Prof. Dr. Horst Schneider: „Erinnerungsschlacht” in den Farben Sachsens
Anmerkungen zur Erinnerungspolitik in Sachsen
Den Begriff „ Erinnerungsschlacht” leihe ich mir von Norbert Frei, der in einem Artikel in „ Die Zeit” vom 21. Oktober 2004 den Titel „ Die Erinnerungsschlacht um den 60. Jahrestag des Kriegsendes hat begonnen” wählte.
In diesem Beitrag möchte ich den Meinungsstreit darüber anregen, worin das „amtliche” Ziel der maßgebenden politischen Gruppen in Sachsen besteht, welche Mittel eingesetzt und Wege beschritten werden, um die gewünschte Erinnerungspolitik durchzusetzen, und warum diese Politik, die seit fünfzehn Jahren durch die CDU – Regierung betrieben wird, gründlich überprüft werden sollte. Die Vorgänge um die NPD im sächsischen Landtag sind ein zusätzlicher Grund. Wenn ich mich auf Sachsen konzentriere, heißt das nicht, dass sich die Erinnerungspolitik in Sachsen prinzipiell von der in anderen „ neuen” Bundesländern unterscheidet.
Wie Bernd Faulenbach feststellte, wird die gegenwärtige Erinnerungspolitik u.a. durch die Suche nach „europäischer Identität” gekennzeichnet. Dabei müsse – er beruft sich auf Bernd Rüsen – Erinnerung auf die Gegenwart bezogen, eben „vergegenwärtigt”werden. Dabei dürfe das Erinnern „ hochgradig selektiv” erfolgen. In der Tat: Solche Feststellungen deuten auf einen „ Perspektivenwechsel im Hinblick auf die Vergangenheit” hin. Und da beginnen die Fragen: Worin besteht die „ europäische Identität”? Handelt es sich um eine „ Identität” der europäischen Völker, Staaten oder Menschen? Wer ist Subjekt der „ Identität”, und wer bestimmt sie mit welchen Mitteln? Wer wählt die Fakten „ hochgradig selektiv” aus, um sie zum Gerippe welchen Geschichtsbildes zu machen?
In einem Buch, das von der Konrad – Adenauer – Stiftung herausgegeben worden ist , äußerte sich Jörg – Dietrich Gauger zu „ Geschichte als Instrument” (er meinte das Geschichtsbild, Geschichte kann nicht verändert werden): „ Mit Geschichte lassen sich Skandale kreieren, die Welt in `anständig` und `unanständig` einteilen, in `gut` und ` böse`, lassen sich Debatten inszenieren, die über Wochen die Feuilletons beschäftigen und mediale Präsenz ermöglichen. Mit Geschichte lässt sich von ` harten` Problemen, die Detail und Umsetzung erfordern, ablenken zugunsten geistesgeschichtlicher Großwetterlage, in die man Zeitdiagnostisches nach Belieben einspeisen kann. Denn ihr Potential ist für alles gut: für das falsche Zitat, die unzutreffende Parallele, für das gewollte Missverstehen, den übertriebenen Vergleich, für vermeintliche Ursache und unterstellte Wirkung, für Ästhetik und Moral, für Vorbild, negativ oder positiv, für die Sehnsucht nach historischer `Verortung` angesichts zunehmender Innovationsdynamik, gar nach ` Identität`… Nicht der Vergleich selbst ist bedeutsam, bedeutsam ist die bildungsbürgerliche Pose, vergleichen zu können. Politische Wirkung gewinnen Vergleiche, Akzente, Bewertung von Abläufen oder Bewertung von Personen erst wirklich, wenn sie sich zu zeithistorischen Geschichtsbildern verdichten.”
Das Zitat erleichtert uns das Verständnis für den Prozess des „ Perspektivenwechsels”, der in Sachsen vor sich ging und den „ instrumentalen” Charakter der gewünschten Erinnerung.
In Sachsen wird seit 1990 vor allem versucht, die Tradition und das Gedenken für den Antifaschismus „ abzuwickeln” und mit Hilfe der Totalitarismus – Doktrin, den „ Diktaturenvergleich”, die jüngste Geschichte zu „ bewältigen”. Dabei werden die Geschichte der DDR verteufelt und die Verbrechen des Faschismus relativiert. Beides geschieht nicht im Selbstlauf oder im Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Den Auftrag zur „ Abwicklung” des Antifaschismus gab der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble im Oktober 1990.
Die Totalitarismus – Doktrin wurde in die DDR exportiert und erfuhr eine Art Renaissance.
Die Spezifik in Sachsen bestand u.a. darin, dass der Kern der Doktrin, die Gleichsetzung von Hitlerfaschismus und DDR, in die Präambel der sächsischen Verfassung aufgenommen wurde, in der es heißt „ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft…” (Der Vergleich der „ leidvollen Erfahrungen” der 1945 und 1990 in Sachsen Regierenden wäre ein interessantes Thema.) Ein Unikat Sachsens ist zudem die Existenz des Hannah–Arendt–Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden, das am 17. Juni 1993 (!) unter dem Einfluss von CDU – Politikern gegründet worden ist und in den letzten Jahren für manche Schlagzeile gesorgt hat. Die zentrale Aufgabenstellung des Instituts, der „ Diktaturenvergleich”, spiegelt sich auch im sächsischen Gedenkstättengesetz wider, dessen Kopie von der CDU in den Bundestag eingebracht wurde und am 30. Januar 2004 (!), dann am 17. Juni 2004 (!) für ganz Deutschland beschlossen werden sollte. (Der Antrag scheiterte vorerst.) Die ersten Sätze der Drucksache 15/ 3048 lauten: „Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland –Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen. Der Bundestag wolle beschließen: Zu den konstitutiven Elementen des wiedervereinigten Deutschland gehört das Gedenken an alle Opfer der beiden totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus”.
Die Absicht und die Folgen einer solchen Erinnerungspolitik sind also zu prüfen.
Anfang 2004 führte der Streit um das sächsische Gedenkstättengesetz zu einem Eklat, in dessen Ergebnis die Arbeit der der sächsischen Gedenkstättenstiftung von den Vertretern der Verbände der Opfer der Hitlerdiktatur boykottiert wird.
Auch hier zeigte sich: Allzu straff gespannt, zerspringt der Bogen. Der Perspektivenwechsel, von dem Bernd Faulenbach schrieb, begann in Sachsen 1990 mit der Tilgung von Namen von Hitlergegnern an Straßen, Plätzen und Schulen. In Dresden gehörten auch verdienstvolle Sozialdemokraten wie Otto Buchwitz, nach 1945 Landtagspräsident, und Dr. Rudolf Friedrichs, erster Nachkriegsministerpräsident, Persönlichkeiten wie Dr. Salvador Allende und Julius Fucik, zu den nun Geächteten. Manche von ihnen wurden in regierungsoffiziellem Auftrag verleumdet. Dieser Vorgang ist fünfzehn Jahre später aktuell.
Im Jahre 2004/ 2005 jähren sich 60. Jahrestage des – selektiven –Gedenkens. Die Männer des 20. Juli wurden in Dresden – zu Recht – offiziell im Landtag und an den Gräbern der Generale Oster und Olbricht und in einer Ausstellung geehrt. Die VVN/ BdA beteiligte sich traditionell an der Ehrung gemäß dem moralischen Gebot: „Wer auch nur einen kleinen Finger gegen Hitler und den Krieg gerührt hat, aus welchem Motiv und mit welcher Zukunftsabsicht auch immer, er gehört in die Ahnengalerie der deutschen Geschichte.”
Am 60. Jahrestag der Ermordung Ernst Thälmanns, am 18. August 2004, fand kein „Staatskult” statt, und Professor Dr. Pommerin ließ in der Sächsischen Zeitung drucken, er habe auf der Gedenkveranstaltung des Freistaates am 20. Juli „ sämtliche oppositionellen Kräfte der Nazizeit gewürdigt”, aber Thälmann absichtlich nicht erwähnt, weil er kein „Spitzenwiderständler” gewesen sei.
Muss diese „ Spitzenleistung” eines neusächsischen Historikers kommentiert werden? Am 60. Jahrestag der Hinrichtung des Reichstagsabgeordneten Georg Schumann, nach dem die Mahn – und Gedenkstätte Münchner Platz bis 1990 benannt war, am 11. Januar 2005, fanden sich vier Bürger und eine zufällig vorbei kommende Studentin zur Ehrung ein. Könnten solche Tatsachen Bernd Faulenbach dazu geführt haben, zaghaft zu mahnen, „den frühen Widerstand, – und zwar nicht nur den zum 20. Juli führenden – in der deutschen Erinnerungskultur nicht zu vergessen, sondern ihn wieder (!?) zu einem der Inhalte des aktiven Gedächtnisses zu machen?
Wer könnte sich diesem Vorschlag Faulenbachs verweigern und warum? Zweifellos ist Faulenbach zuzustimmen, wenn er an Beispielen demonstriert, „dass die Erinnerungskultur nicht ein – für allemal fixiert ist, sondern ihre Bestandteile, ihre Struktur und selbst ihre Formen in der Diskussion sind.” Aber damit ist noch nichts Über die politischen Absichten der Akteure und die Ziele und Inhalte des „Wandels” gesagt. Faulenbach postuliert: Es stellt sich die Frage, „welche Erinnerungen gesamt-gesellschaftlich, gruppenbezogen oder auch national so bedeutsam sind, welche weniger bedeutsam oder zu vernachlässigen sind.” Diese Frage stellt sich nicht von selbst.
Bei uns in Sachsen wurde diese Frage nach 1990 durch die CDU- Mehrheit gestellt und beantwortet. Sie hat sich mit Hilfe des umstrittenen Gedenkstättengesetzes die „juristische” Grundlage und mit Hilfe des Hannah – Arendt – Instituts und den umgewandelten Gedenkstätten die personellen und strukturellen Mittel geschaffen, mit denen die Vergangenheit der „ zwei Diktaturen” „ hochgradig selektiv” dargestellt wird. Hier ist nicht der Platz, umfassend den Gründungsprozess, die staatlich vorgegebene Aufgaben, die konfliktreiche Geschichte und die Arbeitsergebnisse des Instituts zu analysieren. Hier soll lediglich darauf aufmerksam gemacht werden: Gegenstand der Forschung und der bisher etwa 80 Buchpublikationen sind Themen zum Thema „Unrechtsstaat” DDR. Als Helmut Kohl als Ehrengast zum zehnjährigen Jubiläum des Instituts in Dresden weilte, forderte er die Totalitarismusforscher in Dresden auf, drei historische Daten in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen, den 20. Juli 1944, den 17. Juni 1953 und den Herbst 1989. Zwei der Ereignisse spielten sich in der DDR ab.
Ob und welche Bücher, Zeitschriftenbeiträge, Reden und Fernsehauftritte der Mitarbeiter dazu beigetragen , der braunen Flut in Sachsen entgegenzuwirken, müsste gesondert untersucht werden. 16 Professor Dr. Besier, der Direktor des Instituts, bekannte in der Fernsehsendung Arte am 27. Januar 2005: Wir hätten uns früher mit dem Thema beschäftigen müssen. Auf eigene Leistungen in der Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus verwies er nicht.
Werfen wir einen Blick auf den Inhalt und einige Ergebnisse des „ Diktaturenvergleichs”. Der wichtigste „authentische Ort” dafür ist in Dresden das frühere Landgericht, das in der DDR Mahn– und Gedenkstätte und nach 1990 Gedenkstätte Münchner Platz wurde. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung spiegelt sich bereits in der Literatur wider.
Am Dresdner Landgericht sind vor und nach 1945 von Richtern Todesurteile gesprochen worden. Beweist das, dass sie „ Opfer der zwei totalitären Diktaturen” waren? Seit Sommer 2003 ist auf der Erinnerungstafel an der ehemaligen Richtstätte zu lesen: „ Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurden über 1.300 Menschen am Münchner Platz hingerichtet. Von 1945 bis 1952 wurden im Richthof über 15 Todesurteile sächsischer Gerichte vollstreckt, vorrangig gegen Beteiligte an nationalsozialistischen Tötungsverbrechen.” Diese Zahlenvergleich steht unter dem Leitsatz am Eingang zur Gedenkstätte, der verkündet, dass hier „ der Widerstand gegen die Diktaturen und der Missbrauch des Rechts an diesem Ort im national-sozialistischen Staat und in der SBZ/ DDR” erforscht und dargestellt würden.
Prüfen wir das Ergebnis des Vergleichs (der de facto eine Gleichsetzung ist): Von den 15 „ Opfern” nach 1945 sind zwei Mehrfachmörder (mit schwerem Raub), dreizehn Kriegsverbrecher, deren Verbrechen in rechtsstaatlichen Verfahren nachgewiesen wurden. Einer der Kriegsverbrecher war der NSDAP – Kreisleiter von Görlitz, Bruno Malitz, dessen verbrecherisches Wirken (Abbrennen der Synagoge, Judenpogrom und Deportation, Misshandlung von KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen) mir als Görlitzer seit meiner Kindheit bekannt sind. Ein anderer der in der SBZ/ DDR Verurteilten ist Professor Dr. Hermann–Paul Nitsche, einer der schlimmsten Euthanasie–Mörder von Pirna Sonnenstein. Wenn sie und die anderen unter den 15 Genannten „ Opfer” sind, dann sind sie Opfer der eigenen Verbrechen, die in Nürnberg, Landsberg und Dachau auch gesühnt worden wären. Faulenbach formuliert als eine Art kategorischen Imperativ: „Das stalinistische Unrecht darf die NS–Verbrechen nicht relativieren, die NS–Verbrechen dürfen das stalinistische Unrecht nicht bagatellisieren.” Aber eben das geschieht.
Bleiben wir am Münchner Platz: Zu denjenigen, die von Nazijuristen unter das Fallbeil geschickt wurden, gehörten Dr. Margarete Blank, die sowjetischen Kriegsgefangenen geholfen hat, und der schon erwähnte Reichstagsabgeordnete Georg Schumann, der eine große Widerstandsgruppe „ Freies Deutschland” im mitteldeutschen Raum organisiert hatte. Es muss eine Beleidigung für Antifaschisten sein, mit den Naziverbrechern auf eine Stufe gestellt zu werden. Und eben dieses unerträgliche „ Einebnen” der Hitleropfer mit den „Opfern” nach 1945 war der Hauptgrund für den Protest der Opferverbände, die das Vermächtnis der Naziopfer erfüllen wollen. In Sachsen haben sich die Auseinandersetzungen zugespitzt. Vor dem 60. Jahrestag der Befreiung häuften sich die Tagungen und Konferenzen, in denen nicht an die Naziverbrechen und ihre Urheber erinnert wurde, sondern die Alliierten auf die Anklagebank gesetzt wurden. Das XV. Bautzen – Forum am 13./ 14. Mai 2004 wählte als Thema „ Verfolgung unterm Sowjetstern. Stalins Lager in der DDR.” An der Gedenkstätte Münchner Platz wurde vom 16. Oktober 2004 Ende des Jahres Die Ausstellung„ Verurteilt am Demmlerplatz. Sowjetische Militärtribunale in Mecklenburg – Vorpommern” gezeigt.
Am 20. Februar 2005 lud das Hannah – Arendt– Institut zu einem Forum „ Strategische und ethische Probleme des Bombenkrieges. Das Beispiel Dresden” in das Rathaus ein. Höhepunkt war der Auftritt Frederick Taylors, den Gerhard Besier moderierte. Taylor begründete wie in seinem Buch , dass die Zerstörung Dresdens einer „militärischen Logik” folgte. Es war nur folgerichtig, dass am folgenden 21. Januar 2004 die NPD – Fraktion im sächsischen Landtag der „ Opfer des Bombenterrors” zu gedenken versuchte, den Nazi- Opfern dagegen das Gedenken verweigerte. Es kam zu dem Eklat, der in den Medien und unter Politikern einen Sturm der Entrüstung auslöste. Besonders beleidigend war das (Un-) Wort vom „ Bomben-Holocaust”, das der 31 jährige NPD – Abgeordnete Jürgen Gansel verwendete. (Unsereinem fällt wie Arno Lusiger in der Bundestagssitzung am 27.1.2005 allerdings der Auschwitz–Vergleich Joseph Fischers ein, mit dem der NATO–Einsatz der Bundeswehr in eine „ humanitäre Intervention” verwandelt wurde.)
Die genannten und andere Veranstaltungen reihen sich ein in die Film– und Bücherflut der letzten Monate, in denen die Deutschen aus „einem Volk der Täter” in ein „ Volk der Opfer” mutierten. Dieser Vorgang spiegelt sich auch in den Publikationen des Verlags „ Deutsche Stimme” wider, der jetzt nicht mehr von München, sondern von Riesa aus die Anhänger der NPD bedient.
Der Präsident des Bundestages, Wolfgang Thierse, erklärte das so: „ Ihre Köpfe (gemeint sind die Neonazis, H.S.) kommen aus anderen Regionen Die Neonazi-Ideologen aus dem Westen und Süden haben sich Sachsen geradezu strategisch ausgesucht in der Überzeugung, dass sie dort auf eine verunsicherte Bevölkerung treffen und anknüpfen können an Prägungen aus kommunistischer Zeit. Das hat man im politischen Alltag lange nicht ernst genug genommen.” Das sind Behauptungen, die zu Fragen zwingen: Wo und wie konnten denn die Neonazis gedeihen, ehe sie nach Sachsen kamen? Wer hat denn wie die sächsische Bevölkerung „verunsichert”? An welche Prägungen aus „kommunistischer Zeit” knüpfen denn die Neonazis an? Wer hat sie denn lange nicht ernst genommen? Solche Fragen sind sowohl an sächsische CDU–Politiker zu stellen, die jahrelang behauptet haben, in Sachsen gebe es keine Gefahr von rechts (um so mehr von „ links”) als auch an diejenigen, die ungeniert die Sprache der Neonazis übernommen hatten.
Der Landtagsabgeordnete der Grünen, Dr. Karl -Heinz Gerstenberger, erklärte in der Diskussion, dass die Neonazis lückenlos an die Ideologie der Nazis anknüpfen. Das reizt zu der Frage, um welche Weltanschauung es sich gehandelt hat. Verkürzt: Hitler und die Seinen haben nicht nur Gönner unter den wirtschaftlich Mächtigen gehabt (von denen sich einige auf der Nürnberger Anklagebank wiederfanden), er wurde nicht nur durch die Unzufriedenheit von Millionen in der Weltwirtschaftskrise begünstigt, sie hatten auch eine „konsistente Weltanschauung”.
Die Sicherung der Absichten des kriegssüchtigen Kapitals und die Bedingungen für einen Revanchekrieg waren Bestandteil der Weltanschauung. Zu ihren Elementen gehörten der Antisemitismus, die Rassentheorie, der Antikommunismus, „ Lebensraum” im Osten. Breite Schichten des Bürgertums – Beamte, Lehrer, Pfarrer, Professoren, Geschäftsleute, nicht nur das „ Lumpenproletariat” – folgten begeistert Hitler, auch Offiziere. Keines der „ Kernelemente” der Nazi – Weltanschauung wurde von den Hitler und Goebbels erfunden. Nicht einmal der Schlachtruf „ Revanche für Versailles” war ihre Erfindung. Heute ist zu fragen: Welche Losungen und Argumente wurden in der NPD tradiert? Welche Hilfe erhielten die Neonazis aus der „ Mitte der Gesellschaft”? Hat der „ Paradigmenwechsel” nach 1990 dazu beigetragen, den Neofaschismus wachsen zu lassen? Hat die geforderte und geförderte Gedenkstättenpolitik Wasser auf die Mühlen der Neofaschisten geleitet? Die Frage ist selbst dann legitim, wenn sie negativ beantwortet würde. Warum wurden die Argumente der Rechtsextremen bisher „ in der Sache” nicht widerlegt, wie Wolfgang Thierse und Gerhard Besier in ähnlicher Weise bekunden?
Der konstruktive Streit um solche Fragen müsste meines Erachtens beginnen.
Bundespräsident Roman Herzog hatte nicht zufällig in Dresden und nicht zufällig am 13. Februar 1995 in der Dresdner Kathedrale gemahnt: „ Leben kann man nicht mit Leben aufrechnen, Schmerz nicht gegen Schmerz, Todesangst nicht gegen Todesangst, Vertreibung nicht gegen Vertreibung, Grauen nicht gegen Grauen, Entwürdigung nicht gegen Entwürdigung. Menschliches Leid kann nicht saldiert werden. Es muss überwunden werden durch Mitleid, Besinnen und Lernen.” Wer oder was zwingt die Betreiber der „Gedenkmaschine” ihre unheilvolle „Erinnerungsschlacht” endlos fortzusetzen? Warum? Zu welchem Ende?
Prof. Dr. Horst Schneider, Dresden