ziel nur durch den erfolgreichen
sozialistischen Aufbau und die Gewinnung der Bauernmassen für die aktive
Teilnahme an diesem Aufbau erreicht werden könne. Mit dem Aufbau des
Sozialismus leistet die Sowjetunion — sagt Lenin — „das Maximum dessen, was in
einem Lande zur Entwicklung, Unterstützung, Anfachung der Revolution in allen
Ländern ausführbar ist". Das betrachtet der auch von Trotzki als der beste
Weltrevolutionär gerühmte erste Führer der russischen Revolution als einen
wichtigen Bestandteil der proletarischen Weltrevolution, als „die einzig
internationalistische" Taktik. Den Arbeitermassen in allen Ländern muß
klar gemacht werden, „daß hier in Rußland das Schicksal der gesamten
Weltrevolution entschieden wird". Der Sieg des Sozialismus in der
Sowjetunion ist nicht Selbstzweck. „Sobald das Proletariat dieses Landes
gesiegt, die Kapitalisten enteignet und bei sich die sozialistische Produktion
organisiert hat", sagt Lenin, „würde es die unterdrückten Klassen der
anderen Länder zu sich heraufziehen" und deren Kampf in der jeweiligen
Situation mit den geeignet erscheinenden Mitteln unterstützen. Sozialistischer
Aufbau in der Sowjetunion und Weltrevolution sind eine Einheit. Das eine hebt
das andere nicht auf, beides gehört untrennbar zusammen. Diese These Lenins ist
auch die These Stalins. Stalin hat nie daran gedacht, - wegen des
sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion - die Idee der Weltrevolution
preiszugeben. Er hat stets betont, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande
den Zweck habe, den Sieg der proletarischen Revolution in den anderen Ländern
zu beschleunigen. Aus den Reden und Schriften Stalins klingt immer wieder seine
positive Einstellung zur internationalen revolutionären Idee heraus: der Sieg
des Sozialismus in der UdSSR ist nicht ein Sieg der russischen Arbeiter,
sondern ein Sieg des internationalen Proletariats. Der sozialistische Aufbau in
dem Lande der siegreichen proletarischen Revolution dient nicht nur den eigenen
Arbeitern und Bauern, sondern den Werktätigen in allen Ländern. Stalin ist der
Meinung, daß die Bolschewistische Partei außer den Verpflichtungen den
Arbeitern und Bauern der UdSSR gegenüber noch ernstere und wichtigere Verpflichtungen
habe. Das sind die Verpflichtungen gegenüber dem Weltproletariat, die zwar
identisch sind mit den Verpflichtungen gegenüber den einheimischen Arbeitern
und Bauern, „doch stellen wir sie höher". Gewiß soll der Kampf um den
sozialistischen Aufbau In der Sowjetunion den sowjetischen Arbeitern und Bauern
ein besseres Leben garantieren, aber dieser Kampf hat nichts mit nationaler
Engherzigkeit zu tun, sondern er wird letzten Endes geführt, um den Sieg des
Weltproletariats zu ermöglichen. Den überzeugenden Beweis zu erbringen, daß das
sozialistische Wirtschaftssystem dem kapitalistischen überlegen ist, die
Arbeitermassen in allen Ländern anzuregen, den gleichen für sie günstigen
gesellschaftlichen Zustand wie in der Sowjetunion zu erkämpfen, das ist der internationalistische
Gedanke der bolschewistischen Politik.
Stalin hat die Revolution in Rußland und den sozialistischen Aufbau nie „als
eine sich selbst genügende Größe" betrachtet, sondern als Stütze, als
Hilfsmittel zur Beschleunigung des proletarischen Sieges in den anderen
Ländern. In einer im Juni 1925 an der Swerdlow-Universität gehaltenen Rede hat
Stalin die Zusammenhänge zwischen Interventionsgefahr, sozialistischem Aufbau
und Weltrevolution behandelt. Er sagte dort (siehe „Probleme des Leninismus",
Seite 309):
„Es handelt sich also nicht: um eine unmittelbare Intervention, sondern um die
Tatsache, daß die Gefahr der Intervention im allgemeinen fortbesteht, solange
es eine kapitalistische Umgebung gibt. Solange aber die Gefahr der Intervention
besteht, sind wir gezwungen, im Interesse unserer Verteidigung eine Armee und
Flotte zu unterhalten, die jährlich hunderte Millionen Rubel verschlingen. Was
aber bedeutet eine jährliche Ausgabe von hunderten von Millionen Rubel für die
Armee und die Flotte? Das bedeutet eine entsprechende Reduzierung der Ausgaben
für wirtschaftliche und kulturelle Zwecke. Es ist überflüssig, darauf
hinzuweisen, daß wir, wenn keine Interventionsgefahr bestände, diese Summe oder
wenigstens den größten Teil davon für die Stärkung der Industrie, für die
Verbesserung der Landwirtschaft, für Einführung zum Beispiel der
obligatorischen Elementarschulbildung usw. verwenden könnten. Das sind die
Schwierigkeiten auf dem Gebiete der Aufbauarbeit, die mit der
Interventionsgefahr zusammenhängen.
Das charakteristische Merkmal dieser Schwierigkeit, das sie von allen anderen
Schwierigkeiten unterscheidet, besteht darin, daß ihre Überwindung nicht von
uns allein abhängt, daß sie nur durch die gemeinsamen Anstrengungen in allen
anderen Ländern beseitigt werden kann."
Das ist klar, logisch und überzeugend. Die Rüstungen, die durch die ständige
Interventionsgefahr erzwungen werden, vermindern die Mittel für den
sozialistischen Aufbau. Das Tempo dieses Aufbaus wäre noch stürmischer, wenn
nicht Riesensummen für die Verteidigung des Landes bereitgestellt werden
müßten. Die Freisetzung aller Mittel für die Vollendung des sozialistischen
Aufbaus Ist nur möglich, wenn nach dem Siege der proletarischen Revolution in
anderen Ländern die Interventionsgefahr endgültig beseitigt ist. Darum ist die
Förderung der revolutionären Entwicklung in den ändern Ländern eine Pflicht,
die unmittelbar mit der Pflicht des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion
zusammenhängt.
In allen Äußerungen Stalins kehrt der Gedanke wieder, daß alles, was in der
Sowjetunion aufgebaut wird, dem Kampfe der Proletarier aller Länder um den
endgültigen Sieg des Sozialismus diene. Auf dem VII. Plenum des
Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Dezember 1926) sagte
Stalin:
„Lenin unterschied in seinen Werken streng den Sieg des Sozialismus in einem
Lande vom Siege ,im Weltmaßstabe'. Lenin will sagen, daß die Erfolge des
Sozialismus in unserem Lande, der Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem
Lande, eine solche ungeheure internationale Bedeutung hat, daß er (der Sieg)
sich nicht auf unser Land beschränken kann, sondern eine machtvolle Bewegung
zum Sozialismus in allen kapitalistischen Ländern hervorrufen muß, wobei er,
wenn er zeitlich nicht mit dem Siege der proletarischen Revolution in anderen
Ländern zusammenfällt, auf jeden Fall eine machtvolle Bewegung der Proletarier
anderer Länder zum Siege der Weltrevolution einleiten muß." So mahnt
Stalin die russischen Arbeiter, „der Sache des proletarischen
Internationalismus, der Sache des brüderlichen Bundes der Proletarier"
treu zu sein. Stalin hat immer wieder betont, daß die Diktatur des
Proletariats, daß der Sieg des Sozialismus in einem Lande das Band mit den
Proletariern der anderen Länder befestigen müsse. In „Über die Aufgaben der
Wirtschaftler" erklärt Stalin (1927):
„Die Arbeiterklasse der Sowjetunion ist ein Teil der Arbeiterklasse der Welt.
Wir haben nicht nur dank den Anstrengungen der Arbeiterklasse der Sowjetunion,
sondern auch dank der Unterstützung der internationalen Arbeiterklasse gesiegt.
Ohne diese Unterstützung hätte man uns längst erledigt...
Wir müssen uns in einem Tempo vorwärtsbewegen, daß die Arbeiterklasse der
ganzen Welt, die auf uns blickt, sagen kann: Hier ist er, mein Vortrupp, hier
ist sie, meine Stoßbrigade, hier ist sie, meine Arbeitermacht, hier ist es,
mein Vaterland, — sie machen ihre Sache, unsere Sache gut, unterstützen wir sie
gegen die Kapitalisten und entfachen wir die Weltrevolution."
Diese Gedanken hat Stalin besonders eindringlich auch am Schlüsse seiner Rede
auf dem XVII. Parteitag (1934) ausgesprochen. Dort sagte er über das Verhältnis
zwischen Weltarbeiterklasse und Sowjetunion (siehe Broschüre über diese Rede,
Seite 100 usf.):
„Die Arbeiterklasse der Sowjetunion ist ein Teil des Weltproletariats, sein
Vortrupp, unsere Republik ein Kind des Weltproletariats. Es kann nicht daran
gezweifelt werden: wenn sie nicht die Unterstützung der Arbeiterklasse der
kapitalistischen Länder gehabt hätte, dann hätte sie nicht die Macht in ihren
Händen behalten, dann hätte sie nicht die Bedingungen für den sozialistischen
Aufbau geschaffen und folglich auch nicht die Erfolge erzielt, die sie jetzt
besitzt. Die internationalen Verbindungen der Arbeiterklasse der Sowjetunion
mit den Arbeitern der kapitalistischen Länder, das brüderliche Bündnis der
Arbeiter der Sowjetunion mit den Arbeitern aller Länder — sind die Eckpfeiler
der Macht und Stärke der Sowjetrepublik. Die Arbeiter im Westen sagen, daß die
Arbeiterklasse der Sowjetunion die Stoßbrigade des Weltproletariats ist ... Das
bedeutet, daß wir den Ehrennamen einer Stoßbrigade der Proletarier aller Länder
durch unsere Arbeit rechtfertigen müssen. Das verpflichtet uns dazu, besser zu
arbeiten und zu kämpfen für den endgültigen Sieg des Sozialismus in unserem Lande,
für den Sieg des Sozialismus in allen Ländern!" So klingt es aus allen
Reden Stalins bis in die Gegenwart.
Aber da ist noch
das Interview, das Stalin am 1. März 1936 dem Präsidenten der Scripps Howard
Newspaper Press, Roy Howard, gewährt hat. Dort ist die Rede von dem
tragikomischen Mißverständnis. Diese Äußerung ist durch die gesamte Weltpresse
gegangen. Die Trotzkisten bezeichneten dieses Interview als den letzten
schlüssigen Beweis dafür, daß Stalin endgültig die Weltrevolution preisgegeben
habe und ein engstirniger „Nationalsozialist" sei. Der Wert dieser
Behauptung ist am besten anhand des genauen Wortlautes dieses Interviews
nachzuprüfen:
„Howard: Sind Sie nicht der Ansicht, daß auch in den kapitalistischen Ländern die
begründete Befürchtung bestehen kann, die Sowjetunion könnte sich entschließen,
ihre politischen Theorien anderen Völkern mit Gewalt aufzuzwingen?
Stalin: Für derartige Befürchtungen liegen gar keine Gründe vor. Wenn Sie
denken, daß die Sowjetmenschen selbst und dazu noch mit Gewalt das Gesicht der
sie umgebenden Staaten ändern wollen, so irren Sie sich ganz gewaltig. Die
Sowjetmenschen möchten natürlich, daß das Gesicht der sie umgebenden Staaten
sich ändere, doch ist dies die Sache der sie umgebenden Staaten selbst. Ich
sehe nicht, welche Gefahr die die Sowjetunion umgebenden Staaten in den Ideen
der Sowjetmenschen sehen können, wenn diese Staaten tatsächlich fest im Sattel
sitzen.
Howard: Bedeutet diese Ihre Erklärung, daß die Sowjetunion ihre Pläne und
Absichten, die Weltrevolution durchzuführen, in irgend einem Maße aufgegeben
hat?
Stalin: Solche Pläne und Absichten hatten wir niemals.
Howard: Mir scheint, Mister Stalin, daß sich in der ganzen Welt lange Zeit
hindurch ein anderer Eindruck herangebildet hat.
Stalin: Das ist das Ergebnis eines Mißverständnisses.
Howard: Eines tragischen Mißverständnisses?
Stalin: Nein, ein komisches. Oder wohl ein tragikomisches. Sehen Sie, wir
Marxisten sind der Ansicht, daß die Revolution auch in den anderen Ländern kommen
wird. Aber sie wird erst dann kommen, wenn dies die Revolutionäre dieser Länder
für möglich oder notwendig finden werden, Export der Revolution — das ist
Unsinn. Jedes Land wird, wenn es will, selbst eine Revolution machen, und wenn
es nicht will, so wird es keine Revolution geben. Unser Land z.B. wollte die
Revolution machen und hat sie gemacht, und jetzt bauen wir die neue,
klassenlose Gesellschaft. Zu behaupten aber. daß wir die Revolution in anderen
Ländern machen wollen, indem wir uns in ihr Leben einmischen, das bedeutet,
etwas zu behaupten, was nicht der Fall ist und was wir niemals propagiert
haben."
Bedeuten diese Äußerungen eine Preisgabe der Idee der proletarischen Revolution
in den anderen Ländern?
Stalin bestreitet — mit vollem Recht — daß die Sowjetunion jemals Pläne und
Absichten gehabt habe, ihre politischen Theorien den anderen Völkern mit Gewalt
aufzuzwingen und die Weltrevolution durch Krieg oder andere Gewaltanwendung zu
machen. Wer sich die Durchführung der Weltrevolution so vorstellt, der hat
dieses Problem allerdings mißverstanden. Stalin läßt jedoch keinen Zweifel
darüber, daß die Völker der Sowjetunion die Revolution auch in den anderen
Ländern wünschen. Aber sie wird dort nur kommen, wenn die revolutionären Kräfte
dieser Länder in einer dazu reifen Situation ihre revolutionären Ziele aus
eigener Kraft verwirklichen. Die proletarische Revolution in den anderen
Ländern, von deren Sieg — wie Stalin bei jeder Gelegenheit betont — der
endgültige Sieg des Sozialismus abhängt, wird nicht gewaltsam von der
Sowjetunion von außen gemacht, aber sie wird entscheidend gefördert, wenn der
Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion als Idee immer breitere Massen auch in
den anderen Ländern erfaßt. Dadurch werden diese von der Notwendigkeit überzeugt,
ihre Revolution durchzuführen, um in ihrem Lande wie in der Sowjetunion unter
dem Banner des Sozialismus ein Leben ohne Krisen und Arbeitslosigkeit, ohne
Kriegsgefahr, Krieg und chaotische Vernichtung führen zu können. Es ist
zweifellos sehr deutlich, wenn Stalin den amerikanischen Interviewer ironisch
fragt, welche Gefahr die kapitalistischen Staaten in den Ideen der
Sowjetmenschen sehen können, wenn diese Staaten tatsächlich fest im Sattel
sitzen. Weil das jedoch nicht der Fall ist, weil die Grundlagen der
kapitalistischen Gesellschaftsordnung schwankend geworden sind, darum wirken
die sozialistischen Ideen der Sowjetmenschen in der ganzen Welt. Je stärker
sich die praktische Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftssystems über
das kapitalistische erweist, je größere Erfolge es den Menschen bringt, um so
revolutionierendere Wirkung wird die sozialistische Idee auf die Arbeitermassen
der anderen Länder ausüben.
Im übrigen bringt das Howard-Interview durchaus keine Neuigkeiten, keine
„sensationelle Wendung" der sowjetrussischen Außenpolitik. Genau dasselbe
hat Stalin schon viel früher nicht weniger deutlich gesagt. So z.B. in seinem
politischen Referat auf dem XIV. Parteitag im Jahre 1925. Dort wandte er sich
gegen die Urheber von gefälschten Briefen und wies nach, daß die Komintern
keine „Organisation von Verschwörern und Terroristen sei", daß die
Sowjetunion auch nicht durch russische Propagandakolonnen in anderen Ländern
dort für die Revolution zu arbeiten brauche, weil sich ohnedies „die Kunde von
unserem Regime" in der ganzen Welt verbreitet. Aber auch Trotzki hat
früher genau das gleiche gesagt, was die Trotzkisten im Anschluß an das
Howard-Interview Stalin vorwarfen. In seinem auf dem IV. Weltkongreß gehaltenen
Referat über „Die neue ökonomische Politik Sowjetrußlands und die
Weltrevolution" wies er nach, daß durch den Wiederaufbau der Wirtschaft
indirekt auch die revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern gestärkt
werde. Er verweist im Anschluß daran auf eine Rede des damaligen Außenministers
Lord Curzon, die dieser am 9. November 1922 gehalten hat. Trotzki zitiert
daraus u.a. folgende Sätze, zu denen er die in Klammern beigefügten
Randbemerkungen machte:
„Rußland bleibt immer noch außerhalb der Familie der europäischen Völker. Es
steht noch immer unter dem Banner des Kommunismus (es ist also nicht ganz mit
Otto Bauer einverstanden) und führt seine kommunistische Propaganda in allen
Weltteilen fort (Was gar nicht wahr ist)" Diese Behauptung Trotzkis auf
dem IV. Kominternkongreß ist weitgehend identisch mit dem „Beweisstück"
aus Stalins Interview mit Howard. Im Jahre 1922 bestreitet Trotzki, daß Rußland
kommunistische Propaganda in allen Weltteilen treibe. Niemand hat Trotzki
damals vorgeworfen, daß er mit dieser Äußerung die Idee der Weltrevolution
preisgegeben habe. Er selber hat schon 1922 das „tragikomische
Mißverständnis" aufklären und sagen wollen, daß sich Sowjetrußland nicht
in die inneren Angelegenheiten der anderen Länder mische und nicht daran denke,
seine Revolution gewaltsam in die anderen Staaten zu importieren. Als
Volkskommissar hat Trotzki wahrscheinlich noch begriffen, daß prahlerische
Deklamationen führender Sowjetmänner die Weltrevolution auch nicht einen
Schritt vorwärts brächten. Wäre die Sowjetunion ein Ökonomisch rückständiges,
wirtschaftlich schwaches, von der kapitalistischen Umwelt abhängiges Land
geblieben, dann hätte sie eine wirksame Funktion für die Idee der
Weltrevolution nicht entfalten können. Darum war die Entscheidung für den
Aufbau des Sozialismus in dem Lande, in dem die proletarische Revolution
zunächst allein gesiegt hat, kein Verrat an der Weltrevolution, sondern eine
internationale Pflicht. Die starke Industrialisierung des Landes, die gewaltige
Steigerung der industriellen und agrarischen Produktivität hat die UdSSR zu
einem mächtigen, unabhängigen Lande gemacht. Die starke Landesverteidigung der
Sowjetunion und ihre außerordentliche wirtschaftliche Kriegspotenz haben sich
als wirkungsvolle Waffen gegen Interventionsversuche erwiesen. Stände dem
Dritten Reich noch das Rußland von 1924 gegenüber, dann würden die deutschen
Faschistenführer sich nicht auf ihre Hetzreden gegen die UdSSR beschränken.
In welchem Maße die stark und mächtig gewordene Sowjetunion ihre praktische
Solidarität mit der kämpfenden freiheitlichen Bewegung in anderen Ländern zum
Ausdruck bringen kann, beweist ihre Stellungnahme zum spanischen Bürgerkrieg.
Wegen der besonderen internationalen Konstellation in diesem Konfliktfall waren
die objektiven Voraussetzungen für die Unterstützung der spanischen Volksfront
durch die Sowjetunion nicht günstig. Trotzdem ist eine machtvolle ideologische
und auch materielle Hilfe organisiert worden, die zweifellos zur Verbesserung
der bedrohten Position der spanischen Freiheitskämpfer geführt hat. Wie stark sich
die praktische Solidarität der Sowjetunion in Spanien auswirkt, schildert Jean
Delvigne, der Sekretär der belgischen sozialistischen Partei, nach einem Besuch
in Spanien, in einem Artikel des Brüssler „Peuple". In diesem Artikel,
dessen Schluß auch in der „Internationalen Information" der II.
Internationale wiedergegeben ist, heißt es u.a.:
„Wie schade für die Arbeiterklasse der demokratischen Länder, daß in Spanien
das Volk, wenn es denen, die es gerettet haben, seine Dankbarkeit bekunden
will, genötigt ist — Tatsachen sind Tatsachen — nur das Bild Stalins zu
bejubeln."
Die tatkräftige Unterstützung des spanischen Freiheitskampfes gegen Faschisten
und Interventen durch die Sowjetunion ist eine so unbestreitbare Tatsache, daß
der führende belgische Sozialist dies unumwunden zugeben muß. In früheren
Fällen ähnlicher Art hätte die Sowjetunion eine gleichartige Unterstützung
nicht gewähren können; erst der erfolgreiche sozialistische Aufbau hat die
Kraft geschaffen, die eine tätige Unterstützung der spanischen Brüder
ermöglichte. Stalin, der nach den Behauptungen der Trotzkisten ein engstirniger
.„Nationalsozialist" ist, der nur an Rußland und nicht an die Kämpfe der
werktätigen Massen in den anderen Ländern denkt, hat in einem besonderen
Telegramm an die Spanier, das Göbbels in seiner Hetzrede gegen die Sowjetunion
auf dem Nürnberger Parteitag 1937, natürlich entstellt, zitierte, seine innere
Verbundenheit mit ihrem Kampfe bekundet:
„Die Werktätigen der Sowjetunion erfüllen lediglich ihre Pflicht, indem sie den
revolutionären Massen Spaniens nach Kräften helfen. Sie legen sich Rechenschaft
darüber ab, daß die Befreiung Spaniens vom Joche der faschistischen Reaktionäre
keine private Angelegenheit der Spanier ist, sondern gemeinsame Sache der
gesamten fortgeschrittenen und progressiven Menschheit."
Dieses politische Eingreifen Stalins zugunsten der spanischen Freiheitskämpfer
steht im schroffen Gegensatz zu der trotzkistischen Auslegung des
Howard-Interviews. Die Trotzkisten und die mit ihnen gesinnungsverwandten
Kreise bestreiten jedoch auch die Wirksamkeit der von den Sozialisten
anerkannten Solidarität der Sowjetunion mit den spanischen Freiheitskämpfern.
Wo sie die Tatsachen nicht ganz leugnen können, behaupten sie, daß die
proletarischen Massen in der UdSSR die Unterstützung der spanischen
Freiheitskämpfer gegen Stalin und seine Bürokratie erzwingen mußten. Diese
Behauptung steht zwar im Widerspruch zu den sonstigen Behauptungen der
Trotzkisten über die gewaltsame Unterdrückung jeder freien Meinungsregung in der
Sowjetunion, aber schließlich ist auch das nur Beweis dafür, wie fanatisch und
unsachlich die Trotzkisten ihren Kampf gegen die Sowjetunion führen. Die
Wahrheit dagegen ist, daß die Sowjetführung und die werktätigen Massen in der
UdSSR, die gemeinsam den sozialistischen Aufbau in ihrem Lande erkämpften,
gemeinsam die dadurch erreichte Macht einsetzen, um die spanischen
Freiheitskämpfer wirksam zu unterstützen.
Die Trotzkisten geben ein oft absichtlich entstelltes Bild von der Politik
Stalins. Aber auch Reformisten und Linksbürgerliche ziehen falsche Schlüsse aus
der Außenpolitik der Sowjetunion. In diesen Kreisen ist die Meinung weit
verbreitet, daß Stalin „aus den Erfahrungen gelernt" und der „alten
bolschewistischen Taktik" abgeschworen habe. Er lasse die Idee der
sozialen Revolution fallen und er wolle die Sowjetunion zu einem Staat machen,
der im wesentlichen den demokratischen Staaten der kapitalistischen Umwelt
gleichen werde. Um Rußlands ruhiger Aufwärtsentwicklung keine Schwierigkeiten
zu bereiten, um Bundesgenossen zu gewinnen und Rußland aus der Kriegsgefahr
unbeschädigt zu erretten, verzichte Stalin auf die Weltrevolution. Gegner der
sozialen Revolution, die so die Stalinsche Politik deuten, geben dem
„gemäßigteren" Stalin vor dem „radikaleren" Trotzki den Vorzug; sie
knüpfen an ihre Charakterisierung des Politikers Stalin Illusionen, die nicht
in Erfüllung gehen können.
Diese Einschätzung Stalins ist falsch und darum für die weitere günstige
Entwicklung des gemeinsamen Kampfes für die Verhinderung des Krieges sehr
gefährlich. Stalins Politik ist nicht weniger revolutionär als die Lenins in
der ersten Periode der russischen Revolution. Sein Ziel ist, in der Sowjetunion
die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen und seine Politik dient dem Zweck,
die Idee der sozialen, proletarischen Revolution in den anderen Ländern zu
stärken und mit tauglichen, erfolgreichen Mitteln den endgültigen Sieg des
Sozialismus in der Welt zu fördern. Stalins Politik ist revolutionär, weil sie
zielbewußt in der jeweiligen Situation die für diese geeigneten Mittel
anwendet, um Schritt für Schritt, aber sicher vorwärts zu kommen zum
sozialistischen Endziel; die wortradikalen Proklamationen der sogenannten 4.
Internationale Trotzkis dagegen nutzen niemandem als der internationalen
Konterrevolution.
Wer — die stalinsche Politik mißverstehend — sich illusionäre Vorstellungen
über die Abkehr Moskaus von einer konsequenten revolutionären Politik macht,
wird immer wieder enttäuscht werden. Glaubt er ernsthaft an eine Wendung Stalins
zum Reformismus, an die Preisgabe der Weltrevolution, dann wird er stets von
neuem seinen Anhängern erzählen müssen, daß das, was er fälschlich für eine
„gemäßigtere", seiner Meinung nach „vernünftigere" Politik hielt, nur
ein „Manöver" war. Man kann die Politik Stalins nicht nach Belieben
deuten. Man muß sie sehen, wie sie wirklich ist. Die Folge illusionärer
Vorstellungen sind nur neue Enttäuschungen, neue Rückschläge, neue Störungen
der Entwicklung zum einheitlichen Kampf der internationalen Arbeiterklasse.
Durch den erfolgreichen sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion ist die
Weltrevolution nicht liquidiert worden, sondern in eine neue
erfolgversprechende Phase eingetreten. In der Zeit, wo Sowjetrußland noch ein
rückständiges, armes Land war, das mit unzähligen Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte und den Mangel seiner Völker nicht beheben konnte, standen die
Arbeitermassen in der ganzen Weit der Sowjetmacht sehr skeptisch gegenüber. In
dieser Zeit gelang es, sozialistische Massen in den anderen Ländern zu
überzeugen, daß der in Rußland beschrittene Weg falsch sei, daß sie sicherer
und schneller zum Sozialismus kommen, wenn sie den reformistischen Weg des
friedlichen Hineinwachsens in den Sozialismus gehen. Der Aufbau hat die
Sowjetunion zu einem fortgeschrittenen, immer reicher werdenden Land
umgestaltet. Weil dieser große, allgemein sichtbare und unbestreitbare Erfolg
zusammenfällt mit einer weitgehenden Erschütterung des Glaubens an den
reformistischen Weg, ist im Jahre 1937 die Stellung der sozialistischen
Arbeitermassen in der Welt zur Sowjetunion eine andere als vor einem Jahrzehnt.
Das Beispiel der Sowjetunion wirkt bis in die fernsten Winkel der Welt; die
nunmehr praktisch bewiesene Überlegenheit des sozialistischen
Wirtschaftssystems über das kapitalistische zeigt den vom Kapitalismus
unterdrückten und versklavten Menschen den Weg in die Freiheit.
Dieses Ergebnis hat Stalin vorgeschwebt, als im Jahre 1924 auf dem XIV.
Parteitag der Bolschewistischen Partei der Aufbau des Sozialismus in der
Sowjetunion zur Tagesaufgabe der Partei proklamiert wurde. Durchaus im Sinne
der stalinschen Gedanken über die Weltrevolution wurde auf dem VII. Weltkongreß
der Kommunistischen Internationale (Ende 1935) die internationale Aufgabe der
von den ausbeutenden Klassen befreiten Sowjetunion eindeutig klargestellt. Am
Schlusse des im Auftrage des Exekutivkomitees gehaltenen Referates über „die
Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion" sagte
Manuilski:
„Noch mehr ist die Bedeutung der Sowjetunion als die Hochburg der
proletarischen Weltrevolution gestiegen, die in jeder Weise die Positionen der
internationalen Arbeiterklassen in ihrem Kampf gegen das Kapital gestärkt hat.
...Unsere Stärke und unsere Errungenschaften gehören nicht nur den Völkern der
Sowjetunion, nicht nur der kommunistischen Vorhut, sondern auch der
Arbeiterklasse aller Länder, sowohl den Arbeitern, die der Amsterdamer
Gewerkschaftsinternationale angeschlossen sind, als auch den Arbeitern, die den
Parteien der II. Internationale folgen, sowohl den Arbeitern, die keiner
Organisation angehören, als auch den Arbeitern, die gewaltsam in die
faschistischen Organisationen gezwängt sind.
... Unter der Führung Stalins diente und dient unsere Partei restlos der Sache
des proletarischen Internationalismus, als sie sich die Aufgabe stellte, den
Sozialismus in ihrem Lande in den Verhältnissen einer feindlichen
kapitalistischen Umwelt aufzubauen. Heute ist dieser Sieg eine Tatsache. Heute
vollendet unsere Partei unter der Führung Stalins den Bau der sozialistischen
Gesellschaft, hat sie die Sowjetunion zur mächtigen Basis der proletarischen
Weltrevolution gemacht, sie hat die Anziehungskraft des Sozialismus unter den
Werktätigen der kapitalistischen Länder nicht nur erhalten, sondern in
gewaltigem Maße gesteigert. Unter der Führung des Leninschen Zentralkomitees
mit Genossen Stalin an der Spitze diente und dient unsere Partei bis zuletzt
der Sache des proletarischen Internationalismus, indem sie die Wehrkraft des
Landes der Sowjets stärkte und weiter stärkt...
... Und unsere Partei, unser Volk, unser Land, von Lenin und Stalin erzogen,
sind dieser Sache des proletarischen Internationalismus unveränderlich treu und
werden ihr treu sein — welchen Prüfungen die Geschichte uns auch immer
unterziehen mag. Jeder von uns wird der Sache des proletarischen
Internationalismus bis zur letzten Kraftanstrengung, bis zum letzten Atemzuge,
bis zum letzten Blutstropfen treu sein.“
Der Sieg des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion ist eine
unbestreitbare Tatsache. Die diesem Siege innerhalb des Landes
entgegenstehenden Hindernisse wurden aus eigener Kraft beseitigt — ohne die
Weltrevolution. Aber der endgültige Sieg des Sozialismus ist erst garantiert,
wenn das sozialistische Sowjetland durch keine Intervention kapitalistischer
Staaten mehr bedroht wird. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die
proletarische Revolution mindestens in den entscheidenden Ländern der Welt
gesiegt hat. Die Stellung der Bolschewistischen Partei zu dieser Frage ist
besonders deutlich in der Resolution des XIV. Parteitags (1925) ausgedrückt,
die den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion einleitete. Dort heißt es:
„Das Vorhandensein zweier diametral entgegengesetzter sozialer Systeme ruft die
beständige Gefahr der kapitalistischen Blockade und sonstiger Formen des
ökonomischen Druckes, der bewaffneten Intervention und der Restauration hervor.
Die einzige Garantie für den endgültigen Sieg des Sozialismus, das heißt eine
Garantie gegen die Restauration, ist folglich die sozialistische Revolution in
einer Reihe von Ländern."
Trotzki hat wiederholt gegen die Resolution des XIV. Parteitages polemisiert.
Zur Frage der Intervention schrieb er in „Die Internationale Revolution und die
Kommunistische Internationale" (1929 in deutscher Ausgabe erschienen) auf
Seite 65/66:
„Wenn Stalin und Bucharin beweisen wollen, daß die UdSSR auch ohne die
,staatliche Hilfe des ausländischen Proletariats', das heißt also, ohne dessen
Siege über die Bourgeoisie, auskommen kann, denn die gegnerische Sympathie der
Arbeitermassen schützt uns vor der Intervention, so ist das genau dieselbe
Blindheit, wie überhaupt die gesamten Folgerungen ihres Grundfehlers. Gewiß ist
es unbestreitbar, daß die Sympathie der Arbeitermassen die Sowjetrepublik vor
einer Intervention gerettet hat, nachdem die Sozialdemokratie den
Nachkriegsaufstand des europäischen Proletariats gegen die Bourgeoisie
abgewürgt hatte. Die europäische Bourgeoisie war in diesen Jahren außerstande,
gegen den Arbeiterstaat einen großen Krieg zu beginnen. Doch nun zu glauben,
daß ein solches Kräfteverhältnis durch viele Jahre hindurch anhalten könne, zum
Beispiel bis zu dem Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, das würde die größte Kurzsichtigkeit
bedeuten. Genau so, als wenn man eine Kurve nach einem ganz kleinen Teil
derselben bestimmen wollte. Eine solch labile Lage, wo das Proletariat die
Macht noch nicht in die Hand nehmen kann und die Bourgeoisie sich nicht mehr
als starker Herr im Hause fühlt, muß sich früher oder später jäh entscheiden,
entweder nach der einen oder anderen Seite." Die Bourgeoisie, deren erster
Interventionsversuch im Bürgerkrieg gescheitert ist, war in den nächsten Jahren
außerstande, gegen den Arbeiterstaat einen großen Krieg zu beginnen. Trotzki
meint, daß inzwischen die kapitalistische Front durch die Stabilisierung der
Verhältnisse in den kapitalistischen Ländern wesentlich erstarkt sei. Die
gefestigte kapitalistische Front werde den sozialistischen Aufbau in der UdSSR
nicht dulden und durch einen Interventionskrieg zerschlagen. Stalin sah auch
das Verebben der proletarischen Revolution in den anderen Ländern und die damit
verbundene Stabilisierung der kapitalistischen Mächte. Aber er sah deutlicher
noch die Stabilisierung auf der anderen Seite. In einem im Mai 1925 vor den
Moskauer Funktionären gehaltenen Referat über „Die Ergebnisse der XIV.
Reichskonferenz der KPR" sagte er (siehe „Probleme des Leninismus",
Seite 204):
„Die Ebbe ist aber nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite der Sache
ist, daß wir neben dem Abebben der Revolution in Europa ein stürmisches
Wachstum der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Macht der
Sowjetunion haben. Wir haben mit anderen Worten nicht nur eine Stabilisierung
des Kapitalismus, wir haben zugleich eine Stabilisierung der Sowjetordnung. Wir
haben also zwei Stabilisierungen: eine vorübergehende Stabilisierung des
Kapitalismus und die Stabilisierung der Sowjetordnung. Ein gewisses
Gleichgewicht zwischen diesen zwei Stabilisierungen — das ist der Charakterzug
der gegenwärtigen internationalen Lage...
Wer von den beiden wird den anderen besiegen? — Das ist der springende
Punkt!"
Stalin setzt dann weiter den Wert, die Bedeutung und die Unterschiede der
beiden Stabilisierungen auseinander. Danach kommt er zu folgendem Schluß:
„Das sind die Tatsachen und Erwägungen, die dafür sprechen, daß die
Stabilisierung des Kapitalismus nicht dauerhaft sein kann, daß diese
Stabilisierung die Schaffung von Verhältnissen bedeutet, die zur Niederlage des
Kapitalismus führen, daß die Stabilisierung der Sowjetordnung hingegen eine
fortwährende Anhäufung der Bedingungen bedeutet, die zur Erstarkung der
Diktatur des Proletariats, zur Steigerung der revolutionären Bewegung aller
Länder und zum Sieg des Sozialismus führen."
Das schnellere Erstarken der Sowjetunion durch den sozialistischen Aufbau, die
zuverlässigere Festigung der Sowjetmacht gegen die immer von Zersetzung
bedrohte kapitalistische Herrschaft betrachtete Stalin als einen realen Vorsprung.
Er erwartete jedoch die Verhinderung der Intervention nicht nur von der
revolutionären Entwicklung in den anderen Ländern. Der Sieg des sozialistischen
Aufbaus, das Erstarken der Sowjetunion und die revolutionierende Wirkung der
sozialistischen Erfolge auf die Werktätigen in der kapitalistischen Welt sind
ihm wichtige Hilfsmittel gegen Angriffe von außen. Die Rote Armee, die
mächtigste der Welt, die qualifizierte Kader, modernste Kampfwaffen und die
stärkste Luftflotte hat, ist ein beträchtlicher Garant gegen die Intervention.
Lenin hatte „die äußerste Anstrengung aller Kräfte zum raschesten
wirtschaftlichen Aufschwung des Landes, zur Erhöhung seiner Wehrkraft, zur
Schaffung einer mächtigen sozialistischen Armee" verlangt. Die wichtigste
Voraussetzung für eine solche mächtige sozialistische Armee aber ist die große
wirtschaftliche Potenz des Landes, die nur durch den sozialistischen Aufbau
geschaffen werden konnte. Eine weitere Voraussetzung für die erfolgreiche
Abwehr kriegerischer Angriffe ist die Einheit zwischen Armee und Volk, die
durch die ideologische Mobilisierung der Massen für die Verteidigung des
sozialistischer Vaterlandes in der Sowjetunion in unvergleichlich größerem Maße
gelungen ist als in Jedem anderen Lande.
Seit 1917 haben sich die Verhältnisse in der Sowjetunion grundlegend geändert.
Dadurch erfuhr die Stellung des Sowjetlands innerhalb der übrigen Welt eine
ganz ungewöhnliche Stärkung. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch die Form
der Interventionsgefahr gewandelt. Am Anfang stand die offene Stellungnahme der
kapitalistischen Mächte gegen das proletarische Land, dann kam die Periode der
indirekten Störungsversuche bei Nichtanerkennung des neuen Staates. Erst später
fanden sich die kapitalistischen Mächte mit den neugeschaffenen
Machtverhältnissen in dem Riesenreich im Osten ab. Allmählich anerkannten sie
auch offiziell die Sowjetmacht. Und heute haben — unter dem Druck der
aggressiven imperialistischen Politik des faschistischen Deutschland einerseits
und infolge des Erstarkens der Sowjetunion andererseits — bereits einige der
bürgerlichen Staaten Bündnisse mit der Sowjetunion abgeschlossen. Zu Beginn des
sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion war das damals noch demokratische
Deutschland die erste europäische Großmacht, die — beengt durch die Folgen der
Kriegsniederlage — ein gutes Verhältnis zu der UdSSR suchte. In dieser Periode
drohte die Gefahr der Intervention nicht von Deutschland. Erst mit dem Siege
Hitlers begann die Umwälzung in Europa, die das von den Faschisten unterjochte
Deutschland zu dem angriffslüsternsten Gegner der Sowjetunion machte. Der Sieg
des Faschismus in Deutschland hat nicht nur die Kriegsgefahr In der ganzen Welt
unendlich vergrößert, er hat im Besonderen auch die Gefahr des
Interventionskrieges gegen das sozialistische Sowjetland gesteigert. Der von
Hitler erstrebte faschistische Staatenblock, dessen Aufgaben durch das „gegen
den Kommunismus" gerichtete Angriffsbündnis mit Japan und Italien
eindeutig klargestellt wurden, soll zweifellos der Intervention zur
Restaurierung der früher in Rußland herrschenden Gewalten dienen. Jedoch hinter
der Propaganda für den Weltanschauungskrieg sind die imperialistischen
Tendenzen des deutschen Faschismus deutlich erkennbar: Große Teile der
Sowjetunion für Deutschland zu erobern; alle von Deutschen bewohnten Gebiete
„Großdeutschland" einzuverleiben und das Dritte Reich so stark zu machen,
daß es seine weitgehenden materiellen Ansprüche in Südost- und Westeuropa,
ebenso seine kolonialen Wünsche hemmungslos verwirklichen und die unbestrittene
Vormachtstellung in Europa errichten kann. Diese imperialistischen Tendenzen
aber, die im Widerspruch stehen zu den Interessen anderer kapitalistischer
Mächte, hindern Hitler, die Isolierung der Sowjetunion zu erreichen und einen geschlossenen
Block aller kapitalistischen Staaten für den Interventionskrieg gegen die
„bolschewistische Weltgefahr" zusammenzubringen.
Dem Interventionskrieg gegenüber ist die Stellung der Sowjetunion im Jahre 1937
unvergleichlich stärker als früher. Erstens ist unter den neuen Verhältnissen
der geschlossene Block aller kapitalistischen Staaten gegen die Sowjetunion
zweifelhafter geworden; zweitens sind heute viel größere Massen der
internationalen Arbeiterklasse (ohne Unterschied der Parteirichtung) zur Unterstützung
der Sowjetunion gegen Interventionen bereit; und drittens ist die eigene Kraft
der UdSSR so gewachsen, daß sie Angriffe viel erfolgreicher zurückzuschlagen
vermag. Dieses Anwachsen der eigenen Kraft hat zweifellos entscheidend die
Verstärkung der anderen beiden Sicherungen beeinflußt.
Die gesteigerte Wehrfähigkeit der Sowjetunion hat die Angriffslust der
faschistischen Interventionisten gedämpft. Bei einer Betrachtung über die
Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus sagte Stalin im Januar 1933 auf dem
Plenum des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei:
„Wir hätten da nicht alle die modernen Verteidigungsmittel, ohne die die
staatliche Unabhängigkeit des Landes unmöglich ist, ohne die das Land sich in
ein Objekt der militärischen Operationen auswärtiger Feinde verwandeln würde.
Unsere Lage wäre dann mehr oder weniger der gegenwärtigen Lage Chinas gleich,
das keine eigene Schwerindustrie besitzt, keine eigene Kriegsindustrie, und das
jetzt von allen, denen es nur einfällt, gerupft wird.
Mit einem Worte: wir hätten in einem solchen Falle die militärische
Intervention und keine Nichtangriffspakte. Wir hätten Krieg, einen gefährlichen
Krieg auf Tod und Leben, einen blutigen und ungleichen Kampf, denn in diesem
Kriege wurden wir den Feinden, denen alle modernen Angriffswaffen zur Verfügung
stehen, fast waffenlos gegenüberstehen.“ Das ist aber nicht der Fall. Die
Industrialisierung des Landes, der Aufbau einer mächtigen Roten Armee gaben der
Sowjetunion die Möglichkeit zu einer erfolgreichen Verhinderung dieses
Interventionskrieges.
Die großen Opfer, die die Völker der Sowjetunion für den sozialistischen Aufbau
in ihrem Lande gebracht haben, tragen bereits reiche Früchte. Wenn die
friedliche Aufbauarbeit ungestört fortgesetzt werden kann, wird die Ernte für
alle Menschen immer reicher. Nur die Intervention kann die Früchte der
opfervollen Aufbauarbeit vernichten. Dagegen wirkt die ungestörte Fortführung
erfolgreicher sozialistischer Aufbauarbeit in steigendem Maße für die
Revolutionierung der werktätigen Massen in der ganzen Welt.
Die Außenpolitik der Sowjetunion ist sehr eindeutig. Sie ist nicht
engherzig national, sondern im besten Sinne international. Ihre konkrete
Tagesaufgabe sieht sie in der Mobilisierung der proletarischen Massen aller
Länder für die Verhinderung des Interventionskrieges. Der Erfolg dieser Politik
ermöglicht die ungestörte Fortsetzung des sozialistischen Aufbaus in der
Sowjetunion; er dient aber nicht nur dem Volke in der UdSSR, sondern der
Weltarbeiterklasse. Denn der Sieg des Sozialismus in einem Lande fördert die
revolutionäre Entwicklung in den anderen Ländern, er erleichtert den
endgültigen Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt. Trotzki bekämpft fanatisch
die auf die Sicherung des Friedens hinauslaufende Politik der Sowjetunion.
Seine außenpolitischen Vorschläge führen konsequent zur Isolierung der UdSSR
und zum Krieg der isolierten Sowjetunion gegen die ganze Welt. Trotzkis
Agitation gefährdet die Erfolge des sozialistischen Aufbaus und die Existenz
der UdSSR. Sie dient den Feinden der Weltarbeiterklasse.
Mit dem Auftreten des faschistischen Deutschland in der Weltpolitik ist die
internationale Situation grundlegend verändert worden. Die Sowjetunion hat
darum in den letzten Jahren ihre Stellungnahme zum Völkerbund, der früher als
Machtinstrument des Weltimperialismus gegen den ersten Arbeiterstaat galt,
geändert. Die Außenpolitik der Sowjetunion ist deswegen von Trotzki und seinen
Nachbetern als opportunistische, antiinternationalistische, beschränkte
nationale russische Machtpolitik beschimpft worden. Nur ein sturer, starrer
Dogmatismus, der im schroffen Widerspruch zu der revolutionären Realpolitik
Lenins steht, ignoriert den Umschwung in der internationalen Situation, der
durch die aggressive Politik des zum Kriege treibenden faschistischen
Deutschland herbeigeführt wurde, und hält an der alten Kampfstellung gegen den
Völkerbund fest. Vor Hitlers Machtantritt war Deutschland zwar kein
Bundesgenosse der Sowjetunion, aber als das Land, das die härtesten Opfer des
Versailler Vertrages ohnmächtig zu tragen wähnte, stand es der Sowjetunion
näher als der Völkerbund, dem es inzwischen beigetreten war. Das faschistische
Deutschland dagegen, das vom Völkerbund toleriert seine Aufrüstung betreiben
konnte, benutzte die wiedergewonnene „Wehrfreiheit", um den Völkerbund zu
sprengen. Aber nicht um das „Machtinstrument des Weltimperialismus" gegen
die Sowjetunion zu zerschlagen, sondern um auf den Trümmern des Völkerbundes
einen neuen europäischen Staatenbund unter faschistischer Führung zu bilden.
Es war durchaus richtig, daß die Außenpolitik der UdSSR die Gegensätze der
imperialistischen Staaten, die Hitlers Pläne störten, auszunutzen versuchte, um
den Völkerbund als Hindernis gegen die weitgesteckten Pläne des faschistischen
Deutschland zu erhalten. Im geschichtlichen Geschehen ist der Völkerbund
ebensowenig wie irgend eine andere Institution eine absolute Größe, deren
Funktion unbeeindruckt von der Entwicklung immer unverändert die gleiche
bleibt. Das Auftreten des faschistischen Deutschland hat die Rolle des
Völkerbundes verändert; die praktische Anwendung der marxistischen Lehre hat es
den Führern der Sowjetunion zur Pflicht gemacht, der gewandelten Funktion des
Völkerbundes gegenüber eine geänderte Stellung einzunehmen. Stalin hat am 25.
Dezember 1933 in einem Interview mit dem Korrespondenten der „New York
Times", Duranty, den kommenden Stellungswechsel der Sowjetunion gegenüber
dem Völkerbund angekündigt und begründet. Auf die Frage Durantys: „Ist Ihre
Haltung gegenüber dem Völkerbund stets nur ablehnend?" antwortete Stalin
(siehe „Die Sowjetunion und die Sache des Friedens", Seite 24):
„Nein, nicht immer und nicht unter allen Umständen. Sie verstehen vielleicht
nicht ganz unseren Standpunkt. Trotz dem Austritt Deutschlands und Japans aus
dem Völkerbund — oder vielleicht eben deswegen — kann der Völkerbund zu einem
gewissen Hemmschuh werden, um den Ausbruch kriegerischer Handlungen aufzuhalten
oder zu verhindern. Falls dem so ist, falls sich der Völkerbund als ein
gewisses Hügelchen auf dem Wege dazu erweisen sollte, die Sache des Krieges,
wenn auch nur einigermaßen, zu erschweren und die Sache des Friedens in einem
gewissen Grade zu erleichtern, dann sind wir nicht gegen den Völkerbund. Ja,
wenn dies der Verlauf der geschichtlichen Ereignisse sein wird, so ist es nicht
ausgeschlossen, daß wir den Völkerbund trotz seiner kolossalen Mängel
unterstützen werden."
Über den später dann erfolgten Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund und die
Gründe für diesen Schritt sagte der Vorsitzende des Rates der
Volksbeauftragten, Molotow, auf dem VII. Sowjetkongreß im Februar 1935:
„In letzter Zeit steht die Frage der Beziehungen zum Völkerbund vor uns in
neuer Beleuchtung. Bekanntlich wurde der Völkerbund seinerzeit von den Staaten
geschaffen, die dem Arbeiter- und Bauernstaat das Existenzrecht absprachen und
sich dafür an der sowjetfeindlichen, bewaffneten Intervention beteiligten.
Seinerzeit waren die Bestrebungen stark, den Völkerbund in ein gegen die
Sowjetunion gerichtetes Geschütz zu verwandeln. Zu diesem Zwecke sollte er die
Verständigung zwischen den Imperialisten sichern. Dieser Versuch scheiterte
jedoch. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigten die Veränderung im Lager des
Völkerbundes. Die kriegerischsten, aggressivsten Elemente begannen den
Völkerbund zu verlassen. Unter den gegebenen Verhältnissen war er ihnen
hinderlich. Die Mehrheit der Teilnehmer des Völkerbundes ist heute aus den
einen oder anderen Gründen an der Entfesselung eines Krieges nicht interessiert.
Wir mußten aus dieser Situation die konkreten bolschewistischen Schlüsse
ziehen. Daher zeigten wir uns geneigt, den Vorschlag der dreißig Staaten, die
UdSSR möge in den Völkerbund eintreten, anzunehmen. Insofern der Völkerbund
heute bei der Sicherung des Friedens eine gewisse positive Rolle spielen kann,
mußte die Sowjetunion die Zusammenarbeit mit ihm auf diesem Gebiete als
zweckmäßig anerkennen, obwohl uns die Überschätzung der Rolle einer derartigen
Organisation nicht eigen ist. Es ist garnicht davon zu reden, daß
selbstverständlich die Einladung der Sowjetunion zum Beitritt in den Völkerbund
durch dreißig Staaten das internationale Ansehen der Sowjetunion nicht
geschwächt, sondern umgekehrt, gestärkt hat. Wir rechnen diese Tatsache zu
unseren Aktiven." Die Außenpolitik der Sowjetunion unterscheidet zwischen
den aggressiven und weniger aggressiven Staaten, zwischen denen, die aus ihren
nationalen und sonstigen Interessen an der Erhaltung des Friedens interessiert
sind, und denen, die planmäßig auf den Krieg hinarbeiten. Es wäre weder
konsequente internationalistische, noch revolutionäre, sondern Wahnsinnspolitik
gewesen, wenn die Sowjetunion den Versuch der Faschisten, sie in der Welt zu
isolieren, unterstützt und sich nicht bemüht hätte, den Spieß umzudrehen und
die Kriegstreiber nach Möglichkeit zu isolieren.
Die Aktion gegen die Isolierung der Sowjetunion forderte aber nicht nur eine
veränderte Stellungnahme gegenüber dem in seiner Funktion gewandelten
Völkerbund, sondern zwang zur Bündnis-Politik mit den nichtfaschistischen
Staaten, deren Bestand durch die aggressive Kriegspolitik des faschistischen
Blockes gleichfalls bedroht wird. Auch diese Bündnispolitik, deren eindeutiges
Ziel die Verhinderung des Interventionskrieges gegen die Sowjetunion, die
Sicherung des ungestörten Fortganges des sozialistischen Aufbaues in der UdSSR
und damit die reale Stärkung der revolutionären Kräfte in der ganzen Welt ist,
wird vom Trotzkismus als Verrat am proletarischen Internationalismus
gebrandmarkt. Trotzki behauptet, die Bündnisse mit nichtfaschistischen Staaten
dienen nur dem Interesse eines engstirnigen russischen Nationalsozialismus, dem
die proletarischen Klasseninteressen der Arbeiter in den anderen Ländern
untergeordnet werden. Die Bündnispolitik mit kapitalistischen Staaten verlange
von den Arbeitern in diesen Ländern den Burgfrieden mit den herrschenden
kapitalistischen Klassen, die Preisgabe des Klassenkampfes. Sie führe darum zur
Entmachtung der Arbeiterklasse in den Ländern, von deren siegreicher Revolution
das Schicksal der Weltrevolution und damit auch das Schicksal der Sowjetunion
abhänge.
Die Aufgabe der Proletarier der faschistischen Länder im Kriege ist ganz
eindeutig und einfach, sie darf keinesfalls durch die schwierigere
Fragestellung für die Arbeiter in den nichtfaschistischen Ländern kompliziert
werden. Die Arbeiter in Hitlerdeutschland dienen ihrem Klasseninteresse, ihrem
Befreiungskampf und dem Sozialismus, wenn sie alle Kraft für die Verhinderung
des Interventionskrieges einsetzen und — wenn diese ihre Bemühungen nicht zum
Ziele führen und Hitler die Welt in einen wahnsinnigen Krieg stürzt —
zielbewußt und planmäßig für die Niederlage der faschistischen Diktatur
arbeiten. Die Position der Arbeiter in den Ländern, die im Kriegsfalle gegen die
faschistischen Staaten stehen, ist viel komplizierter, sie kann keinesfalls
schematisch nach einer alten Schablone bestimmt werden. Die trotzkistische
Parole, im Kriegsfalle zum Beispiel die Massen in dem mit der Sowjetunion
verbündeten Frankreich zur Revolution gegen die Volksfrontregierung zu führen,
ist eine Empfehlung zum Selbstmord. Es besteht die Gefahr, daß in den
faschistischen Staaten bei Kriegsbeginn der verschärfte totale Terror jede
offene Widerstandsaktion zunächst unmöglich macht. Die unterirdisch arbeitende
Gegenbewegung wird erst dann wirksam in Erscheinung treten und zum Sturze der
faschistischen Diktatur beitragen können, wenn dem Faschismus Siege auf dem
Schlachtfeld versagt bleiben, wenn die ersten Schwierigkeiten offenkundig
werden und die Volksmassen in Gärung geraten. Dagegen ist — objektiv gewertet —
die Entfachung revolutionärer Aktionen in demokratischen Ländern zweifellos
leichter als unter dem Druck des faschistischen Terrors. Könnten die Massen in
demokratischen Ländern den von Trotzki empfohlenen Bürgerkrieg sofort bei
Kriegsausbruch entfachen, würden sie die Stoßkraft der vom Faschismus
überfallenen Staaten ganz empfindlich hemmen. Es bestände dann die Gefahr, daß
in den faschistischen Staaten der Zustand der Depression, der die offensive
revolutionäre Gegenaktion der unterirdischen Bewegung erst ermöglicht, nicht
eintritt. Die erfolgreiche Befolgung der trotzkistischen Parole in den
nichtfaschistischen Ländern würde nicht den proletarischen, sondern den
faschistischen Kräften die Oberhand verschaffen. Sie würde dem Faschismus den
Sieg ermöglichen; sie ist darum konterrevolutionär und muß auf das
Entschiedenste bekämpft werden.
Bis zur Niederwerfung der faschistischen Kriegstreiber müssen die Proletarier
in den mit der Sowjetunion verbündeten Ländern an der Seite der aus anderen
Gründen gegen den faschistischen Imperialismus kämpfenden Kräfte marschieren —
allerdings ohne einen Burgfrieden einzugehen, ohne ihre eigene Politik
aufzugeben. Der gemeinsame Kampf gegen den gemeinsamen faschistischen Feind
hebt vorhandene Gegensätzlichkeiten der zur zeitweiligen Interessengemeinschaft
gezwungenen Kräfte nicht auf. Er zwingt die proletarischen Kräfte zur
besonderen Wachsamkeit, damit der Krieg nach der Niederwerfung des
faschistischen Feindes nicht in einen Krieg gegen die Sowjetunion umschlägt,
sondern in den revolutionären Krieg zur Befreiung auch von den Kräften, die das
Heranwachsen der faschistischen Gefahr erst ermöglicht haben. Das zeitweilige
Zusammengehen der proletarischen und der nationalen Gegner des deutschen
Faschismus ohne Burgfrieden ist gewiß schwierig. Es erfordert eine zielbewußte
revolutionäre Avantgarde, geschulte qualifizierte Kader, die die Massen in den
entscheidenden Situationen in die richtige Kampffront zu führen vermögen. Das
Proletariat muß im Kriege mit allen Gegnern der faschistischen Diktaturen gegen
den gemeinsamen Feind kämpfen. Aber es darf in diesem Kampfe nicht zum
willenlosen Anhängsel seiner zeitweiligen Bundesgenossen werden; es muß seine
Politik vertreten, zur führenden Kraft im Kampfe gegen den Faschismus werden
und dabei die Halbheiten und Schwächen seiner Bundesgenossen aufdecken. Gegen
den gemeinsamen Feind neben den von diesem gleichfalls bedrohten Kräften zu
kämpfen, ohne im Burgfrieden das eigene Wollen zu ersticken und die eigene
Aufgabe zu verraten — „dieser Unterschied ist ziemlich fein, aber höchst
wesentlich, und man darf ihn nicht vergessen". Auf die Notwendigkeit,
diese „feine Unterscheidung" zu machen, hat Lenin verwiesen, als es während
der Regierung Kerenskis galt, den konterrevolutionären Putsch Kornilows
niederzuschlagen. Die Aufgaben des internationalen Proletariats sind nach dem
Auftreten eines aggressiven faschistischen Blocks in der Weltpolitik viel
komplizierter und viel schwieriger zu lösen als die Aufgaben des russischen
Proletariats zur Zeit des kornilowschen Putsches, aber die Konsequenzen, die
sich aus dem Handeln der Bolschewiki bei der Niederwerfung Kornilows ergaben,
sind trotzdem lehrreich für die Stellungnahme, die das internationale
Proletariat im Kampfe gegen die vordringliche akute Gefahr des Weltfaschismus
beziehen muß. Hätten damals die Bolschewiki erklärt, daß sie der kornilowsche
Vorstoß gegen Kerenski nichts anginge, hätten sie unbeschadet um die veränderte
Situation sofort den Hauptstoß gegen Kerenski durchgeführt, so wäre zwar
Kerenski gestürzt worden, aber Sieger wären nicht die Bolschewiki, sondern die
Konterrevolutionäre gewesen, die einen furchtbaren Vernichtungskrieg vor allem
gegen die Bolschewiki durchgeführt hätten. Die Konterrevolution damals, die
kriegerischen faschistischen Diktaturen heute, sind der vordringlichste,
gefährlichste Feind. Dieser Feind muß geschlagen werden — vom Proletariat
zusammen mit den nichtproletarischen Kräften, die der faschistische
Imperialismus bedroht. Wenn dabei der von Lenin vorgeschlagene „ziemlich feine,
aber höchst wesentliche" Unterschied beachtet wird, so bedeutet die
Verneinung der trotzkistischen Parole des Bürgerkrieges in den vom Faschismus
überfallenen Staaten keinen Verrat am proletarischen Internationalismus,
sondern reale revolutionäre Politik.
Die unverrückbare revolutionäre Perspektive der sowjetischen Außenpolitik und
der revolutionären proletarischen Kräfte in der Welt — das ist es ja gerade,
was die Haltung der herrschenden Mächte in den demokratischen Staaten den
faschistischen Diktaturen gegenüber kompliziert. Wären diese davon überzeugt,
daß Trotzki mit seinen Behauptungen die wahre politische Zielsetzung der
stalinschen Außenpolitik kennzeichnet, so wäre ihre Haltung sicher weniger
schwankend. Die demokratischen bürgerlichen Schichten stehen dem Treiben der
faschistischen Diktaturen zweifellos mit einer gewissen Abneigung gegenüber.
Aber die herrschenden kapitalistischen Mächte in den demokratischen Staaten
sehen hinter der unmittelbaren Bedrohung ihrer nationalen Interessen durch
Hitler und Mussolini über den Tag hinaus die mittelbare Bedrohung ihrer
Klasseninteressen nach dem Siege eines antifaschistischen Blockes.
Die Sowjetunion ist im Kampfe gegen die kriegstreiberische imperialistische
Politik des Faschismus eine zuverlässige Größe. Sie ist der tragende, feste,
unerschütterliche Eckpfeiler in der Kampffront gegen Krieg und Faschismus. Je
größere Fortschritte der sozialistische Aufbau in der Sowjetunion macht, je
stärker und mächtiger die UdSSR wird, je erfolgreicher ihre Außenpolitik den
Isolierungsbestrebungen des faschistischen Deutschland entgegenwirkt. um so
größere Kräfte kann die Arbeiterbewegung in den anderen Ländern im Kampf gegen
Faschismus und Krieg entwickeln, um so erfolgreicher kann der Einfluß der
Arbeiterbewegung für das Einschwenken ihres Landes in die antifaschistische
Kampffront geltend gemacht werden. Andererseits wird der sozialistische Aufbau
in der Sowjetunion, wird die Machtposition des ersten Arbeiterstaates in der
Welt und seine für den Frieden und den Sozialismus wirkende Außenpolitik
unterstützt, wenn die Arbeiterbewegung aller Länder — ohne Unterschied der
Parteirichtung — mit ihrer tätigen Sympathie hinter der Sowjetunion steht. Das
Erstarken der Arbeiterbewegung in allen Ländern, die Steigerung des Einflusses
auf die Volksmassen und den Staat — das ist es, woran die Sowjetunion in ihrem
Kampf um den endgültigen Sieg des Sozialismus ebenso interessiert ist, wie an
der engen Bundesgenossenschaft mit der gesamten internationalen
Arbeiterbewegung. Die Parole der Einheits- und Volksfront, die vom VII.
Kominternkongreß mit viel Nachdruck verkündet wurde, dient darum nicht
irgendwelchen taktischen Manövern, sondern der in der heranreifenden Phase der
Entscheidung bitter notwendigen unerschütterlichen gemeinsamen Kampffront gegen
den gemeinsamen Feind.
Sozialdemokraten und Kommunisten — im nationalen Rahmen irgendeines Landes oder
in der Ebene des internationalen Kampfes gesehen — werden vom Faschismus ohne
Unterscheidung bekämpft, verfolgt, gemartert, gemordet; nach dem Wunsche von
Hitler und Mussolini sollen beide Flügel der Arbeiterbewegung vernichtet,
sollen die sozialistischen Ideen, gleichviel wer sie vertritt, ausgerottet
werden.
Der Weg, den Hitler zur Erreichung dieses Zieles gehen will, ist der
Weltanschauungskrieg gegen die zu isolierende Sowjetunion. Die innige
Verbindung der internationalen Arbeiterbewegung mit der Sowjetunion, das
richtige kameradschaftliche Verhältnis der sozialistischen Arbeitermassen in
allen Ländern zur UdSSR kann Hitlers Absichten verhindern und einen starken,
kampfbereiten und kampffähigen Block gegenüber den faschistischen
Kriegstreibern schaffen. Steht dem faschistischen Deutschland ein übermächtiger
Friedensblock gegenüber, wird dadurch der imperialistische Interventionskrieg
für Hitler zu einem sicheren Verlustspiel, dann wird der Menschheit nicht nur
der furchtbarste aller Kriege erspart, sondern dann kann der sozialistische
Aufbau in der Sowjetunion, der dem sozialistischen Vormarsch in der ganzen Welt
verstärkten Anstoß gibt, ungestört vollendet werden.
Der Sinn des Kampfes der Sowjetunion um die Verhinderung des Krieges ist also
unschwer zu erkennen. Die Außenpolitik der UdSSR, die der Welt Frieden erhalten
will, ist nicht — wie die sektiererischen Gegner Stalins behaupten — von
Schwäche diktiert. Die Sowjetunion ist dank den Erfolgen des sozialistischen
Aufbaus militärisch stark und mächtig; die Quantität und die Qualität der ihr
zur Verfügung stehenden Menschen und Materialien macht sie allen ihren Gegnern
militärisch nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Wahrlich nicht aus
Schwäche sind die führenden Männer der UdSSR gegen den Krieg, sondern weil sie
wissen, daß die friedliche, ungestörte Vollendung des sozialistischen Aufbaus
in ihrem Lande den siegreichen Vormarsch des Sozialismus in der ganzen Welt
erleichtert.
Trotzki und die Trotzkisten bekämpfen die Außenpolitik der Sowjetunion und
deren zielbewußten Kampf um die Verhinderung des Krieges mit besonderer
Heftigkeit. Sie sabotieren die bitter notwendige Einheitsfront der
internationalen Arbeiterbewegung mit der Sowjetunion gegen die faschistischen
Kriegstreiber. Die fanatische Hetzpolitik der Trotzkisten gegen die Sowjetunion
erschwert die Mobilisierung der proletarischen Massen in den anderen Ländern
für die Organisierung einer starken Friedensfront. Der Trotzkismus wirkt
überall, wo er praktisch in Erscheinung zu treten vermag, wie Sprengpulver
gegen die gemeinsame Kampffront des Proletariats, er stört die revolutionäre
Entwicklung in den ändern Ländern, den internationalen Vormarsch zur Revolution
und damit zum endgültigen Sieg des Sozialismus.
Die Außenpolitik, die Trotzki von der Sowjetunion verlangt, würde die UdSSR in
der ganzen Welt isolieren und sie in einen aussichtslosen Krieg gegen alle
hineinhetzen. Wenn Trotzki an der Stelle Stalins stände und wenn er als
Mitlenker der Geschicke des Sowjetlandes in den letzten Jahren die Politik
praktisch hätte durchführen können, die er von Stalin verlangt, wäre die
Sowjetunion schon längst vernichtet. Das aber haben die Massen in der UdSSR
sehr gut begriffen, und nicht zuletzt darum hat Trotzki jede politische
Wirkungsmöglichkeit in der Sowjetunion verloren. Diese Tatsache wiederum
bestimmt die Strategie Trotzkis in seinem weiteren Kampfe gegen die
Bolschewistische Partei und die Sowjetunion. So wie fatalistische Gegner des
Hitlersystems nicht daran glauben, daß sie den Sturz der faschistischen
Diktatur mit den eigenen Kräften erzwingen können und die Überwindung des
faschistischen Regimes nur noch von Hitlers Niederlage im Kriege erwarten, so
sieht auch Trotzki als einzige, verzweifelte Chance für die Eroberung der Macht
in Rußland durch den Trotzkismus die Kriegsniederlage der UdSSR. In Trotzkis strategischem
Plan steht darum der Krieg gegen die Sowjetunion als ein notwendiges Faktum.
Schon im Juni 1932 schrieb Trotzki in einem Artikel in den „Europäischen
Heften":
„Der Krieg ist nicht nur nicht ausgeschlossen, er ist fast unabwendbar."
Später hat er auch das „fast" noch fallen lassen und immer deutlicher eine
Politik propagiert, deren Konsequenz der Krieg sein muß. Trotzki macht gar kein
Hehl daraus, daß er im Kriege den Bürgerkrieg gegen die Sowjetmacht entfachen
will. Er ist in der Tat so verblendet, daß er hofft, der Krieg, der den
sozialistischen Aufbau unterbinden, Mangel und Not und unabsehbare Leiden über
das Volk bringen müsse, werde die Massen gegen das herrschende Regime
aufbringen. Diese Situation will der Trotzkismus dann ausnützen, um die
„stalinsche Diktatur" zu stürzen. Um seine Konterrevolution theoretisch zu
„rechtfertigen", behauptet Trotzki, daß die Volkskräfte durch Stalin und
die „stalinsche Bürokratie" gefesselt seien und erst durch eine „neue
Revolution“ für einen erfolgreichen „Revolutionskrieg" gegen die
faschistischen und kapitalistischen Mächte entfesselt werden müssen. Die
„Rechtfertigung" Trotzkis für sein schädliches Tun ist illusionär und
unreal — sie ist vollkommen falsch. Muß die Sowjetunion sich gegen einen
Interventionskrieg verteidigen, so werden unter dem jetzigen Regime ohne
Zweifel alle menschlichen und materiellen Kräfte des Landes restlos für die
Niederwerfung der Angreifer mobilisiert werden. Jegliche Aktion gegen die in
einen Krieg verwickelte Sowjetmacht würde gegen die Sowjetunion, gegen die
Interessen der internationalen Arbeiterbewegung wirken.
Die Hoffnung auf die Niederlage der UdSSR im Kriege, der Wille, diese
Niederlage für den Bürgerkrieg auszunützen, ist Hochverrat. Die Sowjetmacht
würde ihre Pflicht auch dem internationalen Proletariat gegenüber versäumen,
wenn sie nicht mit aller Energie und Rücksichtslosigkeit die Durchführung des
trotzkistischen Hochverrats, der kein anderes Ergebnis als den Sieg des
Faschismus haben könnte, unmöglich machen würde.
Der Kampf der Sowjetunion um die Verhinderung des imperialistischen
Interventionskrieges ist realistische revolutionäre Außenpolitik. Sie wird um
so revolutionierender auf die Volksmassen in allen Ländern wirken, je stärker
und unerschütterlicher die Machtposition der Sowjetunion, je enger in diesem
Kampfe die Gemeinschaft der Sowjetunion mit der Weltarbeiterklasse ist.
Nach dem
Auftreten der kriegstreiberischen faschistischen Diktaturen in der Weltpolitik
ist die vollkommene Übereinstimmung der proletarischen Interessen in allen
Ländern mit denen der Sowjetunion unbestreitbar. Diese Identität muß zu einer
festgeschlossenen gemeinsamen Kampffront führen, deren Ergebnis die Vernichtung
des Faschismus und der Sieg der Weltarbeiterklasse ist.
Das internationale proletarische Klasseninteresse verlangt die Überwindung der
Kräfte und Stimmungen, die die bitter notwendige gemeinsame Kampffront hindern
oder unterbinden wollen. Der Trotzkismus, der sich selbst zum Vorkämpfer des
unverfälschten proletarischen Internationalismus ernannt hat, stört mit seinem
fanatischen Kampf gegen die herrschende Sowjetmacht die Entwicklung der
gemeinsamen Kampffront. Seine Stimmungsmache gegen die angeblich nationale
russische Machtpolitik Stalins erschwert manchem sozialistischen Arbeiter
außerhalb Rußlands das richtige kameradschaftliche Verhältnis zur Sowjetunion.
Die Unterscheidung zwischen Stalin und der Sowjetunion ist Demagogie im
schlechtesten Sinne; wer so wie der Trotzkismus Stalin und die herrschende
Sowjetmacht bekämpft, wirkt damit auch zugleich gegen die UdSSR.
Einige sozialistische Führer, die sich zwar die trotzkistische Unterscheidung
zwischen Stalin und der Sowjetunion nicht zu eigen machen, verneinen ganz
allgemein die Interessen-Identität zwischen UdSSR und Weltarbeiterklasse. Im
„Neuen Vorwärts" (6. Dezember 1936) hat Dr. Richard Kern, einer der
hervorragendsten ehemaligen Führer der deutschen Sozialdemokratie, in einem
grundsätzlichen Artikel über „Die Politik der Sowjetunion"
auseinanderzusetzen versucht, daß die UdSSR nur russische Machtpolitik
betreibe:
„Immer mehr diente die kommunistische Ideologie der russischen Machtpolitik,
nicht die russische Macht der kommunistischen Idee. Vor die Wahl zwischen
Machtinteresse und Idee gestellt, entschied das Machtinteresse." Das ist
ungefähr dasselbe, was auch Trotzki sagt. Dr. Kern begründet seine Behauptung
damit, daß in der Vergangenheit überall dort, wo in anderen Staaten (z.B. in
Ungarn und den Balkanstaaten) die Arbeiterbewegung blutig unterdrückt wurde,
die Sowjetregierung die Intervention, in der Konsequenz also den
Interventionskrieg, gegen diese Staaten unterlassen habe. „Das Verbot das
Interesse der Selbsterhaltung und so überließ die Sowjetregierung die Armen
ihrer Pein..." Ein solcher Interventionskrieg hätte die Sowjetunion
isoliert in einen Krieg gegen die ganze Welt gestürzt, dessen Ende die
Vernichtung der Sowjetunion sein konnte. Damit wäre der einzige Arbeiterstaat,
der für die kommunistische Ideologie zu wirken vermochte, vernichtet worden Als
nach dem Siege der 1848er Februarrevolution in Frankreich der Dichter Georg
Herwegh aus revolutionären Flüchtlingen in Paris eine Legion aufstellen wollte,
die als revolutionäre Interventionstruppe nach Deutschland und Österreich
marschieren sollte, um dort die „revolutionäre Ideologie" mit Waffengewalt
lebendig zu machen, war es niemand anders als Karl Marx, der diesen Plan
leidenschaftlich bekämpfte. Gerade Dr. Richard Kern, der in Deutschland immer
vor dem Einsatz der Minister-Machtpositionen warnte, weil er davon ihre
Vernichtung befürchtete, müßte mehr Verständnis dafür haben, daß man Macht
nicht aufs Spiel setzt, ehe nicht einige Gewißheit besteht, daß man sie nicht
verspielt. Dr. Kern übersieht scheinbar außerdem vollkommen die Wechselwirkung,
die zwischen Macht und Idee besteht. Je schwächer die Machtposition der
Sowjetunion im Verhältnis zur kapitalistischen Umwelt ist, um so weniger kann
sie — um mit Dr. Kern zu reden — für die „kommunistische Ideologie"
eingesetzt werden, aber je stärker sie ist, um so erfolgreicher kann sie für
die Interessen der Proletarier aller Länder wirken. Die Veränderung der
Machtverhältnisse der Sowjetunion zu der kapitalistischen Umwelt hat auch die
Einsatzfähigkeit der sowjetischen Macht verändert. Der lebendigste Beweis dafür
ist die zielbewußte Stellungnahme der UdSSR für die spanischen
Freiheitskämpfer. Stärken die Proletarier in den anderen Ländern die Macht der
Sowjetunion, so dienen sie damit nicht dem Machtinteresse irgendeines Staates,
sondern ihrem unmittelbaren ureigensten Interesse.
Dr. Kern sieht jedoch nicht nur in der Vergangenheit die Unterordnung der
kommunistischen Ideologie unter die russische Machtpolitik. Er schreibt an
anderer Stelle seines Artikels:
„Als Instrument der Außenpolitik mußten die kommunistischen Parteien sich
selbst umstülpen, als Verteidiger der Demokratie, als von jetzt an wirklich
aufrichtige Vorkämpfer der Einheitsfront und Volksfront antreten. Es waren
Gründe der Machtpolitik, der Selbstbehauptung, nicht Gründe der sozialistischen
Ideologie oder kommunistischer Selbsterkenntnis, die diesen völligen Umsturz
der russischen Politik bewirkten."
Dr. Richard Kern ist ein geschulter Marxist. Als solcher muß er wissen, daß
Politik nicht nach ätherischen, im luftleeren Raum schwebenden Prinzipien
gemacht werden kann. Die Ideologie einer Bewegung muß im festen Erdreich des
wirklichen Lebens verwurzelt sein, wenn sie Massen in Bewegung setzen soll.
Theorie und Praxis müssen in lebendiger Wechselwirkung miteinander stehen.
Widerspricht es den marxistischen Grundprinzipien und der sozialistischen
Ideologie, wenn die Dritte Internationale angesichts der Vorbereitungen des
faschistischen Interventionskrieges gegen die Sowjetunion und auch gegen die
anderen Festungen der internationalen Arbeiterbewegung von ihren Anhängern
verlangt, daß sie die Demokratie gegen den faschistischen Ansturm verteidigen,
daß sie sich zu „wirklich aufrichtigen Vorkämpfern der Einheitsfront und
Volksfront" entwickeln? Keinesfalls! Die nach dem Siege des deutschen
Faschismus herangereifte tatsächliche Situation in der Welt verlangt von allen
Teilen der Arbeiterbewegung eine Stellungnahme, die gleicherweise der
sozialistischen Ideologie und den Interessen des ersten Arbeiterstaates
entspricht. Die Situation für den großen Machtkampf ist herangereift, für den
Marx und Engels schon im „Kommunistischen Manifest" die Parole ausgegeben
haben: Proletarier aller Länder vereinigt euch! Der Erfüllung dieser Parole für
den Entscheidungskampf können sich weder die Sowjetunion noch die
verschiedensten Teile der internationalen Arbeiterbewegung entziehen: entweder
sie siegen gemeinsam oder sie werden gemeinsam vernichtet. Es ist in der Tat
so, wie der Präsident der Zweiten Internationale, de Brouckere, Ende 1936
sagte: „Entweder einigen wir uns oder wir gehen unter." Am Schlusse seines
Artikels schreibt Dr. Richard Kern:
„Besagt aber der Nachweis, daß die Politik der Sowjetregierung nicht im Dienste
einer proletarischen sozialistischen oder kommunistischen Ideologie steht,
etwas gegen die Übereinstimmung ihrer Politik mit der der sozialistischen
Parteien? Ist nicht umgekehrt die Ableitung der Friedenspolitik der Sowjetunion
aus ihren machtpolitischen Interessen das stärkste Argument für die
Aufrichtigkeit dieser Politik und ist damit nicht eine Solidarität, ja
Identität dieser Politik mit der der sozialistischen Parteien gegeben? Darauf
ist zunächst zu antworten, daß die auswärtige Politik der sozialistischen
Parteien gegenüber jeder staatlichen Machtpolitik ihre volle Selbständigkeit
bewahren, sie nicht ideologisch als ihre eigene akzeptieren kann, auch wenn sie
streckenweise mit der ihren zusammenfällt. Denn die russische Machtpolitik
entspricht eben anderen Motiven als den Interessen der Arbeiterbewegung und hat
deshalb andere eigene Gesetze." Dr. Richard Kern unterscheidet zwischen
der sozialistischen Ideologie und der sowjetrussischen Machtpolitik, die nichts
miteinander gemein haben sollen. Er unterschiebt der Sowjet-Außenpolitik Motive,
die grundverschieden von denen der sozialistischen Arbeiterbewegung und eines
sozialistischen Staates sind. Er behauptet, daß die Gesetze, denen die
internationale Arbeiterbewegung zu folgen hat, wesentlich andere sind als die,
die das Handeln der Sowjetunion bestimmen. Dr. Kern verneint also die Identität
der Interessen der sozialistischen Arbeiterbewegung mit denen der UdSSR. Er
begründet das vor allem auch damit, daß die auswärtige Politik der
sozialistischen Parteien gegenüber jeder staatlichen Machtpolitik ihre volle
Selbständigkeit bewahren muß. Dieser Grundsatz ist zweifellos richtig gegenüber
den kapitalistischen Staaten, deren Machtpolitik in jedem Falle in schroffem
Widerspruch zu den Klasseninteressen der internationalen Arbeiterbewegung steht.
Aber gerade diejenigen, die jetzt mit so starkem Nachdruck die volle
Selbständigkeit der auswärtigen Politik sozialistischer Parteien gegenüber der
Sowjetunion verlangen, haben in der Vergangenheit nur zu oft die selbständige
Politik gegenüber der Machtpolitik kapitalistischer Staaten vermissen lassen.
Im letzten Weltkrieg war leider von dieser Selbständigkeit wenig zu spüren, und
nicht zuletzt die Identifizierung der Politik sozialistischer Parteien mit der
Machtpolitik ihres kapitalistischen Heimatlandes hat die internationale
Arbeiterbewegung so weit zurückgeworfen, hat die Spaltung verursacht, hat nicht
unwesentlich mit zum Vormarsch des Faschismus beigetragen.
Gegenüber der Machtpolitik kapitalistischer Staaten muß also die
Selbständigkeit der auswärtigen Politik aller sozialistischen Parteien immer
gewahrt werden, wenn die Weltarbeiterklasse keinen Schaden nehmen soll. Aber
der große Irrtum Kerns ist, daß er die sozialistische Sowjetunion den
kapitalistischen Staaten gleichsetzt. Jeder sozialistische Arbeiter muß
begreifen: sein Klasseninteresse diktiert ihm, der Union der Sozialistischen
Sowjetrepubliken gegenüber eine grundlegend andere Stellung einzunehmen als
gegen kapitalistische Staaten. Von seinem individuellen Standort aus mag der
Einzelne noch so viel Mängel an der Sowjetunion sehen, nie darf diese
individuelle Einstellung ihn zu einer Gegnerschaft zur Sowjetunion bringen. Sie
muß ihn vielmehr veranlassen, in seiner Heimat für die revolutionäre
Entwicklung zu wirken, die der UdSSR in schnellerem Tempo die Vollendung des
sozialistischen Aufbaus und die Überwindung der letzten Mängel ermöglicht. Die
Sowjetunion, in der die ausbeutenden Klassen liquidiert und die
Produktionsmittel vergesellschaftet sind, ist ein sozialistischer Staat, dessen
Politik zur Erhaltung und steten weiteren Stärkung seiner Macht nicht den engen
nationalen Interessen der sowjetischen Völker dient, sondern dem Sozialismus,
der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt. Die Macht der Sowjetunion und
die Macht der internationalen Arbeiterbewegung — dienen einem gemeinsamen
Ziele, sie ergänzen einander. Wenn die Sowjetunion und die internationale
Arbeiterbewegung in enger kameradschaftlicher Kampfgemeinschaft
zusammenarbeiten, erhöht die gestärkte Position der einen die Stoßkraft der
anderen. Die selbständige auswärtige Politik einer sozialistischen Partei,
konsequent im Interesse der Arbeiterklasse geführt, wird automatisch identisch
mit der Außenpolitik der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Sie wird
sich von dieser nur dann unterscheiden, wenn sie ihre Selbständigkeit gegenüber
der Machtpolitik kapitalistischer Staaten aufgibt und die Interessen der
Arbeiterklasse in den Hintergrund schiebt. Die Motive und die Gesetze, die die
Außenpolitik der sozialistischen Sowjetunion bestimmen, sind identisch mit den
Motiven und Gesetzen, die die selbständige Außenpolitik der sozialistischen
Parteien bestimmen müssen. Es besteht also auch prinzipiell eine Identität der
Interessen der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung, die nach
dem Auftreten des aggressiven faschistischen Imperialismus — angesichts ihres
zielbewußten Kampfes gegen Krieg und Faschismus — besonders aktuell und
offenkundig in Erscheinung tritt. So eindringlich, daß Dr. Richard Kern
feststellen muß, die Außenpolitik der Sowjetunion falle mit der der
sozialistischen Parteien streckenweise, das heißt in dieser Gegenwart,
zusammen. Diese „streckenweise" Übereinstimmung aber ist eine dauernde.
Entweder endet sie mit dem internationalen Siege des Faschismus — dann gibt es
keine Außenpolitik der Sowjetunion und keine der sozialistischen Parteien mehr.
Oder sie endet mit der Niederwerfung des internationalen Faschismus — dann gibt
es eine gewaltige Entfaltung der sozialistischen Bewegung in der ganzen Welt, den
Sieg der proletarischen Revolution in den entscheidenden Ländern und eine
Gemeinschaft sozialistischer Republiken weit über die Grenzen der heutigen
UdSSR hinaus. Darum müssen in dieser großen geschichtlichen Epoche die
Sozialisten in allen Ländern sich für die gemeinsame Kampffront mit der
Sowjetunion entscheiden. Es ist unbestreitbar so, wie Otto Bauer im
„Kampf" (Nr. 3, 1937, Seite 93) schreibt, „daß die Sowjetunion, wie ihr
Eingreifen in Spanien beweist, das stärkste Bollwerk proletarischer Macht in der
Welt ist und daß das Schicksal des Sozialismus in der Welt von ihrem Schicksal,
ihrer Selbstbehauptung, ihrem Sieg in den drohend nahenden großen
Weltentscheidungen abhängen wird".
Am deutlichsten erscheint die Identität der Interessen zwischen der deutschen
sozialistischen Bewegung und der Sowjetunion. Gelingt es Hitler, in dem von ihm
propagierten weltanschaulichen Interventionskrieg gegen den Bolschewismus die
Sowjetunion zu schlagen, dann ist für absehbare Zeit der Befreiungskampf des
deutschen Proletariats aussichtslos. Behauptet sich dagegen die Sowjetunion
siegreich, kann sie den sozialistischen Aufbau in ihrem Lande erfolgreich
beenden, dann erwachsen daraus Kräfte, die dem deutschen Proletariat die
Niederwerfung der faschistischen Diktatur wesentlich erleichtern. Das deutsche
Proletariat — ohne Unterschied der Parteirichtung — ist unmittelbar daran
interessiert, daß in dem Ringen zwischen der Sowjetunion und dem Faschismus die
UdSSR siegt. Das deutsche Proletariat muß darum alle seine ideologischen und
materiellen Kräfte für den einheitlichen Kampf zur Unterstützung der
Sowjetunion mobilisieren.
Hängt das Schicksal des Sozialismus in der Welt — wie Otto Bauer feststellt —
von dem Schicksal und dem Siege der Sowjetunion ab, dann muß man aus dieser Tatsache
auch Konsequenzen ziehen, dann muß die sozialistische Bewegung in allen Ländern
in ihrem eigenen Interesse eine einheitliche Kampffront mit der Sowjetunion
gegen die gemeinsamen Feinde bilden. Die Schwankungen der demokratischen
Staaten zwischen der faschistischen und der antifaschistischen Front werden
zuverlässig nur dann zugunsten der letzteren, zugunsten der übereinstimmenden
Interessen der Sowjetunion und der sozialistischen Parteien entschieden, wenn
die Macht und der Einfluß der Arbeiterbewegung in diesen Ländern stark genug
ist. Macht und Einfluß der Arbeiterbewegung hängen aber von ihrer Einigkeit und
Geschlossenheit ab. Darum ist die praktische Durchführung einer aktionsfähigen
Einheitsfront und Volksfront, die die letzten Reserven für den Kampf um den
Frieden und die Niederwerfung des Faschismus mobilisiert, eine brennend
aktuelle Aufgabe, deren Erfüllung ebenfalls gleicherweise den Interessen der
internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung und der Sowjetunion dient.
Die Einheits- und Volksfrontpolitik wird von zwei Seiten angegriffen: von den
Sozialdemokraten, die sie noch oft als ein unehrliches Manöver betrachten, und
von den Trotzkisten, die sie im Gegensatz dazu als eine opportunistische
Preisgabe der kommunistischen Grundsätze bezeichnen. Angesichts der Identität
der Interessen der Sowjetunion und der internationalen Arbeiterbewegung ist die
Fragestellung Verrat oder Manöver sinnlos; die Hauptsache ist, daß die
Ehrlichkeit bei der praktischen Durchführung der Einheits- und Volksfrontpolitik
überall so unverkennbar ist, daß die Gegner der gemeinsamen Kampffront
keinerlei wirkungsvolle Argumente dagegen mehr vorzubringen vermögen. Wird aber
durch die erfolgreiche Einheits- und Volksfront erreicht, daß der gesteigerte
Einfluß der Arbeiterbewegung die demokratischen Staaten zum zuverlässigen
Einschwenken in die antifaschistische Front zwingt, dann wird dadurch nicht nur
die Machtposition der Sowjetunion gestärkt, sondern über diese hinaus werden
die Machtpositionen der geeint marschierenden internationalen Arbeiterbewegung
und die realen Aussichten der Weltrevolution erheblich verbessert. Damit werden
auch die trotzkistischen Einwände widerlegt, denen gegenüber immer wieder
betont werden muß, daß wegen der Identität der Interessen der Sowjetunion und
der internationalen Arbeiterbewegung jede Politik, die der Sowjetunion nutzt,
unmittelbar auch der Arbeiterbewegung in den anderen Ländern dient.
Der Sinn der Volksfrontpolitik ist nicht, einer zweifelhaften, unklaren,
breiteren Front wegen die Prinzipien der revolutionären Bewegung preiszugeben.
Gerade die Beispiele der französischen und der spanischen Volksfront beweisen,
daß unter Aufrechterhaltung der eigenen revolutionären Zielsetzung das
Zusammengehen mit anderen Kräften gegen den gemeinsamen, zunächst zu
schlagenden Feind möglich ist. In diesem gemeinsamen Kampf, in dem die
revolutionäre Vorhut ihre Isolierung von den Volksmassen überwindet gewinnt sie
wachsenden Einfluß auf die Massen, die sie in einem längeren Entwicklungsprozeß
immer mehr zu beeindrucken vermag. Die Folge wird sein, daß die Masse in
revolutionären Situationen in einem viel schnelleren Tempo lernen wird, mit der
zielbewußten Vorhut zu marschieren.
Die aktuellste Aufgabe der Außenpolitik der UdSSR ist die Beseitigung der vom
Faschismus drohenden Gefahren, die Überwindung des Faschismus. Schon allein
darum ist die Sowjetunion am Vormarsch der sozialistischen Bewegung, am Siege
des Sozialismus in der ganzen Welt interessiert — aber auch weil davon der
endgültige, der vollständige, nicht mehr zu erschütternde Sieg des Sozialismus
in der Sowjetunion abhängt.
Die Kritiker der Sowjetunion behaupten, in der UdSSR herrsche
nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur der stalinschen
Bürokratie. Die Trotzkisten können nicht bestreiten, daß in der Sowjetunion die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel durchgeführt, also die Voraussetzung
für eine sozialistische Gesellschaft geschaffen ist. Aber sie behaupten, daß
die Entwicklung zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft durch die
Herrschaft der Bürokratie unmöglich gemacht werde. Die Produktionsmittel
gehören zwar dem Staat, aber der Staat gehöre gewissermaßen der Bürokratie,
behauptet Trotzki in „La revolution trahie". Wäre der Aufbau des
Sozialismus in der Sowjetunion gelungen, — so argumentieren die Trotzkisten —
so dürfte es dort keine Bürokratie, keinen Gendarmen mehr geben, so müßte der
staatliche Machtapparat „abgestorben" und eine vollkommen gleiche
Verteilung des Volkseinkommens garantiert sein. Das aber sei keineswegs der
Fall. Vielmehr habe eine immer mächtiger gewordene Bürokratie, die sich auf das
stehende Heer stütze (das sie nicht stärker gemacht habe, um den faschistischen
Interventionskrieg zu verhindern, sondern um ihre Diktatur zu sichern), das
Volk ihrer Herrschaft unterworfen. Die Sowjetunion sei in einer gefährlichen
Zwitterstellung. Sozialistisch sei sie insofern, als sie die Produktionsmittel
vergesellschaftet habe, bürgerlich aber sei sie, weil die vergesellschafteten
Produktionsmittel nicht vom Volk, sondern von der über das Volk herrschenden
Bürokratie verwaltet werden, die die bürgerlichen Grundsätze der verschiedenen
Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens, also die Ungleichheit,
aufrechterhalte. Diese Zwitterstellung müsse bei dem Überhandnehmen der Macht
der Bürokratie zur Konterrevolution führen. Der bürokratische Gewaltapparat übe
eine immer größer werdende Macht aus, er entwickle sich zu einet neuen
privilegierten herrschenden Klasse, die sich alle Errungenschaften der
Revolution dienstbar mache. Wenn die Sowjetunion leben und sich zum Sozialismus
entwickeln solle, müsse die Herrschaft dieser Bürokratie vernichtet werden. Der
Weg zum Sozialismus gehe nur über den Sturz der Bürokratie, der nicht mit
demokratischen Mitteln, sondern nur durch eine „neue Revolution" erreicht
werden könne.
Diese Argumentation soll Trotzkis Kampf gegen die Bolschewistische Partei und
die Sowjetunion einen Schein von Berechtigung geben. Da sie auch in
sozialistischen Kreisen außerhalb der UdSSR Widerhall gefunden hat, ist es
notwendig, klarzustellen, wie es in Wirklichkeit um die in der Sowjetunion
angeblich herrschende „Diktatur der Bürokratie" gestellt ist.
Gibt es in der Sowjetunion eine Bürokratie? Konnte diese Bürokratie sich zu
einer privilegierten Klasse entwickeln, die die Herrschaft über das Volk
ausübt?
Die neue Verfassung der UdSSR spricht eindeutig aus, daß die klassenlose
Gesellschaft noch nicht erreicht ist, daß der Sowjetstaat sich darum auch noch
nicht in eine selbstverwaltende Gesellschaft auflösen konnte, und daß bis zur
Erreichung dieses Zieles die Diktatur der Arbeiterklasse als Herrschaftsform
aufrechterhalten werden müsse. Solange aber die klassenlose Gesellschaft noch
nicht geschaffen ist, solange noch ein Staat existiert, noch Klassen vorhanden
sind, braucht er eine Verwaltung, eine Bürokratie. Solange die klassenlose
Gesellschaft noch nicht existiert, solange werden einzelne Klassen die Herrschaft
im Staate ausüben. Der Verwaltungsapparat des Staates wird aber in keinem Falle
eine selbständig herrschende Klasse, sondern er wird immer nur das Instrument
der herrschenden Klasse sein. Er ist — wie Karl Marx lehrte — im
kapitalistischen Klassen-Staat das Organ der herrschenden kapitalistischen
Klasse. Unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats wird er der
Beauftragte der herrschenden Arbeiterklasse sein. Die Behauptung, daß die
Bürokratie eine selbständige Klasse sei, die zwischen oder über den anderen
Klassen stehe, die als selbständige Kraft im kapitalistischen Staat über die
kapitalistischen Klassen, im proletarischen Staat über die Arbeiter- und
Bauernklasse herrsche, ist vollkommen unmarxistisch. Im Jahre 1933 schrieb
Trotzki in „Die 4. Internationale und die UdSSR" (Seite 13 usf.):
„Eine Klasse wird bestimmt nicht durch den Anteil am Nationaleinkommen allein,
sondern durch eine selbständige Rolle in der allgemeinen Wirtschaftsstruktur,
selbständige Wurzeln im ökonomischen Fundament der Gesellschaft. Jede Klasse
(Feudaladel, Bauern, Kleinbürgertum, kapitalistische Bourgeoisie, Proletariat)
arbeitet ihre Grundformen des Eigentums heraus. All dieser sozialen Züge ist
die Bürokratie bar. Sie nimmt keinen selbständigen Platz im Produktions- und
Verteilungsprozeß ein. Sie hat keine selbständigen Eigentumswurzeln. Ihre
Funktionen betreffen im Grunde die politische Technik der Klassenherrschaft.
Das Vorhandensein einer Bürokratie charakterisiert, bei allen Unterschieden in
Form und spezifischem Gewicht, jedes Klassenregime. Ihre Kraft trägt
widergespiegelten Charakter. Die Bürokratie ist unlöslich verknüpft mit der
wirtschaftlich herrschenden Klasse, nährt sich aus deren sozialen Wurzeln,
steht und fällt mit ihr...
Es wäre zum Beispiel nicht uninteressant, auszurechnen, welchen Anteil am
Volkseinkommen in Italien oder in Deutschland die faschistischen Heuschrecken
verschlingen! Aber diese an sich nicht unwichtige Tatsache reicht ganz und gar
nicht aus zur Verwandlung der faschistischen Bürokratie in eine selbständige
herrschende Klasse. Sie ist ein Kommis der Bourgeoisie... (Kommis = veraltet
Handlungsgehilfe)
Nichtsdestoweniger ändern die Privilegien der Bürokratie für sich allein noch
nichts an den Grundlagen der Sowjetgesellschaft, denn die Bürokratie schöpft
ihre Privilegien nicht aus irgendwelchen besonderen, ihr als „Klasse“
eigentümlichen Besitzverhältnissen, sondern aus den Eigentumsformen, die von
der Oktoberrevolution geschaffen wurden und im Grunde der Diktatur des
Proletariats adäquat sind." Abgesehen von einigen Schiefheiten wird hier
von Trotzki selbst zugegeben, daß in der Sowjetunion eine „Diktatur der
Bürokratie" unmöglich ist. Die Bürokratie kann nie und nirgendwo eine
selbständige Klasse sein. Sie ist darum auch nicht imstande, eine selbständige
Diktatur auszuüben. Das ist der eindeutige marxistische und leninistische
Standpunkt, und wenn Trotzki später gegen die angeblich vorhandene „Diktatur
der Bürokratie" wettert, so ist auch das nur ein Beweis dafür, wie er um
seines persönlichen Machtkampfes willen marxistische Erkenntnisse über Bord
wirft und sich gegen den Marxismus wendet. In der gleichen Schrift, in der
Trotzki auseinandersetzt, daß die Bürokratie keine selbständige Klasse sei und
darum auch nicht die Funktionen einer herrschenden Klasse — die Diktatur —
auszuüben vermag, behauptet er aber auch gleich wieder das ungefähre Gegenteil
(Seite 16/17):
„Aber die Weiterentwicklung des bürokratischen Regimes kann zur Entstehung
einer neuen herrschenden Klasse führen; nicht auf dem organischen Wege des
Entartens, sondern über die Konterrevolution." Was bedeutet das? Es wird
eine neue Klasse entstehen, die die Herrschaft übernimmt und die Diktatur
ausübt. Soll die Bürokratie sich zu der neu entstehenden herrschenden Klasse
entwickeln? Wie wird sie zur herrschenden Klasse werden? Trotzki sagt, nicht
auf dem organischen Wege des Entartens, sondern über die Konterrevolution. Wer
aber soll die Konterrevolution durchführen? Die Bürokratie? Zu welchem Zwecke
wohl? Angeblich Übt sie doch die Diktatur über das Volk bereits aus. Soll sie
die Konterrevolution machen, um ihre eigene Herrschaft zu beseitigen? Das alles
sind sehr komplizierte Rätsel. Jedoch wir wissen, daß die Bürokratie unter der
Diktatur des Proletariats ebensowenig eine selbständige Klasse ist wie unter
dem Kapitalismus. Wie soll sie also, die immer nur Hilfsmittel einer
herrschenden Klasse sein kann, aus eigner Kraft eine Konterrevolution
durchführen, und wie soll sie nach dem Siege ihrer Konterrevolution eine
selbständige Klasse werden? Von Trotzki selbst wissen wir doch, daß die
Bürokratie auch unter dem Faschismus nur der Kommis der Bourgeoisie ist. Das
Gerede, daß die Bürokratie ausgerechnet in der Sowjetunion Konterrevolution
machen oder nach dem Siege ihrer Konterrevolution zur herrschenden Klasse
werden müsse, ist vom marxistischen Standpunkt aus gewertet ein ausgemachter
Unsinn. Aber Trotzki braucht solche verzwickte Konstruktionen, um seinen Kampf
gegen die UdSSR zu rechtfertigen. Das, wogegen Trotzki zu kämpfen vorgibt, existiert
nicht. Sein Kampf gilt der Bolschewistischen Partei, dem ersten Arbeiterstaat,
sein Kampf dient dem Rückschritt, der Konterrevolution.
Ist die Bürokratie — wie Marx lehrt — ein Organ der herrschenden Klassen, ist
sie keine selbständige Kraft, so ergeben sich daraus auch besondere
Konsequenzen. Die Bürokratie ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern sie
hat Aufgaben zu erfüllen, die ihr von ihrem Auftraggeber, der jeweils
herrschenden Klasse, vorgeschrieben werden. Sie dient der herrschenden Klasse,
sie muß für die Erreichung der von der herrschenden Klasse erstrebten Ziele
wirken. Ein Autobesitzer läßt seinen Wagen vom Chauffeur nicht in Fahrt
bringen, nur damit das Auto sich bewege, sondern um ein bestimmtes Ziel zu
erreichen. Genau so wird auch der Bürokratie die Richtung vorgeschrieben. Das
Ziel, dem sie zustreben soll, wird je nach der herrschenden Klasse, in deren
Auftrag sie handelt, verschieden sein. Das Ziel, das die Bürokratie im
kapitalistischen oder faschistischen Staat erreichen soll, ist die
Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft, die fortdauernde Unterdrückung und
störungslose Ausbeutung der arbeitenden Massen; das Ziel, das die Bürokratie in
der Sowjetunion unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats
erreichen soll, ist die Aufhebung der Klassengesellschaft, die Errichtung der
klassenlosen Gesellschaft, die den Staat, die Gendarmen und die Bürokratie
überflüssig macht. Mit den Augen des Marxisten besehen ist also in jedem Falle
die Bürokratie in der Sowjetunion etwas grundlegend anderes als die Bürokratie
im kapitalistischen Staate. Die Existenz der beiden kann nicht als etwas
Gleiches gewertet werden, ihr Handeln muß mit verschiedenen Maßen gemessen
werden. Die Wandlung der Bürokratie der Sowjetunion und die Überwindung ihrer
Schwächen liegt in der Hand der über weitgehende politische und wirtschaftliche
Rechte verfügenden Arbeiter- und Bauernmassen, deren Beauftragte die Herrschaft
In der Sowjetunion ausüben.
Die Allmacht der Bürokratie in der Sowjetunion ist eine Legende, die sich im
Kampfe der sozialistischen Parteien in West- und Mitteleuropa im Zusammenhang
mit der falschen Kritik der Diktatur des Proletariats herausgebildet hat und
die zerstört werden muß, damit die sozialistischen Arbeiter außerhalb der UdSSR
den wirklichen Zustand des ersten Arbeiterstaates deutlicher sehen und durch
nichts mehr gehindert werden, das enge kameradschaftliche Verhältnis zur
Sowjetunion zu finden. Die fortschreitende Demokratisierung von unten, die
Schulung der Massen und ihre aktive Teilnahme an der Gestaltung der Produktion
und des ganzen Lebens wird wesentlich mithelfen, die verwirrende Legende zu
zerstören.
Lenin hat sehr exakt nachgewiesen, daß der Charakter jeder Bürokratie nicht nur
von den herrschenden Klassen im Staate, sondern auch von den gesellschaftlichen
Produktionsverhältnissen abhängt. Die Vollendung einer vollkommenen
sozialistischen Produktionsordnung wird der Bürokratie, wird jedem Apparate die
Grundlage für seine Mängel und Fehler entziehen und dann — nach der Errichtung
der klassenlosen Gesellschaft — die ganze Bürokratie überflüssig machen. Die
Frage ist also, ob die Sowjetunion sich auf dem Wege zur Vollendung einer
vollkommen sozialistischen Produktionsordnung und zur klassenlosen Gesellschaft
befindet. Und da diese Frage nach dem objektiven Studium der Tatbestände in der
UdSSR und nach den Erfahrungen der zwei Jahrzehnte Sowjetherrschaft unbedingt
bejaht werden kann, braucht es zur Überwindung vorhandener Mängel des in der
jetzigen Phase noch notwendigen Verwaltungsapparates keine trotzkistische
„Revolution", sondern vielmehr eine Ausschaltung der trotzkistischen
Störungsversuche, die auch die revolutionäre Entwicklung in anderen Ländern
hindern und damit den endgültigen Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion und
in der ganzen Welt verzögern.
Sehr aufschlußreich ist die historische Erinnerung an eine
Diskussion, die vor anderthalb Jahrzehnten innerhalb der Bolschewistischen
Partei über das Thema Bürokratie geführt wurde. Bei dieser Auseinandersetzung
um die Jahreswende 1920/1921 hat Lenin gemeinsam mit Stalin sehr heftig gegen
Trotzkis Auffassungen über den Aufbau der Gewerkschaften Stellung genommen.
Die Auseinandersetzung ist auch Beweis dafür, wie starke Gegensätze es zwischen
Lenin und Trotzki nach der Oktoberrevolution immer wieder gab.
Kein anderer als derselbe Trotzki, der heute gegen die „Diktatur der
Stalinschen Bürokratie" wettert, war es, der damals vorschlug, die
Gewerkschaften nach militärischen Gesichtspunkten, bürokratisch von oben zu
organisieren und zu kommandieren — ohne den Mitgliedern ein demokratisches
Mitbestimmungsrecht zu gewähren.
Gegen diesen bürokratischen Standpunkt Trotzkis, der im Grunde nichts anderes
war als eine Stellungnahme gegen den Standpunkt der Bolschewistischen Partei,
ist Lenin sehr energisch zu Felde gezogen. In der Rede, die er am 30. Dezember
1920 vor den kommunistischen Delegierten des VIII. Sowjetkongresses und den
gewerkschaftlichen Vertretern über Trotzkis Vorschläge zur Gewerkschaftsfrage
hielt, sagte er u.a. (Lenin, Ausgewählte Werke, Band IX, Seite 3 usf.):
„... Mein Hauptmaterial ist die Broschüre des Genossen Trotzki ,Über die Rolle
und die Aufgaben der Gewerkschaften'. Wenn ich diese Broschüre mit den Thesen,
die er im Zentralkomitee vorgelegt hat, vergleiche und mich in sie vertiefe,
staune ich, welch eine Menge theoretischer Fehler und schreiender
Unrichtigkeiten in ihr zusammengetragen ist. Wie konnte man, wenn man sich zu
einer großen Parteidiskussion über diese Frage anschickte, anstatt etwas
gründlich Durchdachtes vorzulegen, so etwas Mißratenes fertig bringen? ....
Einerseits sind die Gewerkschaften, die die industriellen Arbeiter restlos
erfassen und in die Reihen der Organisation einbeziehen, eine Organisation der
herrschenden, machtausübenden, regierenden Klasse, jener Klasse, die die
Diktatur verwirklicht, jener Klasse, die den staatlichen Zwang ausübt. Aber sie
sind keine staatliche Organisation, keine Organisation des Zwanges, sie sind
eine erzieherische Organisation, eine Organisation zur Heranziehung, zur
Schulung; sie sind eine Schule, eine Schule der Verwaltung, eine Schule der
Wirtschaftsführung, eine Schule des Kommunismus..."
Nach diesen Feststellungen polemisierte Lenin sehr heftig gegen Trotzki, der
seiner Meinung nach das ganze Problem nicht erfaßt habe. Trotzki bezichtigte
andere des ideologischen Wirrwarrs, aber „der ideologische Wirrwarr" —
sagte Lenin (siehe die gleiche Quelle, Seite 6) — „ergibt sich gerade bei
Trotzki, weil er eben in der Grundfrage nach der Rolle der Gewerkschaften unter
dem Gesichtswinkel des Überganges vom Kapitalismus zum Kommunismus außer acht
gelassen, nicht berücksichtigt hat, daß hier ein kompliziertes System mehrerer
Zahnräder vorliegt."
Lenin stellte im weiteren Verlauf seiner Rede die tiefgehenden
Meinungsverschiedenheiten fest, die in der Gewerkschaftsfrage zwischen ihm und
Trotzki bestanden. Verschärft wurden diese Meinungsverschiedenheiten nach der
Meinung Lenins noch dadurch, daß Trotzki Fehler machte, die mit dem Wesen der
Diktatur des Proletariats, also mit einer entscheidenden Grundfrage,
zusammenhingen. Lenin wirft Trotzki vor, daß das, was dieser in der
Gewerkschaftsfrage vorschlug, übelster Bürokratismus sei. Nach einer Polemik
gegen die von Trotzki und Bucharin aufgestellte „falsche Losung der
Produktionsdemokratie" fährt Lenin in seiner Rede fort (Ausgewählte Werke,
Band IX, Seite 20):
„Man muß die Bedeutung dieser Losung besonders in einem derartigen politischen
Moment begreifen, wo der Bürokratismus den Massen in einer für sie
anschaulichen Form gegenübergetreten ist und wo wir die Frage des Bürokratismus
auf die Tagesordnung gesetzt haben...
...Es gibt eine wertvolle militärische Erfahrung: Heroismus, Genauigkeit der
Ausführung usw. Es gibt etwas Übles in der Erfahrung der übelsten Elemente
unter den Militärs: Bürokratismus, Hochnäsigkeit. Die Thesen Trotzkis haben
sich .... als eine Unterstützung nicht des Besten, sondern des Übelsten aus den
militärischen Erfahrungen erwiesen ...." (Seite 24.)
Schließlich verwies Lenin in seiner Rede auf die Thesen von Rudsutak, die nach
seiner Meinung unendlich viel besser waren als die Trotzkis. Sie wurden nur
nicht beachtet, weil Rudsutak „den Mangel hat, daß er nicht laut, imponierend
und schön zu reden versteht" - wie zum Beispiel Trotzki. Lenin verglich
auch im Einzelnen die Thesen Rudsutaks mit denen Trotzkis. Er kam dabei zu dem
Ergebnis, daß im Gegensatz zu Rudsutak Trotzki die Funktionäre und Führer der
Gewerkschaften nicht von den Mitgliedern wählen, sondern diktatorisch und
bürokratisch bestimmen lassen wollte.
„Da habt ihr den echten Bürokratismus" — sagte Lenin (siehe die
vorstellende Quelle, Seite 28) — „Trotzki und Krestinski werden das teilende
Personal der Gewerkschaften aussuchen."
Lenin kam schließlich in dieser Rede zu folgendem Schluß (Seite 29):
„Das Fazit: Die Thesen Trotzkis und Bucharins enthalten eine ganze Reihe
theoretischer Fehler. Eine Reihe prinzipieller Unrichtigkeiten. Politisch ist
die ganze Art, an die Sache heranzugehen, eine ausgesprochene Taktlosigkeit.
Die „Thesen“ des Genossen Trotzki sind eine politisch schädliche Sache. Seine
Politik ist im Endeffekt eine Politik bürokratischen Herumzerrens an den
Gewerkschaften. Und unser Parteitag wird, davon bin ich überzeugt, diese
Politik verurteilen und ablehnen."
In voller Übereinstimmung mit diesen Ausführungen Lenins schrieb Stalin in
einem Artikel „Unsere Meinungsverschiedenheiten" am 19. Januar 1921 in der
„Prawda":
„Unsere Meinungsverschiedenheiten liegen auf dem Gebiete der Methoden der
Festigung der Arbeitsdisziplin in der Arbeiterklasse, der Methoden des
Herangehens an die Arbeitermassen, die in die Wiederaufrichtung der Industrie
einbezogen werden, der Wege der Umwandlung der gegenwärtig schwachen
Gewerkschaften in mächtige, wirkliche Produktionsgewerkschaften, die fähig
sind, unsere Industrie wieder aufzurichten.
Es gibt zwei Methoden: die Methode des Zwanges (militärische Methode) und die
Methode der Überzeugung (gewerkschaftliche Methode). Die erste Methode schließt
keineswegs Elemente der Überzeugung aus, aber die Elemente der Überzeugung sind
hier den Anforderungen der Methode des Zwanges untergeordnet und bilden für sie
ein Hilfsmittel. Die zweite Methode schließt ihrerseits nicht die Elemente des
Zwanges aus, aber die Elemente des Zwanges sind hier den Anforderungen der
Methode der Überzeugung untergeordnet und bilden für sie ein Hilfsmittel. Diese
beiden Methoden zu verwechseln ist ebenso unzulässig, wie es unzulässig ist,
die Armee und die Arbeiterklasse in einen Topf zu werfen.
Eine Gruppe von Parteifunktionären mit Trotzki an der Spitze ist, berauscht
durch die Erfolge der militärischen Methoden in der Sphäre der Armee, der
Meinung, daß es möglich und notwendig sei, diese Methode in die Arbeitersphäre,
in die Gewerkschaften zu verpflanzen...
Die Armee ist keine homogene Größe .... Hieraus erwuchsen solche rein
militärischen Methoden der Einwirkung wie das System der Kommissare und der
politischen Abteilungen, wie die Revolutionstribunale, die Disziplinarstrafen,
das allgemein gültige Prinzip der Ernennung usw. ....
Im Gegensatz zur Armee stellt die Arbeiterklasse eine homogene soziale Sphäre
dar, die kraft ihrer ökonomischen Stellung für den Sozialismus von vornherein
empfänglich ist, leicht auf die kommunistische Agitation eingeht, sich
freiwillig in den Gewerkschaften organisiert und infolge alles dessen die
Grundlage, den Kern des Sowjetstaates bildet. Es ist daher nicht verwunderlich,
daß der praktischen Arbeit unserer Produktionsgewerkschaften vorwiegend die
Anwendung der Methoden der Überzeugung zugrunde liegt. Hieraus erwuchsen jene
rein gewerkschaftlichen Methoden der Einwirkung wie Aufklärung,
Massenpropaganda, Entwicklung der Initiative und der Selbsttätigkeit der
Arbeitermassen, Wählbarkeit usw.
Der Fehler des Genossen Trotzki besteht darin, daß er den Unterschied zwischen
der Armee und der Arbeiterklasse unterschätzt, die militärischen Organisationen
und die Gewerkschaften auf eine Ebene stellt und versucht ... die militärischen
Methoden von der Armee auf die Gewerkschaften, auf die Arbeiterklasse zu
übertragen ....
Man kann es jetzt für erwiesen halten, daß die Methoden des Zektran
(Zentralkomitee der vereinigten Gewerkschaft der Eisenbahner und
Schiffahrtsarbeiter. D.V.), das vom Genossen Trotzki geleitet wird, durch die
Praxis des Zektran selbst verurteilt wurden .... Was hat er (Trotzki) in
Wirklichkeit erreicht? Einen Konflikt mit der Mehrheit der Kommunisten
innerhalb der Gewerkschaften, einen Konflikt der Mehrheit der Gewerkschaften
mit dem Zektran, eine faktische Spaltung des Zektran, eine Erbitterung der
gewerkschaftlich organisierten Arbeiter „unten“ gegen die ,Kommissare' ....
Um ein solches Land (die Sowjetunion. D. V.) zu regieren, ist es notwendig, auf
der Seite der Sowjetmacht das feste Vertrauen der Arbeiterklasse zu haben ....
Um aber das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiter aufrechtzuerhalten und zu
festigen, muß man die Bewußtheit, die Selbsttätigkeit, die Initiative der
Arbeiterklasse systematisch entwickeln ....
Diese Aufgaben mit den Methoden des Zwanges und der „Durchrüttelung" der
Gewerkschaften von oben her zu verwirklichen, ist offensichtlich unmöglich,
denn diese Methoden spalten die Arbeiterklasse (Zektran) und erzeugen Mißtrauen
gegen die Sowjetmacht. Außerdem ist leicht zu verstehen, daß es mit den
Methoden des Zwanges überhaupt undenkbar ist, die Bewußtheit der Massen sowie
das Vertrauen zur Sowjetmacht zu entwickeln.
Es ist klar, daß es nur mit den ,normalen Methoden der proletarischen
Demokratie innerhalb der Gewerkschaften', nur mit den Methoden der Überzeugung
möglich sein wird, die Aufgabe der Zusammenschließung der Arbeiterklasse, der
Hebung ihrer Selbsttätigkeit und der Festigung ihres Vertrauens zur Sowjetmacht
zu erfüllen..." Diese historische Erinnerung ist im Zusammenhang mit den
Diskussionen um die „Diktatur der Bürokratie" und der angeblich mangelnden
demokratischen Mitbestimmung der Massen außerordentlich interessant. Trotzki,
der in seiner feindseligen Stellung gegen die Sowjetunion überall die
Herrschaft der Bürokratie und die Ausschaltung des demokratischen
Mitbestimmungsrechtes der Arbeitermassen zu sehen behauptet, ist damals, als er
noch in verantwortlicher Position war, bei dem Aufbau der Gewerkschaften für
eine Bürokratie eingetreten, die die Arbeiterschaft von oben dirigieren wollte,
Lenin und Stalin haben sich gemeinsam, gestützt auf die überwiegende Mehrheit
der Bolschewistischen Partei, gegen die Einführung dieser kommandierenden
Bürokratie gewandt und die demokratische Mitbestimmung der Massen durchgesetzt,
die in Verbindung mit dem erfolgreichen sozialistischen Aufbau in immer
breiterer Form verwirklicht wurde.
Zu der
unmarxistischen These von der „Diktatur der Bürokratie" ist
zusammenfassend zu sagen: In der UdSSR herrscht nicht die Diktatur der
Bürokratie, sondern die Diktatur des Proletariats. In der Revolution wurde der
Staatsapparat des zaristischen Staates zerbrochen und aus dem Proletariat ist
ein neuer Machtapparat herausgewachsen, der von der Masse des Volkes kontrolliert
und aus ihr immer wieder ergänzt und erneuert wird. Die Sowjetunion ist — wie
im IV. Teil dieses Buches über den sozialistischen Aufbau dargelegt wird — in
ihrem Wesen ein sozialistischer Staat mit einem sozialistischen Fundament, in
dem jedoch — wie Stalin in seiner Rede über die neue Verfassung auf dem VIII.
Sowjetkongreß ausführte — die höchste Phase des Kommunismus noch nicht erreicht
ist, in dem es zwar keine ausgebeuteten Klassen mehr, aber doch noch
verschiedene Klassen und keine klassenlose Gesellschaft gibt. Ist aber der
endgültige Sieg des Sozialismus noch nicht da, bestehen noch verschiedene
Klassen, so ist der von Marx und Lenin vorausgesagte Zustand, in dem der Staat
abstirbt, keinen Verwaltungsapparat, keine Gendarmen und keinen Machtapparat
mehr braucht, noch nicht erreicht. In dieser Periode ist trotz dem
unbestreitbaren Vormarsch zum Sozialismus die Diktatur des Proletariats noch
immer unerläßlich und diese Herrschaftsform braucht wie jede andere ihren
Verwaltungs- und Machtapparat. Aber die Bürokratie in der Sowjetunion ist nicht
ein Fremdkörper im Volke, sie ist aus diesem hervorgegangen und mit ihm
verwachsen, sie wird nach der Annahme der demokratischen Verfassung stärker
noch als vorher vom Volke bestimmt und kontrolliert. Die sozialistischen
Kritiker der sowjetischen Bürokratie, die den angeblichen Mangel an
demokratischem Mitbestimmungsrecht des Volkes beklagen, wissen aus ihrer Praxis
in den demokratisch-kapitalistischen Staaten, daß dort die Mitbestimmung des
Volkes nur alle vier Jahre einmal bei der Neuwahl des Parlaments zum Ausdruck
kommt, daß in der Zwischenzeit der direkte Einfluß des Volkes auf den
Verwaltungs- und Machtapparat des Staates gleich Null ist. Die scharfe Trennung
zwischen Legislative und Exekutive in den demokratisch-kapitalistischen Staaten
macht den Einfluß des Volkes auf die Bürokratie so gut wie unmöglich, während
unter der Herrschaftsform der Diktatur des Proletariats, unter der Legislative
und Exekutive eine Einheit sind. die Einflußnahme des Volkes auf die Bürokratie
eine viel größere ist.
Jede Verwaltung, jede Bürokratie hat ihre Mängel, deren Größe und Bedeutung je
nach dem Charakter der herrschenden Klasse, in deren Auftrage sie wirkt,
verschieden ist. Die führenden Männer der Sowjetmacht haben nie ein Hehl daraus
gemacht, daß auch die zur Verwaltung in der UdSSR notwendige Bürokratie Mängel
hat. Sie haben selbstkritisch diese Mängel aufgezeigt und die Volksmassen zur
positiven Kritik und zur aktiven Mitarbeit an der Beseitigung sichtbar
werdender Schwächen aufgefordert. Jedoch zwischen der Bürokratie eines
kapitalistischen Staates und dem Verwaltungsapparat der Sowjetunion besteht ein
grundlegender Unterschied, der sich aus der völligen Gegensätzlichkeit der die
Bürokratie dirigierenden herrschenden Klassen z.B. in Hitlerdeutschland und in
der Sowjetunion ergibt. Ebenso ist auch ein großer prinzipieller Unterschied
zwischen dem, was Trotzki Bürokratie und Bürokratismus in der Sowjetunion nennt
und dem, was die Bolschewistische Partei unter Mängeln der Bürokratie versteht.
Im schroffsten Gegensatz zu der Auffassung Trotzkis vertritt die
Bolschewistische Partei die Meinung, daß der Staats- und Verwaltungsapparat der
Diktatur des Proletariats keinerlei Diktatur ausüben kann, sondern nur ein
brauchbares Hilfsmittel im Kampf um den sozialistischen Aufbau ist, und dessen
auftretende Mängel die Diktatur des Proletariats und die Partei jederzeit zu
korrigieren vermag. Der Unterschied, der zwischen dem Kampf der
Bolschewistischen Partei zur Überwindung der Mängel der Bürokratie und der
trotzkistischen Hetze gegen die „Diktatur der Bürokratie" besteht, geht
klar aus einer Rede Molotows auf dem VII. Sowjetkongreß (Februar 1935) hervor:
„Unser Staatsapparat, der bei allen Mangeln uns die Möglichkeit der
Verwirklichung des großen Planes des sozialistischen Aufbaus gibt, wird von
unseren Feinden als ein bürokratischer Überbau hingestellt, der mit den
Interessen der Entwicklung des einzelnen Menschen und seiner Fähigkeiten
unvereinbar sei. Doch verdeckt diese ,Kritik' am Bürokratismus nur die
tatsächlichen Absichten des Feindes, den Apparat der Sowjetmacht zu
unterwühlen, diesen Apparat, der die gigantische Wirtschaft des Landes im
Interesse der Werktätigen verwaltet, der an die Stelle der großen und kleinen
Unternehmer getreten ist, die es sich früher wirklich gut sein ließen, aber auf
Kosten der Arbeiter und Bauern, durch die Ausbeutung der Werktätigen. Wir
begreifen sehr wohl, daß der wirkliche Kampf gegen den Bürokratismus vom Kampf
um den Sieg des Sozialismus nicht zu trennen ist und daß mit den Erfolgen in
der Entfaltung der Großproduktion in Stadt und Land und dem Wachstum der Kultur
der Massen unsere Möglichkeiten zur Überwindung des Bürokratismus ungeheuer
steigen. Die werktätigen Massen müssen noch enger an die Arbeit unserer Organe
herangezogen werden und unter der Führung unserer Partei zu noch aktiverer
Teilnahme am Kampf gegen bürokratische Abweichungen in unserem Apparat
veranlaßt werden. Darin erblicken wir eine der wichtigsten Aufgaben, im
Bewußtsein, daß dies der richtige Weg zum Siege des Sozialismus ist."
Ohne einen funktionierenden Verwaltungsapparat hätte der sozialistische Aufbau
nicht die Erfolge gezeitigt, die von niemandem bestritten werden können. Zumal
dieser Aufbau begonnen und in der ersten Zeit durchgeführt wurde mit Menschen,
die keine qualifizierten Industriearbeiter waren, sondern direkt vom Hakenpflug
an die Maschine gestellt werden mußten. Es ergab sich aus dieser Situation ganz
zwangsläufig, daß zur erfolgreichen Durchführung der gestellten Aufgaben der
Verwaltungsapparat in der ersten Zeit eine stärkere Bedeutung hatte. Aber
Molotow hat vollkommen recht, wenn er feststellt, daß in dem Maße, wie sich die
Großproduktion in Stadt und Land entfaltete, wie aus Bauern qualifizierte
Facharbeiter und Landwirte wurden, wie die Kultur der Massen wuchs, die Mängel
des Bürokratismus immer mehr überwunden werden konnten. Die Gestaltung der
sozialistischen Gesellschaft mit allen ihren großen Vorteilen für die Menschen
ist ein Entwicklungsprozeß, in dem die Menschen selbst aktiv mitarbeiten
müssen, um die der Verwirklichung des Endzieles entgegenstehenden Hindernisse
zu beseitigen. Für den objektiven Beurteiler ist unverkennbar, daß gerade in
den letzten Jahren des erfolgreichen sozialistischen Aufbaus die Arbeiter in
Stadt und Land in viel stärkerem Maße zur demokratischen Mitbestimmung im
Betriebe und zur Beseitigung der Mängel der Bürokratie herangezogen wurden. Der
Verwaltungsapparat ist noch in mancher Fabrik in der Sowjetunion größer als in
einer gleichartigen Fabrik des Auslands, aber die Arbeiter in allen
Sowjetbetrieben benutzen ihre zahlreichen Betriebsversammlungen und ihr
Mitbestimmungsrecht immer wieder zu dem Hinweis, daß im Betriebe noch zu viele
Leute mit irgendwelchen Druckposten herumlaufen, die keine produktive Arbeit
leisten und die liquidiert werden müssen. Dieser demokratische Druck von unten,
der von der Sowjetmacht nicht etwa gehemmt, sondern gefördert wird, trägt sehr
wesentlich zum Abbau der Mängel und zur Reinigung des bürokratischen Verwaltungsapparates
bei. Er führt dazu, daß die tatsächliche Initiative und Verwaltung allmählich
direkt auf die Volksmassen übergeht.
Der amtliche Bericht der staatlichen Plankommission über den zweiten
Fünfjahrplan gibt auch eine zahlenmäßige Übersicht über die Verminderung des
Verwaltungsapparates. Von 1932 bis 1937 hat sich das prozentuale Verhältnis der
in der Industrie Beschäftigten sehr zu Ungunsten des Verwaltungsapparates
verändert. Der prozentuale Anteil der Arbeiter in der Industrie stieg von 74.1%
(1932) auf 78.2% (1937), der Anteil der produktiv tätigen Ingenieure und
Techniker von 5.2 auf 6.4 %. Dagegen sank der Anteil der in der Hauptsache zum
Verwaltungsapparat zählenden Angestellten in der gleichen Zeit von 8.2 auf
6.2%. Im Bauwesen stieg der prozentuale Anteil der Arbeiter von 79.3 auf 83.0%,
der Anteil der Angestellten sank von 7.3 auf 4.7%. Aber nicht nur in den
einzelnen Produktionszweigen ist im Laufe des zweiten Fünfjahrplans der
prozentuale Anteil des Verwaltungsapparates wesentlich vermindert worden, auch
der Staatsapparat wurde vereinfacht. In dem Bericht der Staatlichen
Plankommission der UdSSR heißt es darüber (467):
„Der zweite Fünfjahrplan sieht eine Verringerung der Zahl der Angestellten des
administrativen und Verwaltungsapparates um 20% vor, wobei er von der
Notwendigkeit ausgeht, daß der Staatsapparat vereinfacht, die ein großes
Arbeitsquantum erfordernden Buchhaltungs- und sonstigen Arbeiten mechanisiert
und an die Arbeit des Staatsapparates die Arbeiteröffentlichkeit herangezogen
werden muß- (unentgeltliche Bekleidung von Ämtern im Staatsapparat usw.)"
In der gesamten Sowjetunion ist nach der gleichen Quelle der prozentuale Anteil
der Verwaltung von 8% im Jahre 1932 auf 5% im Jahre 1937 herabgedrückt worden.
Diese planmäßige Verminderung der Zahl der im Verwaltungsapparat beschäftigten
Menschen bedeutet praktisch eine greifbare Beseitigung der Mängel und eine
organisch fortschreitende Schwächung der Bürokratie.
Gerade im Zusammenhang mit der praktischen Durchführung der auf dem VIII.
Sowjetkongreß beschlossenen neuen Verfassung, die Trotzki als eine Kapitulation
vor bürgerlichen Prinzipien bezeichnet, wird den Mängeln, die die demokratische
Mitbestimmung der Massen hemmten, energisch zu Leibe gegangen. Nach dem VIII.
Sowjetkongreß wird in der breiten Öffentlichkeit vor den Augen des ganzen
Volkes eine Kampagne gegen die in den Reihen der Bolschewistischen Partei
auftretenden bürokratischen Fehler durchgeführt. Auf der Anfang März 1937
abgehaltenen Tagung des Plenums des Zentralkomitees der KPdSU wurde eine
Resolution angenommen, die von allen Organisationen eine konsequente
demokratische Praxis verlangt, eine innerparteiliche Demokratie, wie sie in
keiner anderen Partei in der Welt existiert. Es wird gefordert, daß im inneren
Parteileben die Grundlagen des demokratischen Zentralismus bis zu Ende
realisiert werden. Keinem Parteimitglied kann das Recht auf Kritik genommen
werden, die Parteiinstanzen sind der Masse der Parteimitglieder gegenüber
vollkommen verantwortlich. Nirgendwo dürfen Parteiinstanzen und Parteisekretäre
ernannt, sie müssen überall von der Masse der Mitglieder in freier
demokratischer und geheimer Wahl gewählt werden. Die Resolution des
Zentralkomitees kritisiert, daß in einzelnen Organisationen Parteisekretäre
ohne die Mitwirkung der Mitgliedschaft ernannt wurden, wodurch sich eine
Bürokratie herausbilden konnte, die unabhängig von den Massen ohne deren
direkten Auftrag handelt. Die Resolution des Zentralkomitees verpflichtete alle
Parteiorganisationen, bis zum 20. Mai 1937 die organisatorischen Maßnahmen
durchzuführen, die entsprechend dem Parteistatut die demokratische Wahl aller
Parteiinstanzen garantiert. Listenwahlen sind verboten, es wird über die
einzelnen Kandidaten abgestimmt. Die Wahlen müssen geheim sein und jedem
Mitglied muß das Recht der Kritik und der Ablehnung jedes Kandidaten garantiert
werden. Die gleichen Bestimmungen gelten für die Durchführung der Sowjetwahlen.
Diese Praxis wirkt unmittelbar gegen noch vorhandene Mängel der Bürokratie, sie
gibt dem Volke einen noch stärkeren unmittelbaren Einfluß auf den
Verwaltungsapparat im Staat und im Betriebe, den das Volk in keinem der
demokratischen kapitalistischen Länder hat.
Das politische Leben in den Betrieben in der Sowjetunion, die demokratische
Mitwirkung der arbeitenden Menschen an der Produktion ihres Werkes und der
Gesamtwirtschaft ist in der UdSSR in so starkem Maße gegeben, daß die zur
Durchführung der Verwaltungsaufgaben noch notwendige Bürokratie keinerlei
Diktatur über die Massen auszuüben vermag. Wo Wirtschaftsleiter sich von der
engen Verbindung mit den Massen abkapseln, wo sie versuchen, die Arbeiter nicht
mitbestimmen zu lassen, wird das von der Sowjetpresse heftig kritisiert. Den
wirklichen Zustand in den Sowjetbetrieben charakterisiert recht lebendig der
Privatbrief eines deutschen Arbeiters, der seit 1936 in einem Moskauer Betriebe
arbeitet und der seinen Freunden seine Eindrücke folgendermaßen schildert:
„Unsere Belegschaft zählt 3000 Köpfe, die Hälfte ungefähr sind Frauen. Wir
stellen Meßinstrumente her. Das politische und gesellschaftliche Leben in
unserem Betrieb ist nach meiner Ansicht sehr gut, dabei ist er keineswegs einer
der besten Betriebe. Durchschnittlich zweimal im Monat finden
Betriebsversammlungen statt, Anfang Oktober berichtete unser Direktor über das
Ergebnis der Septemberarbeit. 105% des Planes wurden erfüllt. In der
Diskussion, die hier immer lang und ausführlich ist, wurden die Lehren aus dem
Septemberplan gezogen. Der Oktoberplan war so aufgestellt, daß zur Novemberfeier
der gesamte Jahresplan fertiggestellt war. Er wurde schon in den letzten Tagen
des Oktober erfüllt. Wir hatten damit einen Wettbewerb mit einem anderen
Betrieb unseres Rayons gewonnen. Wettbewerbe, Planerfüllung usw. haben
natürlich hier eine ernste Bedeutung, der gesamte Betrieb wird darauf
eingestellt. Kommt man durch den Betriebseingang, dann hängt neben den
sonstigen Ausschmückungen, die dauernd wechseln, eine Tafel, wo die einzelnen
Abteilungen (Zechen) namentlich aufgeführt sind und ihre erfüllten Prozente des
Monatsplanes täglich mit Kreide angeschrieben werden. In allen Versammlungen
bis zur Beratung der einzelnen Brigade, in den Wandzeitungen der Abteilungen
und in unserer gedruckten Betriebszeitung, die alle drei bis fünf Tage
erscheint, wird oft genug kritisch dazu Stellung genommen .... Ende November
erstattete der Vorsitzende unseres Rayonsowjets einen Bericht über die
geleistete Arbeit. Zum Schluß, nach der Diskussion, wie in allen Versammlungen
Beantwortung der schriftlich gestellten Fragen, die natürlich hier besonders
zahlreich, ungefähr 40 Stück, waren. Über die Verkehrsverhältnisse,
Straßenzustände, Beleuchtung, Bauten, Kindergärten, Anlagen usw. Und die
Fragesteller waren nicht so einfach zufriedenzustellen. Es kam öfter vor, daß
der Referent unterbrochen wurde und sich dann Zwiegespräche entspannen. Zum
Schluß wurden die Vorschläge für den zukünftigen Rayonsowjet aus den Reihen der
Belegschaft gemacht .... Eine interessante Versammlung hatten wir im Dezember.
Sie war vom Komsomol organisiert. Referent ein ZK-Mitglied der Partei. Thema:
Spanien. Drei Tage vorher stellte jede einzelne Brigade des Betriebes Fragen
zum Referat auf, die vom Komsomol eingesammelt und dem Referenten übermittelt
wurden. Er stellte danach sein Referat zusammen ... Nach dem Referat noch
weiter Fragebeantwortung und am Schluß rollte der euch ja sicher auch bekannte
Spanienfilm. Anfang Januar: Lenin-Feier, Ende Januar sprach unser Direktor über
das verflossene Jahr und über den Plan 1937. Diese Versammlung war deshalb interessant,
weil hier die Probleme, die für alle Sowjetbetriebe bezeichnend sind, behandelt
wurden. Die Kaderabteilung stritt gegen die Direktion und umgekehrt. Die
Kaderabteilung, das ist die Personalabteilung, die verantwortlich für die
Heranbringung neuer Arbeiter ist und für die politische und technische
Qualifikation der Gesamtbelegschaft. Die Stachanowleute ritten eine Attacke
gegen die Natschalniks (Leiter der Zechen) und die Natschalniks übten Kritik
untereinander ... Betriebsversammlungen sind hier natürlich ganz anders als bei
uns. Ich denke oft an unsere rauchgeschwängerten Versammlungsräume, wenn ich
mich in unserem Klub befinde, der ein ganzes Haus für sich ist und neben dem
Betrieb liegt. In der unteren Etage sind die Betriebsküche, die Speiseräume,
Friseurraum und Garderobe. In der ersten Etage ist unser großer Saal mit 800
bis 1000 Sitzplätzen und moderner Kinoeinrichtung. Und zwei kleinere Tanzsäle.
Im obersten Stock Bibliothek, Lese-, Spielzimmer und verschiedene
Sitzungsräume. Alle Räume modern ausgestattet und mit vielen Blumen und
Pflanzen geschmückt. Außer den Betriebsversammlungen haben wir noch jede Woche
ein paar Zechenversammlungen. Entweder in der zweiten Hälfte der Mittagspause
oder nach Arbeitsschluß, 30 bis 60 Minuten dauernd. Zum Besuch der
Versammlungen wird nicht der geringste Druck ausgeübt. Auch die Geldsammlungen
für Spanien zum Beispiel sind zwanglos. Bei Beteiligung an Demonstrationen,
Aufnahme in die Gewerkschaft ist es ähnlich .... Ich könnte euch noch viel
erzählen von den 15 bis 20 verschiedenen Zirkeln unseres Betriebes, von den
Sport- und Wehrsportkursen und von der politischen Schulungsarbeit der Partei
und des Komsomol. Außerdem ist an jedem Tag vor und an unserem freien Tag
selbst bei uns im Klub gratis Kino- oder Theatervorstellung und Tanz. Jetzt im
Winter werden jede Woche ein paar Schlittschuh- und Skiexkursionen organisiert.
Hinzu kommen Theater-, Konzert- und Museenbesuche, die von den Zechen
organisiert werden. Jedenfalls pulsiert hier das Leben in einem Tempo, daß man
nicht weiß, wo die Monate bleiben. Ich will Euch noch von dem Beschluß der
Komsomol - Gruppe unserer Zeche berichten, der seit Anfang Dezember
durchgeführt wird, täglich eine Wandzeitung herauszugeben. Die Sache ist sehr
interessant. Für jeden Tag unserer fünftägigen Arbeitswoche ist ein Redakteur
bestimmt. Die Zeitungen haben täglich 3 bis 5 Artikel, klein, aber sehr
lebendig. Wenn Ihr mich aber fragen solltet, was gefällt Dir am besten im
Betrieb, dann werde ich antworten, am besten gefallen mir die Menschen. Ich
will euch keine Reklameleute aus dem Betrieb schildern, sondern versuchen, euch
ein Bild vom Durchschnitt meiner Zeche zu geben. Zum Beispiel meine Brigade.
Wir sind jetzt mit Brigadier fünf Mann. Ich bin der einzige, der politisch organisiert
ist. Mein Brigadier Alexander ist 40 Jahre alt. Als Student eingezogen, von
1917 bis 1919 in deutscher Kriegsgefangenschaft. (Er spricht gut deutsch.) Nach
Rußland zurückgekehrt kämpfte er in der Roten Armee. Dann war er an vielen
Orten der SU am Aufbau tätig, er ist ein theoretisch äußerst geschulter
Elektrofachmann. Seit zwei Jahren arbeitet er in unserem Betrieb, weil hier
eine Brigade von Elektrofachleuten nötig wurde. Alexander ist wirklich der
Idealtyp eines parteilosen Bolschewiki. In seinem Rayon ist er Inspektor von
„Ossoaviachim", außerdem macht er noch im Betrieb viel gesellschaftliche
Arbeit. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder. Persönlich ist er ein äußerst
bescheidener Mensch und sehr gefühlsmäßig eingestellt. Er liest uns Öfters Gedichte
vor. Er gehört zum ingenieurtechnischen Personal und verdient 800 Rubel
monatlich. Slav, 26 Jahre alt. Er hat Mittelschulbildung und hat zwei Jahre
eine elektrotechnische Schule besucht. Seit zwei Jahren ist er in unserem
Betrieb und verdient 400 Rubel. Vom Betrieb ist er in den Rayonsowjet
delegiert. Er tanzt gern und liest viel Belletristik. Roman, 24 Jahre.
Ebenfalls Mittelschule und dann zwei Jahre Elektrotechnik. Seit eineinhalb
Jahren im Betrieb und 400 Rubel. Er ist leidenschaftlicher Fußballer und außerdem
großer Kunstliebhaber, spielt gut Klavier und besucht viele Konzerte und
Kunstausstellungen. Mischa, 24 Jahre. Seine Eltern waren früher Armbauern in
einem Dorf, eine Stunde von Moskau entfernt. Er wohnt noch in dem Dorf, ist
verheiratet und hat zwei Kinder. Er braucht jeden Tag zweimal ein und eine
halbe Stunde Fahrzeit, er macht keinerlei gesellschaftliche Arbeit und besucht
nur die wichtigsten Betriebsversammlungen. Geistig und kulturell unterscheidet
er sich natürlich von den Genossen meiner Brigade. Beruflich ist er sehr
interessiert und für jeden Tip dankbar. Er hat keinerlei theoretische
Ausbildung und verdient 300 Rubel. Er macht die einfachsten Arbeiten in unserer
Brigade. Ich habe monatlich 450 Rubel fest, hinzu kommen bei mir, ebenso wie bei
den anderen noch Prämien, im Oktober habe ich 522, im November 566, im Dezember
538 Rubel verdient. Abzüge betragen monatlich 15 bis 20 Rubel, jetzt gehen noch
45 Rubel Anleihe ab, die ich zeichnete. Ich habe immer noch mein altes
Magenleiden: einen unheimlichen Appetit, der noch weiter angeregt wird, wenn
ich mit meiner gefüllten Brieftasche durch unsere prachtvollen Magazine gehe.
Die kollektive Zusammenarbeit in unserer Brigade ist glänzend. Unsere Arbeit
ist auf freiwillige Disziplin aufgebaut und ich muß sagen, unser Brigadier kann
sich auf jeden einzelnen von uns verlassen. Ich könnte Euch noch viel von den
einzelnen Menschen erzählen .... in meiner Zeche arbeiten 50 bis 60 Menschen,
drei Viertel davon sind Mädchen, von denen über die Hälfte im Komsomol ist.
Nicht im ganzen Betrieb ist der Komsomol prozentual so stark vertreten,
trotzdem ich schätze, daß zwei Drittel unserer Belegschaft unter dreißig Jahre
alt sind. Mitglieder der Partei sind in meiner Zeche drei oder vier Genossen.
Das politische Leben und viele andere Dinge hatte ich mir ja immerhin so
ähnlich vorgestellt. Völlig überrascht bin ich aber von dem geselligen Leben im
Betriebe. In unserer Zeche zum Beispiel wird jeden Tag etwas organisiert, in
der zweiten Hälfte der Mittagspause. Wenn keine offizielle Versammlung ist,
dann beginnt unser Partorg mit einem 10-Minutenreferat über ein aktuelles Thema
und es wird diskutiert. Oder es wird aus der Zeitung vorgelesen. Manchmal hat
jemand einen Grammophon für mehrere Tage da, dann wird getanzt. Am lustigsten
aber geht es zu, wenn unser Kulturarbeiter zu uns kommt, das ist ein
Ziehharmonikaspieler, der vom Betrieb für unseren Klub angestellt ist. Mittags
kommt er abwechselnd in die Zechen. Jedenfalls sitzen wir jeden Mittag, nachdem
wir im Speisesaal gegessen haben, zusammen. Es ist selten, daß sich jemand
absondert und allein an seinem Platz sitzt. Denn es ist immer interessant und
abwechselnd. Die Sowjetmenschen sind einfacher, unkomplizierter, natürlicher
als wir Westeuropäer."
In welchem Betriebe eines kapitalistischen Landes gibt es so ein aktives
gesellschaftliches und politisches Leben und eine solche unmittelbare
allgemeine Teilnahme der Arbeiter an der Produktion? Berichte aus vielen
anderen Sowjetbetrieben lauten ähnlich. Würde in der Sowjetunion, wie der
Trotzkismus behauptet, eine starre Diktatur der Bürokratie herrschen, so würde
es in keinem der Betriebe solche politische Aktivität und Stimmung geben und
nirgendwo würden die Arbeiter wagen, Kritik an den von der Verwaltung
getroffenen Maßnahmen zu üben und selbst Vorschläge über die Gestaltung der
Produktion und des Lebens in den Betrieben zu machen. Otto Bauer, der Trotzki
in der Frage der bürokratischen Herrschaft Zugeständnisse macht, schreibt in
einem in Nr. 3 (März 1937) des „Kampf" veröffentlichten Artikel zu dem
Thema „Der Trotzkismus und die Trotzkistenprozesse" (auf Seite 92):
„Die Betriebsversammlungen sehen in den Riesenbetrieben der neuen
Sowjetindustrie heute schon ganz anders aus als vor wenigen Jahren. Damals noch
Arbeitermassen, die eben erst aus den Dörfern zugeströmt waren, noch ohne
Selbstbewußtsein, noch ohne jede Routine der Betriebsdemokratie, stumm und
gläubig die Referate der Betriebsführer hinnehmend. Heute schon
Industriearbeiter, die seit einigen Jahren die fruchtbare Schule der Fabrik
durchgemacht haben und es allmählich lernen, der Betriebsführung ihre Kritik,
ihre Beschwerden, ihre Forderungen entgegenzustellen. Dieselbe Wandlung
vollzieht sich in den Kolchosen. Der Bauer, der allmählich die moderne Technik
zu beherrschen lernt, lernt auch allmählich die Rechte demokratischer
Selbstverwaltung zu gebrauchen, die das Statut der Kolchosen ihm gibt. Dieselbe
Wandlung wird sich, durch die neue Verfassung beschleunigt, in der
Lokalverwaltung vollziehen ... In den lokalen Sowjets, in der lokalen
Selbstverwaltung wird das geheime Wahlrecht, wird die Möglichkeit der freien
Auslese zwischen gegeneinanderstehenden Kandidaten sehr schnell die Elemente
demokratischer Selbstverwaltung entwickeln. So wächst die Sowjetdemokratie von
unten auf. Wenn sie erst die Massen mit erhöhtem Selbstbewußtsein, mit
verstärktem Willen zur Selbstbestimmung erfüllt, wird sich die Bürokratie, die
sich in der SU — ganz anders als in den kapitalistischen Ländern — ständig aus
dem Proletariat ergänzt und ständig um das Vertrauen des Proletariats zu werben
gezwungen ist, ihrem Wachstum nach oben nicht wirksam widersetzen können. Unter
den konkreten historischen Bedingungen, die in der Sowjetunion durch die
Oktoberrevolution geschaffen worden sind, braucht die notwendige
gesellschaftliche Evolution zu einer sozialistischen Demokratie keineswegs die
Form einer politischen Revolution anzunehmen."
Otto Bauer ist einer der wenigen Führer der Zweiten Internationale, die die
sachliche Entwicklung in der Sowjetunion sehr aufmerksam verfolgen. Die
Tatsache, daß nach den Wiener Februarkämpfen des Jahres 1934 eine große Anzahl
österreichischer Schutzbündler nach der Sowjetunion gekommen sind, die als
Arbeiter in den vergesellschafteten Sowjetbetrieben mitten unter der
einheimischen Arbeiterschaft stehen, gibt Otto Bauer wahrscheinlich
Gelegenheit, auch durch unmittelbare Berichte dieser Arbeiter einen Einblick in
das Leben des Volkes zu gewinnen. Auch Bauers Ausführungen über
Betriebsversammlungen, über die Betriebsdemokratie und die Entwicklung der
Elemente demokratischer Selbstverwaltung widerlegen die Behauptung von der
„Diktatur der Bürokratie", der Otto Bauer selbst oft Konzessionen macht.
Otto Bauer kündigt erst das Heranreifen eines Zustandes an, der in Wirklichkeit
schon existiert. Er breitet sich nur immer weiter aus, so daß in der Tat auf
dem Wege der Entwicklung von unten (allerdings in voller Übereinstimmung mit
der Bolschewistischen Partei und Führung) sich die sozialistische Demokratie
bis in die höchsten Verwaltungsstellen praktisch durchsetzt. Dieses immer
größer werdende direkte Mitbestimmungsrecht der Massen, ihre aktive
Selbstbetätigung entzieht der Selbstherrlichkeit der Bürokratie den Boden,
beseitigt deren Mängel und bereitet den Zustand vor, in dem sie vollständig
überflüssig sein wird.
Die „Diktatur der Bürokratie" ist ein Popanz, den der Trotzkismus
aufgeputzt hat, um vor den ungenügend orientierten Menschen außerhalb der UdSSR
einen Vorwand für seinen Kampf gegen die Bolschewistische Partei und gegen die
Sowjetunion zu haben.
Die Kritiker der Sowjetunion behaupten, daß nicht nur die
Bürokratie sich zu einer besonderen privilegierten Klasse entwickle, sondern daß
sich auch aus der Intelligenz, der Arbeiter und Bauernschaft eine neue
bevorrechtigte Klasse herausbilde. In der Sowjetunion — sagen die Trotzkisten —
werde nicht die vom Marxismus verlangte völlige Gleichheit verwirklicht; im
Gegenteil, es entwickle sich eine neue Form der Klassenherrschaft.
„In Wirklichkeit — sagt Trotzki in der im September 1936 erschienenen Broschüre
über die ,Terroristenprozesse' (Seite 8) — genügt es nicht, die Klassen
administrativ zu ,vernichten', man muß sie auch wirtschaftlich überwinden.
Solange die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung noch in Not lebt, behält das
Streben nach individueller Aneignung und Anhäufung von Gütern Massencharakter
bei und stoßt beständig mit den kollektivistischen Strömungen der Wirtschaft
zusammen. Es ist richtig, daß die Anhäufung unmittelbar ausgesprochenen
Verbrauchsbedürfnissen entspringt. Wenn man jedoch nicht acht gibt, wenn man
die Anhäufung gewisse Grenzen überschreiten läßt, wird sie zur ursprünglichen
kapitalistischen Akkumulation und könnte in der Folge die Kolchose und darauf
die Trusts sprengen. ,Vernichtung der Klassen' im sozialistischen Sinne
bedeutet, allen Mitgliedern der Gesellschaft derartige Lebensbedingungen zu
gewährleisten, daß jeder Anreiz zur individuellen Akkumulation beseitigt wird.
Davon ist man noch weit entfernt."
Trotzki schlußfolgert also: die Voraussetzungen für neue Klassenbildungen sind
gegeben, weil die Gesellschaft noch nicht allen ihren Mitgliedern die gleichen
Lebensbedingungen gewährleistet, die jeden Anreiz zur persönlichen Bereicherung
beseitigen.
Otto Bauer schildert in seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" in
ähnlicher Weise die Gefahren, die sich seiner Meinung nach aus den
Differenzierungen ergeben. Er schreibt dort (Seite 164/65):
„Andererseits war die Sowjetunion gezwungen, die Einkommen aller Volksklassen,
der Arbeiter, der Angestellten, der Bauern, der Beamten wesentlich zu
differenzieren. Sie mußte intensivere Arbeit, Arbeit höherer Qualifikation und
Arbeit höherer Qualität höher entlohnen, um den Antrieb zur Produktivierung,
zur Intensivierung, zur Qualifizierung der Arbeit zu steigern. Daher hob sich
aus allen Volksklassen eine privilegierte Schicht der ,vornehmen Leute' heraus,
die, durch besonders tüchtige Arbeitsleistung ausgezeichnet, besonders hohe
Einkommen hat, besonders großes soziales Ansehen und mancherlei Privilegien
genießt. Aus dieser Schicht ergänzt sich die industrielle Bürokratie. Ihre
Kinder werden bei der Aufnahme in die höheren Schulen bevorzugt. Sie ist mit
der herrschenden Partei, mit dem regierenden bürokratischen Apparat besonders
eng verknüpft.
Diese an sich unvermeidliche Entwicklung schließt eine ernste Gefahr in sich:
.... Es wäre nicht eine sozialistische Gesellschaft, sondern eine Art
Technokratie, eine Herrschaft der Ingenieure, der Wirtschaftsführer und der
staatlichen Bürokratie, die in diesem Falle aus dem großen revolutionären
Prozeß hervorginge.
Diese Gefahr kann nicht anders überwunden werden, als durch die
Demokratisierung der Staatsverfassung der Sowjetunion und der
Betriebsverfassung ihrer Unternehmungen." Der Vorwurf der Bevorrechtigung
einzelner Schichten und die damit angeblich verbundene Entwicklung einer neuen
Klassenbildung spielt also auch in sozialistischen Kreisen eine wesentliche
Rolle. Eine besondere Ursache für die neue Klassenbildung ist nach der
Argumentation Trotzkis der Widerspruch, der zwischen dem Zustand der
vergesellschafteten Produktion und der niedrigen Produktivität der Arbeit
besteht. Trotzki behauptet, daß die Arbeitsproduktivität noch außerordentlich
niedrig sei. Darum stehen nicht genügend Güter zur Verfügung und die
wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse können nur für eine bevorrechtete
Minderheit voll befriedigt werden. Diese Minderheit aber — das ist einerseits
die Bürokratie und andererseits der Teil der Arbeiter, der Bauern und der
Intelligenz, der zur Steigerung der Arbeitsproduktivität zu besonderen
Leistungen angespornt und dafür hoch bezahlt wird — entwickle sich zu einer
gehobeneren sozialen Stellung, die sich von der Masse wesentlich unterscheide.
Trotzki versucht die Gegensätze besonders drastisch zu schildern:
„Die Lebensbedingungen einer Hausfrau, angesehenen Kommunistin, die eine
Hausgehilfin, ein Telefon für die Besorgung ihrer Bestellungen in den
Warenhäusern, ein Auto für ihre Wege zur Verfügung hat, haben wenig Ähnlichkeit
mit denen einer Arbeiterin, die sich vor den Läden anstellt, die ihre
Mahlzeiten selbst bereitet, die ihre Kinder aus dem Kindergarten nach Hause
führt, — vorausgesetzt, daß es für sie einen Kindergarten gibt."
In ähnlicher Weise argumentieren auch die Nationalsozialisten gegen die
Sowjetunion. Auf dem Nürnberger Parteitag 1936 haben Göbels und Rosenberg die
„soziale Ungleichheit" in demagogischer Weise zur Aufhetzung des deutschen
Volkes gegen die Sowjetunion auszunutzen versucht. In der Broschüre „Die 4.
Internationale und die UdSSR" (1933) hat Trotzki seine oben zitierte
demagogische Argumentation selbst widerlegt. Dort schrieb er:
„Doch die größten Wohnungen, die saftigsten Beefsteaks und selbst Rolls-Royces
verwandeln die Bürokratie (und also auch die Mehrverdiener. D.V.) nicht in eine
selbständig herrschende Klasse."
Der Versuch Trotzkis, die noch vorhandene Differenzierung und Ungleichheit der
Einkommen als neue Klassenbildung zu deuten, steht im offenen Gegensatz zum
Marxismus. Der Marxismus lehrt, daß die Klassenbildung von den
Produktionsverhältnissen abhängig ist. In einer Gesellschaft, in der die
Produktionsmittel vergesellschaftet sind, in der kein Privatmann sich
Produktionsmittel aneignen kann, um durch die Ausbeutung anderer Menschen
Kapital anzusammeln, ist die Bildung neuer bevorrechtigter Klassen unmöglich.
Die Behauptung, daß sich unter sozialistischen Produktionsverhältnissen neue
Klassen herausbilden müssen, wenn die Güterverteilung nach der geleisteten
Arbeit erfolgt, widerspricht dem Marxismus.
Der Marxismus hat die Gleichheitsforderung nie so verstanden, daß jede
Individualität vernichtet und alle Menschen gleich gemacht werden müßten.
Solche Vorstellungen hatten nur die Vorläufer des wissenschaftlichen
Sozialismus, die Utopisten, die das Wesen der Klassengesellschaft und die
Notwendigkeit, die Klassen zu beseitigen, nicht erkannt hatten. Marx und Engels
haben gelehrt, daß die Gleichheitsforderung nur durch die Aufhebung der Klassen
verwirklicht werden kann. „Jede Gleichheitsforderung, die darüber
hinausgeht", sagte Engels, „führt unvermeidlich zu Unsinnigkeiten".
Im „Kommunistischen Manifest" schrieben Marx und Engels:
„Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums
überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne
bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der
Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der
Ausbeutung der einen durch die anderen beruht."
Dieses bürgerliche Privateigentum, diese Ausbeutung muß abgeschafft und die
Klassenungleichheit beseitigt werden. Doch — so steht weiter im
„Kommunistischen Manifest" zu lesen:
„Wir wollen diese persönliche Aneignung der Arbeitsprodukte zur Wiedererzeugung
des unmittelbaren Lebens keineswegs abschaffen, eine Aneignung, die keinen
Reinertrag übrig läßt, der Macht über fremde Arbeit geben könnte. Wir wollen
nur den elenden Charakter dieser Aneignung aufheben, worin der Arbeiter nur
lebt, um das Kapital zu vermehren, nur so weit lebt, wie es das Interesse der
herrschenden Klasse erheischt.
In der bürgerlichen Gesellschaft ist die lebendige Arbeit nur ein Mittel, die
aufgehäufte Arbeit zu vermehren. In der kommunistischen Gesellschaft ist die
aufgehäufte Arbeit nur ein Mittel, um den Lebensprozeß der Arbeiter zu
erweitern, zu bereichern, zu befördern ....
Der Kommunismus nimmt keinem die Macht, sich gesellschaftliche Produkte
anzueignen, er nimmt nur die Machte sich durch diese Aneignung fremde Arbeit zu
unterjochen." Der Sinn der marxschen Gleichheitsforderung besteht in der
Aufhebung der Klassenungleichheit. Ist diese Forderung - wie in der Sowjetunion
— verwirklicht, dann wird die alte Gleichheitsforderung gegenstandslos, dann
kann, dann muß zunächst die Verteilung der Güter nach den Leistungen der
einzelnen Menschen erfolgen.
Die höchste Form der Gleichheit wird erst in der höchsten Form der
kommunistischen Gesellschaft verwirklicht. Die Kritiker der Sowjetunion, die
jetzt bereits eine vollkommene Gleichmacherei, vollkommen gleiche Verteilung
der Güter verlangen, übersehen, daß in der UdSSR die höchste Phase der
Entwicklung, die kommunistische Gesellschaft, noch nicht erreicht ist. Um
Stalin angreifen zu können, unterschieben die Trotzkisten Stalin Auffassungen,
die er nie vertreten hat. So schreibt Trotzki z.B. in der Broschüre „Die
Terroristenprozesse" (1936) auf Seite 8: „Wollen wir die Ereignisse
richtig verstehen, müssen wir vor allem die offizielle Theorie verwerfen, nach der
in der USSR bereits die sozialistische, klassenlose Gesellschaft besteht".
Nie war die offizielle Theorie, daß die klassenlose Gesellschaft bereits
besteht. Stalin und die anderen Führer der Sowjetmacht haben vielmehr immer
eindeutig gesagt, daß in der Sowjetunion zwar die ausbeutenden Klassen nicht
mehr existieren, daß es aber immer noch verschiedene Klassen, die
Arbeiterklasse, die Bauernklasse und die Intelligenz, gibt, und daß darum der
Zustand der klassenlosen Gesellschaft noch nicht erreicht ist. In der Rede, mit
der Stalin auf dem VIII. Sowjetkongreß (1936) die neue Verfassung begründete,
hat er klar, einfach, für jeden verständlich, auseinandergesetzt, daß „die
Sowjetgesellschaft noch nicht die Verwirklichung der höchsten Phase des
Kommunismus erreicht hat, in der das herrschende Prinzip die Formel sein wird:
Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen — sondern erst
die untere Phase, in der das Grundprinzip die Formel: Jeder nach seinen
Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen ist. Das stimmt vollkommen überein
mit dem, was Karl Marx gelehrt hat. In der Kritik zum Gothaer Programm der
deutschen Sozialdemokratie (1875) setzte Marx auseinander, daß eine
kommunistische Gesellschaft sich nicht auf ihrer eigenen Grundlage, sondern aus
der kapitalistischen Gesellschaft entwickle, und daß sie, von dieser Grundlage
ausgehend, in jeder Beziehung — Ökonomisch, sittlich, geistig — mit den Fehlern
der alten Gesellschaft, „aus deren Schoß sie herkommt", behaftet sei. Die
Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine kommunistische ist nicht
ein einmaliger Akt, sondern ein langwieriger Entwicklungsprozeß in dem mehrere
Stadien zu durchlaufen sind. In den Stadien vor der Erreichung der höchsten
Phase des Kommunismus muß nach der Voraussage von Marx genau das geschehen, was
jetzt in der Sowjetunion geschieht. Im Anschluß an die oben wiedergegebenen
Gedanken schreibt Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm über die Verteilung
der Güter in den ersten Phasen der sozialistischen Gesellschaft (siehe Ausgabe
Internationaler Arbeiter-Verlag, Seite 25 usf.):
„Demgemäß erhält der einzelne Produzent — nach den Abzügen — exakt zurück, was
er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum.
Z.B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen
Arbeitsstunden; die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der
von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages, sein Teil daran.
Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, daß er so und so viel Arbeit
geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht
mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln
soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er
der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück.
Es herrscht hier offenbar das Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er
Austausch Gleichwertiger ist, Inhalt und Form sind verändert, weil unter den
veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil
andererseits nichts in das Eigentum der Einzelner übergehen kann, außer
individuellen Konsumtionsmitteln.
Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten betrifft,
herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäquivalenten, es wird
gleichviel Arbeit in einer Form gegen gleichviel Arbeit in einer anderen
umgetauscht."
Das ist eine vollkommene Charakterisierung der Sowjetgesellschaft in der
gegenwärtigen Phase, in der das von Marx nur mit anderen Worten ausgedrückte
Prinzip „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen"
gelten muß. Im Anschluß an die oben zitierten Sätze sagt Marx (Seite 26), daß
in dieser Phase „die Gleichheit darin besieht, daß am gleichen Maßstab, der
Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem anderen
überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeiten oder kann während mehr
Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder
der Intensität nach bestimmt werden, sonst hört sie auf, Maßstab zu sein. Dies
gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine
Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andere; aber es
erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher
Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an." Dabei gibt es natürlich
— wie Marx sagt — auch noch „Mißstände", die sich auch daraus ergeben, daß
der eine Arbeiter verheiratet sei, der andere nicht, daß der eine mehr Kinder
habe als der andere. Erfolgt die Verteilung der Güter nach der Maßgabe der
geleisteten Arbeit, so kann also der Arbeiter mit der größeren Familie sozial
benachteiligt sein.
„Aber — fährt Marx fort (Seite 27) — diese Mißstände sind unvermeidbar in der
ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der
kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das
Recht kann nie höher sein als die Ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte
Kulturentwicklung der Gesellschaft." Das ist die trefflichste Widerlegung
des Vorwurfs, daß die Güterverteilung nach der Arbeitsleistung unsozialistisch,
unmarxistisch sei und zur neuen Klassenbildung führe. Karl Marx wettert gegen
die kleinbürgerlichen „Gleichmacher", als hätte er bei dieser Abkanzlung
die heutigen Kritiker der Sowjetunion vor Augen. Er schreibt (Seite 27) weiter:
„Ich bin weitläufiger auf den ,unverkürzten Arbeitsertrag' einerseits, ,das
gleiche Recht', die ,gerechte Verteilung' andererseits eingegangen, um zu
zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einerseits Vorstellungen, die zu einer
gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasenkram geworden,
unserer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andererseits aber die
realistische Auffassung, die der Partei so mühevoll beigebracht worden, die
aber jetzt Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Recht- und
andere, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen
verdreht.
Abgesehen von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sogenannten
Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen." Das
Wesentliche ist in der gegenwärtigen Phase nicht die Verteilung, sondern das
Entscheidende sind die Produktionsverhältnisse. Diese aber sind in der
Sowjetunion sozialistisch. Die neue Klassenbildung ist unmöglich, weil ihre
„ökonomische Gestaltung" die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und
die Gesellschaft ohne ausbeutende Klassen ist. Wenn man allerdings in der
Sowjetunion nach den Vorschlägen der „Gleichmacher" das abstrakte
„Recht" höher stellen würde „als die ökonomische Gestaltung und die
dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft", wenn man in der
gegenwärtigen Phase die vorhandenen Güter unbeschadet um die Arbeitsleistung an
alle vollkommen gleich verteilte, müßte die bisher erreichte sozialistische
ökonomische Grundlage zusammenbrechen und dann erst würde die neue
Klassenbildung, die neue Klassengesellschaft automatisch folgen. Also: in der
Konsequenz führt gerade die Forderung, in der dafür noch nicht reifen
Entwicklungsphase die Güterverteilung nach den Bedürfnissen vorzunehmen, zum
Zusammenbruch der sozialistischen Produktion und zur „rettenden
Wiederaufrichtung des Kapitalismus". Als in der Sowjetunion die
Kollektivierung der Bauernwirtschaften durchgeführt wurde, haben die
„Gleichmacher" gefordert, daß die kollektivwirtschaftlichen Einkünfte nach
der Zahl der Esser und nicht nach der Arbeitsleistung verteilt werden. Hätte
sich diese Auffassung durchgesetzt, so wäre es nicht gelungen, die große Masse
der Bauern für die Kollektivierung zu gewinnen. Die vorhandenen
Kollektivwirtschaften wären wegen des dauernden Unfriedens über die
Güterverteilung, die nicht dem derzeitigen Zustand der Gesellschaft, nicht der
Lebensauffassung der Menschen, die noch mit den „Muttermalen" des
Kapitalismus behaftet sind, entsprochen hätten, zusammengebrochen. Die
Gewinnung der Bauern für den sozialistischen Aufbau wäre gescheitert, die
Annäherung zwischen Arbeiter- und Bauernklasse wäre nicht erreicht und der
Bestand der Sowjetunion wäre gefährdet worden. Die Bolschewistische Partei und
die Sowjetmacht haben darum durchaus im Sinne des Marxismus gehandelt, als sie
die kurzsichtigen oder der Sowjetmacht feindlichen „kleinbürgerlichen
Gleichmacher" bekämpften und die Verteilung der in den
Kollektivwirtschaften erzeugten Güter nach der Menge und der Qualität der
geleisteten Arbeit durchsetzten. In dem Kampf um die Durchsetzung dieses
richtigen Prinzips sagte Stalin 1932 („Neue Lage — neue Aufgaben", siehe
„Probleme des Leninismus", 2. Folge, Ringverlag, Seite 440 usf.):
„Marx und Lenin sagen, daß der Unterschied zwischen qualifizierter und
unqualifizierter Arbeit sogar im Sozialismus bestehen wird, sogar nach der
Aufhebung der Klassen, daß dieser Unterschied erst im Kommunismus verschwinden
wird, so daß auch unter dem Sozialismus der ,Arbeitslohn' nach Leistung und
nicht nach Bedürfnissen bemessen werden muß. Unsere Gleichmacher unter den
Wirtschaftlern und Gewerkschaftlern sind aber damit nicht einverstanden und
glauben, daß dieser Unterschied in unserem Sowjetsystem nicht mehr besteht. Wer
hat Recht: Marx und Lenin oder die Gleichmacher? Man muß doch wohl annehmen,
daß Marx und Lenin recht haben. Daraus folgt aber, daß wer heute das
Tarifsystem auf gleichmacherischen ,Prinzipien' aufbaut, ohne den Unterschied
zwischen gelernter und ungelernter Arbeit zu berücksichtigen, mit dem
Marxismus, mit dem Leninismus bricht."
Die gesellschaftlichen Zustände in der Sowjetunion geben jedem die Möglichkeit,
seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Jedem ist also das gleiche Recht gegeben,
seine Qualifikation zu steigern, seine Arbeitsleistung und seinen Anteil an den
vorhandenen Gütern zu erhöhen. In der „ersten Phase der kommunistischen
Gesellschaft" kann — wenn das bisher Erreichte nicht gefährdet werden soll
— wie Karl Marx lehrt, nur die geleistete Arbeit der Maßstab für die
Güterverteilung sein. Marx fahrt in der zitierten Kritik am Gothaer Programm
fort (Seite 27):
„In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die
knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch
der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist;
nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste
Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der
Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des
genossenschaftlichen Reichtums voller fließen — erst dann kann der enge
bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf
ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!" Für die Erreichung dieser höheren Phase der kommunistischen
Gesellschaft wird in der Sowjetunion planmäßig gearbeitet. In seiner Rede über
die neue Verfassung hat Stalin in voller Übereinstimmung mit den marxschen
Gedanken auf die verschiedenen Phasen der Entwicklung verwiesen. Er hat
dargelegt, daß in jeder Phase die ihr entsprechenden Maßnahmen durchgeführt
werden müssen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Das Anwachsen der
Produktivkräfte, daß „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums
voller fließen" — das sind die Voraussetzungen für die Erreichung der
höchsten Phase der kommunistischen Gesellschaft. Und dazu ist der Ansporn, die
Güterverteilung nach der geleisteten Arbeit, der Anreiz zu immer weiterer
Steigerung der Arbeitsproduktivität in der gegenwärtigen Phase unerläßlich. Das
ist wahrlich kein Verrat am Marxismus. Den Geist des Marxismus vergessen und
verleugnen nur diejenigen, die Entwicklungsstufen überspringen wollen und aus
der notwendigen Verteilung der Güter nach der Arbeitsleistung eine neue
Klassenbildung und den Untergang der Sowjetunion prophezeien. Gerade wenn man
die Entwicklung in der UdSSR anhand der marxistischen Lehre überprüft, ergibt
sich folgendes Bild: Lenin und Stalin sind die Baumeister, die getreu nach den
genialen Plänen von Marx und Engels den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft
vollziehen.
Die Trotzkisten bezeichnen die vorhandene Ungleichheit der
Lebensbedingungen in der Sowjetunion als den Beweis für die von ihnen
behauptete Bildung einer neuen Klassengesellschaft. Trotzki jedoch sagt, diese
Ungleichheit der Lebensbedingungen erwachse nicht aus der Konstruktion der
Produktionsverhältnisse — die er als sozialistisch anerkennen muß —, sondern
aus dem Mangel an Gütern, aus der noch zu niedrigen Arbeitsproduktivität. Ist
das richtig, so ist unbestreitbar, daß die Ungleichheit der Lebensbedingungen
nichts Endgültiges ist und beseitigt werden kann. Das Mittel zu ihrer
Beseitigung ist die Überwindung der niedrigen Arbeitsproduktivität. Aus dieser
Erkenntnis heraus führen die Sowjetmacht und die Bolschewistische Partei seit
Jahren einen planmäßigen Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität und
die Senkung der Produktionskosten. Die Arbeitsproduktivität kann aber in der
ersten Phase der sozialistischen Gesellschaft, die in der UdSSR erreicht ist,
nur durch die Heranbildung qualifizierter technischer Kader, durch die
Verteilung der Güter nach der geleisteten Arbeit, durch den Ansporn, den
Anreiz, durch die Höherbezahlung des Produzenten, der Arbeit in größerer
Quantität und in besserer Qualität liefert, gesteigert werden. Der Ansporn ist
nicht Selbstzweck. Der Anreiz ist keine neueingeführte Dauereinrichtung.
Die Trotzkisten verdächtigen und bekämpfen die Mittel, die zur Steigerung der
Arbeitsproduktivität angewandt werden müssen. Sie wenden sich gegen die
Maßnahmen, durch die allem die Ursache der Differenzierungen und diese selbst
überwunden werden können. Die Trotzkisten versuchen den Kampf zu sabotieren,
den die Sowjetmacht um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, um die
Liquidierung der Einkommensdifferenzierung fuhrt. Jeder, der die Entwicklung
des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion marxistisch wertet, sieht
vollkommen klar: der der gegenwärtigen Entwicklungsphase vollkommen
entsprechende Zustand der differenzierten Güterverteilung nach der
Arbeitsleistung ist nicht die Endlösung, er ist in dem gewaltigen
Entwicklungsprozeß von der kapitalistischen Gesellschaft zur höchsten Phase der
kommunistischen Gesellschaft nur ein notwendiges Zwischenstadium. Allerdings
eines, das wegen der unbestreitbar vorhandenen sozialistischen
Produktionsverhältnisse keinesfalls zur neuen Klassenbildung überleiten kann,
sondern nur zur vollendeten sozialistischen Gesellschaft.
Der gewaltige sozialistische Aufbau, der die Sowjetunion aus einem
rückständigen Agrarland in ein fortgeschrittenes Industrieland mit der
mechanisiertesten Landwirtschaft umwandelte, hat alle Voraussetzungen
geschaffen, die UdSSR zu einem reichen Lande zu machen, in dem die kulturellen
und wirtschaftlichen Bedürfnisse aller 180 Millionen Einwohner vollkommen
befriedigt werden können. Auf dem Wege zu diesem Ziele sind ganz außergewöhnliche
Erfolge in einer erstaunlich kurzen Zeit erreicht worden. Buchstäblich mit
jedem Tage verbessert sich die Arbeitsproduktivität, wird die Menge der
erzeugten Güter vergrößert. Nachdem der neue gewaltige Produktionsapparat
geschaffen war, konzentrierte die Sowjetmacht ihre Kraft auf die planmäßige
Hebung der Arbeitsproduktivität, auf die Heranbildung von Kadern, die den
qualifizierten Produktionsapparat bedienen und mit den vorhandenen Maschinen in
der gleichen Arbeitszeit eine unvergleichlich größere Menge von Gütern
produzieren können als unmittelbar nach der ersten Periode des industriellen
Aufbaus. In der Resolution des XVII. Parteitages (1934), die auch die
Richtlinien für den zweiten Fünfjahrplan aufstellte, wurde als nächste Aufgabe
der Partei und der Massen die Steigerung der Arbeitsproduktivität verkündet:
„Die entscheidende Bedingung für die Vollendung der technischen Rekonstruktion
der gesamten Volkswirtschaft in der zweiten Fünfjahrperiode muß die
Beherrschung der neuen Technik und der neuen Produktionszweige werden. Das
Pathos des neuen Aufbaus ... muß in der zweiten Fünfjahrperiode durch das
Pathos der Meisterung der neuen Betriebe und der neuen Technik, durch
wesentliche Hebung der Arbeitsproduktivität, wesentliche Senkung der Produktionskosten
ergänzt werden..."
„Der Arbeiter und Kollektivbauer“ — heißt es an anderer Stelle der Resolution
des XVII. Parteitages — „steht jetzt mit voller Zuversicht dem morgigen Tag
gegenüber, und lediglich von der Quantität und der Qualität der von ihm geleisteten
Arbeit hängt die immer größere Hebung seines materiellen und kulturellen
Lebensniveaus ab." Immer wieder wird diese Parole in den Massen
popularisiert, werden Arbeiter und Bauern aufgerufen, den Kampf um die
Steigerung der Arbeitsproduktivität zu unterstützen.
Diese Losung der Partei und der Sowjetmacht wurde im ganzen Lande
leidenschaftlich diskutiert. Aber es wurde nicht nur diskutiert. Von unten her
setzten gewaltige Anstrengungen ein, wurden Wettbewerbe organisiert, deren Ziel
die Steigerung der Produktion und der Arbeitsproduktivität war. Die gemeinsamen
Bemühungen der Bolschewistischen Partei, der Sowjetmacht und der Arbeiter- und
Bauernmassen um die Steigerung der Arbeitsproduktivität haben sehr schnell
große Erfolge gezeitigt. Die Arbeitsproduktivität pro Arbeiter hat sich seit
1928 fast verdreifacht, ihre absolute Steigerung ist gerade in den letzten
Jahren besonders groß. Eine Übersicht über die tatsächliche Erhöhung der
Arbeitsproduktivität gibt die nachfolgende Tabelle:
Durchschnittsproduktion je Arbeiter in der Großindustrie:
(in Rubeln, in den Preisen der Jahre 1926/27)
Jahre |
Gesamte Industrie |
in % des Vorjahres |
1928 |
4764 |
112.2 |
1929 |
5378 |
112.9 |
1930 |
5900 |
109.7 |
1931 |
6348 |
107.6 |
1932 |
6513 |
102.6 |
1933 |
7080 |
108.7 |
1934 |
7837 |
110.7 |
1935 |
9060 |
115.6 |
1936 (Plan) |
11017 |
121.6 |
Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, daß die Arbeitsproduktivität in der
Sowjetunion von Jahr zu Jahr wächst. Molotow, der zum Jahrestag der
Oktoberrevolution 1936 diese Tabelle veröffentlichte, schrieb dazu:
„Sie zeigt auch, daß nach den verhältnismäßig niedrigen Indexen des Anwachsens
der Arbeitsproduktivität während einer Reihe von Jahren die Losung Stalins von
der Aneignung der Technik erfolgreich verwirklicht zu werden beginnt, und daß
die durchschnittliche Produktion des Sowjetarbeiters schnell in die Hohe zu
gehen begonnen hat. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität wird im laufenden
Jahre höher sein als in den vergangenen Jahren. Darin zeigt sich die Bedeutung
des „Stachanowjahres“, in dem sich bereits die neuen, in den letzten Jahren
geschaffenen Kader qualifizierter Arbeiter wirklich zu zeigen begonnen haben.
Die leitenden Organe der Industrie sind, so viele Mängel es in unseren
produktiv-technischen Stäben auch geben möge, näher an die Sache herangekommen
und haben neue Vorbilder bolschewistischer Arbeit geliefert.
Und dennoch ist auch hier das Wichtigste noch vor uns. Mit den erzielten
Ergebnissen können wir uns nicht zufrieden geben. Wir sind von einer wirklichen
sozialistischen Arbeitsproduktivität noch weit entfernt. Mehr noch. Wir haben
in bezug auf die Arbeitsproduktivität, von der Qualität der Produktion ganz zu
schweigen, die gut organisierten Betriebe der kapitalistischen Länder noch
nicht überholt. Die Durchschnittsproduktion des Sowjetarbeiters ist vorläufig
noch niedriger als die Durchschnittsproduktion des Arbeiters in den technisch
vorgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
Dies bedeutet, daß wir noch viel an der Organisierung der Industrie, an der
Organisierung der Wirtschaft, an uns zu arbeiten haben. Von dieser Erkenntnis
sind die fortgeschrittensten Leute des Sowjetlandes und vor allem unsere
Stachanow-Arbeiter durchdrungen. Sie liefern immer wieder neue Vorbilder
prächtiger Arbeit, die nicht nur hinter den ausländischen Durchschnittsnormen
nicht zurückbleiben, sondern manchmal auch die besten ausländischen Vorbilder
übertreffen. Sie begreifen unsere entscheidende Aufgabe: in kurzer Frist die
technisch hochentwickelten kapitalistischen Länder einzuholen und zu
überholen!...
... Unsere Kraft besteht darin, daß wir auf dem richtigen Wege sind."
Die Führer der Sowjetunion geben ganz offen zu, daß die durchschnittliche
Arbeitsproduktivität des sowjetrussischen Arbeiters noch hinter der des
Arbeiters in den kapitalistischen Ländern zurücksteht. Sie sagen aber ebenso
deutlich, daß alle Anstrengungen gemacht werden müssen, um die
durchschnittliche Arbeitsproduktivität in den kapitalistischen Ländern zu
überholen. Und bei diesen Bemühungen ist — wie Molotow sagt — die Sowjetunion
durchaus auf dem richtigen Wege.
Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Vermehrung der zur Verteilung zu
stellenden Güter und die Überwindung noch vorhandener Widersprüche könnten viel
schneller erreicht werden, wenn nicht die Feinde und die falschen Freunde der
Sowjetunion so viel Hindernisse errichten würden. Die Kriegsgefahr zwingt die
Sowjetunion, enorme Mittel und Gütermengen, die der produktiven Verteilung an
die Sowjetbürger zugeführt werden könnten, für die Landesverteidigung zu
verwenden. Auf anderen Gebieten, wie z.B. im Verkehrswesen, ist das vom
Zarismus übernommene Erbe so schäbig, daß für den Ausbau des Verkehrsnetzes
viel Kräfte und Materialien eingesetzt werden müssen, die nicht unmittelbar der
Vermehrung der zu verteilenden Güter dienen. Und auch die Stimmungsmache, die
außerhalb der Sowjetunion gegen die UdSSR betrieben wird, hemmt die Entwicklung
der gemeinsamen Kampffront, die den Sowjetmenschen ihren Kampf um den
vollständigen Sieg des Sozialismus erleichtern würde.
Die Entwicklung in der UdSSR ist noch lange nicht abgeschlossen; je größer die
Zahl der qualifizierten Arbeiter wird, die selbst die kompliziertesten
Maschinen zu handhaben verstehen, um so größer wird die Arbeitsproduktivität.
Die Grenzen, die der Steigerung der Arbeitsproduktivität im kapitalistischen
System aus den Klassengegensätzen immer wieder erwachsen, sind in der
Sowjetunion gefallen. Wenn alle beteiligten Kräfte die Bedeutung der Steigerung
der Arbeitsproduktivität für den sozialistischen Endsieg erkennen, sind die
Voraussetzungen gegeben, daß die Arbeitsproduktivität in der UdSSR in
absehbarer Zeit größer sein wird als in allen kapitalistischen Ländern. Dann
können auch die wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse aller Sowjetbürger
befriedigt werden, dann fällt die Differenzierung, dann fallen die Ursachen
fort, die von den Trotzkisten und anderen fälschlich als der Ausgangspunkt für
eine neue Klassenbildung in der Sowjetunion bezeichnet werden.
Die bisher erreichte Steigerung der Arbeitsproduktivität ist nur
durch die umfassende Mobilisierung der Menschen ermöglicht worden. Die Arbeiter
und Bauern mußten das Erbe der alten zaristischen Wirtschaft restlos
überwinden, sie mußten zu qualifizierten Arbeitskräften werden, die den
modernen Industrieapparat und die landwirtschaftlichen Maschinen voll
auszuwerten verstehen. Nachdem die Erfolge der Fünfjahrpläne nicht mehr aus der
Welt zu lügen waren, sagten die Kapitalisten, daß es den Bolschewiki zwar
gelungen sei, eine große Industrie aufzubauen, daß es ihnen aber nicht gelingen
werde, aus den russischen Menschen die Kader zu schaffen, die mit den neuen
Maschinen umzugehen und die neue Technik zu meistern verstehen. Die Verluste an
Maschinen und technischem Material, die in der ersten Zeit dadurch entstanden,
daß die vom Pflug an die Maschine gestellten Menschen mit der neuen Technik
nicht gleich fertig zu werden vermochten, wurden als unwiderlegliche Beweise
für die Richtigkeit dieser Behauptung angesehen. Dazu kam, daß Sabotageakte von
Spezialkräften, die der Sowjetunion feindlich gegenüberstanden, die Meisterung
der Technik und die Steigerung der Arbeitsproduktivität hemmten. Die
Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht sahen diese Schwierigkeiten. Aber
mit der Energie und der Planmäßigkeit, mit der in der Sowjetunion immer das
„nächste Kettenglied" gepackt wird, gingen sie an die Überwindung auch
dieser Schwierigkeiten. In einer Unterredung, die Stalin am 26. Dezember 1934
mit den Vertretern der Hüttenindustrie hatte, sagte er:
„Wir standen vor einem Dilemma: entweder mit der Ausbildung der Leute in
Schulen für technisches Elementarwissen anzufangen und die Produktion und die
massenweise Verwendung der Maschinen um 10 Jahre zu verschieben, bis in den
Schulen technisch gebildete Kader erzogen werden, oder sofort an die
Herstellung von Maschinen heranzugehen und ihre massenweise Verwendung in der
Volkswirtschaft in Angriff zu nehmen, um im Produktionsprozeß und bei der
Verwendung der Maschinen selbst den Menschen die Technik beizubringen und die
Kader auszubilden. Wir haben den zweiten Weg gewählt. Wir waren uns bewußt, daß
dadurch unvermeidlich Unkosten und Mehrausgaben in Erscheinung treten werden.
Dafür haben wir aber das Kostbarste erhalten: Wir haben Zeit gewonnen und das
Wertvollste für unsere Wirtschaft geschaffen: die Kader. Das, was in Europa
Jahrzehnte erforderte, haben wir im wesentlichen und in der Hauptsache binnen
drei bis vier Jahren zu leisten vermocht. Die Unkosten und Mehrausgaben für
Maschinenbrüche und andere Verluste haben sich mehr als bezahlt gemacht."
Nachdem ein großer Industrieapparat geschaffen war, nachdem die Menschen beim
Aufbau direkt an den für die Produktion notwendigen Maschinen mit diesen
umzugehen gelernt hatten, begann die großzügige Ausbildung der qualifizierten
Kader. Gleichfalls 1934 sagte Stalin zu dieser Frage:
„Die Menschen sorgfältig heranzubilden und sie qualifiziert zu machen, sie in
der Produktion richtig an den Platz zu stellen und zu organisieren, den Lohn so
zu organisieren, daß er die entscheidenden Kettenglieder der Produktion festige
und die Menschen zu einer höheren Qualifikation ansporne, das ist es, wessen
wir bedürfen, um eine zahlreiche Armee produktiv-technischer Kader zu
schaffen." In allen Reden der Sowjetführer, in allen Proklamationen der
Bolschewistischen Partei dieser Zeit wird die Heranbildung qualifizierter Kader
als eine der wichtigsten Aufgaben bezeichnet.
„Die technische Qualifikation dieser Kader — sagte Molotow auf dem VII.
Sowjetkongreß (1935) — muß auf die gebührende Höhe gebracht werden und darf
nicht hinter der Qualifikation der ausländischen Spezialisten zurückbleiben.
Der Qualifikation, d.h. der wissenschaftlich technischen Ausbildung, müssen wir
jetzt so viel Aufmerksamkeit widmen, wie erforderlich ist, um in der Tat die in
technischwirtschaftlicher Beziehung vorgeschrittensten kapitalistischen Länder
einzuholen und zu überholen, um dies in der kürzesten Frist zu erreichen. Die
Kader zu züchten, besonders aus den Reihen der Parteijugend und der parteilosen
Jugend heraus, indem wir sie zu ihrer Sache ergebenen und bewußten Erbauern des
Sozialismus machen, so eine neue Armee von Spezialisten zu züchten, das ist
unsere Aufgabe. Dafür darf man weder mit Mitteln noch mit Kräften sparen. Jetzt
wird sich nichts so bezahlt machen, und nichts anderes wird solche Früchte
tragen, wie eine erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe."
Neben dem Unterricht in den immer zahlreicher werdenden Schulen zur
Heranbildung von Spezialisten, werden in steigendem Maße Kurse veranstaltet, in
denen die Arbeiter eine höhere technische Qualifikation erwerben. 1935 wurden
von den technischen Kursen in den Betrieben 4.4 Millionen Personen erfaßt, 1936
rund 7 Millionen und 1937 ungefähr 8.4 Millionen. Leistungsfähige Kader von
Spezialisten und qualifizierten Arbeitern sind herangewachsen, eine täglich
größer werdende Masse von Arbeitern und Bauern lernt mit den kompliziertesten
Maschinen umzugehen und qualifizierte Arbeit zu leisten. Die ausländischen
Spezialisten, die im ersten Fünfjahrplan unentbehrlich waren, sind heute überflüssig
geworden. Die im Kampf um die Steigerung der Arbeitsproduktivität notwendige
Erziehung qualifizierter technischer Kader hat bereits entscheidende Erfolge
gezeitigt.
Um aber die
Arbeitsproduktivität auf breiter Basis zu steigern, waren auch noch andere
Mittel notwendig: Die sozialistischen Wettbewerbe, der gegenseitige Ansporn,
die Mobilisierung eines gesunden Ehrgeizes der für die sozialistische
Gemeinschaft wirkenden Menschen, die Stachanowbewegung. Hilfsmittel wie die
Stachanowbewegung sind in der Sowjetunion aus vielerlei Gründen notwendig. In
USA, England oder Deutschland z.B. die einen alten, qualifizierten
Industrieapparat seit langem haben, stehen durch Generationen hindurch schon
hochqualifizierte Industriearbeiter zur Verfügung, die in dem ehemaligen
rückständigen zaristischen Agrarland erst erzogen werden mußten. Die
Schwierigkeit, aus Dorfbewohnern, die früher vielleicht nie eine Maschine
gesehen haben, in kurzer Zeit qualifizierte Industriearbeiter zu machen, war
aber nicht die einzige, die überwunden werden mußte. Die Sowjetunion hat auf zu
vielen Gebieten ein sehr schlechtes Erbe vom zaristischen Rußland übernehmen
müssen. Lenin geißelte nach der Machteroberung „die Lotterwirtschaft, die
Nachlässigkeit, die Schlamperei, die Oberflächlichkeit, die nervöse Hast, das
Neigen dazu, anstelle der Sache die Diskussion zu setzen, anstelle der Arbeit
zu schwätzen, die Neigung, alles auf der Welt zu beginnen und nichts zu Ende zu
führen." Der alte Oblomow, die auch in der Literatur festgehaltene
Volkstype des zaristischen Rußland mit allen seinen Schwächen,
Unzulänglichkeiten und seiner Unproduktivität, „dieser alte Oblomow lebt und
leibt noch", sagte Lenin, und es ist klar, „daß man ihn noch lange
waschen, reinigen, rütteln und schütteln muß, bis endlich etwas Vernünftiges
herauskommt." Diesen alten Oblomow hat Stalin auf dem XVII. Parteitag
(1934) in seiner Rede klassisch geschildert (siehe Broschüre über diese Rede, Seite
93 usf.):
„Ich hatte im vergangenen Jahr ein Gespräch mit einem solchen Genossen, einem
sehr achtbaren Genossen, aber einem unverbesserlichen Schwätzer, der fähig ist,
jede beliebige lebendige Sache im Geschwätz zu ertränken...
Ich: Wie steht es bei euch mit der Aussaat?
Er: Mit der Aussaat, Genosse Stalin? Wir haben uns mobilisiert. (Lachen.)
Ich: Und wie?
Er: Wir haben die Frage sehr scharf gestellt. (Lachen.)
Ich: Und was weiter?
Er: Wir haben einen Umschwung zu verzeichnen, Genosse Stalin, bald wird ein Umschwung
eintreten. (Lachen.
) Ich: Wie denn?
Er: Bei uns machen sich schon Fortschritte bemerkbar.(Lachen.)
Ich: Wie steht es aber nun bei euch mit der Aussaat?
Er: Zunächst ist bei uns mit der Aussaat nichts los, Genosse Stalin.
(Allgemeines Gelächter.)
Da habt ihr das Bild eines Schwätzers. Sie haben sich mobilisiert, haben die
Frage scharf gestellt, sehen einen Umschwung und Fortschritte, aber die Sache
kommt nicht vom Fleck.
Ganz genau so hat unlängst ein ukrainischer Arbeiter den Zustand einer Organisation
charakterisiert, als man ihn nach dem Vorhandensein einer Linie in dieser
Organisation fragte. ,Nun ja, eine Linie ... eine Linie ist natürlich da, man
sieht nur keine Arbeit.' (Allgemeines Lachen.) Es ist offensichtlich, daß diese
Organisation ebenfalls ihre ehrlichen Schwätzer hat.
Und wenn man solche Schwätzer von ihren Posten absetzt, sie von der operativen
Arbeit möglichst weit entfernt, dann machen sie große Augen und fragen
bestürzt: ,Weshalb setzt man uns ab? Haben wir nicht alles getan, was für die
Sache notwendig ist, haben wir nicht ein Treffen der Stoßarbeiter organisiert,
haben wir nicht auf der Konferenz der Stoßarbeiter die Losungen der Partei und
der Regierung verkündet, haben wir nicht das ganze Politbüro ins Ehrenpräsidium
gewählt (allgemeines Lachen), haben wir nicht ein Begrüßungsschreiben an
Genossen Stalin geschickt? Was will man noch mehr von uns?' (Allgemeines
Gelächter) ... Für Schwätzer ist kein Platz in der operativen Arbeit."
Dieser alte Oblomow mußte auch überwunden werden, wenn die notwendige
Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht werden sollte. Auch dazu war der
Ansporn, die Weckung eines gesunden Ehrgeizes nötig. Eine allgemeine
Gleichmacherei, gleiches Einkommen für jeden ohne Unterschied der Leistungen
hätte den „alten Oblomow" nicht „gerüttelt und geschüttelt, bis endlich
etwas Vernünftiges herausgekommen" wäre.
Zum ständigen Material derer, die die Sowjetunion nicht als die Sache der
gesamten Arbeiterklasse, sondern als die Angelegenheit einer gegnerischen
Partei betrachten, gehört der Hinweis auf die Akkordarbeit, die in der UdSSR
auch nicht anders gehandhabt werde als in den kapitalistischen Ländern. Dort
werde ebenso wie hier die Steigerung der Arbeitsleistung des einzelnen
Arbeiters zur Senkung der Akkordlöhne benutzt. Die Stachanowbewegung sei nichts
anderes als eine raffinierte Methode, die Arbeiter ebenso bis zur letzten Kraft
auszupressen, wie das in den kapitalistischen Ländern die Kapitalisten mit
Hilfe der Rationalisierung tun. Ein Beispiel für die Art, wie die
außerordentlichen Bemühungen um die Steigerung der Arbeitsproduktivität
betrachtet werden, lehrt ein Ende 1936 in der österreichischen
„Arbeiterzeitung", dem Blatt der christlichen Gewerkschaften,
veröffentlichter Bericht „eines aus Rußland zurückgekehrten Arbeiters", in
dem u.a. zu lesen steht:
„Schwarze und rote Tafeln in jeder Werkstätte und Abteilung üben einen
moralischen Zwang aus. Auf der schwarzen Tafel werden öffentlich alle jene
Arbeiter namentlich vermerkt, die In der Planerfüllung im Rückstände sind, auf
der roten Tafel jene Arbeiter, die den Tagesplan übererfüllten. Außerdem sind
in jeder Abteilung noch die Wandzeitungen, worauf in verschiedenen Karikaturen
jene Arbeiter festgehalten sind, die ihr Zwangspensum an Produktion nicht eingehalten
haben.
Bemerkenswert ist noch das Prämiensystem, welches auf spekulativer Basis
aufgebaut ist und im Produktionsprozeß eine bedeutende Rolle spielt. Indem man
dieses System mit Wettbewerbs-Ausbeutungsmethoden verbindet,
Wettbewerbs-Verträge von Abteilung zu Abteilung, von Betrieb zu Betrieb mit der
Arbeiterschaft abschließt, erzielt man die gewünschten Resultate. Als schärfste
Maßnahme der Ausbeutung der Arbeiter ist jene anzusprechen, daß man einfach
alle jene Arbeiter, die ihr Tagespensum mehrmals nicht einhalten, als
Schädlinge und Saboteure erklärt."
Im Zusammenhang mit einer Charakterisierung der Stachanowarbeit schreibt der
gleiche Berichterstatter:
„Den Sowjetarbeitern steht die Freiheit zu, Rationalisierungsvorschläge für den
Arbeitsprozeß zu machen, die Zeit- und Materialersparnis ergeben; dafür gewährt
man den Arbeitern einen einmaligen kleinen Prozentanteil an der Ersparnissumme,
wenn dieser Vorschlag nach kommissioneller Begutachtung angenommen wurde.
Diese Methode ist für die Betriebe von großem Vorteile, da erstens große
Materialersparnisse erzielt werden, andererseits wird die Ausbeutungsmethode
auf eine Höhe gebracht, die in der Privatwirtschaft nie erreicht werden kann.
Solche rationalisierte Arbeitszeitnormen gelten dann für die Betriebe als
Zeitnormen und werden auch auf andere Betriebe übertragen."
Diese Kritik zeigt wie alle Kritiken ähnlicher Art die Unfähigkeit, den
Unterschied zwischen der Stellung des Arbeiters im sozialistischen und im
kapitalistischen Betrieb zu erkennen. Dieser Unterschied ist aber von
entscheidender Bedeutung. Der Verfasser hat schon im Jahre 1926 in einem
Artikel „Das Problem" sehr eindeutig darauf hingewiesen, welcher
Unterschied in der Beurteilung der Arbeitsleistung der Arbeiter im
kapitalistischen Betriebe und der Arbeiter in den schon vorhandenen
sozialistischen Betrieben und Genossenschaften besteht. In diesem Artikel, der
in einem großen Teil der deutschen sozialdemokratischen Presse und im
Zentralorgan der deutschen Konsumgenossenschaften abgedruckt wurde, hieß es
u.a.:
„Hier entsteht für den sozialistischen Betrieb die Frage, ob er zuerst seine
Arbeiter und Angestellten besser stellen soll oder ob um der Sache, um des
größeren Zieles willen nicht zuerst die bessere und billigere Produktion
erreicht werden muß, und dann erst, dank dieser besseren und billigeren
Produktion die Besserstellung der Arbeiter und Angestellten kommen kann.
Betrachten wir diese Frage vom Standpunkt des sozialistischen
Vorwärtsschreitens, dann muß die bessere und billigere Produktion als das
Vordringlichere betrachtet werden. Bei dem Kampf, den wir Sozialisten führen,
geht es nicht darum, für einige Wenige die soziale Frage zu lösen oder bessere
soziale Arbeitsbedingungen zu schaffen, sondern vielmehr darum, die soziale
Lage der ganzen proletarischen Klasse zu bessern .... Im Kampf um dieses Ziel
sind die heute schon vorhandenen sozialistischen Betriebe wichtigste
Kampfmittel, sie müssen intakt sein, mit ihnen muß bewiesen werden können, daß
der sozialistische Betrieb leistungsfähiger ist als der kapitalistische, daß
der Sozialismus den Menschen die Güter geben kann, die ihnen der Kapitalismus
vorenthält. Dieser großen Aufgabe müssen die Arbeiter und Angestellten in den
sozialistischen Betrieben sich unterordnen, sofern sie Sozialisten und
Mitkämpfer für die Befreiung der proletarischen Klasse sein wollen.... Sie
müssen durch ihre größeren Leistungen, durch ihre Hingabe ihre Arbeitsfreude
und Arbeitsintensität es ermöglichen daß der sozialistische Betrieb trotz der
höheren Löhne besser und billiger produzieren kann als der kapitalistische
Betrieb. Wir Sozialisten verfechten überall den Gedanken, daß bessere
Entlohnung und bessere Behandlung des Arbeiters sein Menschsein und seine
Leistungsfähigkeit steigert, daß der Arbeiter, der frei und froh für eine gute
Sache schaffen kann, mehr leistet als der, hinter dem immer die Knute steht und
der nur für den Profit des Kapitalisten schafft.
Die Arbeiter und Angestellten in den sozialistischen Betrieben müssen aller
Welt sichtbar machen, daß unsere sozialistischen Behauptungen richtig sind, sie
werden damit wirksamer als mit all den schönen Reden unserer Agitatoren ihren
Arbeitsbrüdern in den kapitalistischen Betrieben bessere Arbeitsbedingungen und
bessere Löhne erstreiten.
Vielleicht gibt es heute in sozialistischen Betrieben noch Arbeiter und
Angestellte, die offen der Meinung Ausdruck geben, sie dürften in
sozialistischen Betrieben nicht so schuften und so ausgebeutet werden wie im
kapitalistischen Betriebe. Denen .... muß immer wieder gesagt werden, daß die
erzwungene Mehrleistung im kapitalistischen Betrieb dem Profit des
Einzelkapitalisten zugute kommt, daß dagegen die freiwillige Mehrleistung im
sozialistischen Betrieb, die Anspannung aller Kräfte, der proletarischen
Organisation, dem proletarischen Aufstieg zugute kommt .... Von den für die
sozialistische Idee begeisterten Menschen, von den Leistungen der Arbeiter und
Angestellten in den sozialistischen Betrieben hängt es ab, ob in der Praxis die
Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsform bewiesen werden kann, ob es
uns gelingt, alle Argumente gegen den Sozialismus zu zerschlagen und zu
beweisen, daß die sozialistischen Betriebe besser und billiger produzieren und
ihre Arbeiter und Angestellten besserstellen können als die kapitalistischen
Betriebe."
In diesem Artikel ist das Problem der sozialistischen, genossenschaftlichen
Betriebe im kapitalistischen Lande behandelt. Es ist natürlich
selbstverständlich, daß durch die Genossenschaftsbetriebe der Sozialismus nicht
verwirklicht wird, daß vielmehr die Voraussetzungen dafür die grundlegende
Änderung der Ökonomischen Verhältnisse, die Vernichtung der Ausbeuterklasse als
Klasse ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet gilt das, was in dem vor mehr
als einem Jahrzehnt geschriebenen Artikel über die Steigerung der
Arbeitsproduktivität, über die Aufgaben der Arbeiter in den
genossenschaftlichen Betrieben im damaligen kapitalistischen Deutschland gesagt
wird, in einem viel stärkeren Maße für die Werktätigen in den sozialistischen
Betrieben der sozialistischen Sowjetunion. In der UdSSR gibt es keine
kapitalistischen Betriebe mehr, in ihr ist die Gesamtproduktion
vergesellschaftet. In der Sowjetwirtschaft ist die gesteigerte Arbeitsleistung
der Arbeiter, die Erhöhung der Leistungsnormen und der Einsatz der ganzen
Persönlichkeit für die Erhöhung der Arbeitsproduktivität ganz anders zu
bewerten als die Arbeit der Proletarier in den kapitalistischen Betrieben.
Für die Richtigkeit der verschiedenen Einschätzung der Arbeit kann sich die
Sowjetmacht auch auf Karl Marx und auf August Bebel berufen. August Bebel hat
in seinem Buche „Die Frau und der Sozialismus" mancherlei über die
Steigerung der Arbeitsproduktivität gesagt, was einige Jahrzehnte später in der
Sowjetunion praktisch angewandt wurde. Der Führer der alten deutschen
Sozialdemokratie hat im voraus die Argumente derer widerlegt, die die
Stachanowbewegung und die Wettbewerbe als unsozialistisch kritisieren und sie
mit kapitalistischer Ausbeutung vergleichen. August Bebel schrieb in dem
Kapitel über „Die Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft" (50.
Auflage, Seite 375 usf.) u.a.:
„Sobald die Gesellschaft im Besitze aller Arbeitsmittel sich befindet, wird die
Arbeitspflicht aller Arbeitsfähigen, ohne Unterschied des Geschlechts,
Grundgesetz der sozialisierten Gesellschaft. (Die Sowjetverfassung drückt das
in dem Satz aus: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! D.V.) Die
Gesellschaft kann ohne Arbeit nicht existieren. Sie hat also das Recht, zu
fordern, daß jeder, der seine Bedürfnisse befriedigen will, auch nach Maßgabe
seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten an der Herstellung der
Gegenstände zur Befriedigung der Bedürfnisse aller tätig ist ....
Ferner haben alle das Interesse, da sie gegenseitig für einander arbeiten, daß
alle Gegenstände möglichst gut und vollkommen und mit möglichst geringem
Aufwand an Kraft und Arbeitszeit hergestellt werden, sei es um Arbeitszeit zu
sparen, oder um Zeit für Erzeugung neuer Produkte zur Befriedigung höherer
Ansprüche zu gewinnen. Dieses gemeinsame Interesse veranlaßt alle, auf
Verbesserung, Vereinfachung und Beschleunigung des Arbeitsprozesses zu sinnen.
Der Ehrgeiz, zu erfinden und zu entdecken, wird im höchsten Grade angeregt,
einer wird an Vorschlägen und Ideen den anderen zu überbieten suchen." In
einer Fußnote fügte August Bebel noch hinzu:
„Die Wetteifernden werden allerdings vom Ehrgeiz getrieben, sich auszuzeichnen,
von der Sucht, der gemeinsamen Sache zu nützen. Diese Art Ehrgeiz ist aber eine
Tugend, er betätigt sich zum Wohle aller, bei dem auch der Einzelne seine
Befriedigung findet. Ehrgeiz ist nur schädlich, wo er zum Schaden des Ganzen
oder auf Kosten anderer sich betätigt."
Die gesteigerte Leistung des Arbeiters in der „sozialistischen
Gesellschaft" ist also schon nach der Lehre August Bebels etwas
grundsätzlich anderes als die Leistungssteigerung des Arbeiters in der
kapitalistischen Gesellschaft. Der Ehrgeiz des Stachanowarbeiters ist eine
Tugend, die sich zum Wohle aller betätigt. Und wozu führt die gesteigerte
Leistung des Arbeiters in der „sozialisierten Gesellschaft"? August Bebel
sagt an der gleichen Stelle:
„Erhöhte Produktion gereicht allen zum Vorteil; der Anteil des Einzelnen am
Produkt steigt mit der Produktivität der Arbeit und die steigende Produktivität
ermöglicht wieder die als gesellschaftlich notwendig bestimmte Arbeitszeit
herabzusetzen."
Der grundlegende Unterschied, der zwischen den Produktionsverhältnissen in der
Sowjetunion und in den kapitalistischen Ländern besteht, zwingt zu einer
grundverschiedenen Einschätzung der Arbeit unter den beiden
Wirtschaftssystemen. Im kapitalistischen Betrieb kommt jede Mehrleistung des
Arbeiters, jede Rationalisierungsmaßnahme, jede Steigerung der
Arbeitsproduktivität schließlich nur dem Kapitalisten zugute. Leistet der
Arbeiter mehr, so erhält er zunächst auch einen höheren Lohn, der ihm ein
höheres Lebensniveau gewährt als seinen weniger leistungsfähigen
Arbeitskollegen. Den Mehrwert aber, den er durch geschicktere Ausnützung der
Maschine erzeugt, steckt der Kapitalist ein. In dem Bestreben, seinen Profit zu
erhöhen, versucht der Unternehmer anhand der Arbeitsergebnisse der
leistungsfähigsten Arbeiter die Akkordsätze herabzusetzen, was alle Arbeiter zu
gesteigerter Anstrengung zwingt, um nur den alten Lohn zu verdienen. Wollen die
leistungsfähigeren Arbeitskräfte ihren Lohnvorsprung halten, so müssen sie noch
mehr Kraft anwenden, müssen sie für den Unternehmer einen noch größeren
Mehrwert erzeugen. Das Endergebnis dieser Steigerung der Arbeitsproduktivität
im Kapitalismus ist eine Überproduktion, die zur Krise und zur Arbeitslosigkeit
großer Massen der Arbeiter führt, die auch in Zeiten der Konjunktur keine
Garantie eines stabilen höheren Lohnes und keine gesicherte Lebensexistenz
erreichen können.
In der gesellschaftlichen Organisation dagegen, in der alle Produktionsmittel
Eigentum der Gesamtheit sind, in der es keine ausbeutenden Klassen und keine
Ausbeuter mehr gibt, hat die Steigerung der Arbeitsleistung einen ganz anderen
Sinn. Der qualifizierte Arbeiter, der seine ganze Kraft für eine erhöhte
Arbeitsleistung einsetzt, verbessert zunächst natürlich auch sein persönliches
Lebensniveau. Aber nicht nur das, er hilft damit unmittelbar das Lebensniveau
des ganzen Volkes zu erhöhen. Von seiner Mehrleistung profitiert kein
Kapitalist, kein Ausbeuter kann dadurch reicher werden. Die Verbesserung der
Arbeitsmethoden führt zu einer allen zum Vorteil gereichenden allgemeinen
Steigerung der Arbeitsproduktivität. Der Ablauf der Dinge in der Sowjetunion
beweist, daß dort ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufschwung der
Wirtschaft und der ständigen Verbesserung der Lebensverhältnisse der
werktätigen Massen besteht.
Die bewußte Aktivität der Stachanowarbeiter für die Steigerung der
Arbeitsleistung wirkt unmittelbar für die Verbilligung der Produktion, für die
Vermehrung der Güter, für die Senkung der Preise und für die Erhöhung des
Reallohnes. Die Sowjetarbeiter selbst haben sehr aktiv an der Erhöhung der
Leistungsnormen mitgewirkt. Sie wissen, daß die Steigerung der
Leistungsfähigkeit für die Hebung der Arbeitsproduktivität notwendig ist; sie
wissen, daß z.B. im Jahre 1937 jedes Prozent Hebung der Arbeitsproduktivität
eine Zunahme der industriellen Produktion um 674 Millionen Rubel bedeutet. Sie
wissen schließlich, daß die Mehrproduktion unter sozialistischen
Produktionsverhältnissen nicht wie in der kapitalistischen Gesellschaft zu
Absatzschwierigkeiten, Krisen und Arbeitslosigkeit führt, sondern umgekehrt zu
einer unbestreitbaren besseren Befriedigung der wirtschaftlichen und
kulturellen Bedürfnisse aller Bürger, zu einer allgemeinen Vermehrung des
Wohlstandes.
Unter dem Kapitalismus ist die Arbeit eine anstößige Sache, eine unangenehme
Verpflichtung, eine Fron, eine Last. Unter den sozialistischen
Produktionsverhältnissen in der UdSSR hat die Arbeit alle diese unangenehmen
Charaktereigenschaften verloren, sie wird zu einem Bedürfnis, zu einer Freude,
sie wird geachtet, sie wird geehrt. Der Arbeiter, der in einem kapitalistischen
Betriebe über die Tarifnorm hinaus schuftet, erhöht den Profit seines
Ausbeuters und schädigt seine Klassengenossen. Der Arbeiter, der in den
vergesellschafteten Betrieben der sozialistischen Sowjetunion seine Leistungen
über die Norm hinaus steigert, wirkt unmittelbar für die Hebung des
Lebensniveaus seiner Klasse und des ganzen Volkes. Er hilft zu seinem Teil
aktiv mit, den Sieg des Sozialismus zu vollenden und die klassenlose
Gesellschaft zu errichten. Darum ist die Akkordarbeit in der Sowjetunion etwas
grundsätzlich anderes als die Akkordarbeit in den kapitalistischen Ländern,
ebenso wie die Stachanowbewegung in keiner Weise mit der Rationalisierung und
der Stoßarbeit in kapitalistischen Betrieben verglichen werden kann.
Der Einsatz der vollen Kraft und Intelligenz eines Arbeiters in der Sowjetunion
kann niemals als eine Ausbeutung dieses Arbeiters bezeichnet werden, sondern
ist in der Tat — wie man in der UdSSR sagt — „eine Sache der Ehre und des
Ruhmes".
Der Arbeiter, der in der Sowjetunion bei seiner Arbeit das Letzte herausholt,
ist ein qualifizierter Sozialist, der an seinem Platze mithilft, die
Überlegenheit der sozialistischen über die kapitalistische Produktion praktisch
zu beweisen. Unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen wird der
Mensch, der im Kapitalismus der Sklave der Maschine ist, zum Herrn, zum
Beherrscher der Maschine. Unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen
werden zum ersten Male in der Geschichte die Fortschritte der Technik in des
Wortes wahrster Bedeutung der Lebensbereicherung der Menschheit dienstbar
gemacht. Durch diese Veränderung des Charakters der Arbeit in der Sowjetunion
wird allmählich auch der Gegensatz zwischen geistiger und körperlicher Arbeit
völlig beseitigt, ebenso auch der Gegensatz zwischen industrieller und
landwirtschaftlicher Arbeit. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen
der Arbeiter- und Bauernklasse, kommen auch dadurch immer mehr zum
Verschwinden.
Millionen arbeitende Menschen in Stadt und Land wissen, daß unter den
sozialistischen Produktionsverhältnissen in der Sowjetunion das Volk nur für sich
selbst arbeitet, daß von der Fruchtbarkeit, der Ergiebigkeit der Arbeit die
Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes und die Überwindung noch vorhandener
Mängel abhängt. Die vielen Millionen Teilnehmer der sozialistischen
Wettbewerbe, die zahlreichen Stoßbrigadler und Stachanowarbeiter sind von
diesem Gedanken erfüllt. Sie sehen ihre sozialistische Gegenwartsaufgabe: die
Steigerung der Arbeitsproduktivität. Deren nächstes Ergebnis ist die
Übererfüllung der Fünfjahrpläne, das weitere Ergebnis jedoch wird die
Liquidierung des von Trotzki kritisierten Widerspruches zwischen den
sozialistischen Produktionsverhältnissen und der Arbeitsproduktivität sein. Da
— nach Trotzkis Argumenten — dieser Widerspruch die Ursache der
Einkommensungleichheit, der zur neuen Klassenbildung führenden Differenzierung
sein soll, hilft die Stachanowbewegung unmittelbar mit, die Ungleichheit zu
überwinden und die höchste Phase der kommunistischen Gesellschaft
vorzubereiten.
Der vollständige Sieg des Sozialismus muß erst noch erkämpft werden, der Kampf
um die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft ist noch im Gange. In diesem
Kampfe ist der Arbeiter im Sowjetbetrieb und der Bauer in den Kolchosen ein
Soldat, von dessen heroischem Einsatz, von dessen dem großen Ziel dienenden
Leistungen der Ausgang dieses gewaltigen — auch im Interesse der ganzen
Weltarbeiterklasse geführten — Ringens abhängt. Die überwiegende Mehrheit der
Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion hat die ihr an ihrem Arbeitsplatz
gestellte Aufgabe voll begriffen. Die sozialistischen Arbeiter in den anderen
Ländern müssen ebenso begreifen, daß die Stachanowbewegung nicht gegen
sozialistische Prinzipien verstößt, sondern der heldenmütige Kampf des
wirklichen sozialistischen Menschen ist, der alle seine Kraft und alle seine Intelligenz
einsetzt, um den Weg zur vollen Verwirklichung des Sozialismus zu verkürzen.
„Das verbreitetste, populärste und auf den ersten Blick
unwiderlegliche Argument für den nicht-proletarischen Charakter des heutigen
Sowjetstaates ist der Hinweis auf die Erstickung der Freiheit der
proletarischen Organisationen“
So schrieb Trotzki in der Ende 1933 erschienenen Broschüre „Die 4.
Internationale und die UdSSR". Später hat er diesen Vorwurf noch schärfer
formuliert. In der 1936 erschienenen Schrift über „Die Terroristenprozesse“
behauptet er, „daß sich die Stalinfraktion über die Partei und sogar über die
Bürokratie erhebe" und. „das neue bonapartistische Prinzip der Unfehlbarkeit
des lebenslänglichen Führers" verkünde.
Der Vorwurf, daß in der Sowjetunion die Meinungsfreiheit unterdrückt sei, kehrt
in den Diskussionen über die UdSSR in den verschiedensten Variationen immer
wieder. In Andre Gides „Retour de FURRS" spielt der Konformismus, der in
der Sowjetunion herrschen soll, eine große Rolle. Der Zwang von oben, der jede
Meinungsfreiheit gewaltsam unterdrücke, ertöte jede selbständige, freie
geistige Regung und erzwinge die völlige Gleichschaltung der Gesinnung. Die
Folge davon sei, daß junge Menschen, die sich von diesem geisttötenden
Konformismus nicht bedrückt fühlen, von einem sträflichen Selbstbewußtsein und
von einer Überheblichkeit gegenüber allem, was in der kapitalistischen Welt
vollbracht werde, seien. Andre Gide selbst vergleicht die UdSSR mit
Hitlerdeutschland. Er bezweifelt, ob in irgendeinem anderen Lande heute, es sei
denn in Hitlerdeutschland, der Geist weniger frei, niedergedrückter,
furchtsamer (eingeschüchterter), verknechteter sei.
Vom marxistischen Standpunkt ist ein solcher Vergleich undiskutabel. An anderer
Stelle dieses Buches wird auseinandergesetzt, daß und warum zwischen
faschistischer und proletarischer Diktatur ein grundlegender Unterschied
besteht. Die faschistische Diktatur dient der Erhaltung der kapitalistischen
Klassenherrschaft und der gewaltsamen Unterdrückung jeder freiheitlichen Regung
gegen diese Klassenherrschaft. Die Aufgabe der faschistischen Diktatur ist die
gewaltsame Niederhaltung der arbeitenden Klassen; sie würde diese ausrotten,
wenn die kapitalistische Klassengesellschaft ohne arbeitende Klassen existieren
konnte. Die Diktatur des Proletariats dagegen dient der Errichtung einer
klassenlosen Gesellschaft, die jede Unterdrückung und die Diktatur des
Proletariats selbst überflüssig macht. In keiner Weise können also Maßnahmen
der beiden Herrschaftsformen gleichgesetzt werden, auch dann nicht, wenn sie
äußerlich gleich scheinen. Andre Gide aber vergleicht ein Gebiet, auf dem die
unter den beiden Herrschaftsformen vorhandenen Zustände nicht einmal äußerlich
gleich scheinen.
In Hitlerdeutschland gibt es keinerlei Meinungs- und Geistesfreiheit, das
deutsche Volk, besonders die Arbeiterklasse, wird mit dem furchtbarsten Terror
für jedes kritische Wort bestraft. Die Arbeiter in den Betrieben sind nichts
als „Gefolgschaft", die stumm und willig den Anweisungen des
„Betriebsführers", des Unternehmers, zu folgen hat. Die Arbeiterschaft hat
keine Möglichkeit, in regelmäßigen Betriebsversammlungen frei ihre Meinung über
die Gestaltung der Produktion des Betriebes, über die wirtschaftlichen und
kulturellen Verhältnisse an ihrem Arbeitsplatze zu sagen. Die Arbeiter und
Angestellten haben keine erlaubte Möglichkeit, für die Erhöhung ihres Lohnes,
für die Verbesserung ihres Lebensniveaus zu wirken. Sie sind, nach dem Willen
der herrschenden faschistischen Diktatur, ewige Sklaven, die nie aus der
zermürbenden Tretmühle der Lohnarbeit für den Profit des Privatkapitalisten
herauskommen, still und geduldig für das reibungslose Funktionieren des
kapitalistischen Betriebes zu schuften haben.
In der Sowjetunion ist den ehemals herrschenden Klassen alle Meinungs- und
Bewegungsfreiheit genommen worden. Sie wurden als Klasse vernichtet, weil sie
für die sozialistische Wirtschaft ebenso überflüssig wie schädlich sind. Die
Arbeiter in den Betrieben und die Bauern in den Kolchosen aber haben dagegen
Diskussions- und Bestimmungsrecht bei der Gestaltung der Arbeit ihres Betriebes
und der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse. Auf diesem für das Leben der
arbeitenden Menschen sehr wichtigen Gebiete haben die Arbeiter und Bauern in
der Sowjetunion eine weitgehende Demokratie, die sich wie der Tag von der Nacht
von dem Zustand in den Betrieben in Hitlerdeutschland unterscheidet, und die
auch unendlich weiter geht als die Betriebsdemokratie in den
demokratisch-kapitalistischen Ländern. Die Betriebsversammlungen, die
Versammlungen einzelner Abteilungen in den Betrieben, die Arbeit der vielen
politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zirkel und die umfassende
gesellschaftliche Arbeit innerhalb der Betriebe — das ist lebendiger Beweis für
reges geistiges Leben unter den arbeitenden Menschen, für eine weitgehende
geistige Bewegungsfreiheit und für die Möglichkeit, daß jeder Einzelne seine
geistigen und sonstigen Fähigkeiten zur Hebung des allgemeinen Niveaus der
Gesellschaft frei entfalten kann. Da ist nichts von Niedergedrücktheit,
Furchtsamkeit, Verknechtung zu spüren.
Aber — so sagen die Kritiker — in der Politik werde auch Arbeitern
und Bauern die freie Meinungsäußerung und das demokratische Mitbestimmungsrecht
verweigert. Politisch herrsche — wie Trotzki behauptet — die Diktatur Stalins,
Auch Otto Bauer spricht von der zeitweilig völligen Ausschaltung der Demokratie
in der Sowjetunion. In seinem Buche „Zwischen zwei Weltkriegen" versucht
er bestimmte Wandlungen der Diktatur aufzuzeigen und diese aus der jeweiligen
wirtschaftlichen Situation zu erklären. Er schreibt dort (155/156):
„In dieser Phase veränderte sich abermals die Funktion der Diktatur. Indem die
Diktatur dem Bauern schwere Opfer auferlegte, um den industriell-proletarischen
Sektor der Gesellschaft, das Klassengewicht der Arbeiterklasse innerhalb der
Gesellschaft zu vergrößern, indem sie die Bauernwirtschaften kollektivierte, um
die Macht des Staates über die Bauernwirtschaft und über die Erträge ihrer
Arbeit zu sichern, wurde die Diktatur in dieser Phase zur Diktatur des
Proletariats über die Bauern, setzte sie gegen die Bauern die
Entwicklungsnotwendigkeiten des Proletariats durch. Aber wenn die Diktatur in
diesem Prozeß die Zukunftsnotwendigkeiten des Proletariats durchsetzte, so
zwang sie zugleich das Proletariat selbst, heute die schwersten Opfer zu
bringen, um für die Zukunft die Sicherung der Errungenschaften seiner
Revolution und die Möglichkeit einer wesentlichen Erhöhung seiner Lebenshaltung
zu erobern. Sie setzte gegen die Tagesbedürfnisse der einzelnen Proletarier die
Erfordernisse der Zukunft des Proletariats durch. Diese Aufgabe konnte freilich
nicht eine Diktatur von Sowjets erfüllen, deren Mitglieder jeden Tag von ihren
Auftraggebern abberufen werden können, damit sie jeden Tag nach den jeweiligen
egoistischen Wünschen, nach den jeweiligen Auffassungen und jeweiligen
Tagesbedürfnissen ihrer Wähler entscheiden. Diese Aufgabe konnte nur eine über
einen allmächtigen bürokratisch-militärisch-polizeilichen Machtapparat
verfügende Parteidiktatur bewältigen, die sich ihr Ziel aus der Erkenntnis der
Entwicklungs-, der Zukunftsinteressen des Proletariats setzt, aber die
notwendigen Mittel zu diesem Ziele auch widerstrebenden Proletarierschichten,
vor allem den sich eben erst aus der Bauernschaft herauslösenden, in die
Industrie überführten, auch in der Industrie noch die Lebens-, Arbeits- und
Denkgewohnheiten der Bauernschaft mitschleppenden Proletariern aufzwingt.
Zugleich veränderte sich aber damit auch neuerlich die innere Struktur der
Parteidiktatur. In einer Zeit, in der der Notschrei hungernder, verhungernder
Massen auch in die Parteizellen drang, in der auch innerhalb der Partei viele
wankend und mutlos wurden, in der sich die Widerstände proletarischer Massen
auch innerhalb der Partei spiegelten, konnte nur eine stählerne Diktatur über
die Partei selbst sichern, daß die Partei zäh, unbeugsam, unerschütterlich die
Erreichung des gesteckten Zieles erzwang. In dieser Phase hat Stalin innerhalb
der Partei eine Opposition nach der anderen niedergerungen und mit den Mitteln
des staatlichen Terrors vernichtet. In dieser Phase hat er jede Diskussion
innerhalb der Partei unmöglich gemacht, die Partei selbst aus einem Organ der
Willensbildung in ein blind gehorchendes Organ seines Willens verwandelt."
Falsch an dieser Darstellung ist vor allem die Behauptung, daß zuzeiten die
persönliche Diktatur Stalins alle anderen Einflüsse ausgeschaltet habe. Otto
Bauer gibt dieser Feststellung allerdings einen ganz anderen Ton als Trotzki.
Er fährt im Anschluß an das oben wiedergegebene Zitat fort:
„Aber so furchtbar die Opfer waren, mit denen der große Industrialisierungs-
und Kollektivierungsprozeß erkauft werden mußte, so berauschend groß sind seine
Erfolge." Aus Otto Bauers Darstellung ist zu schlußfolgern, daß die
zeitweilige persönliche Diktatur Stalins notwendig war, um über die vorhandenen
Schwierigkeiten hinwegzukommen, um die berauschend großen Erfolge zu ermöglichen,
um die Voraussetzungen für das demokratische Mitbestimmungsrecht der Massen zu
schaffen. Aber die persönliche Diktatur eines Mannes hat nie bestanden; sie ist
unvereinbar mit dem Organisationsprinzip der leninschen Partei. Gewiß ist
Stalins Einfluß in der Bolschewistischen Partei sehr groß. Trotzdem ist niemals
und in keiner Situation sein Wille allein maßgebend gewesen. So sehr auch in
manchen schwierigen Situationen das Funktionieren der Demokratie in den
Parteiorganisationen gehemmt gewesen sein mag, entschieden hat immer die
Partei. Alle wichtigen Entscheidungen sind von der Partei und deren Instanzen
herbeigeführt worden.
Das leninsche Organisationsprinzip ist so fest in der Bolschewistischen Partei
verankert, daß es von niemandem über den Haufen geworfen werden kann. Die
Partei ist das Wichtigste, dem sich jede, auch die führendste Einzelperson,
unterzuordnen hat. Innerhalb der Partei, bei den Diskussionen in der
Organisation, war Gelegenheit zur Willensbildung. Aber nach der Entscheidung
der Partei durfte keine Einzelperson die Durchführung der gefaßten Beschlüsse
durchkreuzen. Nach Abschluß der Diskussionen wurde energisch gegen Oppositionen
vorgegangen, die Mehrheitsbeschlüsse der Partei nicht anerkannten und Aktionen
der Partei öffentlich zu stören versuchten.
Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß alles, was in den letzten Jahren als
diktatorische Maßnahmen Stalins „gebrandmarkt" wurde, ausnahmslos auf
Mehrheitsbeschlüssen von Parteitagen oder des Zentralkomitees beruhte, die in
jedem Falle erst nach einer mehr oder weniger ausführlichen Diskussion zustande
kamen. Um die allgemeine, in den sozialistischen Kreisen außerhalb der
Sowjetunion weit verbreitete Meinung von der „Diktatur Stalins" über die
Partei zu widerlegen, wäre es sehr nützlich, in einer besonderen Schrift einmal
alle im letzten Jahrzehnt durchgeführten Maßnahmen daraufhin nachzuprüfen,
inwieweit sie eigenmächtige Handlungen Stalins oder Beschlüsse der Partei
waren. Das Ergebnis würde sein, daß jede Maßnahme von der Partei beschlossen
wurde. In der Sowjetunion ist die Partei die entscheidende Kraft. Allerdings
haben starke Persönlichkeiten mit Führerqualitäten wie überall so auch in der
Bolschewistischen Partei erheblichen Einfluß auf Entscheidungen. Lenin war eine
solche außergewöhnliche Persönlichkeit. Heute wird das allgemein anerkannt.
Jedoch vor seinem Tode war auch seine Person durchaus nicht unumstritten. Es
gibt eine Fülle von Beweisen, daß seine Gegner aus den verschiedensten Lagern
auch noch nach 1917 seine große geschichtliche Leistung bestritten. Aber das
ändert nichts an der Größe der Persönlichkeit Lenins, die natürlich dazu
beitrug, daß die Entscheidungen der Partei meist im Sinne seiner Vorschläge
ausfielen. Trotzdem ist Lenin — vor und nach der Oktoberrevolution — auch im
Zentralkomitee der Partei gelegentlich in der Minderheit geblieben. Sogar in
ihm so wichtig erscheinenden Fragen, daß er seinen Rücktritt aus dem
Zentralkomitee ankündigte.
Im Lager der Gegner des Bolschewismus ist Stalin eine nicht minder umstrittene Persönlichkeit
als es Lenin bis zu seinem Tode war. Die Polemiken gegen Stalin sind jedoch oft
noch schärfer und gehässiger als früher gegen Lenin, weil sie von dem
besonderen Haß der Trotzkisten vergiftet werden. Die Hetze der Trotzkisten hat
Stalin zu einem intriganten, blutdürstigen, unfähigen Allerweltsscheusal
gemacht, das für alle Verbrechen und Schicksalsschläge in der ganzen Welt
verantwortlich ist. In Wahrheit ist Stalin ebenso wie Lenin eine
außergewöhnlich starke Persönlichkeit, deren große geschichtliche Leistung
schon heute jeder vorurteilsfreie Beobachter anerkennen muß. Nur darum hat
Stalin — ebenso wie früher Lenin — einen erheblichen Einfluß auf die Beschlüsse
der Bolschewistischen Partei. Die großen Erfolge des sozialistischen Aufbaus
haben zweifellos das Ansehen Stalins und den Wert seines Wortes bei
Entscheidungen der Partei gesteigert. Aber nicht Stalin — die Bolschewistische
Partei entscheidet.
Diesen Tatbestand geben zuweilen — wenn auch unfreiwillig — die erbittertsten
Feinde Stalins zu. Ein Beispiel dafür ist in einem Brief eines angeblichen
„Alten Bolschewiken" enthalten, den der menschewistische „Sozialistische
Bote" im Februar 1937 „Zur Vorgeschichte der Moskauer Prozesse"
veröffentlichte. Diesen Brief hat auch die „Internationale Information"
der II. Internationale verbreitet, und über diese hat er Eingang in
sozialdemokratischen Zeitungen, unter anderem auch im „Neuen Vorwärts" des
deutschen sozialdemokratischen Parteivorstandes gefunden, Dem ganzen Ton nach
stammt der Brief von einem fanatischen Gegner Stalins aus dem menschewistischen
Lager. Inmitten der heftigsten Angriffe gegen die Sowjetmacht erzählt der
Verfasser eine lange Geschichte über Kirows politische Aktivität. Dabei wird
unter anderem mitgeteilt, daß Kirow im Zentralkomitee eine eigene politische
Linie vertrat und daß sich die Mehrheit des Zentralkomitees gelegentlich
gegenüber dem in den zur Entscheidung stehenden Fragen angeblich
„zurückhaltenden" Stalin für Kirows Linie entschied. Das Wesentliche an
dieser ganzen mit den schärfsten Angriffen gegen Stalin und die Sowjetmacht
gespickten Darstellung ist die von dem Verfasser wahrscheinlich nicht gewollte,
aber doch richtige prinzipielle Feststellung, daß im Zentralkomitee der
Bolschewistischen Partei ein freier Meinungsaustausch stattfindet, daß im
Rahmen der Gesamtkonzeption jeder seinen selbständigen Standpunkt vertreten und
für diesen die Mehrheit der Partei gewinnen kann. Faktisch bedeutet das, daß in
jedem Falle die Mehrheit der Partei entscheidet. Es ist also nicht richtig, daß
Stalin die Partei aus einem „Organ der Willensbildung in ein blind gehorchendes
Organ seines Willens" verwandelt hat. Die Bolschewistische Partei ist
stets ein Organ der Willensbildung geblieben.
Die Diktatur in der Sowjetunion wird nicht von einer Person,
sondern vom Proletariat durch seine führende Partei ausgeübt. Diese allerdings
hat in den verschiedenen Phasen des Kampfes um den sozialistischen Aufbau harte
Maßnahmen ergreifen müssen, um gegen Kurzsichtige und Widerspenstige, die — wie
Otto Bauer schließlich feststellt — so berauschend großen Erfolge
durchzusetzen. In der Periode des erbitterten Ringens um den Aufbau und wegen
der vielfach widerstreitenden Interessen einzelner Gruppen konnte die
Ausnutzung des formalen demokratischen Mitbestimmungsrechtes nicht immer
restlos gewährt werden. In dem gewaltigen Prozeß der revolutionären Umwandlung
eines kapitalistischen Landes in ein sozialistisches sind sehr
verschiedenartige Perioden zu durchschreiten, die sehr unterschiedliche
Maßnahmen erfordern. So stellte auch in der russischen Revolution nach 1917
jede Periode ihre bestimmten vordringlichen Aufgaben. Die Durchführung der
ersten Fünfjahrpläne erforderte die Konzentrierung aller Kräfte auf den
wirtschaftlichen Aufbau. In dieser Periode standen die Fragen der industriellen
Entwicklung, der Elektrifizierung und der Meisterung der Technik im
Vordergrund. Nachdem das Fundament der sozialistischen Wirtschaft gelegt ist,
nachdem breite Massen die Maschinen, die Technik und die Wirtschaftsführung
beherrschen, und ein Stamm qualifizierter Arbeiter und Spezialisten das
Funktionieren des industriellen und agrarischen Wirtschaftsapparates
garantiert, wird die intensive politische Schulung der Massen und die
Demokratisierung der Wirtschaft und des politischen Lebens zur
vordringlichsten, zur wichtigsten Aufgabe der Gegenwart. Aber um das zu
ermöglichen, mußte erst der wirtschaftliche Aufbau erfolgreich durchgeführt
werden, und diese Aufgabe war nur zu lösen, wenn zunächst vordringlich alle
Kräfte für sie eingesetzt wurden. Nunmehr erst ist das Fundament für die — wie
Stalin sagt — Meisterung der Politik vorhanden. Zwischen der politischen
Schulung und der demokratischen Mitbestimmung der Massen besteht eine
unmittelbare Wechselwirkung. Die demokratische Mitwirkung der Massen an der
Vollendung des sozialistischen Aufbaus erfordert die politische Erziehung des
Volkes, politisch geschulte Massen aber können in einem Staat ohne
Ausbeuterklassen von der demokratischen Mitentscheidung nicht mehr
ausgeschaltet werden.
Wenn in früheren Perioden in kritischen Situationen das demokratische
Mitbestimmungsrecht um der zu erreichenden nächsten Etappe willen zeitweilig
eingeschränkt werden mußte, so bestand doch niemals ein Zweifel darüber, daß
das kein gewellter Dauerzustand sein konnte, sondern eben nur eine durch die
besonderen Verhältnisse erzwungene Übergangslösung, die zur gegebenen Zeit
liquidiert wird.
In der nunmehr erreichten Phase der Entwicklung verlangt das Zentralkomitee der
Bolschewistischen Partei die intensivere politische Schulung der Massen und im
Zusammenhang damit die Durchführung der Demokratie innerhalb der Partei und bei
den Wahlen zu den Sowjets. In der Anfang März 1937 abgehaltenen Sitzung des
Plenums des Zentralkomitees wurden die Mängel in der Organisation sehr
offenherzig kritisiert und der Kampf um die volle Verwirklichung der Demokratie
innerhalb der Partei als wichtige Tagesaufgabe proklamiert. Auf dieser Tagung
hielt Stalin — am 3. März 1937 — eine für die Beurteilung der weiteren
Entwicklung in der Sowjetunion sehr beachtenswerte Rede „Über die Mängel der
Parteiarbeit". In dieser Rede legte er dar, daß in der Periode des ersten
wirtschaftlichen Aufbaus die Frage der politischen Schulung hinter der
technischen und wirtschaftlichen Schulung zurückgetreten ist. Im Anschluß daran
sprach er auch ganz offen von den Gefahren, die aus den Erfolgen des
wirtschaftlichen Aufbaus entstanden sind. Er sagte darüber u.a.: „Aber es gibt
Gefahren anderer Art, Gefahren, die mit Erfolgen verbunden sind. Gefahren, die
mit Errungenschaften verbunden sind. Diese Gefahren bestehen darin, daß die
Gegebenheit der Erfolge — Erfolg auf Erfolg, Errungenschaft auf Errungenschaft,
Überbietung der Pläne auf Überbietung — bei Menschen, die in der Politik wenig
erfahren sind und nicht sehr viel gesehen haben, Stimmungen der Sorglosigkeit
und Selbstzufriedenheit hervorruft, eine Atmosphäre paradeartiger
Festlichkeiten und gegenseitiger Begrüßungen schafft, die das Gefühl für das
richtige Maß tötet und das politische Feingefühl abstumpft, die die Menschen
magnetisiert und sie veranlaßt, auf ihren Lorbeeren auszuruhen.
Kein Wunder, daß die Menschen in dieser betäubenden Atmosphäre der
Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit, in dieser Atmosphäre paradeartiger
Manifestationen und geräuschvollen Eigenlobs einige wesentliche Tatsachen
vergessen, die für das Schicksal unseres Landes von erstrangiger Bedeutung
sind, die Menschen beginnen solch unangenehme Tatsachen nicht zu bemerken, wie
die kapitalistische Umwelt, die neuen Formen der Schädlingsarbeit, die
Gefahren, die mit unseren Erfolgen verbunden sind, usw. Die kapitalistische
Umwelt? Aber das ist doch Unsinn! Welche Bedeutung kann irgend eine
kapitalistische Umwelt haben, wenn wir unsere Wirtschaftspläne erfüllen und
überbieten?" Um diese Gefahren zu beseitigen, empfiehlt Stalin in seiner
Rede die Erfüllung einer Reihe von Aufgaben. Dabei u.a.:
„Man muß unseren Parteigenossen klar machen, daß mit den wirtschaftlichen Erfolgen,
deren Bedeutung zweifellos sehr groß ist, und die wir auch weiterhin Tag für
Tag, Jahr für Jahr zu erzielen suchen werden, dennoch die ganze Sache unseres
sozialistischen Aufbaus nicht völlig erschöpft ist.
Man muß klar machen, daß die Schattenseiten, die mit den wirtschaftlichen
Erfolgen verbunden sind und sich in Selbstzufriedenheit, Sorglosigkeit und in
der Abstumpfung des politischen Fingerspitzengefühls äußern, nur dann beseitigt
werden können, wenn die wirtschaftlichen Erfolge mit den Erfolgen des
Parteiaufbaus und entfalteter politischer Arbeit unserer Partei Hand in Hand
gehen.
Man muß klar machen, daß die wirtschaftlichen Erfolge selbst, ihre Festigkeit
und ihre Beständigkeit voll und ganz von den Erfolgen der
parteiorganisatorischen und der parteipolitischen Arbeit abhängen, daß beim
Fehlen dieser Voraussetzung sich herausstellen kann, daß die wirtschaftlichen
Erfolge auf Sand gebaut sind.
Man muß daran denken, und darf niemals vergessen, daß die kapitalistische
Umwelt die grundlegende Tatsache ist, die die internationale Lage der
Sowjetunion bestimmt ...
Man muß unseren Parteigenossen klar machen, daß keinerlei wirtschaftliche
Erfolge, so groß sie auch sein mögen, die Tatsache der kapitalistischen Umwelt
und die sich aus dieser Tatsache ergebenden Folgen aus der Welt schaffen
können.
Man muß die faule Theorie zerschlagen und von sich werfen, daß mit jedem
unserer Schritte vorwärts der Klassenkampf angeblich bei uns immer mehr und
mehr erlöschen muß, daß in dem gleichen Maße, wie wir Erfolge erzielen, der
Klassenfeind angeblich immer zahmer und zahmer wird." Die Schlußfolgerung,
die Stalin zieht, ist: Überall in allen Gruppierungen der Partei — bis zur
höchsten Spitze — eine intensive politische Schulungsarbeit durch zu führen.
„Man muß", sagt Stalin, „die alte Losung von der Meisterung der Technik,
die der Periode der Schachty-Zeit entsprach, durch die neue Losung der
politischen Erziehung der Kader, der Meisterung des Bolschewismus und der
Liquidierung unserer politischen Vertrauensseligkeit ergänzen, durch eine
Losung, die im vollen Ausmaß der Periode, in der wir heute leben,
entspricht."
Die Entwicklung des wirtschaftlichen Aufbaus auf eine höhere Stufe, die
Vollendung des sozialistischen Aufbaus erfordert völlige Demokratisierung der
Partei und des ganzen öffentlichen Lebens. So wie im Kampf um die Umwandlung
von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft verschiedene Phasen
eintreten, so wechseln auch die Aufgaben, die in diesem Kampfe an die Menschen
gestellt werden. Menschen, die in der Periode des wirtschaftlichen Aufbaus
Hervorragendes geleistet haben und die darum in dieser Zeit fortschrittliche
Elemente waren, können in der neuen Phase zu rückschrittlichen, hemmenden
Elementen werden, wenn sie sich zu ihrer wirtschaftlichen Qualifikation nicht
die notwendige politische Qualifikation aneignen und sich der notwendigen
Demokratisierung entgegenstellen. Die Durchführung der Demokratisierung zwingt
zur Entfernung auch von solchen bürokratischen Kräften, die wegen ihrer
Leistungen in der Periode des wirtschaftlichen Aufbaus auf einflußreiche Posten
gestellt wurden. Eine solche im Interesse der Demokratisierung notwendige
Reinigung des Staats- und Wirtschaftsapparates bedeutet nicht Rückschritt,
sondern Fortschritt. Die Notwendigkeit der völligen Demokratisierung in der
neuen Phase der Entwicklung begründete als Hauptreferent auf dem Plenum des
Zentralkomitees, auf dem Stalin die oben zitierte Rede hielt, der Nachfolger
Kirows, Shdanow. Er sprach sehr ausführlich über die Vorbereitung der
Parteiorganisation zu den Wahlen in den obersten Sowjet der UdSSR nach dem
neuen Wahlsystem und die entsprechende Umgestaltung der parteipolitischen
Arbeite Shdanow forderte im Auftrage des Zentralkomitees restlose Durchführung
des demokratischen Zentralismus in der Partei, die Innehaltung des Statuts und
die völlige Demokratisierung. Dabei stellte Shdanow fest, daß in der
Vergangenheit die demokratischen Prinzipien vielfach nur mangelhaft angewandt
wurden. Er verwies darauf, daß einzelne Organisationen in der Praxis „das
Parteistatut und die Grundsätze des innerparteilichen Demokratismus"
verletzten. Er kritisiert offen und scharf die vorhandenen Mängel. Besonders
gegen den Paragraphen 18 des Statuts sei vielfach verstoßen worden. Er besagt:
„Das leitende Prinzip des organisatorischen Aufbaus der Partei ist der
demokratische Zentralismus, der bedeutet:
a) Wählbarkeit der leitenden Organe der Partei von oben bis unten;
b) periodische Rechenschaftslegung der Parteiorgane vor ihren
Parteiorganisationen;
c) strengste Parteidisziplin und Unterordnung der Minderheit unter die
Mehrheit;
d) unbedingte Pflicht der unteren Organe und aller Mitglieder der Partei, die
Beschlüsse der höheren Parteiorgane durchzuführen.
Nach dem Hinweis auf das Statut sagte Shdanow:
„... In den letzten zwei bis drei Jahren wurden Wahlen der Gebiets- und
Gaukomitees und der Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien nur
in jenen Organisationen vorgenommen, die neu gebildet wurden, nur anläßlich der
Bildung neuer Gebiete (der Organisation von Kalmin, Kraßnojarsk, Omsk, Orenburg
und Jaroslawl). Unsere Gebietsund Gaukomitees und die Zentralkomitees, die
Rayonkomitees und die primären Parteikomitees bestehen in ihrer Mehrzahl seit
der Periode des XVII. Parteitages, d.h. seit der Periode, da eine allgemeine
Kampagne der Wahlen der Parteiorgane durchgeführt wurde ...
Das heißt, die Gesetze unserer Partei wurden umgeworfen, obwohl wir auf das
Statut schwören, es in Zirkeln auswendig lernen und bei der Prüfung und dem
Umtausch der Parteidokumente von den Parteimitgliedern fordern, daß sie das
Statut kennen. Bei einer Prüfung ergibt sich, daß wir uns selbst unseren
eigenen Parteigesetzen gegenüber unzulässig liberal verhalten ...
Eine solche äußerst ernsthafte Verletzung des Statuts unserer Partei bezüglich
des Wahlprinzips ist die durch nichts zu rechtfertigende Verbreitung der
Kooptierung verschiedener führender Funktionäre in die Plenums der
Parteikomitees, der Rayonkomitees, der Stadtkomitees, der Gebietskomitees, der
Gaukomitees und der Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien.
Die dem ZK der KPdSU(B) zur Verfügung stehenden Materialien besagen, daß die
schädliche Praxis der Kooptierung sich weitgehend eingebürgert hat. Die Praxis
der Kooptierung verletzt das gesetzliche Recht der Parteimitglieder, an den
Wahlen ihrer führenden Organe teilzunehmen. Werden die Parteimitglieder bei der
Kooptierung doch der Möglichkeit beraubt, an den Wahlen teilzunehmen, der
Möglichkeit, ungeeignete Kandidaten abzulehnen; sie werden überhaupt nicht nach
ihrer Meinung gefragt, weil die Kooptierung auf dem Plenum erfolgt."
Weil die Kooptierung der Demokratie widerspricht, soll mit ihr Schluß gemacht
werden. Aber es haben sich in der vergangenen Periode noch andere Gebräuche
eingebürgert, die das demokratische Mitbestimmungsrecht der Massen hinderten.
Bei der Kritik, die von den Gegnern der Sowjetunion geübt wird, spielt der
Hinweis auf das sogenannte „Dreieck", daß die demokratische Entfaltung in
den Betrieben hemmte, eine große Rolle. Auch diese „Dreiecke" werden
liquidiert. Zu dieser Frage sagte Shdanow in seinem Referat:
„Ich möchte noch ein Beispiel der Verletzung der Prinzipien der kollektiven
Leistungen erwähnen. Es handelt sich um die sogenannten ,Dreiecke'. In Gestalt
des ,Dreiecks! — bestehend aus dem Sekretär des Parteikomitees, dem Leiter des
Betriebes oder der Institution und dem Vorsitzenden der örtlichen
Gewerkschaftsorganisation — gibt es bei uns eine Reihe Organisationen abseits
von den normalen gewählten Organen (Parteikomitee und Betriebskomitee) eine
eigenartige, offiziell und regulär tätige, in keinen Partei- und Sowjetgesetzen
vorgesehene Organisation. Sie tritt zusammen, faßt Beschlüsse, erteilt
Direktiven zur Ausführung usw.. Vom Standpunkt der kollektiven Führung aus, vom
Standpunkt der richtigen Beziehungen zwischen den Partei-, Wirtschaftsund
Gewerkschaftsorganisationen stellt das Dreieck eine absolut unstatthafte Form
dar. Das ist Vetternwirtschaft, das ist ein Abkommen, um das Kritisieren zu
erschweren. Wenn diese drei sich einmal einig geworden sind, da versuche mal
einer, sie zu kritisieren! Die Gewerkschafts- und die Parteiorganisation werden
dadurch ihrer Verantwortung enthoben, sie werden im Kampfe gegen die Mängel der
wirtschaftlichen Führung entwaffnet und andererseits wird der Wirtschaftsführer
selbst entwaffnet, weil das Dreieck gewissermaßen ein kollegiales
Verwaltungsorgan bildet, während unsere Wirtschaftsführung ganz anders
aufgebaut ist.
Die Dreiecke stellen eine Parodie, eine Karikatur, ein Surrogat einer kollektiven
Führung dar ...
Meiner Ansicht nach ist es Zeit, die Liquidierung der Dreiecke in Erwägung zu
ziehen."
Die Liquidierung der „Dreiecke" geht natürlich auch nicht reibungslos vor
sich. Wer in so einem „Dreieck" eine einflußreiche Position innehat und
die Notwendigkeit der Demokratisierung nicht begreift, muß von seinem Posten
entfernt werden. Aber die allgemeine Besserung der Verhältnisse zeigt sich
darin, daß inzwischen genügend qualifizierte Ersatzkräfte herangewachsen sind.
Das ermöglicht die durchgreifende Beseitigung undemokratischer Einrichtungen,
die aus der Not der früheren Zeit erwachsen waren. Die klare und scharfe
Kritik, die in der führenden Parteiinstanz und vom Zentralkomitee in seiner
Resolution geübt wurde, offenbart den entschlossenen Willen, alle vorhandenen
Mängel abzustellen und das reibungslose Funktionieren der Demokratie zu
ermöglichen. Das Plenum des Zentralkomitees nahm nach dem Referat von Shdanow
eine Resolution an, die vorschrieb, daß die demokratischen Grundgesetze in allen
Organisationen bis zum 20. Mai 1937 durchgeführt sein müssen. In dieser
Resolution heißt es:
„Das Plenum des ZK der KPdSU(B) erachtet es für notwendig, die folgenden
Maßnahmen zu verwirklichen und verpflichtet alle Parteiorganisationen, diese
Maßnahmen durchzuführen:
1. Beseitigung der Praxis der Kooptierung von Mitgliedern in die Parteikomitees
— und in Übereinstimmung mit dem Parteistatut — Wiederherstellung der
Wählbarkeit der führenden Organe der Parteiorganisationen.
2. Verbot der Abstimmung nach Listen bei den Wahlen der Parteiorgane. Die
Abstimmung hat nach einzelnen Kandidaturen zu erfolgen, wobei allen
Parteimitgliedern das unbeschränkte Recht sicherzustellen ist, Kandidaten
abzulehnen und sie zu kritisieren.
3. Einführung der geschlossenen (geheimen) Abstimmung über die Kandidaten bei
den Wahlen der Parteiorgane.
4. Durchführung der Wahlen der Parteiorgane in allen Parteiorganisationen,
angefangen von den Parteikomitees der primären Parteiorganisationen und
endigend mit den Gau-, Gebietskomitees und den Zentralkomitees der nationalen
kommunistischen Parteien, wobei die Wahlen spätestens bis zum 20. Mai zu
beendigen sind.
5. Alle Parteiorganisationen sind verpflichtet, die Fristen der Wahlen der
Parteiorgane in Übereinstimmung mit dem Parteistatut streng einzuhalten: in den
primären Parteiorganisationen einmal im Jahre, in den Rayon- und
Stadtorganisationen einmal im Jahre, in den Gebiets-, Gauorganisationen und in
den Organisationen der Republiken einmal in anderthalb Jahren.
6. Sicherstellung der strengsten Einhaltung der Wahlordnung der Parteikomitees
in den primären Parteiorganisationen auf den allgemeinen Fabriksversammlungen,
wobei eine Ersetzung der letzteren durch Konferenzen nicht zuzulassen ist.
7. Beseitigung der in einer Reihe von primären Parteiorganisationen vorhandenen
Praxis der faktischen Abschaffung der allgemeinen Versammlungen und der
Ersetzung der allgemeinen Versammlungen durch Werkstattversammlungen und
Konferenzen."
Die Durchführung dieser Resolution verwirklicht die Demokratie in allen
Parteiorganisationen. In der Formulierung der Aufgaben enthält die Resolution
zugleich eine starke Selbstkritik der bisher vorhandenen demokratischen Mängel.
Für die Untersuchung der Frage, ob der Vorwurf eines geistlosen Konformismus
berechtigt ist, ist nicht unwichtig, ob an vorhandenen Mängeln Kritik geübt
werden kann und Kritik geübt wird. Auf dem XI. Parteitag prägte Lenin eine
wichtige Richtlinie für die Bolschewistische Partei:
„Alle revolutionären Parteien, die zugrunde gegangen sind, gingen darum
zugrunde, weil sie zu sehr von sich eingenommen waren, und nicht zu sehen
verstanden, worin ihre Kraft bestand und sich fürchteten, von ihren Schwächen
zu sprechen. Wir aber werden nicht zugrunde gehen, weil wir uns nicht fürchten,
von unseren Schwächen zu sprechen, und lernen werden, die Schwächen zu
überwinden.“ Das offene Hinweisen auf vorhandene Schwächen, der immer wieder
verstärkte Anstoß zur Überwindung dieser Schwächen ist auch ein Beweis für die
geistige Regsamkeit einer Bewegung, die schon darum nicht in einem
geisttötenden Konformismus erstickt ist.
Der Kurs in der Sowjetunion geht klar auf die Demokratisierung der Partei und
des ganzen öffentlichen Lebens. Dieser scharfe Kurs auf die Demokratisierung
ist nicht vom Himmel gefallen, er entspricht vollkommen der inzwischen
ökonomisch erreichten Phase der neuen Gesellschaft. Diese Phase erfordert eine
immer größere geistige und politische Mitarbeit breiter Volksmassen, erfordert
Kritik und Meinungsfreiheit, die mithelfen, die von Marx gezeichnete höchste
Form der kommunistischen Gesellschaft zu erreichen. Die durchgreifende
Demokratisierung ermöglicht die bessere Überwindung noch vorhandener
bürokratischer Mängel. Es ist darum durchaus kein Zufall, daß- alle Führer der
Sowjetunion immer dann, wenn sie von der Verwirklichung der demokratischen
Rechte sprechen, ausdrücklich betonen: Die Arbeit der Partei wird dadurch
verbessert werden, die Partei wird aktiver und noch besser als vorher in der
Masse arbeiten und durch ihre Leistungen als Führerin von der Masse anerkannt
werden. So wie in gewissen Phasen des Kampfes um den wirtschaftlichen Aufbau
die Vernachlässigung oder Einschränkung der Demokratie vorübergehend vielleicht
nicht zu umgehen war, so sehr ist in der gegenwärtigen und nächsten Phase der
Aufwärtsentwicklung in der UdSSR die Anwendung weitgehender demokratischer
Rechte auf breitester Basis unerläßlich.
Konformismus —
die völlige Übereinstimmung — wird verlangt in der Frage der Grundrichtung
aller politischen und öffentlichen Arbeit. Das Ziel ist die klassenlose
Gesellschaft, die höchste Phase der sozialistischen Gesellschaft. Wer gegen
dieses Ziel verstößt — wird mit Recht als Feind der Sowjetunion gebrandmarkt.
Wer gegen die von der Partei zu diesem Ziele hingesteuerte grundlegende Politik
verstößt wird bekämpft. Die in der Sowjetunion gestellte Aufgabe, inmitten der
kapitalistischen Umwelt eine neue Welt zu gestalten, ist so gewaltig und so schwierig,
daß jeder Hemmungs- und Störungsversuch mit aller Energie rücksichtslos
unterdrückt werden muß. Über Ziel und Generallinie muß eine einheitliche
Auffassung, — muß Konformismus herrschen. Aber über die einzelnen, besten Wege
zu diesem Ziele, über die praktisch richtig anzuwendende Generallinie herrscht
eine weitgehende Meinungsfreiheit und kein Gesinnungszwang. Wahrlich — in
keinem andern Lande der Welt wird über die das unmittelbare Schicksal der
Menschen entscheidenden Maßnahmen so frei und so lebhaft diskutiert wie in der
Sowjetunion. In den zahlreichen Betriebs- und Abteilungsversammlungen, in den
unzähligen Wandzeitungen, in den Arbeiter- und Bauernredaktionen der Zeitungen
und in diesen Zeitungen selbst. Daß bei diesen Diskussionen immer ein gemeinsamer,
übereinstimmender Wille — die Entwicklung zum Endziel vorwärts zu treiben — zu
spüren ist, ist nicht der Nachteil eines „beklagenswerten Konformismus",
sondern der große Vorteil einer mitreißenden, herrlichen Idee, die im Kampf
Millionen und Abermillionen Menschen ohne besonderen Befehl in eine Richtung
vorstoßen läßt.
Andre Gide beklagt neben dem Konformismus das Selbstbewußtsein und die
Überheblichkeit der sowjetrussischen Jugend. Die junge Generation in der UdSSR
ist in der Tat sehr selbstbewußt. Ist das ein Unglück? Oder ist es nicht
vielmehr ein für die Zukunft des Landes begrüßenswertes Plus? Das
Selbstbewußtsein — Andre Gide bezeichnet es als Überheblichkeit — der
Sowjetjugend ist gewachsen aus der freien Entfaltungsmöglichkeit, die den jungen
Menschen nach dem Sturze der kapitalistischen Klassengesellschaft gegeben
wurde. Jeder kann unabhängig vom Geldbeutel seiner Eltern alles werden, wozu
ihn Begabung und Fleiß befähigen. Junge Menschen, die nicht mehr unterdrückt
werden, die ihre Fähigkeiten frei entfalten können, müssen selbstbewußter
werden als ihre Kameraden, die in anderen Ländern unter dem Druck der
kapitalistischen Klassengesellschaft leben, und die während Krise und
Arbeitslosigkeit den Weg in die Zukunft versperrt sehen. Das ausgeprägte
Selbstbewußtsein der Sowjetjugend ist zugleich auch eine Widerlegung des
Vorwurfes, daß in der Sowjetunion geisttötender Konformismus und Unterdrückung
des Geistes herrschen. Wäre es um die geistigen Dinge in der UdSSR so bestellt,
wie Gide behauptet, dann gäbe es dort keine selbstbewußte Jugend. Junge
Menschen brauchen freie geistige Entfaltungsmöglichkeit, sie brauchen auf Geist
und Seele wirkende Vorbilder und freie Betätigung für ihr Sehnen, wenn sie an
sich selbst und ihre Zukunft glauben sollen. Der Sturz der kapitalistischen
Klassengesellschaft hat die junge Generation der Arbeiter und Bauernklasse
befähigt, ihre unter dem Zarismus niedergehaltenen Fähigkeiten und Kräfte zu
entfalten. Und diese Freiheit macht die junge Generation in der Sowjetunion
zukunftsgläubig und darum selbstbewußt.
Zu der gigantischen Aufgabe, die die Sowjetjugend erfüllen soll, braucht sie
Zutrauen zu sich selber. Eine Generation von inneren Zweifeln zerfressener,
ewig schwankender junger Menschen müßte unter den gegebenen Umständen
scheitern; die jungen Menschen der Sowjetunion müssen innerlich gefestigt sein
und zupacken — sonst geht es rückwärts. Sie brauchen Selbstbewußtsein.
Unwissende, zweifelnde, unbewußte Menschen verfallen in kritischen Situationen
der Panik, werden kopflos. Selbstbewußte, von der Richtigkeit ihrer Sache
überzeugte, wissende Menschen sind standhafte, zuverlässige Kämpfer, die auch
über die kompliziertesten Situationen hinwegkommen. Ist diese Jugend zum
Selbstbewußtsein berechtigt? Die Kritiker sagen, gemessen an der alten
humanistischen Bildung der kapitalistischen Länder ist diese Sowjetjugend
ungebildet oder nur oberflächlich gebildet. Vielleicht ist das richtig. Aber
das ist nicht das Entscheidende. Diese Jugend hatte in den schwierigen
Aufbaujahren für sie zunächst wichtigere, dringendere Dinge zu lernen. In dem,
was sie sich dabei angeeignet hat, fühlt sie sich der Jugend in den
kapitalistischen Ländern überlegen. Sie hält das, was sie für den Aufbau
gelernt hat, und täglich praktisch verwenden kann, für erstrangiger als die
vielen geistigen und kulturellen Güter aus vergangenen Jahrhunderten, die sie
sich allmählich und auch mit viel Eifer anzueignen beginnt. Und daß diese
Jugend, die den Kapitalisten nicht mehr aus eigenem Erleben, sondern nur noch
aus geschichts- und politischen Lehrbüchern kennt, sich überlegen fühlt über
die Menschen, die sich noch immer den Druck der kapitalistischen
Klassenherrschaft gefallen lassen, ist. durchaus begreiflich. Den jungen
Menschen der Sowjetunion, die Arbeiterfakultäten, Mittel- und Hochschulen
besuchen, fehlt noch manches von dem Wissen um alte, schöne Dinge, die
wesentliche Lehrgegenstände an den höheren Bildungsstätten der kapitalistischen
Länder sind, aber sie haben vor der jungen Generation dieser Länder unendlich
viel voraus, was wichtiger ist: sie sind freie, von keiner Klassenherrschaft
unterdrückte Menschen, sie können ihre Fähigkeiten ungehemmt entfalten, sie
sind eine wirklich junge, neue Generation, die praktisch mitarbeitet, eine ganz
neue Welt zu gestalten.
Tatsachen sind stärker als die schönsten Proklamationen. Die
tatsächlichen Ergebnisse des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR haben
Trotzkis Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande praktisch
widerlegt; sie haben die Bürger der Sowjetunion davon überzeugt, daß der von
Trotzki vorgeschlagene Weg, um dessen Durchsetzung der Trotzkismus seinen
erbitterten Kampf gegen den Bolschewismus führte, falsch ist.
Theorien sind keine abstrakten Lehrsätze, die losgelöst von dem realen Leben zu
existieren vermögen. Aus jeder Theorie ergeben sich praktische Konsequenzen für
das Handeln ihrer Verfechter im Tageskampfe. Die logische Konsequenz der
Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in einem Lande ist der Rückzug
des Proletariats, das vorwärtsstürmend als erstes in seinem Lande die
politische Macht erobert hat. Nutzt das Proletariat die in einem Lande eroberte
politische Macht nicht für die Zerschlagung der kapitalistischen
Klassengesellschaft, für die Schaffung einer neuen gesellschaftlichen
Grundlage, das heißt also nicht für den Aufbau des Sozialismus aus — dann
bleibt ihm schließlich kein anderer Weg als der Rückmarsch zu den Zuständen,
deren Sturz es erst in opfervollem, aber siegreichem Kampfe herbeigeführt hat.
Die siegreiche proletarische Revolution kann vielleicht kurze Zeit ohne all zu
großes Risiko für ihre Existenz auf derselben Stelle treten und auf die
Unterstützung von außen warten, aber sie kann nicht ohne Gefahr für ihr Leben
jahrelang stillstehen und untätig den Sieg der Weltrevolution abwarten.
Die konkrete Situation für die Sowjetunion ist ganz eindeutig: Die
proletarische Revolution in den anderen Ländern ist ausgeblieben und die
reaktionären Kräfte in der übrigen Welt haben ihre 1918 erschütterte Position
wieder festigen können. Hätte die Sowjetunion in der ganzen Zeit, in der sich
dieser Tatbestand entwickelte, nur untätig gewartet, hätte sie ihre Position
nicht ausgebaut und gegen alle möglichen Angriffe stark gemacht, dann wäre sie
nicht nur zum Rückzug gezwungen, sondern von den alten reaktionären Gewalten
vernichtend geschlagen worden. Rückzug und Niederlage konnten überhaupt nur
durch die rechtzeitige Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus und die
erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe verhindert werden. Wer also im Lande der
siegreichen proletarischen Revolution sich dem sozialistischen Aufbau
entgegenstellte, der wirkte faktisch für den Rückzug und die Niederlage, deren
Ergebnis schließlich nichts anderes sein konnte als die Wiederherstellung des
Kapitalismus. So ist in der Tat die unerbittliche Konsequenz der
trotzkistischen Theorie von der Unmöglichkeit des sozialistischen Aufbaus in
der Sowjetunion der Rückzug, das heißt der Rückmarsch zum Kapitalismus. Trotzki
selbst hat mehr als einmal ganz offen diesen Rückzug verlangt; auch die
Forderungen, die Trotzki und die trotzkistischen Organe in ihrem Kampfe gegen
den sozialistischen Aufbau öffentlich publizierten, ließen keinen Zweifel an
der Bereitschaft und dem Willen des Trotzkismus zum Rückmarsch. Auf die
Konsequenzen, zu denen die trotzkistische Theorie zwangsläufig führen mußte,
wies Stalin in dem namens des Zentralkomitees erstatteten politischen Bericht
an den XVII. Parteitag (1934) hin (siehe Broschüre über diesen Bericht, Seite
85):
„Wir haben stets erklärt, daß die „Linken“ ganz dasselbe wie die Rechten sind,
die ihre rechte Politik mit „linken“ Phrasen verbrämen. Jetzt bestätigen die
„Linken“ selbst diese unsere Behauptung. Man nehme die Nummern des
trotzkistischen „Bulletin“ vom vorigen Jahre. Was fordern, worüber schreiben
dort die Herren Trotzkisten, worin besteht ihr „linkes“ Programm? Sie fordern
die Auflösung der Sowjetwirtschaften, weil sie nicht rentabel seien, die Auflösung
des größten Teils der Kollektivwirtschaften, weil sie künstliche Gebilde seien,
den Verzicht auf die Liquidierung der Kulaken, die Rückkehr zur
Konzessionspolitik und die Übergabe einer ganzen Reihe unserer
Industriebetriebe, weil sie nicht rentabel seien, an Konzessionäre.
Da habt ihr das Programm der verächtlichen Feiglinge und Kapitulanten, ein
konterrevolutionäres Programm der Wiederherstellung des Kapitalismus in der
Sowjetunion!" Stalin begründet seine Behauptung mit dem Hinweis auf
Publikationen im trotzkistischen Bulletin. Auf die gleiche Quelle bezog sich
Staatsanwalt Wyschinski, der in seiner Anklagerede im Pjatakowprozeß aus Nr. 10
vom April 1930 folgende Stellen (siehe Prozeßbericht Seite 538) zitierte:
„... Der Rückzug ist sowieso unvermeidlich. Man muß ihn so schnell als möglich
vollziehen .... Die „kompakte“ Kollektivierung aufhalten .... Das Preisrennen
der Industrialisierung unterbrechen. Die Fragen des Tempos im Lichte der
Erfahrung überprüfen ....
... Auf die „Ideale“ einer geschlossenen Wirtschaft verzichten. Eine neue
Planvariante ausarbeiten, die auf möglichst umfassende Wechselwirkungen mit dem
Weltmarkt berechnet ist ...
... Den notwendigen Rückzug vollziehen und dann strategische Umrüstung ...
... Ohne Krisen und Kampf gibt es aus den heutigen Widersprüchen keinen Ausweg
...."
Es gibt eine ganze Reihe nachprüfbarer Äußerungen aus Trotzkis Schriften, die
Stalins und Wyschinskis Feststellungen bestätigen. In dem Kapitel über die
Kollektivierung (Seite 278) ist ein Zitat aus Trotzkis im Jahre 1932
erschienenen Broschüre „Sowjetwirtschaft in Gefahr" abgedruckt, in dem
ganz unzweideutig die Aufhebung des größten Teils der Kollektivwirtschaften
gefordert wird. In der gleichen Broschüre sagt Trotzki ebenso deutlich, welchem
Zwecke diese Forderung dienen soll. Er schreibt (Seite 26, 27, 28):
„Die linke Opposition ... muß ... sagen: Der zweite Fünfjahrplan muß verschoben
werden. Schluß mit der schreihälsigen Hasardspielerei! Ruckzug? Ja,
zeitweiliger Rückzug ....
... Der zeitweilige Rückzug ist notwendig in der Industrie sowohl, wie auch in
der Landwirtschaft. Die letzte Linie für den Rückzug ist im voraus nicht zu
bestimmen.
Nur durch die Erfahrungen der allgemeinen wirtschaftlichen Wiederherstellung
wird sie sich zeigen ...
Der Rückzug ist vor allem auf dem Gebiete der Kollektivierung
unvermeidlich."
Trotzkis Forderung, den zweiten Fünfjahrplan zu verschieben, wurde nicht
beachtet. Entgegen seinen Voraussagen ist auch der zweite Fünfjahrplan
erfolgreich durchgeführt worden. Was aber heißt es, wenn Trotzki vom Rückzug
auf der ganzen Linie spricht? Nichts anderes, als den sozialistischen Aufbau
einstellen, den Sozialismus abbauen und Konzessionen an den Kapitalismus
machen. Es ist sehr bezeichnend, daß Trotzki in diesem Zusammenhange ganz offen
ausspricht, daß die letzte Linie für den Rückzug im voraus nicht bestimmt
werden könne. Wie weit soll der Rückzug gehen? Kann nicht Trotzkis „letzte
Linie" die Wiederherstellung des Kapitalismus sein?
Gerade in der Frage des Rückzuges bestand eine weitgehende Übereinstimmung
zwischen Trotzki und den Rechten, die schließlich auch zu ihrem Block gegen die
Bolschewistische Partei führte. Trotzki hat die Übereinstimmung zwischen
Trotzkisten und Rechten in der Frage des Rückzuges zugegeben. In der gleichen
Schrift schrieb er (Seite 39):
„Das Bestreben der Stalinisten, Rechte und Linke auf einen Haufen zu werfen,
wird bis zu einem gewissen Grade dadurch erleichtert, daß die einen wie die
anderen in der gegebenen Etappe vom Rückzug reden."
Der Rückzug — das heißt in der Konsequenz die Einleitung der Entwicklung zum
Kapitalismus — spielte in der trotzkistischen Literatur eine gewichtige Rolle.
Wer diese kennt, der ist durch die Aussagen der Angeklagten im
Pjatakow-Radek-Prozeß über Trotzkis Absichten, Konzessionen an den Kapitalismus
zu machen, nicht überrascht worden. Im Prozeß sagte Pjatakow über die
Konzeption, die ihm Trotzki unterbreitet hatte (Prozeßbericht Seite 6):
„Das heißt, daß man wird zurückweichen müssen. Das muß man klar eingehen. Den
Rückzug zum Kapitalismus antreten. Wie weit, in welchem Umfange, das laßt sich
jetzt schwer sagen — das kann man erst nach dem Machtantritt
konkretisieren."
Das stimmt fast wörtlich mit den vorher zitierten Äußerungen aus Trotzkis
eigenen Schriften überein. Nach dem Prozeßbericht (Seite 42) sagte Pjatakow
noch zu diesem Thema, daß er und Radek besorgt waren, „der sinowjewtistische
Teil des Blocks werde bei dem ökonomischen Rückzug nach unserer Machtergreifung
zu weit gehen". Darauf habe ihnen Trotzki geantwortet:
„Was den Rückzug anbelangt ... Radek und ich seien im Irrtum, wenn wir annehme,
der Rückzug werde geringfügig sein, man werde einen weitgehenden Rückzug
antreten müssen."
Wohin aber sollte dieser weitgehende Rückzug gehen? Zum Sozialismus oder zum
Kapitalismus? Bei der Beantwortung dieser Frage ist wichtig, wo, unter welchen
Umständen der Rückzug gefordert wird. Trotzki verlangt den Rückzug nicht in
irgendeinem kapitalistischen Lande, sondern in dem ersten Arbeiterstaat, und
nicht etwa in einem Augenblick der Erschöpfung, sondern während des
erfolgreichen Aufbaus des Sozialismus. Unter solchen Umständen kann der Rückzug
nur in der Richtung zum Kapitalismus gehen. Trotzkis „letzte Linie" dieses
weitgehenden Rückzuges müßte die Wiederherstellung des Kapitalismus sein.
Es ist ganz offenkundig: das aus seiner falschen Theorie logisch sich ergebende
Handeln Trotzkis stört die sozialistische Aufwärtsentwicklung, es wirkt für die
Wiederherstellung des Kapitalismus und darum zwangsläufig gegen die Interessen
der Arbeiter- und Bauernmassen.
„Man lese die erschütternde Schlußrede Radeks vor Gericht", schreibt Otto
Bauer im Märzheft 1937 des „Kampf", Seite 41/42. „Das ist nicht die Rede
eines Mannes. der unter dem Druck der Folter falsche Geständnisse ablegt. Das
ist die Rede eines Mannes, der sich zu der Überzeugung bekehrt hat, daß der
Trotzkismus zur Gefahr für die Sache des Sozialismus geworden ist .... Die
Entwicklung der UdSSR im letzten Jahrzehnt hat die Völker der Sowjetunion von
der Verkehrtheit und Schädlichkeit der trotzkistischen Theorie überzeugt.
Trotzkis Prophezeiungen über die Verewigung des Hungers und Elends und der
Arbeitslosigkeit, über immer neue Krisen und den Niederbruch des ersten
Arbeiterstaates sind nicht in Erfüllung gegangen. Dagegen ist alles das, was Partei
und Sowjetmacht zu der Zeit, als vom Volke große Opfer gefordert werden mußten,
verheißen haben, Schritt um Schritt erfüllt worden. Die von jedem Sowjetbürger
kontrollierbaren Tatsachen, der große wirtschaftliche Aufschwung, die Festigung
der Sowjetmacht gegenüber allen Bedrohungen in Ost und West, die stete
Verbesserung aller Verhältnisse, die immer reichlicher werdende Versorgung des
ganzen Volkes mit allen Lebensmitteln und Bedarfsgütern — das alles hat die
Massen fest davon überzeugt, daß die Bolschewistische Partei und die
Sowjetmacht im Kampf gegen den Trotzkismus in allen Fragen sachlich recht
behalten haben. Tatsachen haben den Massen bewiesen, daß die Sowjetunion nur
durch die Realisierung der leninschen Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem
Lande zu einem gewaltigen Machtfaktor in der Weltpolitik, zu einer
unerschütterlichen Kraft gegenüber allen reaktionären Anstürmen werden konnte.
Tatsachen haben bewiesen, daß das Beschreiten des von Trotzki vorgeschlagenen
Weges den ersten Arbeiterstaat in ewiger politischer und wirtschaftlicher
Abhängigkeit von der kapitalistischen Umwelt gehalten hätte, zu immer neuen
Konzessionen zwingen und schließlich zurück zum Kapitalismus und zum
Zusammenbruch der UdSSR hätte führen müssen.
Die erfolgreiche Entwicklung des sozialistischen Aufbaus hat den Trotzkismus in
den Augen der breiten Volksmassen in der Sowjetunion restlos widerlegt. Die
Arbeiter und Bauern, die die Früchte der sozialistischen Wirtschaft zu genießen
beginnen, wollen nie mehr zurück zum Kapitalismus; sie betrachten jeden, der
direkt oder indirekt für die Wiederherstellung des Kapitalismus wirkt, als
einen Feind, mit dem man nicht mehr diskutiert.
Angesichts dieser Entwicklung der Volksstimmung hat der Trotzkismus in der
UdSSR keine politische Wirkungsmöglichkeit mehr; er hat für die werktätigen
Arbeiter- und Bauernmassen den Charakter einer politischen Bewegung verloren.
Die letzte Möglichkeit für einen politischen Kampf ist Trotzki genommen; es ist
ihm unmöglich geworden, mit politischen Argumenten Massen für die Unterstützung
seines Wollens zu gewinnen, für seine Pläne zu mobilisieren. Diese Tatsache hat
Trotzkis weitere Taktik im Kampfe gegen die Sowjetmacht weitgehend bestimmt.
Die Lage für den Trotzkismus in der UdSSR ist objektiv durchaus so, wie sie der
Angeklagte Schestow im Pjatakowprozeß charakterisierte:
„Wir- sind in eine Sackgasse geraten. Man müsse daher entweder die Waffen
strecken oder neue Wege des Kampfes vorzeichnen."
Ist einem ehrgeizigen, machtlüsternen Menschen durch die ablehnende Haltung der
Volksmassen die Basis für den politischen Kampf um seine Ziele entzogen, fehlt
es ihm an der moralischen Kraft, die Schädlichkeit seines Tuns einzusehen,
seine Niederlage einzugestehen, die Waffen zu strecken, und sich in die große Kampffront
einzuordnen — dann bleibt ihm kein anderer Weg, als durch Einsatz anderer als
politischer Mittel, auch durch Terror und Sabotage einer kleinen Gruppe
rechthaberischer, vom Volke isolierter verbissener Sektierer die Sowjetmacht zu
schädigen, und sich der Illusion hinzugeben, auf diesem Wege die herrschende
Diktatur des Proletariats zu untergraben und die Macht zu erobern.
Der auf dem politischen Boden vor den Massen endgültig geschlagene Trotzki hat
sich so in die Sackgasse verrannt, daß er die Waffen nicht strecken wollte; er
ist darum in seinem Kampf gegen die UdSSR verbissen „neue Wege" gegangen.
Trotzki hat seine taktische Haltung im Kampf gegen die
Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht im Laufe der Jahre mehrfach geändert.
Er hat vor den großen Erfolgen des sozialistischen Aufbaus nicht die Waffen
gestreckt, er hat nicht versucht, sich in die Kampffront für den endgültigen
Sieg des Sozialismus einzuordnen, sondern er ist „neue Wege" gegangen.
Just in der Zeit, in der die aggressiven faschistischen Diktaturen zum
Generalangriff gegen den ersten Arbeiterstaat trommeln, verschärfte er „seinen
Kampf" gegen die Sowjetmacht. Da jedoch der Trotzkismus im Volke absolut
keine politische Basis mehr hat, da es ihm unmöglich geworden ist, die Massen
zur Unterstützung seines Wollens mit politischen Argumenten zu mobilisieren,
ist er zwangsläufig zur Anwendung anderer Mittel gekommen. Und diese anderen
Mittel sind — wie ihm die Sowjetmacht vorwirft — Terror, Schädlingsarbeit und
Bündnis mit sowjetfeindlichen Kräften. Ist eine ursprünglich politische
Opposition politisch vollkommen widerlegt, erkennt sie diesen Tatbestand nicht
an, dann verliert sie den Charakter einer politischen Bewegung. Man kann sie
dann nicht mehr nur mit politischen Argumenten bekämpfen, man muß auch die
Mittel gegen sie einsetzen, die sie zur Erreichung ihrer Ziele anwendet.
Um den Weg des Trotzkismus von einer politischen Strömung der Arbeiterbewegung
zu einer konterrevolutionären Gruppe verständlich zu machen, muß man die
Entwicklung des Trotzkismus in den letzten Jahren aufzeigen. In den ersten
Jahren nach der Oktoberrevolution kämpfte Trotzki gegen die Theorie des
Sozialismus in einem Lande. Er behauptete, daß der Versuch, diese Theorie zu
realisieren, zum Zusammenbruch der Sowjetunion führen müsse. Das war ein
politischer Kampf, der solange auch ein gewisses politisches Echo finden
konnte, solange Trotzkis These noch nicht durch die Tatsachen widerlegt war,
solange noch Mangel und Not herrschten, solange noch Zweifel über das Gelingen
des sozialistischen Aufbaus im Volke vorhanden waren. In dieser Phase der
Entwicklung hatte der Trotzkismus noch die Hoffnung, die mit den notwendigen
Opfern der Aufbauperiode belasteten Massen mit politischen Argumenten zu beeinflussen.
Der Situation entsprach auch die damalige Taktik Trotzkis; Organisierung einer
Opposition innerhalb der Bolschewistischen Partei, um die Mehrheit in der
Partei und damit die Macht im Staate gewissermaßen auf demokratischem Wege zu
erringen. In dieser Phase der Entwicklung sprach Trotzki noch nicht von der
Revolution gegen die Sowjetmacht, er betonte vielmehr immer wieder, daß die
trotzkistische Opposition ihre Ziele in der Sowjetunion nur auf dem Wege der
Reform erreichen wolle. Noch in der im Jahre 1931 veröffentlichten Broschüre
„Probleme der Entwicklung der USSR" schrieb Trotzki in einem Kapitel unter
der Überschrift „Der Weg der linken Opposition in der UdSSR -bleibt der Weg der
Reform" (Seite 23, 24):
„Die Anerkennung des heutigen Sowjetstaates als eines Arbeiterstaates bedeutet
nicht nur, daß die Bourgeoisie nicht anders die Macht erobern könnte als durch
einen bewaffneten Aufstand, sondern auch, daß das Proletariat der UdSSR die
Möglichkeit nicht eingebüßt hat, sich die Bürokratie zu unterwerfen, die Partei
wieder zu beleben und das Regime der Diktatur zu heilen — ohne neue Revolution,
mit den Methoden und auf dem Wege der Reform." Lange jedoch hat Trotzki
diesen Standpunkt nicht aufrecht erhalten. Die Widerlegung der trotzkistischen
Theorie durch die Tatsachen, die wachsenden Erfolge des sozialistischen
Aufbaus, die stete Festigung der Sowjetmacht, das alles hat die Argumente
Trotzkis wirkungslos gemacht und dem Trotzkismus die letzte Chance, innerhalb
der Bolschewistischen Partei die Mehrheit zu gewinnen, endgültig genommen. Von
da an vollzieht sich die entscheidende Wendung des Trotzkismus. Trotzki
verkündet offen die Spaltung der leninschen Partei, die Gründung einer neuen
Partei in der Sowjetunion und die Gründung einer neuen, der 4. Internationale.
Es ist ganz gleichgültig, welche Gründe Trotzki für die Parteispaltung und die
Gründung einer neuen Partei in der Sowjetunion anführt, aus dem Versuch, neben
der herrschenden Bolschewistischen Partei eine zweite zu begründen, ergibt sich
im Staate der proletarischen Diktatur ganz zwangsläufig als Konsequenz die
Förderung der Konterrevolution. Lenins Konzeption von der Rolle der Partei im
Kampf um den Sozialismus läßt in der Periode der Diktatur des Proletariats
keine zweite Partei zu. Lenin sah allein schon in der Bildung von Fraktionen
innerhalb der Bolschewistischen Partei eine unmittelbare Gefährdung der
Existenz des Sowjetstaates. Gelänge gar die Abspaltung eines Teiles von der
Bolschewistischen Partei und die Schaffung einer zweiten Partei, so müßte die
Folge davon der Bürgerkrieg und das Ergebnis desselben der Sieg der
Konterrevolution sein. Gerade weil die Bolschewistische Partei unter der
Führung Stalins die alte leninistische Partei geblieben ist, hat sie im Sinne
Lenins die Abspaltungsversuche Trotzkis rücksichtslos bekämpft und die Bildung
einer neuen trotzkistischen Partei unterbunden, um in der Sowjetunion den
Bürgerkrieg und den Sieg der Konterrevolution zu verhindern. Trotzki selbst hat
später zugegeben, daß die Gründung einer trotzkistischen Partei zum Bürgerkrieg
führen würde. Gleichzeitig mit der Propagierung der neuen Partei hat er denn
auch „den Weg der Reform" verworfen, sich für die Anwendung aller Mittel
im Kampf um die Eroberung der Macht ausgesprochen, und als Aufgabe des Trotzkismus
die Revolution gegen die Sowjetmacht proklamiert.
Sehr aufschlußreich für Trotzkis letzte entscheidende Wendung und für seine
weitere Haltung ist die im November 1932 unter dem Titel „Sowjetwirtschaft in
Gefahr" veröffentlichte Schrift. In ihr steht ein besonderer Teil unter
der Überschrift „Die Stalinisten ergreifen Maßnahmen zum Ausschluß Sinowjews,
Kamenews u.a.", in dem Trotzki klar ausspricht, daß der Trotzkismus vor
dem Bürgerkrieg in der Sowjetunion nicht zurückschreckt, daß er diesen Bürgerkrieg
will, unbeschadet der konterrevolutionären Konsequenzen, die sich daraus
ergeben können, oder vielmehr ergeben müssen. In den Moskauer Prozessen gegen
Trotzkisten und Sinowjewisten ist festgestellt worden, daß sich diese beiden —
sehr verschiedene Auffassungen vertretenden — Gruppen zusammen mit den Rechten
zu einem Block gegen die Partei und die Sowjetmacht zusammengeschlossen haben.
Aus der Geschichte des Trotzkismus ist bekannt, daß Trotzki des öfteren einen
prinzipienlosen Block (vor allem den ,„Augustblock" 1912) gegen den
Bolschewismus organisierte, zu dem die einzelnen Teile nicht gemeinsame
Auffassungen, sondern nur ihre Gegnerschaft gegen den Bolschewismus
zusammengeführt hatte. Als man in den Moskauer Prozessen auf den neuerlichen
Block der widersprechendsten Strömungen unter Trotzkis Führung verwies, wurde
das Bestehen dieses Blockes bestritten. Aber Trotzki selbst hat in der
vorgenannten, im Jahre 1932 erschienenen Broschüre zugegeben, daß schon damals
zwischen den verschiedenen oppositionellen Strömungen Verhandlungen um die
Bildung eines Blockes gegen die Sowjetmacht stattfanden, Trotzki schrieb
darüber (Seite 36):
„Im Jahre 1928 hat Kamenew sogar geheime Verhandlungen mit Bucharin über die
Möglichkeit eines Blocks geführt. Die Protokolle dieser Verhandlungen wurden
von der ,Linken Opposition' damals veröffentlicht." Diese für die weitere
Entwicklung nicht unwichtigen Verhandlungen wurden also nicht von der GPU
„erfunden", sondern die Trotzkisten selbst haben sie aufgedeckt und sogar die
Protokolle veröffentlicht. Doch Trotzki berichtet in der gleichen Schrift
weiter, daß in dieser Zeit bereits ein fester Block zwischen Trotzkisten und
Sinowjewtsten (die damals auch schon in Verbindung mit den Rechten standen)
bestand. Über die Beratungen der Trotzkisten mit den Sinowjewisten erzählt
Trotzki (Seite 37, 38):
„In ihren schwersten Stunden, am Vorabend der Kapitulation, beschworen sie
(Sinowjew und Kamenew. D.V.) uns, ihre damaligen Verbündeten, der Partei
entgegenzukommen ... Aber das ist doch Spaltung! Das ist doch die Gefahr des
Bürgerkriegs und des Sturzes der Sowjetmacht? — Wir antworteten: ... Es siegen
die Prinzipien. Die Kapitulation siegt nicht .... Jedoch kann man nicht alle
Varianten dieser Entwicklung voraussehen. Aber mit der Revolution Versteck zu
spielen, List gegenüber Klassen, Diplomatie gegenüber der Geschichte
anzuwenden, ist unsinnig und verbrecherisch. In derart schwierigen und
verantwortungsvollen Situationen muß man sich von der Regel leiten lassen, die
die Franzosen durch die herrlichen Worte ausgedrückt haben: Fais ce que doit,
advienne que pourra! (Tue was du mußt, und komme, was da kommen mag!)"
Hier wird vollkommen eindeutig die abenteuerliche Konzeption des Trotzkismus
aufgezeigt. Im Kampfe gegen die Partei lehnt Trotzki auf alle Fälle die
Kapitulation ab. Wenn auch die Tatsachen die Verkehrtheit seines Wollens
klarlegen und der Partei in ihrem Kampfe um den sozialistischen Aufbau
vollkommen recht geben, Trotzki wird nicht die Waffen strecken, er wird sich
nicht den von der Partei gefaßten Beschlüssen unterordnen, denn „es siegen die
Prinzipien", von denen Trotzki überzeugt ist, weil er ja die Erkenntnis
von ihrer Richtigkeit in Suchum gleich nach dem Tode Lenins „mit der Meeresluft
eingeatmet" hat. Nach der Darstellung Trotzkis wiesen in den damaligen
Besprechungen Sinowjew und Kamenew auf die Konsequenzen des von den Trotzkisten
vorgeschlagenen Kampfes gegen die Partei hin. Sie sagten ganz richtig, daß
dieser Kampf zur Spaltung der Partei führen und daß — wenn die Spaltung gelange
— dies den Bürgerkrieg bedeuten würde, der mit dem Sieg der Konterrevolution
enden müsse. Da Sinowjew und Kamenew im Gegensatz zu ihrem Verbündeten einige
Jahrzehnte Mitglieder der Bolschewistischen Partei und mit dem leninistischen
Organisationsprinzip vertrauter waren, sträubten sie sich damals noch gegen das
Beschreiten des von Trotzki vorgeschlagenen Weges, wahrscheinlich auch wegen
der daraus sich zwangsläufig ergebenden Konsequenzen. Erst später, als sie den
Boden für ihr politisches Wirken immer mehr unter den Füßen verloren, vergaßen
sie ihre Bedenken und gingen mit Trotzki den damals (nach Trotzkis Darstellung)
von ihnen selbst aufgezeigten Weg der Konterrevolution. Jedoch aus noch einem
Grunde ist das vorstehend angeführte Zitat Trotzkis für die Beurteilung der
weiteren Entwicklung des Trotzkismus von einer politischen Strömung der
Arbeiterbewegung zu einer konterrevolutionären Gruppe wichtig. Trotzki
bestreitet nicht, daß „sein Kampf" den Bürgerkrieg und den Sturz der
Sowjetmacht herbeiführen könne. Er sagt ausdrücklich, „daß man nicht alle
Varianten dieser Entwicklung", daß man die Ergebnisse dieses Kampfes nicht
voraussehen könne. Trotzdem aber müsse man den Kampf gegen die Sowjetmacht
durchführen — auch wenn an seinem Ende der Sieg der Konterrevolution stehe.
Denn: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen mag!"
Der Trotzki, der nach diesem Wahlspruch handelt, hat sich vom Marxismus
losgesagt, er läßt sein Tun nicht mehr von den Interessen der Arbeiterklasse,
sondern nur von den Eingebungen bestimmen, die er „mit der Meeresluft
eingeatmet" hat. Welcher wirkliche Marxist wird bei seinem Tun nicht
danach fragen, was das Ergebnis seiner Handlungen sein wird? Wer und welche
Kraft bestimmt, was einer unbedingt „tun muß"? Den Bonapartes sagt es ihr
„Genius" oder ihr persönlicher Machtwille, in einer marxistischen Partei
entscheidet die Mehrheit, was zu geschehen hat. Aber gerade deren
Entscheidungen erkannte Trotzki nicht an, im Gegensatz zu den
Mehrheitsbeschlüssen der leninistischen Partei bestimmte er selber aus eigener
Machtvollkommenheit „was er tun muß“. Die praktische Anwendung von Trotzkis
Wahlspruch gegenüber dem ersten Arbeiterstaat, der unter den schwierigsten
Umständen inmitten der kapitalistischen Umwelt für den sozialistischen Aufbau,
für den Sieg des Sozialismus kämpft, ist nicht nur verantwortungslos, sie
schädigt die Interessen der Weltarbeiterklasse und dient unmittelbar der
Konterrevolution, „Tue, was du mußt" — das heißt, schrecke vor keinem
Mittel und keinem Bündnis zurück. „Vor einzelnen taktischen Übereinstimmungen
mit den Rechten nicht zurückschrecken", sagt Trotzki in derselben Schrift
(Seite 40), der sein Wahlspruch entnommen ist. Er gibt damit zu, was er
anläßlich der Prozesse besonders heftig in Abrede gestellt hat, daß er mit
jedem zusammengehen wird, der ihm hilft, Stalin zu stürzen, daß er keinerlei
Bedenken hat, den Block mit den Sinowjewisten und den Rechten zu bilden, den er
seinerzeit selbst denunziert hat.
„Komme, was da kommen mag!" — das heißt, Trotzki fragt nicht danach, was
bei seinem Kampf gegen die Bolschewistische Partei und die Sowjetmacht
herauskommt. Wenn auch die Sowjetunion dabei zum Teufel geht, er tut um jeden
Preis, „was er muß".
Trotzkis Wahlspruch ist der Wahlspruch eines gewissenlosen Vabanquespielers,
der soweit gekommen ist, daß er in seinem Machtkampf buchstäblich vor nichts
zurückschreckt. Dieser Wahlspruch ist nicht die „erpreßte oder erlogene
Aussage" eines vor dem Moskauer Gericht stehenden Angeklagten, sondern er
ist von Trotzki frei und unbeeinflußt niedergeschrieben und veröffentlicht
worden.
Trotzkis Wahlspruch charakterisiert die weitere Entwicklung des Trotzkismus. Da
Trotzki auf dem „Wege der Reform" nicht zum Ziele kam, da er seine
Bemühungen, innerhalb der Bolschewistischen Partei die Mehrheit zu gewinnen und
auf diesem Wege die Macht zu erobern, als vollkommen aussichtslos aufgeben
mußte, hat er sehr bald den „Weg der Reform" aufgegeben und dafür die
Parteispaltung, die Gründung einer 4. Internationale und einer neuen Partei in
der Sowjetunion verkündet, als deren Aufgabe er von nun an ganz offen die
Revolution, die Organisierung des Bürgerkrieges, den bewaffneten Aufstand gegen
die Sowjetmacht bezeichnet. Ganz deutlich hat Trotzki dieses neue
trotzkistische Programm unter anderem auch in der Ende 1933 erschienenen
Broschüre „Die 4. Internationale und die UdSSR" niedergeschrieben. In
dieser Schrift bezeichnet er es als unmöglich, die herrschende Sowjetmacht auf
friedlichem, demokratischem Wege zu beseitigen. Da sie aber seiner Meinung nach
unbedingt gestürzt werden müsse, sei die revolutionäre Aktion gegen sie
notwendig. Trotzki schrieb in der vorgenannten Broschüre (Seite 18 und 19):
„... Es wäre eine Kinderei, zu glauben, daß die Stalinbürokratie mit Hilfe
eines Partei- oder Sowjetkongresses abzusetzen wäre ... Zur Beseitigung der
regierenden Clique sind keine normalen „konstitutionellen“ Wege geblieben. Die
Bürokratie zwingen, die Macht in die Hände der proletarischen Vorhut (der
Trotzkisten. D.V.) zu legen, kann man nur mit Gewalt...
Die sozialen Wurzeln der Bürokratie liegen, wie wir wissen, im Proletariat:
Wenn nicht in seiner aktiven Unterstützung, so wenigstens in seiner
,Tolerierung'. Geht das Proletariat zur Aktivität über, so wird der stalinsche
Apparat in der Luft hängen. Versucht er jedoch, sich zu widersetzen, so werden
gegen ihn nicht Bürgerkriegs-, sondern eher Polizeimaßnahmen zu ergreifen
sein.“
In allen seinen späteren Schriften propagiert Trotzki gleichfalls den Aufstand
gegen die Sowjetmacht. Das ist unter anderem nachzulesen in der 1935
geschriebenen Broschüre „Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus" und
in „La revolution trahie" (Die verratene Revolution, 1936). Dort sagt er
ganz eindeutig: Der Weg der Reformen verwandelt sich in den Weg der Revolution.
In der erstgenannten Schrift schrieb Trotzki (Seite 17/18):
„Das Geschick der Sowjetunion als sozialistischer Staat hängt von jenem
politischen Regime ab, das den Stalinbonapartismus ablösen wird...
Der unvermeidliche Zusammenbruch des stalinschen politischen Regimes wird nur
dann zur Wiederherstellung der Sowjetdemokratie führen, wenn die Beseitigung
des Bonapartismus ein bewußter Akt der proletarischen Vorhut sein wird."
Die „proletarische Vorhut" sind nach Trotzki natürlich die Trotzkisten,
und der „bewußte Akt" zur Beseitigung des „Stalin-Bonapartismus" ist
die „Revolution" gegen die Sowjetmacht. In allen diesen Schriften kommt
Trotzki immer wieder zu demselben Schluß: „Die Bürokratie kann nur auf dem Wege
der Revolution entfernt werden."
Um „seine Revolution" zu rechtfertigen, behauptet Trotzki, daß die
revolutionäre Aktion nicht die Diktatur des Proletariats sondern die angeblich
herrschende „Diktatur der Bürokratie" gewaltsam stürzen solle. In dem
Kapitel über „Das Problem der Bürokratie" ist auseinandergesetzt, daß die
Bürokratie keine selbständige Kraft, sondern immer nur das ausführende Organ
der herrschenden Klasse sein kann. In der Sowjetunion gibt es keim „Diktatur
der Bürokratie", die gestürzt werden müßte, und darum richtet sich jede
revolutionäre Aktion in dem ersten Arbeiterstaat gegen die dort allein
herrschende Diktatur des Proletariats. Die wirkliche Lage in der Sowjetunion
ist keineswegs so, wie sie von Trotzki zur „Rechtfertigung" seiner
sowjetfeindlichen „Revolution" dargestellt wird. Hinter der herrschenden
Sowjetmacht stand bei allen Auseinandersetzungen mit Trotzki die überwiegende
Mehrheit der Bolschewistischen Partei und hinter dieser die Masse des Volkes.
Wenn Trotzki 1933 schrieb, daß er seine revolutionäre Aktion nur durchführen
werde, wenn dafür die Mehrheit der Arbeiterklasse gewonnen ist, so war das
nichts anderes als eine Irreführung. Schon damals lehnten die sowjetischen
Massen den Trotzkismus ab und inzwischen haben die weiteren immer mehr
spürbaren Erfolge die Möglichkeit einer Massenmobilisierung für die
trotzkistische „Revolution" endgültig vernichtet. Wenn Trotzki diese
Tatsache nicht respektiert, wenn er trotzdem die „Waffen nicht streckt",
dann beweist das eben, daß er einen konterrevolutionären Putsch gegen die
Mehrheit der Arbeiterklasse, gegen die Massen und die Sowjetmacht beabsichtigt.
Unmittelbar nach der Presseveröffentlichung der später in der Broschüre
Trotzkis über „die 4. Internationale und die UdSSR" gesammelten Aufsätze
hat die sozialdemokratische Presse die Bedeutung dieser Schrift ganz richtig
eingeschätzt. Eine Reihe sozialdemokratischer Zeitungen zitierte daraus die
vorstehend wiedergegebenen Äußerungen und das Züricher „Volksrecht" z.B.
versah sie mit der Überschrift: „Trotzki predigt den Aufstand gegen Stalin"
(Nr. vom 16. Dezember 1933.) Das war eine durchaus zutreffende Beurteilung der
Äußerungen Trotzkis. Wenn aber Trotzki „den Aufstand gegen Stalin
predigt", so ist anzunehmen, daß er sich nicht auf das Predigen
beschränkt, sondern alle Mittel zu mobilisieren versucht, um diesen Aufstand
auch praktisch durchzuführen. Dann aber hat die Sowjetmacht auch das Recht, mit
allen Mitteln die Durchführung des trotzkistischen Putschversuches zu
verhindern. Schuld an dem scharfen Vorgehen gegen den Trotzkismus ist also
nicht die Sowjetmacht, sondern schuldig sind diejenigen, die durch ihren
Hochverrat gegen den ersten Arbeiterstaat dessen radikaie Abwehrmaßnahmen
herausgefordert haben. Die Aktion zur Ausmerzung der letzten trotzkistischen
Reste in der Sowjetunion ist nur die Antwort auf die trotzkistischen
Putschvorbereitungen. Beklagen können diese Antwort nur Menschen, die Anschläge
Trotzkis gegen die Sowjetmacht für berechtigt halten und ihre Verhinderung
bedauern.
Der Trotzkismus ist, nachdem er einmal die schiefe Bahn der konterrevolutionären
Aktion gegen die Sowjetmacht betreten hat, zwangsläufig immer tiefer gesunken.
Die Erfolge des sozialistischen Aufbaus haben den Trotzkisten die Möglichkeit
und sogar die Hoffnung genommen, bei weiterer friedlicher Entwicklung in der Sowjetunion
auch nur ein paar tausend Menschen für den von ihnen gewollten „bewußten
Akt" gegen die Sowjetmacht zu gewinnen. Darum hat Trotzki seine letzte
verzweifelte Hoffnung auf den Krieg gesetzt. Die Niederlage der Sowjetunion im
Kriege erst wird ihm — so glaubt er — eine Chance für die Machteroberung geben.
Radek sagte in dem gegen Pjatakow, Sokolnikow und Genossen in Moskau geführten
Prozeß (Prozeßbericht Seite 10), daß Trotzki ihm in einem Brief über seine
politische Perspektive geschrieben habe:
„Man muß feststellen, daß die Machtfrage am realsten erst im Ergebnis einer
Niederlage der UdSSR in einem Kriege vor dem Block stehen wird. Hierzu muß sich
der Block energisch vorbereiten ... Da die Hauptvoraussetzung des Machtantritts
der Trotzkisten, falls es ihnen nicht gelingen wird, dies durch Terror zu
erreichen, eine Niederlage der UdSSR wäre, muß man, soweit dies möglich, den
Zusammenstoß zwischen der UdSSR und Deutschland beschleunigen."
In einem Brief an Radek von 1934 stellte Trotzki nach der Aussage Radeks
(Prozeßbericht Seite 11 6) die Frage folgendermaßen:
„Der Machtantritt des Faschismus in Deutschland ändert die Situation von Grund
aus. Er bedeutet den Krieg, um so mehr, als sich gleichzeitig die Lage im
fernen Osten verschärft. Trotzki zweifelt nicht daran, daß dieser Krieg zu
einer Niederlage der Sowjetunion führen wird. Diese Niederlage, schrieb er,
schafft die reale Situation für den Machtantritt des Blockes; er zog daraus den
Schluß, daß der Block an einer Verschärfung des Konfliktes interessiert ist. Er
machte Sokolnikow und mir Vorwürfe, daß wir uns persönlich im Kampf für den
Frieden zu sehr exponieren..." Pjatakows und Sokolnikows Aussagen über
Trotzkis Stellung zum Kriege stimmen mit den Aussagen Radeks überein. In seinem
Schlußwort im Prozeß verwies dieser darauf, daß Trotzki schon früher den
Gedanken der Entfachung des revolutionären Krieges gegenüber der Sowjetmacht
vertreten habe (Seite 542 des Prozeßberichtes):
„Man muß in Erinnerung rufen, daß Trotzki schon vor 10 Jahren seine defaitistische
Stellungnahme gegenüber der UdSSR unter Berufung auf die bekannte These von
Clemenceau rechtfertigte, Trotzki schrieb damals: Es muß die Taktik Clemenceaus
wieder hergestellt werden; wie bekannt, lehnte sich Clemenceau gegen die
französische Regierung in dem Augenblick auf, als die Deutschen 80 Kilometer
vor Paris standen. Genosse Stalin verspottete bissig Trotzki, diesen ,Operetten
- Clemenceau', und seine ,Don Quichote-Gruppe'. Trotzki und seine Komplizen
haben nicht zufällig diese Clemenceau-These aufgestellt. Sie haben erneut auf
diese These zurückgegriffen, jetzt aber nicht mehr im Sinne theoretischer,
sondern vielmehr tatsächlicher, praktischer Vorbereitung..."
Radek, Pjatakow und Sokolnikow haben vor Gericht ausgesagt, daß sie anfänglich
die Konzeption Trotzkis billigten, weil sie nur auf diesem Wege die Rettung der
Sowjetunion erhofften. Zu der Zeit, wo die Schwierigkeiten des sozialistischen
Aufbaus noch nicht überwunden waren, erschien ihnen die Niederlage der
Sowjetunion im Kriege gegen Deutschland und Japan unvermeidlich. Nur der Sturz
der stalinschen Herrschaft, die Verständigung der neuen revolutionären Macht
mit den Angreifern und Konzessionen an diese im Sinne der leninschen Taktik von
Brest-Litowsk hätten die Sowjetunion vor der völligen Vernichtung bewahren
können. Erst später — so betonte insbesondere Radek — als der Erfolg des
sozialistischen Aufbaus unbestreitbar, als die Sowjetunion ökonomisch und
militärisch so stark geworden war, daß sie mit ihren Feinden fertig werden
konnte und eine Niederlage darum nicht mehr zu befürchten hatte, erschien den
Hauptangeklagten des Moskauer Prozesses die Herbeiführung der Niederlage als
ein hochverräterisches Verbrechen zugunsten der faschistischen Kriegsgegner.
Was Radek und Genossen über Trotzkis Absichten aussagten, ist ungeheuerlich. Es
muß also untersucht werden, ob sie ihrem Freunde Trotzki eine falsche
Konzeption angedichtet, oder ob sie seine Pläne richtig charakterisiert haben.
Wer die Entwicklung Trotzkis und seine eigenen Publikationen in den letzten
Jahren aufmerksam verfolgt hat, dem waren die Aussagen von Radek, Pjatakow und
Sokolnikow keine Überraschung. Was über Trotzkis Konzeption im Moskauer Prozeß
ausgesagt wurde, kann in den Schriften Trotzkis nachgelesen werden.
Daß Trotzki nicht vor dem Bürgerkrieg zurückschreckt, daß er um jeden Preis den
Aufstand gegen die Sowjetmacht durchführen will, ist in diesem Kapitel schon
mit Zitaten aus Trotzkis Schriften bewiesen worden. In den gleichen Schriften
ist aber auch nachzulesen, wie sehr Trotzki damit rechnet, daß die
Voraussetzungen für seinen konterrevolutionären Anschlag gegen die Sowjetmacht
erst im Kriege und nach der Niederlage der Sowjetunion im Kriege heranreifen
werden. In dem 1936 erschienenen Buche „La revolution trahie" spricht Trotzki
wiederum von der Unvermeidlichkeit des Krieges. „Die Gefahren des Krieges und
einer Niederlage der UdSSR ist Realität", sagt er dort. Nach seinen
Behauptungen sind wegen der Schuld der „stalinschen Bürokratie" die Armeen
der kapitalistischen Staaten der Roten Armee in technischer, ökonomischer
Beziehung und in der Beherrschung der militärischen Kunst unendlich überlegen.
Das steht zwar im Widerspruch mit der Wahrheit und mit dem, was Trotzki selbst
in einer 1934 in den „ Europäischen Heften" veröffentlichten Artikelserie
„Über die Aussichten und den Stand der Roten Armee im Verhältnis besonders zu
der Armee Japans" schrieb. In einem dieser Artikel unter der Überschrift
„Japan wird verlieren" war zu lesen:
„Die Vorteile der Lage, vervielfacht durch die mächtigere Technik, werden der
Roten Armee ein Übergewicht verleihen, das sich kaum durch einen genauen
Koeffizienten ausdrücken läßt."
Seit dieser Zeit hat die Rote Armee in technischer, ökonomischer Beziehung und
in der Beherrschung der militärischen Kunst gewaltige Fortschritte gemacht;
nach dem Urteil sehr vieler Fachleute größere Fortschritte, als die Armeen in
den kapitalistischen Ländern. Nicht das Verhältnis der Roten Armee zu anderen
Armeen hat sich zuungunsten der Sowjetmacht gewandelt, sondern Trotzki hat
seinen Standpunkt geändert, weil die Entwicklung seiner Gegnerschaft zur
Sowjetmacht ihn zwangsläufig zu immer abenteuerlicheren Spekulationen treibt,
zur verzweifelten Hoffnung auf die Machteroberung in einem für die Sowjetunion
unglücklichen Kriege.
Zu dem gleichen Thema schrieb Trotzki in der 1933 erschienenen Schrift „Die 4.
Internationale und die UdSSR" (Seite 19):
„Was steht näher bevor: die Gefahr des Zusammenbruchs der vom Bürokratismus
zernagten Sowjetmacht, oder die Stunde des Zusammenschlusses des Proletariats
zu einer neuen Partei, fähig das Oktobererbe zu retten? Auf diese Frage gibt es
keine aprioristische Antwort; entscheiden wird der Kampf. Das Kräfteverhältnis
wird festgestellt werden bei einer großen geschichtlichen Probe, die auch ein
Krieg sein kann. Klar ist jedenfalls, daß mit den inneren Kräften allein bei
weiterem Niedergang der proletarischen Weltbewegung und der Ausbreitung der
faschistischen Herrschaft man die Sowjetmacht nicht lange halten kann."
Hier ist ausgesprochen, daß Trotzki die Erhaltung der Sowjetunion gegenüber den
faschistischen Mächten für unmöglich hält. Ebenso deutlich ist gesagt, daß die
Entscheidung zwischen Trotzkis „neuer Partei" und „der vom Bürokratismus
zernagten Sowjetmacht" bei einer großen geschichtlichen Probe, im Kriege
erfolgen wird. Das ist das Gleiche, was Radek im Prozeß aus dem Briefe Trotzkis
mitteilte. In der gleichen Schrift (Seite 22/23) sagte Trotzki:
„An dem Tage, wo die neue Internationale den russischen Arbeitern nicht in
Worten, sondern in der Tat — beweisen wird, daß sie und nur sie für die
Verteidigung des Arbeiterstaates einsteht, wird die Stellung der
Bolschewiki-Leninisten innerhalb der Union sich in 24 Stunden gewandelt
haben." Das heißt also, wenn nach Rückschlägen und Niederlagen im Kriege
die trotzkistische neue Partei „ihre Revolution" „zur Entfesselung der
Widerstandskräfte" durchführt, werden die heute dem Trotzkismus ablehnend
gegenüberstehenden Massen in der Sowjetunion ihren Standpunkt „innerhalb 24
Stunden" ändern und den Trotzkisten folgen. Damals — Ende 1933 — wollte
Trotzki die „Stalinbürokratie" noch nicht sofort vernichten, sondern er
wollte zunächst eine Einheitsfront mit ihr machen. Er fährt in der genannten
Schrift fort:
„Die neue Internationale wird der Stalin-Bürokratie die Einheitsfront gegen den
gemeinsamen Feind vorschlagen. Und wenn unsere Internationale eine Kraft
darstellt, wird die Bürokratie in der Minute der Gefahr die Einheitsfront nicht
verweigern können...
Die Einheitsfront mit der Stalin-Bürokratie wird auch im Kriegsfalle keine
,heilige nationale Einheit' bedeuten, nach dem Beispiel der bürgerlichen und
sozialdemokratischen Parteien, die während des imperialistischen Gemetzels die
gegenseitige Kritik einstellten, um desto gewisser das Volk zu betrügen. Nein,
auch im Kriegsfalle würden sie die politische Unversöhnlichkeit in bezug auf
den bürokratischen Zentrismus bewahren, der seine Unfähigkeit, einen wahrhaft
revolutionären Krieg zu führen, wird offenbaren müssen." Der Gedanke, den
Krieg zum Sturze der Sowjetmacht auszunutzen, spukt also schon lange bei
Trotzki umher. In dem politischen Bericht, den Stalin im Auftrage des
Zentralkomitees im Dezember 1927 auf dem XV. Parteitage erstattete, wies der
Berichterstatter auf die von Trotzki vertretene (von Radek im Prozeß erwähnte)
Clemenceau-These hin:
„Darauf gründet sich die bekannte These Trotzkis von Clemenceau. Wenn die
Staatsmacht entartet ist oder entartet, lohnt es sich da, sie zu schonen, sie
zu verteidigen? Es ist klar, daß sich das nicht lohnt. Wenn eine günstige
Situation eintritt, diese Macht ,abzusetzen', sagen wir, wenn zum Beispiel der
Feind 80 Kilometer vor Moskau stehen würde, — ist es dann nicht klar, daß man
die Situation ausnützen müßte, um diese Regierung wegzufegen und eine neue Clemenceau-Regierung,
das heißt eine trotzkistische Regierung einzusetzen?"
Die Richtigkeit dieses Vorwurfes bestätigt Trotzki in der oben zitierten
Broschüre über die 4. Internationale. Wenn die deutschen Faschisten 80
Kilometer vor Moskau stehen, will er seine Pläne gegen die Sowjetmacht
durchführen. Auch später hat er wiederholt die Überzeugung geäußert, daß für
die Verwirklichung seiner Absichten der Vormarsch der deutschen Faschisten auf
Moskau notwendig ist, das heißt, daß die Sowjetunion im Kriege geschlagen
werden muß, wenn der Trotzkismus eine letzte verzweifelte Chance zur
Machteroberung haben soll. Aber auch dann wird er diese Chance nicht nützen
können. Selbst wenn es Trotzki nur auf die Machteroberung ankommt, wenn er
nicht böswillig lieber den Faschismus als Stalin in Rußland herrschen sehen
will, würde sein Treiben, wenn es erfolgreich wäre, den Faschismus zur
Herrschaft führen. In der Sowjetmacht werden alle materiellen und menschlichen
Kräfte zur Verteidigung der UdSSR in einem Ausmaße mobilisiert, wie das in
keinem Lande und unter keiner anderen Regierung möglich ist. In einem Kriege
gegen das faschistische Deutschland und Japan wird diesen Mächten die
geschlossene Macht eines 180 Millionenvolkes gegenüberstehen, die größtmögliche
Macht, die überhaupt von einer Regierung mobilisiert werden kann. Jeder
Versuch, im Kriege eine trotzkistische Clemenceau-Regierung zu errichten, mußte
die geschlossene Widerstandsfront gegen die faschistischen Angreifer schwächen
und könnte nur deren Aktionen unterstützen. Gelänge es dem Trotzkismus im
Kriege — wofür glücklicherweise alle Voraussetzungen fehlen — Teile aus der
Verteidigungsfront der Sowjetmacht herauszubrechen, gelänge es, in der Zeit der
entscheidenden Kriegshandlungen die Front gegen die faschistischen Angreifer zu
schwächen, zu zersetzen, zu demoralisieren, so würde dadurch auf keinen Fall
der Trotzkismus zur Macht kommen, sondern die Folge eines Sieges der
faschistischen Diktaturen würde nichts anderes sein als die Errichtung einer
konterrevolutionären faschistischen Diktatur in Rußland. Ist es Trotzkis
Konzeption, die Niederlage der Sowjetunion im Kriege zur Entfesselung des
Bürgerkriegs auszunutzen —- und da das von Trotzki in seinen Schriften
publiziert wurde, kann es von niemandem weggeleugnet werden, — so ist es sehr
schwer festzustellen, welche Mittel die unkontrollierbare konspirative und
illegale Bewegung der Trotzkisten und die einzelnen Teile derselben für
zweckmäßig halten, um die fanatisch verfochtene falsche Konzeption zu
verwirklichen. Die sozialistischen Hitlergegner werden in ihrem Kampf um den
Sturz der faschistischen Diktatur gewiß jedes geeignete Mittel anwenden, um die
günstigsten Voraussetzungen für ihre, allerdings im Gegensatz zu Trotzki, sich
auf die Massen stützende, revolutionäre Aktion zur Eroberung der politischen
Macht zu schaffen. Betrachten die Trotzkisten Stalin ebenso als den Feind der
Sowjetunion, wie die deutschen Sozialisten in Hitler den Feind Deutschlands
sehen, so ergibt sich daraus konsequent die gleiche unerbittliche Haltung. Da
aber der Trotzkismus sich nicht auf die Massen stützen kann, greift er zu den
letzten, verzweifelten (terroristischen) Mitteln. Der große Unterschied ist; so
berechtigt die sozialistischen Hitlergegner zur Anwendung aller geeigneten
Kampfmittel für den Sturz der faschistischen Diktatur sind, so unberechtigt
sind Trotzkis naturgemäß anders geartete Kampfmethoden und Kampfmittel gegen
die Sowjetmacht, denn der Sturz Hitlers bedeutet die Befreiung Deutschlands,
der Sturz der Sowjetmacht im Kriege bedeutet den Untergang der Sowjetunion und
der stärksten Festung des Weltproletariats im Kampfe gegen den Faschismus.
Otto Bauer hat nach dem Pjatakow-Radek-Prozeß in der „Arbeiterzeitung"
(17. Februar 1936) die Politik Trotzkis folgendermaßen charakterisiert:
„Aber es kommt nicht auf die Absichten, sondern auf die Wirkungen einer
politischen Konzeption an. Wenn die Sowjetunion mitten im Kriege gegen zwei
riesenhafte Militärmächte stände, gegen Deutschland im Westen, gegen Japan im
Osten, dann würde jede neue Revolution, was immer die Absichten ihrer Urheber
wären, die furchtbarste Gefahr hervorrufen, daß die Kriegsführung der
Sowjetunion desorganisiert würde und dadurch ihre Niederlage, der Sieg
Hitlerdeutschlands und Japans herbeigeführt würde. Dann würde freilich die neue
Revolution mit der Abtretung der Ukraine und des Amurgebietes und mit der
Wiederherstellung des Kapitalismus in der Sowjetunion enden. Das ist nicht der
Wunsch Trotzkis; aber das könnte die Wirkung seines Rufes zu einer zweiten
Revolution sein, wenn er von den Volksmassen der Sowjetunion gehört würde. Er
ist nicht subjektiv ein Bundesgenosse Hitlerdeutschlands und Japans; aber seine
Parolen würden, wenn sie während des Krieges von breiteren Massen aufgenommen
würden, objektiv nur Hitlerdeutschland und Japan helfen."
Im politischen Machtkampf kommt es wahrlich nicht auf die Absichten eines
Politikers, sondern auf die Wirkung seiner Politik an, Noske und seine Freunde
haben in der Blütezeit der Weimarer Republik leidenschaftlich beteuert, daß die
Absicht ihrer Politik die Rettung der Republik gewesen sei. Die Geschichte hat
bewiesen, daß die Wirkung der Politik Noskes die Mobilisierung der
Konterrevolution, der Sieg des Faschismus und die Vernichtung der Weimarer
Republik war. Das Treiben des Trotzkisten ist konterrevolutionär, es dient den
faschistischen Feinden der Sowjetunion: Hitlerdeutschland, Japan und dem
Weltfaschismus. Die von Trotzki propagierte „Revolution" ist Hochverrat
gegen die Sowjetunion. Die Sowjetunion wehrt sich gegen diesen Hochverrat, sie
bekämpft mit unerbittlicher Härte den Trotzkismus, weil er die Feinde der
Sowjetunion und der Arbeiterklasse unterstützt. Der Kampf der Sowjetmacht um
die Verhinderung der trotzkistischen Hilfsdienste für die Feinde der
Sowjetunion ist moralisch und politisch berechtigt. Die Sowjetmacht dient mit
diesem Kampf der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Die geschichtliche Entwicklung
wird davon auch jene objektiv urteilenden Menschen überzeugen, die aus
mangelnder Kenntnis der politischen Zusammenhänge in ihrer ersten
gefühlsmäßigen Entscheidung die harten Maßnahmen der Sowjetjustiz nicht
begriffen haben.
Unbestreitbar ist jedenfalls: Trotzki will den Kampf um die Eroberung der Macht
in der Sowjetunion um jeden Preis führen. Er selbst schreibt, „es wäre eine
Kinderei zu glauben, daß die Stalinbürokratie mit Hilfe eines Partei - oder
Sowjetkongresses - abzusetzen wäre". Demokratische Mittel hält er für
aussichtslos, die Macht zu erobern sei den Trotzkisten nur mit Gewalt möglich.
Die Äußerungen Trotzkis in seinen eigenen Schriften, alles, was er selbst
über,„seine Revolution" niedergeschrieben hat, stimmt weitgehend mit dem
überein, was Pjatakow, Radek, Sokolnikow und andere Angeklagte vor dem Moskauer
Gericht über Trotzkis Konzeption aussagten. Revolution gegen die herrschende
Sowjetmacht — „komme, was da kommen mag!"
Wie aber will Trotzki seine Pläne verwirklichen? Darüber gibt er in seinen
Schriften keine nähere Auskunft. Wahrscheinlich scheint es ihm nicht
zweckmäßig, das „Wie" öffentlich zu konkretisieren. Die Geschichte lehrte
daß zwar die Konterrevolution gestützt nur auf die Bajonette — auch auf die der
konterrevolutionären Bundesgenossen eines anderen Landes — siegen kann, daß
aber zum Erfolg jeder wirklich revolutionären Erhebung die weitgehende
Unterstützung breiter Volksmassen notwendig ist. Diese Unterstützung durch die
Massen in der Sowjetunion fehlt aber Trotzki vollkommen. An anderer Stelle ist
ausführlich dargelegt, warum die Sowjetvölker nach den Erfolgen des
sozialistischen Aufbaus, nach der politischen Widerlegung der trotzkistischen
Theorie von der Unmöglichkeit des Sozialismus in der Sowjetunion, den
Trotzkismus, ablehnen. Es fehlen also in der UdSSR alle Voraussetzungen für
eine trotzkistische Aktion. Wenn Trotzki den Aufstand gegen die Sowjetmacht
predigt, so verkündet er damit nicht, was er kann, sondern was er will. Dieses
Wollen jedoch, so unreal es auch ist, schafft innerhalb der Weltarbeiterklasse
Verwirrung und hilft der faschistischen Vorkriegslügenpropaganda gegen den
ersten Arbeiterstaat. Gerade weil die „Revolution" des von den Massen
isolierten Trotzkismus illusionär ist, weil sie mit politischen Mitteln nicht
realisiert und gefördert werden kann, muß Trotzki zu anderen Mitteln greifen,
um die Sowjetmacht zu erschüttern. Diese anderen Mittel können unter den
gegebenen Umständen nichts anderes sein als Terror und Schädlingsarbeit, durch
die allein noch die Sowjetmacht geschädigt und ihre Position im Kriege
geschwächt werden kann. Will Trotzki um jeden Preis die Macht erobern, dann
schreckt er auch vor nichts zurück, dann gilt auch bei der Auswahl der
Kampfmittel sein Wahlspruch: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen
mag!"
Es ist jedenfalls eine unbestreitbare Tatsache, daß Kirow ermordet wurde, daß
man mit terroristischen Aktionen und Sabotageakten die Widerstandskraft der
UdSSR zu schwächen versuchte. In seinen letzten Schriften hat Trotzki zwar nie
versäumt den individuellen Terror abzulehnen. Aber er hat dabei keinesfalls das
Vorhandensein terroristischer Tendenzen bestritten. In „Arbeiterstaat und
Thermidor" (1935) schrieb er in seinen Schlußfolgerungen (Seite 17 und
18):
„Die terroristischen Tendenzen unter der kommunistischen Jugend gehören zu den
schwersten Krankheitssymptomen für die Erschöpfung der politischen Möglichkeiten
des Bonapartismus und seinen Eintritt in die Periode des erbittertsten Kampfes
um die Selbsterhaltung...
Die politische und moralische Verantwortung für das Auftauchen des Terrorismus
in den Reihen der kommunistischen Jugend liegt beim ,Totengräber der Partei',
Stalin." In der im September 1936 veröffentlichten Broschüre über „Die
Terroristen-Prozesse" schrieb Trotzki (Seite 11):
„Nikolajew (Der Mörder Kirows d.V.) wird in der Sowjetpresse als Teilnehmer
einer aus Parteimitgliedern bestehenden Terrororganisation dargestellt. Wenn
die Mitteilung richtig ist (und wir haben keinen Grund, sie als eine Erfindung
anzusehen, denn die Bürokratie hat das nicht leichten Herzens zugegeben), dann
stehen wir vor einer neuen Tatsache, der man große symptomatische Bedeutung
beimessen muß. Ein Revolverschuß, abgegeben von einem persönlich gekränkten
Menschen, ist immer möglich. Aber ein Terrorakt, planmäßig vorbereitet und im
Auftrage einer bestimmten Organisation durchgeführt, ist, wie uns die gesamte
Geschichte der Revolutionen und Konterrevolutionen lehrt, undenkbar ohne
Vorhandensein einer günstigen politischen Atmosphäre. Die Feindschaft gegen die
obersten Vertreter der Macht mußte weitgehend verbreitet sein und scharfe
Formen annehmen, damit in der kommunistischen Jugend, oder besser, in ihrer
höheren städtischen Schicht, die mit den Kreisen der unteren und mittleren
Bürokratie eng verbunden ist, sich eine Terroristengruppe herauskristallisieren
konnte." Trotzki bestreitet also nicht, daß Terrororganisationen in der
Sowjetunion entstanden sind. Da nach seiner These Stalin an allem schuld ist,
ist er natürlich auch der geistige Urheber der Terrororganisationen. Trotzki
betrachtet ihr Vorhandensein sogar als den Beweis für eine seiner
„Revolution" günstige politische Atmosphäre. Will man Trotzkis Behauptung,
daß Stalin die Ursache der Terrororganisationen sei, prüfen, so muß man
zunächst untersuchen, ob die von Trotzki behauptete günstige politische
Atmosphäre für sein Wollen vorhanden ist, ob die Volksmassen sich in großer
Erregung über die „stalinsche Bürokratie" befinden. Die offensichtlichen
Tatsachen widersprechen dieser Behauptung. Um sie vollkommen zu widerlegen,
soll hier ein Zeuge aus dem Lager der Stalingegner angeführt werden, der nicht
im Verdacht steht, die Stimmung zugunsten Stalins zu beschönigen. Der
menschewistische „Alte Bolschewik" erzählt in seinem Briefe an den
menschewistischen „Sozialistischen Boten" — aus dem schon in anderem
Zusammenhange zitiert wurde — über die Volksstimmung in der Sowjetunion:
„Der Sommer und Herbst 1933 waren für die Sowjetunion eine entscheidungsvolle
Zeit, sowohl für die innere, wie für die Außenpolitik.
Die Ernte war über Erwarten gut. Fast niemand hatte gehofft, daß es bei der
damals herrschenden Verwirrung gelingen werde, die Feldarbeiten durchzuführen
und das Getreide einzubringen. Daß dies gelang, war Stalins Verdienst. Er
entfaltete selbst eine für ihn ungeheure Energie und erreichte, daß alle bis
zur Erschöpfung arbeiteten. Er verstand, daß dieser Sommer für ihn entscheidend
war; sollte sich die wirtschaftliche Lage nicht bessern, so müßte sich die
Erregung gegen ihn in irgend einer Weise bahnbrechen. Sobald sich aber zeigte,
daß die Ergebnisse der Ernte gut waren, trat ein Umschwung in der Stimmung der
Parteikreise ein. Erst jetzt glaubten die breiten Massen der Parteimitglieder,
daß die Generallinie siegen könne, und aus dieser Umstellung heraus änderte
sich auch ihr Verhalten gegen Stalin, mit dessen Namen die Generallinie
unzertrennlich verknüpft war. Stalin hat gesiegt, hieß es auch bei den Leuten,
die noch kurz zuvor sich für die Plattform Rjutins interessierten."
Dieses dem stalinfeindlichen „Alten Bolschewiken" entschlüpfte Geständnis
ist sehr beachtlich. Aus ihm geht hervor, daß zumindestens von 1934 an „Stalin
gesiegt" hat, daß von einer Mißstimmung gegen Stalin in der
Parteimitgliedschaft und im Volke nichts zu spüren ist. Der „Alte
Bolschewik" führt den Umschwung auf die „gute Ernte" des Jahres 1933
zurück. Das ist ein wenig naiv, aber schließlich doch nur der Versuch des
Gegners, einen nicht mehr wegzuleugnenden Tatbestand plausibel zu begründen.
Die wirkliche Ursache der allgemeinen Stimmung für Stalin ist der große
wirtschaftliche Aufschwung, der das Ergebnis der planmäßigen sozialistischen
Aufbauarbeit ist. Seit 1933 konnten die Früchte der im Kampf um den
sozialistischen Aufbau gebrachten Opfer geerntet und das Lebensniveau der
Massen ständig gehoben werden. Den Arbeitern und Bauern ist restlos klar
geworden, daß die Politik Stalins erfolgreich war, für sie hat Stalin in der
Tat gesiegt. Ist aber die Stimmung in der Partei und im Volke so, wie sie der
„Alte Bolschewik" schildert, dann gibt es in den Massen keine Mißstimmung
gegen Stalin, dann fehlt die „günstige politische Atmosphäre" für Trotzkis
„Revolution"; sind die Parteimitglieder mit Stalin einverstanden und es
bestehen trotzdem Terrororganisationen, dann ist nicht Stalin schuld an ihrer
Existenz. In den Moskauer Prozessen wurde nachgewiesen, daß Trotzki und die
Trotzkisten in ihrer verzweifelten politischen Isolierung diese Terrorgruppen
organisiert haben, um mit ihrer Hilfe die Sowjetmacht zu schwächen und die
Voraussetzungen für den Aufstand zu schaffen. Die ständige Propaganda Trotzkis
für die Revolution gegen die Sowjetmacht, seine immer wiederkehrende
Aufforderung, Stalin und die „Stalin-Bürokratie" mit Gewalt zu stürzen
kann in die Irre gegangene, politisch isolierte Menschen für terroristische
Aktionen gewinnen, — weil sie kein anderes Mittel zum Sturz Stalins mehr sehen.
In den „Materialien zum Moskauer Prozeß", die unter dem Titel „Für Recht
und Wahrheit" von Trotzkisten herausgegeben wurden, steht auf Seite 6:
„Der erwähnte Appell, ein ,Offener Brief' aus dem Jahre 1932, liegt vor uns.
Dort findet sich weder der von Olberg behauptete Satz, ,Stalin muß aus dem Wege
geräumt werden!', noch eine andere terroristische Formulierung." Die
Verteidiger Trotzkis wollen damit scheinbar sagen, daß Trotzki niemals
Formulierungen gebraucht habe, die seine Anhänger als geistige Aufforderung zum
Terror betrachten könnten.
In deutscher Übersetzung ist der besagte „Offene Brief" Trotzkis im Mai
1932 in der oppositionellen Zeitung „Der Kommunist" veröffentlicht worden.
Dort heißt die fragliche Formulierung wörtlich (unter Bezugnahme auf ein
gefälschtes Lenin-Zitat):
„Man muß, endlich, den letzten nachdrücklichen Rat Lenins ausführen: Stalin
hinwegräumen". „Stalin hinwegräumen" ist nichts anderes als „Stalin
muß aus dem Wege geräumt werden". Wenn diese Formulierung selbst von den
Verteidigern Trotzkis als eine terroristische betrachtet wird, dann hat Trotzki
allerdings schon in seinem „Offenen Brief" Sätze geschrieben, die
Terroristen ermuntern können. Schließlich aber bestanden Terrororganisationen,
und es war die Pflicht der Sowjetregierung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Lenin hat die Partei gelehrt, daß Gruppen, die sich zur Ausführung von
Terrorakten zusammenschließen, vernichtet werden müssen. Das rücksichtslose
Vorgehen gegen Terrorgruppen ist also ein von Lenin aufgestelltes Prinzip, das
seit der Periode des Bürgerkrieges immer angewandt wurde. Die Sowjetmacht — als
die Repräsentantin des in der Vorkriegsatmosphäre von äußeren Feinden stärker
denn je bedrohten ersten Arbeiterstaates — hat viel mehr als irgend eine andere
Macht das Recht, gegen Terrorgruppen, die gegen sie zu arbeiten versuchen,
rücksichtslos durchzugreifen und sie auszurotten. Bestanden also Terrorgruppen
— und Trotzki selbst hat ihr Vorhandensein zugegeben, dann waren die scharfen,
auf ihre Vernichtung abzielenden Maßnahmen der Sowjetregierung zweifellos
berechtigt.
In unmittelbarer Verbindung mit der Tätigkeit der Terrorgruppen steht die
Schädlingsarbeit. Sie ist ein Kampfmittel, das im Verlaufe der russischen
Revolution und während des Kampfes um den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion
mehr als einmal gegen die Sowjetmacht angewandt wurde. In der Broschüre
„Probleme der Entwicklung der UdSSR" (1931) schrieb Trotzki (Seite 17/18):
„Zwei Gerichtsprozesse — gegen die Spezialistenschädlinge und die Menschewiki —
haben ein äußerst grelles Bild des Kräfteverhältnisses der Klassen und Parteien
in der UdSSR gezeigt. Von den Gerichtsorganen ist unwiderlegbar festgestellt
worden, daß während der Jahre 1923 bis 1928 die bürgerlichen Spezialisten in
engem Bündnis mit den ausländischen Zentren der Bourgeoisie erfolgreich eine
künstliche Verlangsamung der Industrialisierung durchführten, in der Berechnung
auf Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse. Die Elemente der
Doppelherrschaft im Lande der proletarischen Diktatur bekamen ein solches
Gesicht, daß die direkten Agenten der kapitalistischen Restauration gemeinsam
mit ihren demokratischen Helfern, den Menschewiki, eine führende Rolle spielen
konnten in allen Wirtschaftszentren der Sowjetrepublik!"
Die mittel- und westeuropäischen Sozialisten haben damals die Richtigkeit der
Prozeßergebnisse, zumindest so weit sie die Mitwirkung von Menschewiki
betrafen, nicht weniger leidenschaftlich bestritten, wie heute Trotzki die
Mitwirkung von Trotzkisten an der Schädlingsarbeit bestreitet. 1931 aber schrieb
Trotzki, daß von den Gerichtsorganen „unwiderlegbar festgestellt" wurde,
daß „bürgerliche Spezialisten im engen Bündnis mit den ausländischen Zentren
der Bourgeoisie" und mit den oppositionellen Kräften, die sie in der
Sowjetunion fanden, Schädlingsarbeit betrieben haben.
Die Periode von 1923 bis 1928 war im Vergleich zu der Zeit nach Hitlers
Machtantritt eine friedliche. Natürlich haben auch in dieser ruhigen Periode
die Spionagezentralen der einzelnen Länder ihre Arbeit geleistet, den
voraussichtlichen Gegner auszuforschen und zu schädigen versucht. Aber nach dem
Auftreten der aggressiven faschistischen Diktaturen in der Weltpolitik sind wir
in ein Stadium akuter Kriegsgefahr gekommen, in der die Spionagezentren mit
Hochdruck arbeiten und eine Tätigkeit entfalten, die alles, was bisher bekannt
war, weit übertreffen. Auf dieser Ebene der gegenseitigen Bekämpfung sind wir
schon im Kriegszustand und vor allem das faschistische Deutschland versucht,
auf diesem Gebiet die ersten Schlachten noch vor dem offiziellen Kriegsbeginn
zu gewinnen. Es ist in der Tat phantastisch, wie die faschistische Spionage die
Sabotage- und Schädlingsarbeit in anderen Ländern zu organisieren versucht. In
Paris werden mit ausländischen Bomben Häuser in die Luft gesprengt, aus französischen
Häfen werden Schiffe entführt, in englischen Kriegsmaterialfabriken werden
Sabotageakte festgestellt, auf englischen Kriegsschiffen werden Mangel
entdeckt, die gleichfalls durch Sabotage hervorgerufen wurden. Die
Öffentlichkeit wird nur wenig über die Arbeit der deutschen Spionage in
Frankreich, England und in anderen demokratischen Ländern unterrichtet und nur
bei besonderen Anlässen wird der Schleier etwas gelüftet. So zum Beispiel, als
die englische Regierung im Sommer 1937 drei deutsche Journalisten aus England
auswies. Über die Gründe dieser Ausweisung hat die Weltpresse ausführlich
berichtet. Die Prager „Närodni Politika", ein sehr weit rechtsstehendes
Blatt, schrieb zum Beispiel (am 11. August 1937):
„Der britische Gegenspionagedienst hat sorgfältig die Tätigkeit der
betreffenden Journalisten verfolgt und Beweise dafür erhalten, daß ihre
Journalistentätigkeit nur ein Deckmantel für eine weit gefährlichere politische
und Spionagetätigkeit sei. Die Aufmerksamkeit des britischen Geheimdienstes
wurde gesteigert, als ihre Organe einige Fälle von Sabotage in den britischen
Werften und in den für die Aufrüstung arbeitenden Fabriken feststellten, aus
denen einige Angestellte entlassen werden mußten. Der damalige Marineminister
Sir Samuel Hoare hat nähere Aufklärung über das genannte Einschreiten
abgelehnt, er hat aber erklärt, daß die Gründe des strengen Schrittes ernst
gewesen seien. Von kompetenten Stellen wurde uns auch mitgeteilt, daß es sich
absolut nicht um eine kommunistische Umsturztätigkeit gehandelt habe. Daraus
geht hervor, daß die umstürzlerische Irredenta mit dem deutschen Geheimdienst
der Nationalsozialisten zusammenhing. Auf englischen Schiffen zeigten sich
Störungen, die sich nur mit Sabotage erklären lassen .... Die britische Gegenspionage
hat weiterhin festgestellt, daß eine Reihe von deutschen Berichterstattern sehr
verdächtige politische Ziele verfolgt. Sie bemühten sich nämlich, in Kontakt
mit den irischen revolutionären Republikanern zu kommen, denen sie den Weg zur
Beschaffung von Waffen, Munition, Sprengstoffen und Bomben ebneten. Die
Ereignisse in Belfast bei dem Besuch des Königs Georg VI. waren das Signal für
den britischen Geheimdienst, sobald wie möglich einzugreifen!" Die
Großzügigkeit der faschistischen Spionagezentralen ist besonders deutlich
geworden bei der inzwischen aufgedeckten Verschwörung der französischen
Cagoulards. Die deutsche Spionagezentrale hat mit großen Geldmitteln einen
Staatsstreich französischer „Patrioten" gegen deren Vaterland organisiert,
sie hat die Verschwörer mit Geld, Waffen und Mordwerkzeugen aller Art sehr
reichlich versorgt — und französische Nationalisten und Faschisten mit einem
General an der Spitze haben sich ohne Widerstreben mit ihren ausländischen
Geldgebern gegen das eigene Volk verbündet. Auch dieser Vorgang, ebenso wie die
Vorbereitung und weitest gehende Unterstützung des Franco-Putsches,
charakterisiert sehr deutlich die intensiven Bemühungen der faschistischen
Spionagezentralen, die in dieser Zeit kein Mittel unversucht lassen, um vermutliche
Kriegsgegner empfindlich zu schädigen.
Wenn die Regierungen der demokratischen Länder alle Einzelheiten über die
Terror-, Sabotage- und Schädlingsarbeit der faschistischen Spionage in ihren
Ländern berichteten, würden den Zeitungslesern die Haare zu Berge stehen; wenn
in der Weltpresse alle Verhaftungen von Staatsbürgern demokratischer Staaten,
die zusammen mit der gegnerischen Spionage arbeiten, registriert wurden, wäre
sehr bald klar, daß in dieser Zeit nicht nur die Sowjetregierung einen scharfen
Kampf gegen Spionage, Sabotage und Schädlingsarbeit führen muß. Jedenfalls kann
der aufmerksame Zeitungsleser feststellen, daß in der Presse seines Landes
nahezu täglich Berichte über Gerichtsurteile gegen Staatsbürger stehen, deren
Tätigkeit für den gegnerischen Spionagedienst nachgewiesen wurde, und zwar ohne
Angabe irgendwelcher Details.
Es ist nur zu verständlich, daß die Spionagetätigkeit der faschistischen Länder
sich ganz besonders gegen die Sowjetunion richtet, die sich daher auch
entsprechend schärfer zur Wehr setzen muß. Unter den gegebenen Umständen sehen
die faschistischen Spionageleitungen Deutschlands und Japans ihre Hauptaufgabe
in der Schädigung der Sowjetunion, sie konzentrieren ihre stärksten Kräfte
gegen ihren „Erbfeind". Und warum sollten in der vorgeschrittenen
Situation, in der wir viel näher an entscheidende weltpolitische Konflikte
herangerückt sind, in der die faschistischen Zentren viel intensiver arbeiten,
diese weniger als in der friedlichen Periode von 1923 bis 1928 die Mithilfe
oppositioneller Kräfte in der Sowjetrepublik suchen? Jedenfalls bemühen sich
die Zentren der faschistischen Spionage sehr intensiv um die Gewinnung von
Mitarbeitern in der Sowjetunion und es liegt dabei sehr nahe, daß sie sich in
erster Linie auch an Elemente heranzumachen versuchen, die in Opposition zur
herrschenden Sowjetmacht stehen. Unter dem Einfluß der Hetze Trotzkis hat sich
ein Teil dieser Oppositionellen mit einem blinden Haß gegen Stalin vollgesogen,
der zu Taten befähigt, die für den nüchtern urteilenden Menschen unmöglich
scheinen. Ist ein von diesem Haß beseelter Oppositioneller, der nichts als nur
Stalin stürzen will, dann noch so verblendet, daß er die Opposition für eine
Macht hält, die Bündnisse mit ausländischen Kräften später zu ihrem Vorteil und
Sieg auszuwerten vermag, dann wird er die Zusammenarbeit mit ausländischen
Kräften in einem anderen Lichte betrachten und sie von seinem angeblich
„revolutionären" Standpunkt aus für berechtigt halten.
Von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung dieser Frage ist die
moralische Verfassung der Opposition. Ist ihr moralischer Zustand so, daß sie
selbst den Gedanken, ausländische Kräfte für ihren Kampf auszunützen, ablehnt?
Oder ist ihre Demoralisierung schon so weit vorgeschritten, daß sich in ihren
Reihen Leute finden, die sich von ausländischen Kräften gebrauchen lassen, und
darin noch ein taugliches Mittel für die Erreichung ihrer Ziele sehen? Eine
Gruppe, einmal auf die schiefe Bahn getreten, rutscht immer weiter ab, sie
verliert den Maßstab für das erlaubte Handeln, und da sie nicht aus
gleichartigen Elementen zusammengesetzt ist, wird der eine ohne das Wissen des
anderen weitergehen und niemand mehr vermag die Grenze zu finden, bis zu der
einzelne Teile — für die aber die ganze Gruppe verantwortlich ist —
hinabsinken. Die Tatsache, daß es den Trotzkisten unmöglich geworden ist, auf
die Massen mit politischen Argumenten einzuwirken, hat sicher zur
Demoralisierung ihrer Anhänger beigetragen. Über die trostlose moralische
Verfassung der Opposition schreibt der stalinfeindliche „Alte Bolschewik"
in dem bereits zitierten Briefe an den menschewistischen „Sozialistischen
Boten":
„... Man muß zugeben, daß vom Standpunkt der politischen Moral das Benehmen der
Mehrzahl der Oppositionellen keinesfalls auf der Höhe war ... Wir alle waren
genötigt, zu lügen; ohne das konnte man nicht auskommen. Immerhin gibt es
gewisse Grenzen, die man auch im Lügen nicht überschreiten darf. Leider haben
die Oppositionellen, insbesondere ihre Führer, diese Grenzen oft überschritten.
Diese neue Moral hat einen sehr zersetzenden Einfluß In den Reihen der
Oppositionellen geübt. Es wurden dabei alle Grenzen des Zulässigen und
Unzulässigen verwischt und sie führte viele zum direkten Verrat, zur direkten
nackten Untreue, Gleichzeitig schöpfen aus ihr alle Gegner irgend welcher
Abkommen mit gewesenen Oppositionellen die überzeugendsten Argumente: Kann man
ihnen denn glauben, wenn sie doch prinzipiell die Möglichkeit, zu lügen,
anerkennen? Wie soll man unterscheiden, wo sie die Wahrheit sagen und wann sie
lügen? Ihnen gegenüber ist nur die einzige Linie richtig: Niemand von ihnen zu
glauben, mögen sie sagen oder beschwören, was sie wollen."
So sieht die Opposition aus. Sie ist so demoralisiert, daß in ihren eigenen
Reihen niemand mehr weiß, wann ihre Vertreter die Wahrheit sagen oder lügen.
Eine so vollkommen unmoralische Opposition ist zu allem fähig, sie schreckt vor
keinem Kampfmittel zurück, zumal ihr ja ihr Führer Trotzki für den Kampf gegen
die Sowjetmacht gepredigt hat: „Tue, was du mußt, und komme, was da kommen
mag!“
Eine solche Opposition ist keine politische Strömung der Arbeiterbewegung mehr.
Der von Trotzki gepredigte Putsch ist Hochverrat gegen die UdSSR. Er könnte —
wenn er nicht im Keime erstickt wird — zu einem blutigen Bürgerkriege führen,
dessen Ergebnis der Sieg der faschistischen Konterrevolution wäre. Die
Geschichte aller Klassenkämpfe der letzten Jahrzehnte lehrt mit erschreckender
Deutlichkeit, daß das Proletariat frühzeitig scharf zupacken muß, um spätere
größere Opfer und Rückschläge zu vermeiden. Die Bolschewistische Partei und die
Sowjetmacht haben darum richtig gehandelt, daß sie sich gegen die
trotzkistische Aufstandsvorbereitung tatkräftig zur Wehr setzten und
rechtzeitig ihre Macht gebrauchten, um einen Bürgerkrieg mit unendlichen
Blutopfern zu verhindern, um jede Gefährdung für alle Zukunft gründlich zu
beseitigen. Trotzki und seine Freunde erregen sich über das harte Zupacken der
Sowjetmacht. Manche von ihnen begründen ihre Empörung auch damit, daß die Sowjetmacht
doch außerordentlich stark sei, die Kreise dagegen, die Trotzkis
Aufstandsparole durchführen könnten, schwach und bedeutungslos. Schon darum
seien die harten Maßnahmen nicht gerechtfertigt.
Bei der Beurteilung dieser Maßnahmen spielt nicht nur das gegenwärtige
Kräfteverhältnis, sondern auch die möglichen Störungsversuche einer zu allem
bereiten Opposition im Kriege eine Rolle. In „La revolution trahie"
schreibt Trotzki:
„Was können 20—30.000 Oppositionelle bedeuten bei einer Partei von 2 Millionen?
Die nackte Gegenüberstellung der Zahlen sagt in dieser Frage gar nichts. Ein
Dutzend Revolutionäre in einem Regiment genügen, um es in einer heißen
politischen Atmosphäre auf die Seite des Volkes zu ziehen. Nicht von ungefähr
fürchten die Stäbe auf den Tod die kleinen illegalen Zirkel, ja selbst
Einzelgänger." Diese Chance haben die Trotzkisten bei dem Charakter der
Roten Armee nicht. Wesentlich realistischer hat Stalin die Frage, ob auch
schwache, konterrevolutionäre Gruppen im Kriege gefährlich werden können, in
seiner am 3. März 1937 gehaltenen Rede auf dem Plenum des Zentralkomitees der
Partei behandelt. Er sagte dort u.a.:
„Viertens passen gewöhnlich die Schädlinge ihre Hauptschädlingsarbeit nicht der
Periode der Friedenszeit an, sondern der Periode am Vorabend eines Krieges oder
des Krieges selbst. Gesetzt den Fall, wir hätten begonnen, uns von der faulen
Theorie der ,systematischen Erfüllung der Wirtschaftspläne' einlullen zu
lassen, und hätten die Schädlinge nicht angetastet. Stellen sich die Autoren
dieser Theorie vor, welch kolossale Schäden die Schädlinge unserem Staate im
Kriegsfalle zugefügt haben würden, wenn man sie im Schoße unserer
Volkswirtschaft ... belassen hätte? ...
Daß die trotzkistischen Schädlinge von einzelnen unterstützt werden, die
Bolschewiki dagegen von Dutzenden von Millionen Menschen, das ist natürlich
richtig. Hieraus folgert jedoch absolut nicht, daß die Schädlinge unserer Sache
nicht ernsthaftesten Schaden zufügen können. Um zu besudeln und zu schädigen,
hierzu ist absolut keine große Anzahl von Personen erforderlich. Um
Dnjeprostroi zu bauen, muß man zehntausende Arbeiter in Bewegung setzen. Um es
jedoch zu sprengen, dazu sind vielleicht einige Dutzend Personen erforderlich,
nicht mehr. Um während des Krieges eine Schlacht zu gewinnen, dafür können
mehrere Rotarmistenkorps erforderlich sein. Um dagegen diesen Sieg an der Front
zunichte zu machen, dazu genügen einige Spione irgendwo im Stab der Armee oder
sogar im Stab einer Division, die den operativen Plan stehlen und ihn dem
Gegner übermitteln können. Um eine große Eisenbahnbrücke zu bauen, dafür sind
tausende Menschen erforderlich. Um sie jedoch zu sprengen, dazu genügen im
ganzen einige Personen. Solche Beispiele könnte man Dutzende und Hunderte
anführen." Stalin zog daraus die Schlußfolgerung, „man muß erreichen, daß
es von ihnen, den trotzkistischen Schädlingen, überhaupt niemanden in unseren
Reihen gibt." Auch die schwächste Bewegung, die Revolution und Aufstand
will, kann in kritischen Situationen erstarken und eine unmittelbare Gefahr
werden. Vorbeugend handeln ist darum politisch richtiger, als nachträglich
jammern.
Trotzki ist auf seinem Weg von der politischen Opposition innerhalb der
Arbeiterbewegung zur Konterrevolution gekommen. Als Konterrevolutionär muß er
bekämpft und geschlagen werden — wenn die Sowjetunion leben und die
Weltarbeiterklasse in den heranreifenden Entscheidungskämpfen den Faschismus
überwinden und den endgültigen Sieg des Sozialismus erringen will.
Für die
Stellungnahme der Weltarbeiterklasse zur UdSSR ist von entscheidender
Bedeutung, ob der Weg, der in der Sowjetunion beschritten wird, zur höchsten
Phase der kommunistischen Gesellschaft, oder — wie Trotzki behauptet — zu einer
bonapartistischen Diktatur führt. Einem bonapartistischen Rußland gegenüber
könnte sich das Weltproletariat nur feindselig verhalten, der Sowjetunion
gegenüber aber, die die erste Phase der sozialistisehen Gesellschaft erreicht
hat und zielbewußt zur klassenlosen Gesellschaft vorwärtsschreitet, muß sich
das Weltproletariat in jeder Situation als unerschütterlicher Bundesgenosse
verpflichtet fühlen.
Zweifellos ist im Laufe der Jahre die Erkenntnis über das wahre Wesen des
ersten Arbeiterstaates in den proletarischen Massen der anderen Länder gewaltig
gewachsen, aber trotzdem ist der Weg zu einem festen positiven Bündnis der
Weltarbeiterklasse mit der UdSSR nicht geradlinig. Immer wieder gibt es
Schwankungen, immer wieder gelingt es der Feind-Propaganda, das klare Bild zu
verdunkeln und irgendwelche — für die sichere Aufwärtsentwicklung zur
klassenlosen Gesellschaft notwendige — Maßnahmen als Beweise gegen den
sozialistischen Charakter des ersten Arbeiterstaates auszugeben. So ist denn
auch die Reinigungsaktion, die im Anschluß an die Moskauer Prozesse durchgeführt
wurde, zu einer neuen, allgemeinen Stimmungsmache und Hetze gegen die UdSSR
ausgenützt worden. Das Ziel dieser Hetze ist, bei Schwankenden und Gutwilligen,
die sich um ein richtiges Bild von der Sowjetunion bemühen und das
Zusammengehen mit ihr bejahen, neue Zweifel zu erwecken.
Die faschistischen Diktaturen haben ein starkes Interesse daran, das Vertrauen
der Volksmassen in ihren und in den demokratischen Ländern zur Sowjetunion zu
untergraben. Ihre Hetze gegen den ersten Arbeiterstaat ist eine für sie sehr
wichtige Waffe zur Durchführung ihrer Kriegspläne. Im modernen Kriege ist die
Propaganda eine der wichtigsten Kampfwaffen, von deren richtigem Einsatz der
Ausgang eines Krieges mehr denn je abhängig ist. Bei der Beurteilung der
vielseitigen Hetze gegen die Sowjetunion darf nicht übersehen werden, daß wir
uns bereits in einem Vorkriegsstadium befinden, in dem die faschistischen
Diktaturen die Waffen der Propaganda schon in einem unvergleichlich größeren
Ausmaße und viel raffinierter einsetzen, als das die Kriegführenden im letzten
Weltkriege taten.
Hitler und Mussolini sind zwar Todfeinde jeder Demokratie; sie unterbinden mit
dem brutalsten Terror das demokratische Mitbestimmungsrecht ihrer Untertanen,
aber sie haben — offenbar besser als die Staatsmänner in den demokratischen
Ländern — begriffen, welche große Bedeutung der Stimmung der Volksmassen im
Kriege zukommt. Und weil die faschistischen Diktatoren wissen, daß ein festes
Bündnis der Sowjetunion mit den breiten Volksmassen in den anderen Ländern die
Kriegstreibereien des Anti-Komintern-Dreibundes stört und die Verwirklichung
seiner imperialistischen Ziele unmöglich machen wird, versuchen sie mit allen
Mitteln ihrer Lügenpropaganda, dieses Bündnis zu erschüttern. Hinter der
Stimmungsmache gegen die UdSSR steht die Antikomintern; sie inspiriert und
organisiert die Hetze, von deren Wirkung nur die Faschisten profitieren. Die
Methoden sind sehr verschieden, aber ihr Ziel ist eindeutig: das Vertrauen der
Massen in den anderen Ländern zu dem ersten Arbeiterstaat zu erschüttern,
Zweifel und Schwankungen hervorzurufen, damit im Kriegsfalle das Bündnis
anderer Staaten und der Weltarbeiterklasse mit der UdSSR nicht wirksam wird.
Darum ist es die Pflicht aller Gegner des Faschismus, den Aktionen der Antikomintern
energisch entgegenzutreten.
Die verschiedenen Methoden, die die Antikomintern in ihrem Kampfe gegen die
UdSSR anwendet, ergänzen einander. Die Spionage- und Sabotagetätigkeit, die von
den faschistischen Spionagezentralen in allen Ländern, besonders intensiv aber
in der Sowjetunion, organisiert wird, zwingt die Sowjetmacht zu hartem
Zupacken, zu scharfen Maßnahmen gegen die von den Faschisten beabsichtigte
Schädigung und Schwächung der UdSSR. Die durch die Schädlingsarbeit erzwungene
Reinigungsaktion wiederum wird von der Propaganda ausgenutzt zur moralischen
Entrüstung über die Zustände in der Sowjetunion. Man beklagt die angebliche
innere Schwäche des Staates, in dem die „blutige Diktatur eines Mannes"
herrschen soll, der die Prinzipien des Sozialismus „verraten" und eine
„bonapartistische Gewaltherrschaft" errichtet habe. In diesem
Lügen-Propagandakrieg spielen die verschiedensten Kräfte einander bewußt oder
unbewußt in die Hände, jedenfalls finden die Argumente der Trotzkisten in der Hetzkampagne
der Faschisten eine sehr ausgiebige Verwendung. Die Faschisten, die bei ihrer
Stimmungsmache gegen die Sowjetunion für jede Volksschicht andere Argumente
verwenden, wissen sehr genau, daß sie die Arbeitermassen nicht für ihre Zwecke
ausnützen können, wenn sie ihnen erzählen, daß in der Sowjetunion all die
„Vorzüge" der faschistischen Diktaturen fehlen. Für die Irreführung der
Arbeiterschaft erscheinen ihnen die trotzkistischen Argumente viel wirksamer.
Die Behauptungen Trotzkis über die „Entartung" des Sowjetstaates, über die
„soziale Ungleichheit" und die angebliche „Bildung neuer Klassen",
über die „Preisgabe des Sozialismus" können die Arbeiter viel eher
irreführen als offene faschistische Argumente.
Trotzki hat schon lange vor den Moskauer Prozessen den Vorwurf erhoben, daß in
der Sowjetunion der Bonapartismus herrsche. Trotzki liebt geschichtliche
Vergleiche, aber er nimmt es damit in der Regel nicht sehr genau. „Trotzki
liebt es sehr", schrieb Lenin in dem Artikel „Über die Verletzung der
Einheit" (1914) „mit der gelehrten Miene eines Kenners, mit üppigen und
klangvollen Phrasen die historischen Erscheinungen auf eine für Trotzki
schmeichelhafte Art zu erklären." Darum auch entsteht ein ganz falsches
Bild, wenn Trotzki die Entwicklung der russischen Revolution mit der großen
französischen Revolution vergleicht. Er behauptet, daß der Thermidor (der
Umsturz, der den gemäßigteren und konservativen Jakobinern die Macht gab) in
der UdSSR schon längst vollzogen sei.
„Der Thermidor der großen russischen Revolution" — schrieb Trotzki in der
1935 veröffentlichten Broschüre „Arbeiterstaat, Thermidor und
Bonapartismus" (Seite 17) — „liegt nicht vor, sondern schon lange hinter
uns. Die Thermidorianer können annähernd ihr zehntes Siegesgedächtnis feiern. Das
gegenwärtige politische Regime der Sowjetunion ist das Regime eines
Sowjet-(oder Antisowjet-) Bonapartismus, seinem Typus nach näher dem
Kaiserreich, als dem Konsulat."
Trotzki behauptet in der vorgenannten Broschüre weiter, daß der Zusammenbruch
des „Stalin-Bonapartismus" unvermeidlich sei, und daß diesem Zusammenbruch
der Sieg der Konterrevolution folgen müsse. Nach Trotzkis „Theorie" zwingt
diese Gefahr die „proletarische Vorhut", d.h. die Trotzkisten, sich zu
beeilen, noch vor dem Zusammenbruch in „Aktion" zu treten, um die
Sowjetunion vor dem Siege der Konterrevolution zu retten. Angeblich um dieser
„Rettungsaktion" willen wird das herrschende Sowjetregime von Trotzkisten
angegriffen, werden von den Trotzkisten die verzweifeltsten Mittel angewandt,
werden alle die Argumente gegen die Sowjetunion ins Feld geführt, die nicht
genügend orientierte, schwankende Elemente irreführen können.
Alle von urteilsfähigen, objektiven Menschen geprüften und bestätigten
Tatsachen widerlegen einwandfrei die trotzkistischen Behauptungen. Trotzkis
geschichtlicher Vergleich ist vollkommen unzutreffend. Die Entwicklung der
russischen Revolution kann in ihren entscheidenden Stadien überhaupt nicht mit
der großen französischen Revolution verglichen werden. Die Oktoberrevolution
ist die erste siegreiche proletarische Revolution in der Welt, die das
Ökonomische Fundament der alten Gesellschaft grundlegend verändert hat. Ihr
Ergebnis ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Schaffung eines
sozialistischen Wirtschaftssystems, das eine entgegengesetzte Entwicklung des
politischen Regimes nicht zuläßt, während die bürgerliche französische
Revolution die kapitalistische Grundlage der Gesellschaft ausbaute, auf der
allein das revolutionäre Regime zum Thermidor und Bonapartismus gelangen
konnte. Erst wenn in der Sowjetunion die sozialistische Grundlage der
Wirtschaft über den Haufen geworfen würde, erst wenn eine rückläufige
ökonomische Entwicklung erzwungen würde (Wiederherstellung
privatkapitalistischer Verhältnisse), wären Voraussetzungen für einen
Bonapartismus gegeben. Da aber die Vergesellschaftung der Produktionsmittel in
der Sowjetunion eine unumstrittene Tatsache ist, da der sozialistische
Charakter des Wirtschaftssystems unverrückbar feststeht, ist die
„Entwicklung" zum Bonapartismus ausgeschlossen.
Ebenso unvereinbar ist der Bonapartismus mit dem in der Sowjetunion
herrschenden politischen Regime. Gerade darum ist ja Trotzki, der sich mit
seinen Auffassungen gegen die Partei, über sie stellen wollte, gescheitert. In
Trotzki steckt mancherlei von einem Bonaparte. Er ist es, der die Mehrheit
vergewaltigen wollte, um einen bonapartistischen Staatsstreich durchzuführen.
Zum Glück der Sowjetunion und der Sowjetvölker blieb Trotzki ein verhinderter
Bonaparte, dessen Machtstreben an einer Kraft zerbrochen ist, an der jeder
andere Bonaparte in der Sowjetunion scheitern muß: an der Diktatur der
Arbeiterklasse.
In der UdSSR herrscht die Diktatur der mit der Bauernklasse fest verbundenen
Arbeiterklasse. Will man erforschen, ob der Weg von dieser Herrschaftsform zur
klassenlosen Gesellschaft und zur vollkommenen Demokratie führt, so muß man die
Vergangenheit des ersten Arbeiterstaates analysieren und die in zwei
Jahrzehnten gemachten Erfahrungen zur Wertung der Gegenwartshandlungen verwenden.
In diesem Buche ist der Versuch gemacht worden, den Werdegang der russischen
Revolution und die Entwicklung der Sowjetunion nach der Machteroberung durch
daß Proletariat aufzuzeigen. Bei der Rückschau ergibt sich ein gigantisches
Bild des planmäßigen Aufbaus von Wirtschaft, Technik und Kultur. All den
unvermeidlichen großen Schwierigkeiten zum Trotz wurde nach einem festen Plan
sinnvoll am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gearbeitet und mit
bewundernswerter Präzision Stein auf Stein gefügt, um den Aufbau zu vollenden.
Jede der Etappen in diesem noch nicht vollendeten Aufbau hatte ihre besonderen
Schwierigkeiten und ihre besonderen Aufgaben. Verschiedenartig waren die
Anforderungen, die an die Menschen gestellt wurden; verschiedenartig waren die
Maßnahmen, die ergriffen werden mußten, um die jeweils erreichte Etappe
erfolgreich zu durchschreiten. Dabei gab es noch in jeder Situation Handlungen,
die von Menschen in der kapitalistischen Umwelt (die den Erfordernissen des
sozialistischen Aufbaus fremd gegenüberstanden) nicht begriffen wurden, und die
den Kritikern Anlaß gaben, immer wieder von Entartung, vom Verrat der
sozialistischen Prinzipien zu sprechen und den Untergang des ersten
Arbeiterstaates zu prophezeien. Aber wenn dann wieder eine Etappe durchschritten
war, wenn rückschauend die erst so scharf kritisierten Maßnahmen im
geschichtlichen Zusammenhang gewertet wurden, dann ergab sich noch jedesmal,
daß diese Maßnahmen notwendige Bausteine waren, die mühselig eingefügt werden
mußten, um den Bau der sozialistischen Gesellschaft voranzubringen.
Die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische kann
nirgendwo ein einmaliger Akt sein; sie ist ein langwieriger Prozeß, der sich
über Jahrzehnte erstrecken muß. Er wurde in der Sowjetunion nicht zuletzt auch
dadurch verzögert, daß die revolutionäre Bewegung in den anderen Ländern die
Macht nicht eroberte. Das Proletariat in der Sowjetunion mußte darum seine
schwierigen Aufgaben inmitten der kapitalistischen Umwelt lösen. Die Hemmungen
und Fehler, die daraus erwuchsen, sind weniger auf das Konto des
Sowjet-Proletariats zu buchen, als auf das Konto der Arbeiterklasse in den
anderen Ländern, die den Kapitalismus in ihrer Heimat noch nicht zu überwinden
vermochte.
In den einzelnen Phasen des langwierigen Prozesses der Umwandlung der
kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische gab und gibt es in der
Sowjetunion verschiedenartige Gefahren zu überwinden, deren Charakter nicht
unwesentlich von der jeweiligen Situation in der kapitalistischen Umwelt
bestimmt wird. Mit dem Auftreten solcher Gefahren muß bis zum völligen Siege
des Sozialismus gerechnet werden. Niemand bestreitet diese Gefahren, und gerade
die führenden Männer der Sowjetmacht haben immer wieder auf sie verwiesen. Aber
Gefahren sind keine Entartung. Gefahren sind kein Grund zum Jammern, sondern
ein Anlaß zur besonders disziplinierten gemeinsamen Durchführung der von der
Mehrheit der Partei gefaßten Beschlüsse. Zwei Jahrzehnte Geschichte der UdSSR
beweisen jedenfalls, daß die Sowjetmacht entstandenen Gefahren immer
rechtzeitig zu begegnen verstand. Die in zwanzigjähriger Praxis vollbrachten
Leistungen berechtigen zu der Behauptung, daß die Sowjetmacht den richtigen Weg
geht, daß ihr Kampf gegen neu auftretende Gefahren in der jeweiligen Situation
auch dann zweckmäßig ist, wenn Fernerstehende die Zusammenhänge nicht gleich
erkennen und die Notwendigkeit der Aktion nicht begreifen. Jedesmal haben viele
Kritiker Maßnahmen der Sowjetmacht, die sie bei ihrer Anwendung heftig
verurteilten, nach Abschluß einer Aktion und nach dem Sichtbarwerden ihrer
Ergebnisse als notwendig und richtig anerkannt. Die in zwei Jahrzehnten
gemachte Erfahrung berechtigt zu der Überzeugung, daß die Sowjetmacht auch mit
allen neu auftauchenden Gefahren fertig werden wird und daß dann, bei einer
späteren rückschauenden Wertung, alle objektiven, urteilsfähigen Menschen
zugeben werden, daß die heute in der Sowjetunion ergriffenen Maßnahmen dem
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft dienten.
Die Reinigungsaktion, die die Sowjetmacht im Zusammenhang mit den Moskauer
Prozessen durchführte, diente der Beseitigung neu entstandener Gefahren. Die
Unterbindung jeglicher Schädlings- und Spionagetätigkeit ist eine Aufgabe, die
erfüllt werden muß, auch wenn die Antisowjethetzer vorübergehend daraus Kapital
schlagen. Die Prozesse gegen Trotzkisten und politische Abenteurer, gegen
Schädlinge, Saboteure, Terroristen und Spione haben nichts mit Willkür und
Zersetzung zu tun. Die Ausmerzung Tuchatschewskis und seiner Mitverschworenen
z.B. hat die alten Verbindungen mit den deutschen Generalen, die seit der
Machtübernahme des deutschen Faschismus zu einer außerordentlichen Gefahr
geworden sind, zerschlagen und die bonapartistischen Ambitionen Tuchatschewskis
vereitelt. Wie sehr diese Ambitionen zugleich Illusionen waren und auf einem
vollständigen Verkennen der gesellschaftlichen Situation beruhten, beweist
schon die eine Tatsache, daß keine der Erschütterungen eingetreten ist, die von
gewissen Kritikern als Folge des Falles Tuchatschewski vorausgesagt, ja sogar
in fetten Schlagzeilen einem ahnungslosen Publikum schon als Tatsache
aufgetischt wurden. Das rücksichtslose Vorgehen gegen Tuchatschewski beweist,
daß es in der leninschen Partei für einen Bonapartismus keinerlei Chance gibt.
Die Tatsache, daß in der Sowjetunion einige Generale als Verräter entlarvt
wurden, hat in den demokratischen Ländern Zweifel an der Zuverlässigkeit der
Roten Armee erweckt, Fälle von Verräterei durch ehrgeizige Militärs gibt es
übrigens in der Geschichte häufig. Auch in der großen französischen Revolution
wurden führende Revolutionäre und Generale der Armee, die zeitweise gut
gekämpft hätten, als Verräter entlarvt. Dadurch wurde jedoch die
Zuverlässigkeit und Schlagfertigkeit der französischen Armee, die damals noch
eine Revolutionsarmee war, nicht beeinträchtigt. Das Gleiche gilt in einem viel
stärkeren Maße für die Rote Armee, deren Soldaten aus der Masse begeisterter
Anhänger der Sowjetmacht planmäßig ausgesucht und zu qualifizierten Kämpfern
erzogen werden und mit denen ein treuloser General daher nicht nach Belieben
operieren kann. Die Rote Armee ist nach wie vor die zuverlässigste Armee, über
die jemals eine Regierung in der Welt verfügte.
Die Aktion, durch die im Jahre 1937 Funktionäre der Partei, des Staatsapparates
und der Wirtschaft von ihren Posten entfernt und durch andere Kräfte ersetzt
wurden, hängt unmittelbar mit der Demokratisierung des ganzen Sowjetlebens
zusammen. Aufklärung über die Bedeutung dieser Aktion geben die Diskussionen
und die Beschlüsse des Plenums des Zentralkomitees der Bolschewistischen Partei
vom März 1937. Auf dieser Tagung wurde das Programm zur Durchführung der
Demokratisierung festgelegt. In den Beschlüssen dieser Tagung wurde die
Demokratisierung der Partei und des Staatsapparates als die Tagesaufgabe
bezeichnet, deren Lösung in der neu erreichten Phase der Entwicklung dringend
notwendig wurde. Jedoch auch die richtigste und vernünftigste Maßnahme läßt
sich. nicht reibungslos durchführen. Manche der Menschen, die in der Periode
des technischen Aufbaus, in der die Beherrschung der Technik und der Wirtschaft
die vordringlichste Aufgabe war, Hervorragendes leisteten, und die darum in
ihrem Bereich vielleicht eine selbstherrliche Stellung einnehmen konnten, haben
nicht sofort begriffen, daß in der neuen Phase der Entwicklung, die — wie
Stalin sagt — „Meisterung der Politik", das demokratische
Mitbestimmungsrecht der Massen verwirklicht werden mußte. Wer sich der vollen
Verwirklichung des demokratischen Mitbestimmungsrechtes der Massen widersetzt,
der ist — mögen seine Verdienste in der vergangenen Periode noch so groß sein —
den andersartigen Aufgaben in der neu erreichten Phase der Entwicklung nicht
gewachsen. Er muß, wenn er sich in die neuen Notwendigkeiten nicht einzuordnen
vermag, von seinem Posten entfernt werden. Er kann in der jetzt erreichten
Phase der Entwicklung von diesem Posten ohne Gefährdung entfernt werden, weil
inzwischen große Kader qualifizierter Kräfte ausgebildet wurden, aus deren
Reihen vollwertiger Ersatz genommen werden kann. Die Reinigungsaktion dient
also auch der Beseitigung vorhandener Mängel der Bürokratie und ist nicht
reaktionär, sondern fortschrittlich, eine der fortschrittlichsten Maßnahmen,
die im Laufe der letzten Jahre durchgeführt wurden; sie dient der
Verwirklichung der in der neuen Verfassung niedergelegten Sowjetdemokratie.
Dabei kommt allerdings sehr deutlich der Unterschied zwischen bürgerlicher und
sozialistischer Demokratie zum Ausdruck: Erweiterung des demokratischen
Mitbestimmungsrechtes für alle Freunde der UdSSR und der Sowjetdemokratie,
konsequente Verweigerung dieser Demokratie und erbitterter Kampf ihren Feinden.
Das Ergebnis einer objektiven Untersuchung der Entwicklung in der Sowjetunion
ist: planmäßiges Zurückdrängen der kapitalistischen Einflüsse in der Wirtschaft
bis zu ihrer völligen Liquidierung, erfolgreicher Aufbau der sozialistischen
Wirtschaft, fortschreitende Verbesserung der Lebenshaltung des Volkes, volle
Entfaltung der politischen und wirtschaftlichen Demokratie und Schaffung einer
gewaltigen Macht, die den ersten Arbeiterstaat gegen alle Angriffe zu schützen
vermag.
Es gibt in der Geschichte keinen Vergleich mit der bisher einmaligen gewaltigen
geschichtlichen Leistung der russischen Revolution. Sie ist die erste Revolution,
die den wirtschaftlichen Unterbau der Gesellschaft grundlegend neu gestaltete,
die ausbeutenden Klassen beseitigte, den arbeitenden Klassen nicht nur
politische Freiheiten, sondern greifbare materielle Früchte und das
unbestrittene Recht auf Arbeit brachte. Sie ist die erste Revolution in der
Geschichte, die sich jahrzehntelang siegreich behauptet, ihre Herrschaft
ständig mehr und mehr festigt und sich kontinuierlich vorwärts entwickelt, zu
einer neuen, höheren Gesellschaftsform, zur höchsten Phase der Entwicklung, der
kommunistischen Gesellschaft.
Der Weg der Sowjetunion ist klar vorgezeichnet, untermauert durch die
Erfahrungen und Ergebnisse des zwei Jahrzehnte währenden Kampfes und Aufstiegs.
Der Kurs geht unzweideutig auf die klassenlose Gesellschaft, den endgültigen
Sieg des Sozialismus.
Dieses Ziel wird um so schneller erreicht werden. Je geschlossener und
tatkräftiger die Weltarbeiterklasse die Sowjetunion in ihrem Kampfe
unterstützt.
Imprime en Tchecoslovaquie
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