Einige Anmerkungen zu Vera Butlers „Hegemonismus”

Kurt Gossweiler:
Einige Anmerkungen zu Vera Butlers „Hegemonismus”

Aus einem Brief Kurt Gossweilers an Vera Butler

Liebe Vera, Deine Ausarbeitung über den Hegemonismus war für mich hochinteressant. Als Beschreibung und Analyse des gegenwärtigen Zustandes kann ich Dir voll zustimmen. In einem Punkt allerdings, – der für Dich wohl der wichtigste ist -, stellt sich mir die Frage, ob wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu voreilig mit einer solchen Feststellung sind; nämlich mit der Feststellung: „Der Hegemonismus ist daher ein weiteres Entwicklungsstadium des Imperialismus, dessen charakteristische Eigenschaft es ist, dass das Finanzmonopol wesentlich von einem einzigen Land, dem kapitalistischen Hegemon, kontrolliert und gelenkt wird.”

Woher kommen meine Zweifel? Zunächst einmal stellt sich mir ganz einfach die Frage: Wer sagt denn, dass dieser heutige Zustand der hegemonistischen Position eines Landes von Dauer ist? Gilt denn das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung nicht mehr? Sagst Du nicht selbst, dass sich die USA auf dem Gebiet der Rüstungstechnologie der Konkurrenz anderer Staaten gegenübersieht? Trifft das – außer auf die von Dir genannten – Russland und China – nicht auch auf Deutschland, die Europäische Union und sogar auf Japan zu, – (von dem Du ja selbst völlig zu recht schreibst, dass es seine eigenen Hegemonialansprüche in Ostasien noch nicht aufgegeben hat) – ? Und ist dies dann nur auf dem Gebiet der Rüstungstechnologie der Fall und nicht auch auf allen Gebieten der Wirtschaft? Spielt sich nicht gerade vor unseren Augen im Krieg in Mittelasien ein immer weniger verborgenes Ringen Deutschlands und der EU darum ab, diesen von den USA vom Zaune gebrochenen Krieg dazu zu benutzen, die Hegemonialstellung der USA zu unterminieren und zunächst einmal wenigstens eine Gleichrangigkeit zu erlanden? (Dieses Ringen war ja schon und ist noch immer genau so feststellbar auf dem Balkan und in Nahost.)

Kann man nicht schon jetzt vorhersehen, dass der weitere Verlauf der Dinge das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Führungsmächten zu Ungunsten der USA verändern wird?

Und noch ein anderer Gedanke: Ist der Hegemonismus wirklich etwas ganz und gar Neues? Ist die hegemoniale Stellung Englands im 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht in Vielem ähnlich und vergleichbar der jetzigen der USA? Und ist nicht gerade der Absturz Englands von dieser welthegemonialen Stellung ein Grund mehr dafür, ein einmal gegebenes Kräfteverhältnis zwischen imperialistischen Mächten nicht zum Maßstab und Kriterium für ein neues Entwicklungsstadium des Imperialismus zu nehmen? Müsste man als Kriterium dafür nicht neue allgemeine Züge und Erscheinungen suchen, die für den Imperialismus als Ganzes kennzeichnend und von Dauer sind?

Ich habe auf diesem Gebiet keine spezielle Forschung betrieben, deshalb bitte ich die folgenden Ausführungen als erste Überlegungen zur Diskussion, nicht aber als feste und überprüfte Ansichten zu betrachten.

Die Revisionisten unter den DDR-Ökonomen, an ihrer Spitze der PDS-Programmatiker Dieter Klein, verkündeten schon in den sechziger Jahren, der heutige Kapitalismus verfüge über die Möglichkeit, von seinem Grundwiderspruch abgeleitete Widersprüche, z.B. auch den von Produktion und Markt, also das Marktproblem, ohne Krisen zu lösen. (Ich setzte mich damals mit diesen Auffassungen in einem Artikel auseinander, der auch in meinem Bande „Wider den Revisionismus” auf den Seiten 95 ff. wiedergegeben ist.) Das Ausbleiben einer großen Krise, ähnlich der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933, seit dem Ende des zweiten Weltkrieges schien allen, die wie Dieter Klein in der Nachfolge von Hilferdings krisenlosem „organisiertem Kapitalismus” die wunderbare Wandlung des Kapitalismus verkündeten, Recht zu geben. Die revisionistischen Nebel verflüchtigten sich aber immer schneller angesichts der Wirklichkeit des „realen Kapitalismus”, des Imperialismus von heute.

Welche neuen Züge und Erscheinungen im Vergleich zum Imperialismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich feststellen?

1. Die Entwicklung der Produktivität der Arbeit hat inzwischen ein solches Niveau erreicht, dass das in den entwickelten kapitalistischen Ländern vorhandene Produktionspotenzial in Industrie und Landwirtschaft ausreichen würde, die zahlungsfähige (nur diese! Natürlich nicht die tatsächlichen Bedürfnisse der Milliarden hungernder und verelendeter Menschen) rund um den Globus zu befriedigen. Auf einigen Gebieten – z.B. Autoindustrie – sind bereits jetzt Überkapazitäten vorhanden, die weltweit zur Schließung von Werken führen

2. Das hat zur Folge:

a) Eine über die Erneuerung und Modernisierung hinausgehende Erweiterung des Produktionspotenzials verspricht kaum noch eine Steigerung der Gewinne, sondern viel eher die Produktion von Verlusten, weil die Märkte zu eng sind für die Aufnahme eines erheblich vergrößerten Warenausstoßes.

b) Die Gewinne der großen Konzerne werden deshalb in immer geringerem Maße zu Investitionen, also zur Machterweiterung durch die Konzentration des Kapitals benutzt, in immer größerem Maße zu Fusionen mit und zur feindlichen oder freundlichen Übernahme von Konkurrenzunternehmen im In- und – zunehmend – im Ausland, also zur Steigerung der Macht und des Anteils an der Marktbeherrschung durch Zentralisation und Internationalisierung des Kapitals.

3. Die Freisetzung von Arbeitskräften durch die technologische Entwicklung und durch die mit den Fusionen einhergehende „Verschlankung” der Unternehmensstrukturen hat ein solches Ausmaß angenommen, dass in einigen führenden Industrieländern aus der „Reservearmee” von Erwerbslosen bereits ein stehendes Heer von Arbeitslosen von mit Schwankungen stetig wachsendem Umfang geworden, in anderen im Entstehen ist.

4. Die imperialistischen Metropolen hindern die Staaten der dritten Welt daran, im Lande eine eigene Industrie und damit Arbeitsplätze für die eigene Bevölkerung zu schaffen, um sie im Status der Lieferanten von Rohstoffen und „Südfrüchten” und eines Marktes für die Aufnahme der Erzeugnisse der eigenen Industrie – vor allem der Rüstungsindustrie! – zu belassen. Die Politik der imperialistischen Metropolen und ihrer Instrumente Weltbank und Weltwährungsfonds gegenüber den Staaten der dritten und der zweiten Welt – den ehemals die Sowjetunion bildenden Staaten – sorgt somit dafür, dass gut eine Milliarde Menschen in diesem Teil der Welt ihr Leben lang keine Arbeit finden, sie macht diese Menschen zu einem Milliardenheer von „Überflüssigen”.

5. Seit der „großen Krise” von 1929/33 ist der Rüstung eine neue Rolle zugewachsen: sie wird zu einem Wirtschaftsfaktor von zunehmender Bedeutung: ohne Staatsaufträge, insbesondere Aufträge an die Rüstungsindustrie, gerät die Wirtschaft ins Stocken.

6. Gegen die Kennzeichnung des Imperialismus als „faulender Kapitalismus” wird selbst von Linken ins Feld geführt, dass doch die Entwicklung der Produktivkräfte dank der „technischen Revolution” noch nie so rasant vorangekommen sei, wie seit dem zweiten Weltkrieg. Dabei wird völlig übersehen, dass das wirklich Neue auf diesem Feld darin besteht, dass diese technische Revolution ihren Ursprung hat in der Entwicklung immer stärkerer und wirkungsvollerer Waffen, also in der Entwicklung nicht der Produktivkräfte, sondern von Destruktions-, von Vernichtungskräften. Was davon auch der zivilen Produktion zugute Kommt, sind gewissermaßen Abfallprodukte der Kriegs- und Rüstungsproduktion.

Dies bestätigt also Lenins These, kommt in dieser Tatsache doch zum Ausdruck, dass die Fäulnis des Kapitalismus im jetzigen Stadium des Imperialismus noch um Vieles gesteigert ist gegenüber dem, was Lenin vor Augen stand. Die Weiterexistenz des Imperialismus ist zu einer akuten Bedrohung der Existenz der Menschheit geworden.

Um diesen Brief nicht noch um Vieles länger werden zu lassen, belasse ich es bei diesen kurzen, unfertigen Andeutungen. Du hast Dich mit diesen Fragen viel intensiver und professioneller befasst als ich, deshalb erwarte ich mit Spannung und einer gewissen Bangigkeit Deine Antwort auf meine unausgegorenen Bemerkungen.

Ich grüße Dich in kommunistischer Verbundenheit, Kurt Gossweiler, Berlin