Die Faschisten streben nach Einfluß

Helmut Loeven: Die Faschisten streben nach Einfluß

Vortrag bei einer Veranstaltung der DKP im Hamborner Ratskeller am 17.11.2004

I.) Genossinnen und Genossen! Wenn über das Thema gesprochen wird, über das ich heute spreche, hört man meistens so etwas:

– Die sind völlig unbedeutend und bei Wahlen chancenlos.

– Die Wähler der rechtsextremen Parteien sind in Wirklichkeit keine Nazis, sondern Protest-wähler, die sich bei der nächsten Wahl wieder normal verhalten werden, und dann kommen die Extremisten wieder unter 5 Prozent.

– Die haben zwar ihren Stimmenanteil verdoppelt, aber solange sie nicht an der Regierung beteiligt sind, sind sie ungefährlich.

Das sind die Varianten der immer gleichen Beschwichtigungsformel. Wir kennen das. Wir haben auch gehört: Man soll das nicht noch aufwerten. Als ob die Nazis dadurch stärker werden, daß wir zu viel über sie reden. Wir haben auch das gehört: Hitler ist an der Regierung – laßt ihn mal machen, in ein paar Monaten hat er abgewirtschaftet, dann ist der Spuk vorbei.

Und als der „Spuk” dann – nicht schon nach ein paar Monaten – vorerst vorbei war, hieß es: Wir haben mitgemacht, um Schlimmeres zu verhüten, wir haben mitgemacht, was hätten wir sonst machen können!

Mag die Formel auch variieren – die Haltung ist immer die gleiche. Daß der Faschismus ein „Spuk” ist, und daß man den Kopf in den Sand stecken soll. Es ist die Haltung des treudeutschen Spießers, das, was Franz Werfel die „Trägheit des Herzens” genannt hat, seine Gleichgültigkeit der Niedertracht gegenüber, seine Unberührtheit vom Leiden der geschundenen Kreatur. Nicht gegen das Leid wehrt er sich, sondern dagegen, daß man ihn damit konfrontiert.

Wird die Beschwichtigungsformel des Jahres 1933 (laßt sie nur machen – laßt sie nur abwirtschaften) und wird die laue Entschuldigung des Jahres 1945 (was hätten wir dagegen tun können) neu aufgelegt?

Als Adolf Hitler schon vor der Tür zur Reichskanzlei stand, als seine Ernennungsurkunde schon in der Schublade lag, schrieb Carl von Ossietzky: 7„Die Nationalsozialistische Bewegung ist weder durch die Bedeutung ihrer Führer noch durch die Überzeugungskraft ihrer Programme groß geworden, sondern durch die verbrecherische Unzulänglichkeit einer Pseudodemokratie und die Feigheit eines parlamentarischen Regimes, das niemals gewagt hat, eines zu sein.”1

Man kann also sagen: Der Hitler-Faschismus folgte der Weimarer Republik, weil er aus ihr hervorging. Die Weimarer Republik war weniger Opfer als Vorbereitung des Faschismus.

Das Attest, das Ossietzky der Weimarer Republik ausstellte, möchte ich ergänzen durch einen Gedanken von Friedrich Engels, der über die Französische Revolution sinngemäß schrieb: Als das Bürgertum seine Fähigkeiten erkannte, war es entsetzt – und flüchtete sich in die Restauration. Mit anderen Worten: das Bürgertum war nicht fähig und noch weniger Willens, seine historische Mission zu erfüllen. Wenn so das Urteil über Frankreich lautet, das Land, dessen Kultur und Lebensart Friedrich Engels schätzte, das Land, in dem die universellen Ideen von Freiheit und Gleichheit erdacht wurden von den Aufklärern, wie muß das Urteil dann erst lauten über Deutschland, wo das Niveau einer normalen, liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts nie erreicht wurde und wo immer solche politischen Konzepte mehrheitsfähig waren, die gegen Freiheit und Gleichheit gerichtet waren. Ich halte dafür, daß diese deutsche Demokratie keine wirkliche Garantie gegen Faschismus beinhaltet. Das gilt für die Weimarer Republik ebenso wie für die Bonner und die Berliner Republik. Denn diese Bundesrepublik ist mit dem Makel der Restauration behaftet, und das ist noch gelinde gesagt, über einen Staat, der nach 1945 die Vernehmungsbeamten, Staatsanwälte und Richter nicht auszuwechseln brauchte, um den Feind zu bekämpfen, der immer noch links stand. Überspitzt könnte man sagen: „Demokratie” war doch zu oft das neue Etikett für alte Nazis, die sich in ihrer Ausdrucksweise und Verhaltensweise angepaßt hatten und sich den Zielen der Siegermächte, sofern es imperialistische Ziele waren, bereitwillig unterordneten.

Ein faschistisches Regime in Deutschland steht in der überblickbaren Zukunft nicht auf der Tagesordnung – so wie übrigens die deutsche Wiedervereinigung vor 16 Jahren nicht auf der Tagesordnung stand. Man ist gut beraten, unter Otto Reuters Motto „Ick wundere mir über jarnischt mehr”, das Unmögliche einzukalkulieren, denn wir haben lernen müssen, daß die ferne Zukunft uns sehr plötzlich sehr nahe rücken kann. Von den herrschenden Kräften wird gegenwärtig eine Politik vorangetrieben, die Massenverelendung und die Verschärfung sozialer Konflikte in Kauf nimmt. Es könnte eine Stimmung kulminieren, die mit der am Ende der Weimarer Republik zu vergleichen ist. Das wesentliche Ziel des Kapitals war damals, die Arbeiterbewegung nachhaltig zu schwächen und den Einfluß der KPD zurückzudrängen. Eine Option war, nicht mehr die bürgerlichen Parteien zu unterstützen, sondern die SPD. Aber die Stahlhelm-Fraktion des Kapitals setzte seine Radikallösung durch: Schwächen und Zurückdrängen reichte nicht, sondern unterjochen und zerschlagen.

Die Politik des Kapitals heute besteht in Konfrontation und Wegräumen aller Rudimente der „Sozialpartnerschaft”. Da darf man sich nicht wundern, wenn faschistische Kräfte sich als Option ins Spiel bringen. Sollte das Kapital diese Option nicht annehmen, dann nicht etwa deshalb, weil das Kapital bei der Durchsetzung seiner Interessen irgendwelche Skrupel hätte, sondern deshalb, weil es eine solche Option vorerst noch nicht für notwendig hält.

II.) Genossinnen und Genossen! Wenn Marxisten über das heutige Thema sprechen, dann wird immer wieder folgender Satz zitiert: „Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.”

Wir alle kennen diesen Satz, er ist der Kernsatz des Referats von Giorgi Dimitroff auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1934. Der Satz wird oft falsch verstanden und falsch zitiert. Der Satz definiert keineswegs, was Faschismus ist. Kurt Gossweiler schrieb dazu: „Die Kritiker der ‘Dimitroff-Formel’…” (und ich füge ein: auch deren Vertreter) „…übersehen seit jeher: erstens, daß dieser eine Satz keine Faschismus-Definition, sondern lediglich die Kennzeichnung eines einzigen Aspektes des Faschismus, nämlich seines Klassencharakters ist; und zwar zweitens: des Klassencharakters des Faschismus an der Macht, also eines Herrschaftssystems. Drittens wird übersehen oder ist überhaupt nicht bekannt die Warnung vor einem schematischen Gebrauch dieser Formulierung, die Dimitroff in seinem Schlußwort zur Diskussion auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale mit aller Eindringlichkeit aussprach, indem er ausführte: ‘Keinerlei allgemeine Charakteristik des Faschismus, mag sie an sich noch so richtig sein, enthebt uns der Pflicht, die Eigenart der Entwicklung des Faschismus und der verschiedenen Formen der faschistischen Diktatur in einzelnen Ländern und in verschiedenen Etappen konkret zu studieren und zu berücksichtigen. Es ist notwendig, in jedem Land das national Besondere, das national Spezifische im Faschismus zu studieren und herauszufinden und dementsprechend wirksame Methoden und Formen des Kampfes gegen den Faschismus festzulegen… Es wäre ein grober Fehler, irgendein allgemeines Entwicklungsschema des Faschismus für alle Länder und alle Völker aufstellen zu wollen. Ein solches Schema würde uns nicht helfen, sondern uns hindern, den wirklichen Kampf zu führen.'”2

Mit anderen Worten: Was Dimitroff über den Faschismus sagte, ist richtig, aber es ist nicht das letzte Wort. Man kann den Satz nicht so zitieren, als wäre damit alles gesagt und als wäre dem nichts mehr hinzuzufügen. Es ist eine Aussage über den Faschismus an der Macht und über dessen Klassencharakter. Es ist keine Definition, sondern eine Kennzeichnung unter dem Aspekt des Klassencharakters, der für uns Marxisten der wesentliche Aspekt ist, aber nicht der einzige. Womit wir uns heute zu beschäftigen haben, ist der Faschismus in seiner gegenwärtigen Etappe, in seinem gegenwärtigen Aggregatzustand als Faschismus, der an die Macht strebt und gesellschaftlichen Einfluß zu gewinnen versucht.

Wenn es dem herausragenden Genossen Dimitroff gar nicht darum ging, eine umfassende, allgemeingültige wissenschaftliche Definition des Faschismus zu leisten, wird man es einem Anfänger wie mir nachsehen, daß ich das auch nicht leiste. Stattdessen möchte ich einige Merkmale dessen, was wir Faschismus nennen, herausstellen.

Ein Merkmal des Faschismus ist der Ultra-Nationalismus. Er geht über einen Nationalismus hinaus, der „nationale Interessen” zur Richtschnur politischen Handelns macht. Er orientiert sich nicht am Nationalstaat, der vor zweihundert Jahren aus dem Zerfall des Feudalismus hervorging, sondern wähnt Traditionen, die älter sind als der Nationalstaat. Für den Ultra-Nationalisten haben schon die alten Germanen die deutsche Nation verkörpert. Man könnte überspitzt sagen: für den Nationalisten ist die Nation älter als sie wirklich ist. Nationalität wird nicht als bloße Staatsangehörigkeit aufgefaßt und Nation nicht als Gemeinschaft, die innerhalb von Staatsgrenzen einer gemeinsamen Staatlichkeit unterworfen ist. Zugehörigkeit zur Nation ist nicht definiert durch die Nationalität, die im Personalausweis vermerkt ist, sondern durch Tradition, Identität, Schicksal, Herkunft, Abstammung, gemeinsames Empfinden und Rasse. Der Ultra-Nationalismus ist im ursprünglichen Sinne des Wortes esoterisch, weil ihm ein Empfinden zugrundeliegt, das nicht durch Erkennen und rationales Denken zustandekommt. Er ist irrational. In der Periode der Systemkonkurrenz wurde die größte Bedrohung für die Nation im Osten geortet. Aber der Ultra-Nationalismus ist im Grunde anti-westlich. Er richtet sich gegen „westliche Einflüsse”, die dem deutschen Wesen fremd sind. Damit ist gemeint: der englische Individualismus, die französische Aufklärung und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, in der die französischen Ideen der Gleichheit und der dem Individuum angeborenen Menschenrechte zum politischen Programm wurden.

Ein weiteres Merkmal des Faschismus ist sehr prägnant dargestellt worden in den Film Taxi-Driver von Martin Scorsese, den hoffentlich alle kennen. Wir erinnern uns: Robert de Niro (bzw. der, der von Robert de Niro gespielt wird) kommt aus Vietnam zurück. Er wird aber nicht als Held willkommengeheißen, sondern er ist dazu verdonnert, ein Leben als Underdog zu führen. Die Stadt New York, die er täglich mit seinem Taxi durchstreift, empfindet er als ekelhaftes Gemisch von Nutten, Zuhältern, Drogendealern und Süchtigen. Als er eines Tages einen Senator kutschiert, fragt er ihn, warum er nicht mal aufräumt und den ganzen Dreck beseitigt. Damit ist nicht gemeint, daß der Senator dafür sorgen soll, daß die Papierkörbe öfter geleert und die Straßen gefegt werden sollen. Mit „Dreck” meint er die Menschen. Es ist ein Merkmal des Faschismus, daß Menschen mit Dreck assoziiert, als Dreck gewertet und schließlich wie Dreck behandelt werden.

Einwurf: Der Kriegsheimkehrer, dem die Heldenverehrung vorenthalten wird, ist auch ein deutsches Phänomen. Aus all den abgebrochenen Helden des Ersten Weltkriegs rekrutierten sich die Freikorps, aus denen später SA und SS hervorgingen.

Ein Merkmal, das allen faschistischen Bewegungen und allen faschistischen Diktaturen gemeinsam ist, ist die Misanthropie, die Menschenverachtung. Der Faschismus ist der Appell an den Inneren Schweinehund, ein Appell an die niedersten Instinkte, deren Freisetzung, als „gesundes Volksempfinden” euphemisiert, eine Gesellschaft entstehen läßt, die frei ist von jedem Mitgefühl, vom Mitleid für die Schwachen, in der ein ungehemmter Sozialdarwinismus herrscht, der als „natürlicher Ausleseprozeß” propagiert wird.

Ein Merkmal des Faschismus ist der Antisemitismus. Ich zitiere aus einem Aufsatz einer jüdischen Autorin: „Die jüdische Kultur, die der Faschismus im 20. Jahrhundert vorfand, erschien ihm als ein Herd der Zersetzung. Die Jüdin Rosa Luxemburg war den tapferen Soldaten mit dem Dolch in den Rücken gefallen. Der Jude Tucholsky nörgelte an allem herum. Die jüdischen Literaten … kritisierten alles, machten sich über alles lustig mit ihrer Ironie. Sie erzählten Witze, die das einfache Volk nicht verstand. Ihre Ironie kränkte die schlichten Gemüter. Der Jude Einstein sprengte auseinander, was die Materie zusammenhält. Der Jude Freud stocherte in der Seele herum und förderte Schweinereien zutage – Juden haben schließlich kein Schamgefühl. Der Jude Arnold Schönberg schrieb keine erhebende Musik, sondern eine disharmonische Katzenmusik. Die Juden Beckmann und Liebermann schmierten auf der Leinwand herum, der Jude Grosz malte keine Krieger und Landmänner …, sondern Krüppel und … Huren. Der Jude Karl Marx schließlich tüftelte eine Philosophie des Chaos aus…

Juden waren, bevor der Faschismus an die Macht kam, die Verkörperung all dessen, was die Ordnung zum Einsturz zu bringen droht. Somit waren die Juden auch die Verkörperung kleinbürgerlicher Angst. Denn der Kleinbürger steckt voller Angst. Weder Zweifel noch Hoffnung, sondern die nackte Angst lenkt ihn auf seinen Wegen. Der Kleinbürger hat Angst, daß alles um ihn zusammenbricht, Angst vor dem Chaos, das unmittelbar vor der Tür steht, wenn die Tischdecke nicht geradeliegt oder ein Fussel auf dem Anzug ist. Er hat Angst, eines Tages aufzuwachen und kein Mensch mehr zu sein, sondern ein Käfer oder ein Waschbecken. Er hat Angst, daß jemand was merken könnte. Er hast Angst, daß jemand seine Maskerade durchschaut. Er hat Angst, daß jemand an seiner Nasenspitze erkennt, was er gerade gedacht hat. Am meisten Angst hat er, daß jemand ihn mit der Nase auf die Sinnlosigkeit seines Daseins stoßen könnte.

Um seine Stellung zu halten, muß der Kleinbürger sich alles versagen, wonach er sich insgeheim sehnt. Er muß die Befreiung von irrationalen Zwängen für ein Ding der Unmöglichkeit halten, sonst bricht seine Welt zusammen. Leben wie ein Mensch, abseits von den engen Bahnen, in denen sein Leben verläuft, muß ihm erscheinen als Chaos, ekelhaft, Parasitentum, Zynismus, triebhaft, sexuelle Ausschweifung, Zersetzung. Wer nicht nach den Maßstäben des anal fixierten Zwangscharakters lebt, verkommt im Dreck. Sich seine sexuellen Wünsche nicht versagen kann sich der Kleinbürger nur als Schweinigelei vorstellen. Wer auf das nicht verzichtet, was der Kleibürger zur Erlangung und Erhaltung seiner Stellung sich versagen mußte, ist eine Gefahr. Das ist die kleinbürgerliche Vorstellungswelt. Und gerade weil der Dreck, die Disziplinlosigkeit, die Ausschweifung den Kleinbürger insgeheim faszinieren, gerade weil er Angst hat, selber so zu sein, wenn er einen Moment lang die Kontrolle verliert, baut er einen Damm auf, legt er ein hysterisches Abwehrverhaltren an den Tag.”3

Was in dieser Passage so sarkastisch beschrieben wird, wird in der Psychologie „Projektion” genannt. In diesem Fall wird auf andere Menschen das projiziert, was man in sich selbst niederringt. Wichtig ist aber auch, daß das Kleinbürgertum als soziale Basis des Antisemitismus herausgestellt wird. Die Angst des Kleinbürgers, die hier so poetisch geschildert wird, resultiert aus seiner ökonomischen Unsicherheit, aus seiner Deklassiertheit.

Der Antisemitismus ist nicht irgendeine Variante des Rassismus. Er ist eine besondere Kategorie. Während der gewöhnliche Rassismus aus einem Überlegenheitswahn resultiert, fühlt der Antisemit sich unterlegen, der undurchsichtigen „jüdischen Weltverschwörung” schutzlos ausgeliefert. Bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen wir: „Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen… Die Juden … werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk… Den Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die Neger will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder findet der Ruf, sie wie Ungeziefer zu vertilgen, Widerhall.”4

Aber auch folgendes ist aus dieser Schilderung herauszulesen: Der Antisemitismus ist ein antiurbaner, antizivilisatorischer, anti-intellektueller Impuls. Dieser Antiurbanismus und Antiintellektualismus ist die zur Aggression gesteigerte Sehnsucht nach vor-industriellen Zuständen.

Das Unbehagen an der urbanen Gesellschaft wird auch als „Kulturpessimismus” bezeichnet. Es gibt Zeitgenossen, die beklagen, daß alles verflacht ist und daß die Jugend von heute nichts mehr taugt undsoweiter undsofort. Aber von diesem gewöhnlichen Kulturpessimismus unterscheidet sich der Faschismus in einem Punkt: Auch die Faschisten finden, daß in der urbanen Gesellschaft alles in Unordnung geraten ist, daß die wahren Werte zerstört sind. Aber sie sprechen von der Wiedergeburt, sie sagen: Wir werden die wahren Werte wieder errichten, wir werden der Nation die Größe zurückgeben, die ihr zusteht, wir werden Zucht und Sitte in Familie und Staat wiederherstellen, sobald wir mit allen Schädlingen aufgeräumt haben, sobald wir mit den schädlichen Einflüssen von Liberalismus, Multikulti, Kosmopolitismus, Internationalismus, Marxismus, sexueller Ausschweifung, Rassenschande, Kulturbolsche-wismus und jüdisch-spitzfindigem Intellektualismus und überhaupt mit dem ganzen undeutschen Geist aufgeräumt haben.

Es ließen sich weitere Merkmale aufzählen. Man müßte zum Beispiel näher eingehen auf den Rassismus, und damit auf den Biologismus, der der faschistischen Ideologie innewohnt. Man müßte insbesondere eingehen auf das Frauenbild in der faschistischen Ideologie, das ebenfalls biologistisch ist: Die Frau soll ihrer „natürlichen Bestimmung” entsprechen.

Ich will es bei dem bisher Gesagten bewenden lassen. Aber eines ist auffällig: Die verschiedenen Versatzstücke, die zusammengefügt die faschistische Ideologie ergeben, tauchen auch an anderer Stelle auf.

Das Geschwafel über die „natürliche Bestimmung der Frau” hört man nicht nur aus dem Mund von Leuten, die eine dezidiert faschistische Ideologie vertreten. Die Sehnsucht nach dem Paradies, in dem im Märzen der Bauer die Rößlein einspannte, in dem man mit seinem Produkt übereinstimmte und wo jeder wusste, wo sein Platz ist, nach dem Paradies, aus dem die Industrialisierung uns vertrieben hat, ist in der gesamten bürgerlichen Ideologie latent.

Das misanthropische Menschenbild des Faschismus, das ich geschildert habe, ist gar nicht so grundverschieden vom Menschenbild des Konservatismus. Ich spreche von der reinen Lehre des Konservatismus.

Man hört immer, Konservative seien Leute, die das Alte bewahren wollen. Wenn dem so wäre, dann wären die Konservativen schrullige, harmlose, altmodische Zeitgenossen. Die reine Lehre des Konservatismus ist gekennzeichnet durch sein Menschenbild. Der Kernsatz des Konservatismus könnte lauten: Der Mensch ist schlecht. Jeder Neugeborene ist ein Terrorist. Wenn man den Menschen machen läßt, was er will, dann ist er gierig, egoistisch, gemeinschaftsgefährdend. Der Mensch ist gefährlich als Individuum, der Mensch ist gefährlich in der Masse. Darum muß man ihn zähmen. Man muß ihn bewachen. Er muß sich einfügen, oder er muß gezwungen werden, sich einzufügen in die Hierarchie. Im Faschismus hat sich dieses misanthropische, antiegalitäre Menschenbild gesteigert zum Menschenhaß.

Dies führt uns zu der These, daß der Faschismus nicht etwas ist, was vom Himmel fällt, nicht etwas, das als Fremdkörper in die Gesellschaft eindringt. Sondern, wie unser Professor Siegfried Jäger vom verdienstvollen Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung es formulierte: „Faschismus und Rechtsextremismus entstehen aus der Mitte heutiger Gesellschaft heraus.”5

III.) Genossinnen und Genossen! Ich habe aus den Nachrichten der letzten Wochen drei Beispiele willkürlich ausgewählt:

Erstens: Der sächsische Landtag wählte den Ministerpräsidenten. Der Kandidat der CDU-SPD-Koalition Milbrat (oder wie der heißt) bekam im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Mehrheit. Mehrere Koalitionsabgeordnete stimmten in geheimer Wahl nicht für ihn. Aber nicht nur das: Der Gegenkandidat der NPD, die mit 12 Abgeordneten im Landtag vertreten ist, bekam 14 Stimmen. Auch im zweiten Wahlgang, in dem Milbrat endlich gewählt wurde, bekam der NPD-Kanditat zwei Stimmen von Abgeordneten der anderen Parteien.

Zweitens: Ein Bericht von Pascal Beucker in der Taz: „Am Jahrestag der Reichspogromnacht verherrlichen Nazis in Leverkusen das NS-Regime. Die Polizei sperrt weiträumig ab und hält einige hundert antifaschistische Gegendemonstranten auf Distanz.

Ihre Fackeln durften sie nicht entzünden. Doch auch ohne diese Accessoires boten sie ein ebenso gespenstisches wie makabres Schauspiel: Unter dem Motto ‘Gegen einseitige Vergangenheits- bewältigung!’ zogen rund 80 Rechtsextreme bei strömendem Regen grölend durch Leverkusen. Angeführt von dem einschlägig vorbestraften Bergheimer Neonazi Axel Reitz skandierten sie am Jahrestag der Reichspogromnacht bei ihrem Marsch durch die Stadt des IG-Farben-Nachfolgekonzerns Bayer Parolen wie ‘Die schönsten Nächte sind aus Kristall’ und ‘Nie wieder Israel!’

Durch den Aufmarsch erschien die Gegend um den Bahnhof Leverkusen-Mitte, wo sich die Aktivisten aus der Szene der ‘freien Kameradschaften’ und auch NPD-Anhänger gegen 19 Uhr versammelt hatten, wie im Belagerungszustand. Weiträumig hatte die Polizei entlang der Marschroute Absperrungen aufgebaut. Auch die Bundesstraße 8 im Bereich Leverkusen-Wiesdorf wurde für mehrere Stunden gesperrt. Sogar der Zugverkehr ruhte kurzzeitig. 850 Beamte waren im Einsatz, um handfestere Auseinandersetzungen zwischen den Nazis und mehreren hundert antifaschistischen Gegendemonstranten zu verhindern.

So konnten die braunen Gesellen denn auch weitgehend ungestört durch die City marschieren. Nur vereinzelt flogen Eier und Knallkörper. Laut Polizei wurde ein Beamter von einem ‘Kieselstein’ leicht verletzt. Ein 19-jähriger Gegendemonstrant wurde vorübergehend in Gewahrsam genommen, da er einen Platzverweis nicht befolgen wollte. Ansonsten habe es jedoch keine besonderen Vorkommnisse gegeben, so die Polizei. Um 22.30 Uhr war der Spuk endlich vorbei.

Erst am Montag hatte das Verwaltungsgericht Köln ein Demonstrations- verbot der Polizei aufgehoben, allerdings verhängte es einige Auflagen. So untersagte es Fackeln, Trommeln und Uniformen ebenso wie Fahnen und Transparente ‘strafbaren Inhalts’ sowie ‘Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen’. Anders jedoch als noch bei der Nazi-Demonstration Mitte Oktober in Köln-Kalk unterblieb indes ein ausdrückliches Verbot der Glorifizierung und Verharmlosung des NS-Regimes.

Eine Chance, die sich Reitz & Co. nicht entgehen ließen. Auf ihrer Kundgebung auf dem Ludwig-Erhard-Platz priesen gleich mehrere Redner die ‘Segnungen’ des Dritten Reiches und leugneten die Verbrechen des Nationalsozialismus. So bewahrheitete sich, was der Kölner Publizist und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano vorausgesagt hatte: ‘Die Nazizusammenrottung in Leverkusen am 9. November hat die klar erkennbare Absicht, die Opfer jener Mordnacht zu verhöhnen und sich zu ihren Mördern zu bekennen.'”6

Drittens: Im Brandenburgischen Halbe planten Neonazis einen Aufmarsch vor dem Soldatenfriedhof unter dem Motto „Ruhm und Ehre dem deutschen Frontsoldaten”. Das polizeiliche Verbot dieses Aufmarschs wurde vom Verwaltungsgericht Cottbus aufgehoben. Auch polizeiliche Auflagen wurden vom Gericht aufgehoben. Der Aufmarsch fand am vergangenen Samstag (13.11.) statt. Einem Pressebericht zufolge nahmen 1000 Neonazis daran Teil. In einem anderen Pressebericht war von 1600 Teilnehmern die Rede.

Nachrichten dieser Art häufen sich in den letzten Wochen, und wir können nicht mehr daran zweifeln, daß die Faschisten derzeit überaus aktiv und in der Offensive sind. Und wieder ist es „die verbrecherische Unzulänglichkeit einer Pseudodemokratie und die Feigheit eines parlamentarischen Regimes”, das den Nazis den Rücken stärkt. Denn sie können sich fast jedesmal darauf verlassen, daß ein Gericht ihnen die Straße freigibt. Ich habe in letzter Zeit öfter den Satz gehört: „Das Grundgesetz gilt für alle, auch für Rechtsextremisten”. Das ist ein absurder Satz, mit dem feigem Zurückweichen der Anschein bürgerlich-demokratischer Souveränität gegeben werden soll. Da könnte man ja auch sagen: Die Gewerbefreiheit gilt für alle, auch für Trickbetrüger und Handtaschenräuber.

IV.) Diese martialischen Aufmärsche mit Stiefeltritt und Reichskriegsflagge sind nicht das einzige Auftreten der Nazis. Die können auch anders. Vor allem im Osten, im Annexionsgebiet, geben sie sich gern bieder und bürgernah und verzichten auf abschreckendes Outfit. Sie versuchen, sich den Protesten gegen Hartz IV anzuschließen. In Duisburg ist vor wenigen Monaten dieser Versuch an der Aufmerksamkeit der Demonstranten gescheitert. Im Osten hingegen fällt es ihnen nicht schwer, sich in die Demonstrationen einzuschleichen. Gerade dort, aber nicht nur dort, geben sie sich modisch-modern und versuchen, sich in die Aktivitäten der Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg einzuschleichen. Man darf nicht mehr überrascht sein, wenn Rechtsextremisten mit Che-Guevara-T-Shirt zum Ostermarsch kommen und pseudo-antiimperialistische Phrasen von sich geben.

Was bedeutet das? Daß sie sich politisch umorientiert haben? Daß sie geläutert sind? Oder gar, daß sie als Bündnispartner im Kampf gegen den US-Imperialismus in Frage kommen? Nein, das bedeutet es nicht. Die Tarnung von Rechtsextremisten als Antiimperialisten, Kriegsgegner und Gegner des Sozialabbaus ist nichts anderes als faschistische Aggression. Denn diese Taktik ist nichts Neues. Das gab es schon in den 60er und 50er Jahren. Der Begriff „Querfrontstrategie”, also Aufweichen der Front zwischen links und rechts, stammt aus den 20er Jahren. Ich sah kürzlich die Abbildung eines frühen Plakats der NSDAP mit der Parole „Der Marxismus ist der Schutzengel des Kapitalismus”. Abgebildet war ein Spartakist mit Knarre und Engelsflügeln auf dem Rücken, der einen zufrieden grinsenden Juden an der Hand führt.

Es wäre unsinnig, zu glauben, der sogenannte Nationalsozialismus wäre – zumindest in seiner Frühphase – eine Variante des Antikapitalismus gewesen. Der sogenannte Nationalsozialismus war nie antikapitalistisch, und er hatte auch nie einen antikapitalistischen Flügel. Querfrontstrategie bedeutete zu allen Zeiten und bedeutet auch heute nichts anderes als Aneignung von Begriffen, um sie umzudeuten. Auf einer NPD-Demonstration wurde ein Transparent mit der Parole „Sozialismus ist braun” getragen.

Im Kampf gegen die Linke hat der deutsche Faschismus stets zwei Taktiken angewandt: Den frontalen und den unterschwelligen Angriff: Zerschlagen oder Zersetzen. Hier ist größte Wachsamkeit geboten. Denn nicht überall, wo Antiimperialismus draufsteht ist auch Antiimperialismus drin.

Man glaubt immer, der Unterschied zwischen links und rechts sei so groß, der Graben dazwischen so breit und so tief, daß man lechts und rinks niemals velwechsern könnte. Werch ein Illtum!

In den 20er Jahren haben einige Intellektuelle sich den Luxus geleistet, bei den Rechten und bei den Linken Freundschaften zu pflegen. So wurde der sogenannte Nationalbolschewismus des Ernst Niekisch für eine linke Strömung und der Strasser-Flügel der NSDAP für eine antikapitalistische Bewegung gehalten.

In den beginnenden 30er Jahren wurde in der KPD die Illusion gehegt und gepflegt, die SA-Männer dürfe man nicht als für immer verlorene Feinde betrachten, sondern man müsse in ihnen aufrechte Männer sehen, die durch einen Irrtum in die falsche Organisation geraten seien. Was für ein Quatsch! Als ob diese brutalen Menschenschinder nette Kerls gewesen wären, die sich bei der Wahl ihres politischen Standortes mal eben in der Tür geirrt hätten! Dagegen nimmt sich die unsinnige Erklärung von heute, die Wähler rechter Parteien seien „Protestwähler”, beinahe noch harmlos aus. Faschismus ist niemals sozialer Protest.

In den 50er Jahren wurde im Kampf gegen Wiederbewaffnung und Bindung an die NATO auch alles genommen, was sich als National-Neutralismus anbot. Ich nenne nur als Beispiel den Schriftsteller Ernst von Salomon, Rechtsterrorist in den 20er Jahren und beteiligt am Mord an dem Außenminister Walter Rathenau. „Schlagt tot den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau” – das haben die nicht nur gesungen, das haben die auch getan, und Ernst von Salomon war dabei. Nach dem Krieg schrieb er den Bestseller „Der Fragebogen”, der den deutschen Kleinbürgern als Rechtfertigungsschrift willkommen war. Er unterstützte die Deutsche Friedensunion und verkündete in den 60er Jahren, er habe Zeit seines Lebens denselben Kampf geführt, den auch Che Guevara führte. Auch der Verfasser7 des Nazi-Liedes „Heute gehört und Deutschland und morgen die ganze Welt” war im Kampf gegen Adenauers Wiederbewaffnung ein willkommener Bündnispartner.

In den 60er und 70er Jahren bildete sich in der westdeutschen Linken eine starke maoistische Strömung heraus, die zunächst in Equidistanz zu den beiden sogenannten Supermächten ihren Standort suchte, dann aber im sogenannten Sozialimperialismus der Sowjetunion den „Hauptfeind” sah und infolgedessen sich für NATO, Landesverteidigung und Franz Josef Strauß einsetzte. Manchen Maoisten ging das nicht weit genug. Der Herausgeber der maoistischen Zeitung „Der Funke”, Dieter Schütt, mit dem ich mal befreundet war und der seinerseits mit Ralph Giordano und Rudi Dutschke befreundet war, fordert seit Jahren ein Bündnis der Linken mit der NPD. In einer der ersten Ausgaben der TAZ erschien ein Kommentar, in dem an die Leser appelliert wurde, die Neonazis nicht in Bausch und Bogen zu verurteilen, sondern in ihnen Rebellen gegen die Herrschenden zu sehen.

Viele Vordenker und führende Intellektuelle der Neuen Rechten haben ihre Laufbahn ganz links begonnen. Ich nenne Wolf Biermann, der zu einem fanatischen Antikommunisten wurde und sich als Anhänger von Ronald Schill outete, ich nenne den Kommunarden Rainer Langhans, der sich auf dem Trip mit Adolf Hitler unterhielt, ich nenne den früheren SDS-Führer Bernd Rabehl, der vor der reaktionären Burschenschaft Danubia Vorträge hält, und ich nenne Horst Mahler, der die RAF gründete, die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat und einen Verein namens „Deutsches Kolleg” leitete, der sich einen sehr intellektuellen Anstrich gibt und eine ultrarechte „Denkfabrik” sein will. Mahler bringt das Kunststück fertig, den Holocaust sowohl zu leugnen als auch zu rechtfertigen. Er sagt: Hitler hat die Juden gar nicht umgebracht, aber wenn er es getan hätte, dann hätte er es richtig gemacht. Mahler steht wegen Volksverhetzung in Berlin vor Gericht. Mitangeklagt ist Reinhard Oberlercher, der mit Mahler um die Wette gegen die Juden hetzt, sich „Nationalmarxist” nennt und früher zu den Anführern des linksradikalen SDS gehörte. Und noch eine unappetitliche Nachricht: Im Kreistag des Rhein-Sieg-Kreises haben sich PDS und NPD zu einer gemeinsamen Fraktion vereinigt.

Helmut Loeven, Duisburg; aus: Der Metzger, Satirisches Magazin, Nr. 72, März 2005.

Anmerkungen:

1 Carl von Ossietzky in der Weltbühne 1931.

2 Kurt Gossweiler: „Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft?” in DER METZGER 48 (1995)

3 Lina Ganowski: „Der gewöhnliche Antisemitismus” in DER MEZGER 43 (1991)

4 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, New York 1944.

5 S. Jäger: „Entstehungsbedingungen des Rechtsextremismus heute” in DER METZGER 42 (1990)

6 Pascal Beucker: „Nazis dürfen NS-Opfer verhöhnen” in Taz Köln 11.11.2004

7 Der Name des Dichters ist mir entfallen.