Vera Butler:
Einige Bemerkungen zu den Beiträgen über den heutigen Imperialismus in der Offensiv November-Dezember 2001
Lieber Frank, hab’ Dank für die Veröffentlichung meines Essays über Hegemonismus. Es freut mich besonders, dass sie in einem weiteren Rahmen einer allgemeinen Diskussion geschah, was ich begrüße. Deine Einführung „Brauchen wir eine neue Theorie des Imperialismus?” ist höchst zutreffend, und das reichhaltige Material der anderen Diskussionsteilnehmer bestätigt für mich nur, dass die Entwicklung des Imperialismus zum Hegemonismus auf der Hand liegt. Dazu einige Bemerkungen:
L.Meyer/F. Schmidt: Kollektiver Imperialismus: Zutreffend ist „der moralische Bankrott des Systems und seiner `Werte`” (S.8), sowie der Hinweis auf „eine hochdosierte staatliche Konjunkturspritze”, und das jetzige Krisen- und Kriegsprogramm als ein Antidotum gegen die Wirtschafts- und Finanzkrise. Ich würde noch hinzufügen, dass die Hegemonialmacht und mit ihr alle dollargebundenen Ökonomien vor einem Währungskollaps stehen, den Greenspan kaum mehr hinauszögern kann. (Siehe Argentinien.)
Es spielt keine Rolle, dass das „Kollektiv” der G-7-Staaten einen „integrierten Weltmarkt” anstrebt (S.10): – maximale Ausbeutungspraktiken zerstören das Gleichgewicht zwischen Marktpreisen und Einkommen potenzieller Verbraucher, so dass ein solcher „Weltmarkt” nicht mehr als Absatzgebiet für das massive Produktionspotenzial der neuen Technologien dienen kann. Dieses Leitmotiv aller kapitalistischer Wirtschaftskrisen – die Marktkrise – ist dabei, ihr Crescendo zu erreichen und damit den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Systems. – Lenin gerechtfertigt?
Harpal Brar: Imperialismus ist dekandenter, parasitärer, sterbender Kapitalismus: Ich stimme mit Brars Analyse völlig überein, und ich begann die erste Version meines Essays über den Hegemonismus mit der Diskussion von Lenins „Thesen” des Imperialismus, wie Brar es in seinem Beitrag tut. Es ist wichtig, diese Entwicklungsstufen des Imperialismus im Auge zu behalten.
Trotzdem sind die Zahlen für 1999 und 2000 z. Zt. überholt, denn
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- Der Prozess der Zusammenschlüsse und Übernahmen ist kein Zeichen der Stärke, sondern das Bewusstsein des nahenden Bankrotts von Unternehmen, deren übermäßige Expansion nicht nur ihre Ressourcen weit überfordert, sondern in keinem realistischen Verhältnis zur Markt-Nachfrage stand. Das betraf besonders Rohmaterialien wie Aluminium, Kupfer und Eisenerz, aber ebenfalls die internationale Autoindustrie und selbst die Computer-Industrie, welche im letzten Jahr etwa 60 % ihres Aktienwertes eingebüßt hat. Wachstum und Expansionslust ohne Marktbezogenheit sind Negativa, die den Zusammenbruch (Bankrott) nur hinauszögern.
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- Was Kapitalexport angeht, so ist es seit den 60er Jahren bekannt, dass er nicht aus Eigenakkumulation der Unternehmen und Banken finanziert wurde, sondern von der Druckerpresse der American Federal Reserve, die immer größere und fast unkontrollierbare Dollar-Mengen in die Weltwirtschaft pumpte, was schließlich zum Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems und zu massiver Dollarinflation führte (siehe Bundesbank, „Währung und Wirtschaft in Deutschland 1876 – 1976″, Ffm 1976) Das Ziel war weit perverser, als Analytiker der Linken es bis heute erkennen. Es handelt sich im Grunde um einen abgefeimten Schwindel der Hegemonialmacht Amerika, der die Europäer schließlich (1978) zwang, ihr eigenes Währungssystem zu schaffen. Es muss unterschieden werden zwischen dem Kapitalexport vor dem 1. Weltkrieg, z.Zt. der `starken` Währungen, wie Lenin sie 1916 kannte und dem Schwindel der Hegemonialmacht Amerika nach 1960, der es möglich machte, für real entwertete Papierdollars profitable Unternehmen und Rohmaterialien in anderen Teilen der Welt aufzukaufen.
Daher muss der quantitative Kapitalexport im Licht der realen Qualität (=Währungsstabilität) des Kapitals gemessen werden und nicht bloß in absoluten Größen. Das wirkliche Ausmaß der Ausbeutung, die durch weltweite Anleihen in inflationsanfälligen US-Dollars praktiziert wird, liegt weit höher. Hier spielen der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eine mit Washington abgekartete Rolle.
Ich glaube nicht, dass meine Analyse des Imperialismus ein „Angriff” auf Lenins Theorie ist, sondern sie im Gegenteil festigt und erweitert, indem ihre Relevanz im Licht heutiger Bedingungen – dem Aufstieg einer Hegemonialmacht – nur bestätigt wird.
Michael Opperskalski: USA & Europa in der sogen. „Neuen Weltordnung”: Die Bezugnahme auf Jeffrey Garten (1992), Zbigniew Brzezinski (1997) und Richard Holbrook (1995) ist zeitgemäß bereits von neuen geopolitischen Entwicklungen überholt (siehe Intervention in Afghanistan, US-Basen in Zentralasien). Besonders fraglich ist Samuel Huntingtons These vom Zusammenstoß der christlichen Zivilisation mit der des Islam, wenn man in Betracht zieht, dass es ähnliche Konflikte zwischen Islam und Zionismus (Palästina), Islam und Hinduismus (Kaschmir), Christentum und Hinduismus (siehe die Morde christlicher Missionare in Indien), sowie zwischen christlichen Religionen (Nordirland) gibt, die keine Verallgemeinerung erlauben. Huntingtons These scheint politisch inspiriert und produziert eine Angstpsychose, die durch den Terrorangriff auf das WTC in New York noch weiter geschürt wird. Trotzdem dürfen Einzelvorkommen nicht verallgemeinert werden.
Das Drei-Mächte-Modell USA – Deutschland – Japan als Eckpfeiler einer „Neuen Weltordnung” – einer „multipolaren” Welt – ist eine interessante Hypothese, aber kaum mehr. Wohl sind Deutschland und Japan z. Zt. Dabei, ihre ersten Schritte auf dem internationalen Militärparkett zu wagen, doch das bedeutet noch lange nicht, (wenn überhaupt), dass diese Länder beabsichtigen, in Zukunft mehr als eine regionale Rolle zu übernehmen – im Rahmen des Führungsanspruchs der Hegemonialmacht Amerika.
In Europa wird größere Selbständigkeit in militärischen Angelegenheiten von allen Mitgliedern der EU angestrebt (besonders nach der traumatischen Erfahrung des NATO-Angriffs auf Serbien). In Washingtons Sicht ist das Konzept einer „kollektiven Verteidigung” durchaus wünschenswert. Das geopolitische Ziel ist, einer Wiedervereinigung der früheren Sowjetrepubliken (siehe Ukraine) mit Moskau vorzubeugen, und da sind die Europäer gleich „am Platz”, um zu intervenieren.
Die Rede vom „BRD-Imperialismus” ist unsinnig (und daher wahrscheinlich politisch motiviert). Die BRD hat viel mehr in Zusammenarbeit mit den übrigen Mitgliedern der EU zu gewinnen. Außerdem übersehen die Verfechter dieser Theorie, dass die BRD krisenanfällig ist, offiziell fast 4 Millionen Arbeitslose hat und sich deshalb kaum auf solche Abenteuer einlassen wird. Für die deutschen Kapitalisten gibt’s nichts in Polen oder den baltischen Ländern zu gewinnen; dort werden nur Investitionen und Subventionen erwartet, und damit wird es in der BRD und in der EU knapp. Wenn es um Lohndifferenzen geht, gibt es in Südostasien oder China weit bessere Aussichten für deutsche Konzerne und Banken.
Im fernen Osten wird Japan sich vorsehen, mit China in Konflikt zu kommen. Japan will nicht für die Hegemonialmacht Amerika die sprichwörtlichen Kastanien aus dem (chinesischen) Feuer holen – in dieser Hinsicht ist ihre Politik klüger und weitsichtiger als die der Europäer.
Ich stimme mit Opperskalskis Zitaten-Auswahl überein, dass „die globale US-Strategie” darauf zielt, jedwede Konkurrenz – in Europa oder anderswo – unter Kontrolle zu behalten (S. 39), und dass es „das zentrale Projekt” der US-Aufrüstung ist, imstande zu sein, weltweit Interventionen gegen die übrigen Nuklearmächte inkl. Russland und China zu lancieren (S. 40). Genau diese politische Zielsetzung kennzeichnet die „Neue Weltordnung” der Hegemonialmacht im 21. Jahrhundert, wie ich in meinem Beitrag argumentierte.
Was die Diskussionsteilnehmer nicht erwähnt haben ist die Orientierung des strategischen Denkens Washingtons, das ideologisch bestimmt ist, d.h. in erster Linie gegen die einzelnen Großmächte gerichtet ist, die potenzielle Gegner der Hegemonialmacht sein können: – Russland und China. Eine „eurozentristische” Perspektive ist da viel zu begrenzt. Die Hegemonialmacht agiert global. Die Entwicklungen in Zentralasien sind wegweisend, und Putins Rolle muss besonders unter die Lupe genommen werden.
Trotzdem ist die Hegemonialmacht (und mit ihr die Europäer und Japan) wirtschaftlich verwundbar. Argentinien ist bloß der Anfang des Angriffs auf das globale Finanznetz des IWF und wird „Schule machen”, denn sehr vielen anderen Schuldner-Staaten steht das sprichwörtliche Wasser bis zur Kehle, und selbst die brutale Gewaltherrschaft US-trainierter Faschisten kann die Volkswut der Verzweiflung nicht mehr unterdrücken. (Wer fragt nach den 30 Toten während der Demonstration in Argentinien?) Der Zusammenbruch der globalen kapitalistischen Wirtschaftshegemonie ist auch der Anfang einer neuen, sozial bestimmten, kooperativen Weltordnung, deren Grundlage Lenin bereits 1917 schuf. Das dürfen wir nicht vergessen.
Vera Butler, Melbourne