Ervin Rosznyai:
Brief an Kurt Gossweiler, Februar 2005
Lieber Genosse Kurt!
Denke bitte nicht an bloße Höflichkeit, wenn ich Dir von Herzen für Deinen Brief danke, aus welchem aufs Neue Deine wissenschaftliche Gründlichkeit und kameradschaftliche Hilfs-bereitschaft hervorgeht. Ich lese Deine Abhandlungen und Artikel immer mit Freude und gewöhnlich mit größtem Einverständnis. Es ist eine seltene Ausnahme, dass ich anderer Meinung bin als Du.
Aber in der Frage der Übergangsperiode kann ich Deiner Kritik nicht beipflichten, obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass die überwiegende Mehrheit der Marxisten den von Dir vertretenen Standpunkt teilt, jene aber, die meine Ansicht teilen, ich an einer Hand abzählen kann. (Ich bin allerdings stolz darauf, dass ich –nach meiner Kenntnis – Molotow zu ihnen zählen kann.) Gestatte, dass ich die mir wichtigsten Argumente in einigen Punkten zusammenfasse – nur ganz kurz, weil ich zu dem, was ich in meinem von der Sowjetunion handelnden Buch und in meinen auch ins Russische übersetzten Artikeln schrieb, nichts Neues hinzu fügen kann; ich möchte nur meine Grundgedanken nochmals hervorheben. Und vorausschicken möchte ich, dass ich es für entscheidend wichtig halte, die Fragen vom Gesichtspunkt der politischen Praxis aus anzugehen.
1. Die Probleme des Übergangs erörterte ich in Bezug auf die Sowjetunion und die osteuropäischen Volksdemokratien, was nicht bedeutet, dass ich die Probleme als typisch sow-jetische Erscheinungen betrachte. Ich verwies darauf, dass die Übergangsepoche, worunter ich den Zeitabschnitt zwischen Kapitalismus und Sozialismus verstehe, wahrscheinlich überall notwendig wird, aber ich konzentrierte mich auf jene Faktoren, welche diese Epoche in der Sowjetunion und in den Volksdemokratien charakterisierten.
2. Meiner Meinung nach ist es nicht einerlei, ob wir die fragliche Epoche „Anfangsphase des Sozialismus“ nennen – oder „Übergangsepoche“. Es ist dies kein leeres Spiel mit Worten, sondern die Bezeichnung jenes qualitativen Unterschieds, welcher die Übergangszeit zum Sozialismus vom Sozialismus selbst trennt. Das Wesentliche jenes Unterschiedes ist, dass während des Überganges die Warenproduktion, der Markt, das Wertgesetz (fort-)bestehen und sich ihr Wirkungsbereich in einem gewissen Sinne sogar noch erweitert, und zwar gerade durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die sozialistischen Verhältnisse: die organisatorische Umgestaltung der Landwirtschaft (zu genossenschaftlichen Großbetrieben) und das Erstarken der Konsumgüter herstellenden Industrie erhöhen natürlich den Warenumsatz. Dies stärkt natürlich die kleinbürgerlichen Tendenzen, den Konkurrenzkampf um den Anteil bei der Aufteilung der Güter, den Karrierismus, die Privatbesitzerneigungen, all das Negative, was wir aus eigener Erfahrung kennen. Parallel dazu brechen durch die staatliche Planwirtschaft, die kulturelle Revolution, die erweiterte soziale Fürsorge die Elemente des Sozialismus hervor, verschärft sich also notwendiger Weise der Klassenkampf zwischen den zwei gegensätzlichen Tendenzen.
3. Die Übergangsepoche kann sich gleichermaßen in Richtung des Sozialismus oder des Kapitalismus entwickeln. In welche Richtung sie sich entwickeln wird, das kann nichts anderes entscheiden als der Klassenkampf. Dies ist der strategische Punkt, an dem Chruschtschow angriff: das Ansehen der Partei missachtend erhob er zum Beschluss, dass es in der Sowjetunion fortan keinen Klassenkampf mehr geben wird, da Stalin den nur erfunden habe, um seine Säuberungen und Repressalien zu rechtfertigen. Chruschtschow „begründete“ also „theoretisch“ das „Aufhören des Klassenkampfes“, man kann auch sagen: das Einstellen des Klassenkampfes durch die KPdSU, damit gab er dem Kampf der gegnerischen Klasse, dem Klassenkampf der kleinbürgerlichen Elemente, der Konterrevolution und allen Tendenzen gegen den Sozialismus freie Bahn.
4. Ich denke, für unsere Theorie ist an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass die klein-bürgerlichen Tendenzen nicht einfach nur „Muttermale“, nicht bloße Überbleibsel der Vergangenheit oder Folgen der kapitalistischen Umgebung sind, sondern dass sie auch direkte Produkte der wirtschaftlichen Struktur der Übergangsperiode sind. Denn diese Struktur erzeugt gleichzeitig sozialistische und kleinbürgerliche Tendenzen, und welcher von beiden der Sieg gehören wird, das ist nicht im Voraus klar, denn es ist die Epoche des „Wer – Wen?“, in der neben den traditionellen Formen des Klassenkampfes auch neuen Formen eine immer größere Rolle spielen.
5. Das alles bedeutet, dass das Zustandekommen sozialistischer Produktionsverhältnisse nicht nur von der Verstaatlichung und der Vergenossenschaftlichung abhängt und auch nicht nur daran gemessen werden kann, wie viel Prozent der Volkswirtschaft der kleine Privatbesitz an Produktionsmitteln ausmacht. Die Verstaatlichung und die Vergenossenschaftlichung schaffen natürlich die Grundlagen des Sozialismus, aber noch nicht ihn selbst: denn sie machen nicht Schluss mit der Reproduktion der bürgerlichen Tendenzen und Elemente, dem Klassenkampf der zwei Elemente, dem „Wer – Wen?“-Zustand. Wenn eine führende Partei der Über-gangsperiode das aus den Augen verliert, dann gewinnt eine Art Technizismus die Oberhand in ihr, welcher die weitere Entwicklung dann fast ausschließlich in der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte sieht und dabei die Fortsetzung der sozialistischen Umgestaltung der Produktionsverhältnisse und den dazu gehörigen unverzichtbaren politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Klassenkampf vernachlässigt, was letzten Endes auch die Entwicklung der Produktivkräfte zur Stagnation verurteilt. Deshalb, so denke ich, beschränkt sich die Basis des modernen Revisionismus nicht auf einige eng begrenzte Intellektuellenschichten, sondern ist selbst verborgen in der wirtschaftlichen Struktur der Übergangsepoche und ihren Kräfte-verhältnissen – oder anders gesagt, alles hängt ab von der Durchsetzung der proletarischen Diktatur, also davon, ob sich die schädlichen Tendenzen entfalten können oder ob es gelingt, sie zu unterdrücken.
6. Dass Chruschtschow und seine Anhänger die Oberhand gewannen, hat auch einen gesellschaftlichen Hintergrund – und zwar in der Klassenstruktur der Sowjetunion und in der Umwälzung der inneren Verhältnisse.
a) In den westlichen Gebieten des Sowjetlandes wurde in Folge der Kampfhandlungen und der Nazibesetzung die Arbeiterklasse fast gänzlich vernichtet. Einen Teil der Arbeiterklass östlich des Ural bildeten aber ausgesiedelte einstige NÖP-Leute, Kulaken und/oder deren Ab-kömmlinge
b) Der Anteil der Kolchosmärkte am Einzelhandel wuchs von 15,9 % im Jahr 1939 auf 45,0 % während des Krieges, und mit der Geldanhäufung bildete sich die Schicht der Kolchos-mitgliedermillionäre heraus, die ungesetzlich Kolchosland enteigneten. Nach Schätzungen verfügten sie nach dem Krieg über mehr als 5 Millionen Hektar Ackerland.
c) Nach dem Krieg blieben in vielen Rayons der Ukraine und Weißrusslands die Dörfer fast oder ganz ohne männliche Bevölkerung. Die Anzahl der Kolchosmitglieder verringerte sich auf 70 % der Vorkriegszeit. Die landwirtschaftliche Produktion verminderte sich auf 50 – 60% der Vorkriegsleistung. Im Jahre 1946 gab es eine Dürre und mit ihr eine Hungersnot. In den europäischen Gebieten der Sowjetunion wurden pro Hektar nur 2-4 Doppelzentner Getreide produziert. In Sibirien war die Ernte gut, aber man konnte sie nicht rechtzeitig einbringen und einlagern. Auf diesem Boden unglaublicher Schwierigkeiten gediehen alle möglichen Formen der Schieberei und des Schmarotzertums.
d) Von fünf Millionen Mitgliedern der KPdSU starben drei Millionen den Heldentod an den Fronten. Während des Krieges erhöhte sich zwar die Zahl der Parteimitglieder auf rund sechs Millionen, aber zwei Drittel davon waren Jugendliche ohne ideologische Bildung und ohne politische Erfahrungen. All diese Umstände begünstigten auf außerordentliche Weise das Wiedererwachen bourgeoiser Elemente und Tendenzen – und schließlich den Sieg des Revisionismus über die marxistisch-leninistische Theorie und Praxis.
(Siehe: M. Sz. Dokucsajev: Istorija pomnyit, Moszkva 1998, S. 329; Nyina Andrejewa: Nyepodarennije principi, 1993, S. 274)
Lieber Genosse Kurt, ich glaube, es ist Zeit aufzuhören, habe ich doch Deine Geduld genügend beansprucht. Noch einmal danke ich Dir für Deinen ausführlichen Brief. Ich bin überzeugt davon, dass eine solche Genossendiskussion nur dem Nutzen unserer gemeinsamen Sache dienen wird.
Mit Liebe umarmt Dich Dein Genosse Ervin Rosznyai, Budapest, Februar 02