Fritz Dittmar:
Es hilft nicht, sich in einem geträumten demokratisch–sozialistischen Wolkenkuckucksheim zu tummeln
DDR konkret
Dies war dir lästig, jenes angenehm?
Bedenke, Tropf: ein Staat ist ein System!
Peter Hacks
Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus
Aber auch wir…
……meinen, dass wir denen, die
Angesichts der heraufkommenden
Bombenflugzeuggeschwader des Kapitals noch allzu lang fragen
Wie wir uns dies dächten, wie wir uns das vorstellten
Und was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach einer Umwälzung
Nicht viel zu sagen haben.
Bert Brecht
Werner Seppmanns Überlegungen zu den Ursachen für die Niederlage des Realsozialismus fassen die Sache am falschen Ende an, und seine Konsequenzen für künftige führen in die Irre.
S. schreibt: „Konzepte einer grundlegenden Umgestaltung…müssen plausibel erklären können, durch welche institutionellen Absicherungen die Prinzipien sozialistischer Demokratie (zu denen die Institutionenkontrolle, die strukturell verankerte Artikulationsmöglichkeit divergierender Auffassungen…und die ..individuellen Grundrechte) gesichert werden können.“Darin ist bereits sein ganzer falscher Ansatz enthalten.
Wenn Menschen heute beginnen, die barbarischen Perspektiven der Imperialismus zu ahnen, dann versuchen sie zunächst, aus Versatzstücken bürgerlicher Kritik an den realen Zuständen eine „Perspektive“ hin zu besseren Zuständen zusammenzubasteln. Motto: „Eine andere Welt ist möglich“, sei es nun ein etwas netterer Kapitalismus, einer mit Tobbinsteuer und Sozialstaat, oder ein „So – oder Sozialismus“ wie Süverkrüp vor langer Zeit sang. Jedenfalls möchten sie dabei den politischen „Sprung über den Graben“ noch vermeiden, sie möchten einen Rückweg in den Schoß der bestehenden Gesellschaft offen halten. Aufgabe linker Theorie ist es, ihnen diesen Weg mit Rücktrittsrecht als unrealistisch nachzuweisen.
Abgeschnitten werden kann der Rückweg aber nur, wenn vorher Klarheit besteht über die Basis des Konflikts, der mit dem Übergang zum Sozialismus gelöst werden muss. Diese Basis ist der Antagonismus, der unversöhnliche Gegensatz, die tödliche Feindschaft zwischen den herrschenden Kapitalisten und der Arbeiterklasse, wenn sie „Klasse für sich“ geworden ist, wenn sie den Kapitalismus überwinden will.
Der Konflikt ist auch keineswegs gelöst mit einem einmaligen „Sturm auf das Winterpalais“ (geschweige mit einer gewonnen Parlamentswahl); danach setzt der verbissene, verzweifelte, in aller Regel blutige Kampf der Kapitalisten um die Beseitigung der Revolution erst ein, danach „werfen sich die gestürzten Ausbeuter…mit verzehnfachter Energie, mit rasender Leidenschaft, mit hundertfachem Hass in den Kampf“ (Lenin, Renegat Kautsky), um die Macht zurück zu erobern.
Anders gesagt: Der Kampf um den Sozialismus ist eine ernste Aufgabe. Es hilft nicht, sich in einem geträumten idealen demokratisch–sozialistischen Wolkenkuckucksheim zu tummeln, das Fell des imperialistischen Bären in kleinen Portionen zu verteilen und den Leuten mit detaillierten Versprechung über künftige Arbeitszeitreduzierungen den Mund wässrig zu machen, wie S. es tut. Das haben vor 200 Jahren schon die Utopischen Sozialisten versucht. Worauf es heute ankommt, ist, den Leuten klar zu machen, dass sie den Bären erlegen müssen.
Wer in diesem Kampf siegen will, darf sich nicht wie S. den Kopf in erster Linie darum zerbrechen, wie „Institutionenkontrolle,… Artikulationsmöglichkeiten divergierender Auffassungen … und die individuellen Grundrechte…“ dafür sorgen, dass die gestürzten Ausbeuter ihre Freiheiten behalten, er muss dafür sorgen, dass den Feinden des Sozialismus die Freiheit zur Konterrevolution verwehrt bleibt.
Vermutlich wird S. einwenden, dass seine Sorge um die demokratischen Rechte nicht den gestürzten Kapitalisten gilt, sondern dem Volk und dem Sozialismus. Aber die Notwendigkeit, die Umwälzung gegen ihre inneren und äußeren Feinde zu verteidigen, die von Marx mit dem Begriff „Diktatur des Proletariats“ gefasst wurde, taucht bei S. an keiner Stelle auf. Wenn das Bewusstsein für diese Notwendigkeit aber fehlt, verwandeln sich alle Freiheiten für das Volk in Freiheiten für die Feinde der Umwälzung, in Freiheiten zur Konterrevolution.
Wer heute den Realsozialismus untersucht, seine Schwächen und Fehler, die Ursachen seiner Niederlage, darf die Frage des Klassenkampfs, die Frage der Macht keinen Moment außer Acht lassen. Sonst übernimmt er zwangsläufig die Ideen und Begriffe, mit denen der Gegner seine Angriffe formuliert, sonst lernt er die Fehler, statt aus den Fehlern zu lernen. So vermisse ich bei S. eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit Begriffen wie Deformation, offenkundige Mängel, Staatszentrierung, mangelnder Zuspruch, Fremdbestimmung, Koalitionsfreiheit, Basiskontrolle, und, und, und.
Betrachten wir einen zentralen Begriff unter dieser Fragestellung genauer: Bürokratie. Nach Marx und Lenin ist sie ein Übel, dass im Sozialismus überwunden werden muss. Was sind ihre Merkmale; wie kann sie überwunden werden?
Im Kampf um die Macht ist gegenüber einem hoch organisierten, in der Machtausübung durch Jahrhunderte geschulten Feind äußerste Konzentration und Zentralisierung der Kräfte der Veränderung objektiv notwendig. Darin liegt noch keine „bürokratische Entartung“. Diese beginnt dort, wo die zentrale Führung „abhebt“, wo sie das Wissen darüber verliert, was die Menschen an der Basis bewegt, wo sie nur dekretiert, statt zu überzeugen, wo sie nicht mehr lernt von denen, die ihre Beschlüsse verwirklichen müssen, wo sie Fehler macht und nicht mehr als Fehler erkennt, wo sie Fehler nicht mehr korrigiert, sondern auf ihnen beharrt.
Dieses Verhältnis zwischen Führung und Basis ist ein Problem der theoretischen Klarheit. Wenn keine Klarheit herrscht, hilft auch die beste „Institutionenkontrolle“ nicht, die Bürokratie zu besiegen. Das kann man gut am Beispiel der Grünen studieren. Sie waren wirklich kreativ mit Maßnahmen wie Frauenquote, Doppelspitze, Amtszeit–Begrenzung, und in dieser Hinsicht können auch linke Bewegungen von ihnen lernen. Trotzdem hat sie das nicht davor bewahrt, zu einer ganz gewöhnlichen, macht– und postengeilen bürgerlichen Kriegspartei zu verkommen.
Umgekehrt: Solange in Russland/der UdSSR die Linie stimmte, blieb die Einheit von Basis und Führung gewahrt, im Bürgerkrieg, bei den Fünfjahresplänen und im Krieg gegen die Faschisten. Und Fehler und sogar Verbrechen der Führung haben damals die Einheit nicht zerstört. Die Entfremdung begann erst in der Ära nach dem XX. Parteitag.
S. stellt es so dar, dass die neuen technologischen Entwicklungen eine neue Qualität in der Mitwirkung und Eigeninitiative der Produzenten ermöglicht und erfordert hätten, eine dem „entsprechende Teilnahme der arbeitenden Menschen an den gesellschaftlichen Lenkungs- und Entscheidungsprozessen“. In diesem Versäumnis sieht er den entscheidenden Grund für die Entfremdung zwischen den Menschen und dem Sozialismus.
Dabei mögen tatsächlich Möglichkeiten ungenutzt geblieben sein. Der entscheidende Grund für die Niederlage lag aber mit Sicherheit nicht hier. Sonst möge S. mal erklären, wieso im Zeitalter von Internet und GPS die wissenschaftlich-technische Intelligenz in den großen Konzernen nicht längst zu einer revolutionären Kraft gegen den Imperialismus geworden ist, warum sie sich mit den Brosamen von der Konzerne Tisch zufrieden zeigt, statt die Verwirklichung ihrer Möglichkeiten zur Schaffung einer menschlichen Welt einzufordern.
Statt also über den Frust der Intellektuellen im Realsozialismus zu spekulieren, will ich ein paar konkrete Fehler des Realsozialismus nach dem XX. Parteitag nennen und ihre politischen Auswirkungen erwähnen.
Chruschtschow vertrat die später von Gorbatschow wiederholte These von der „Friedensfähigkeit des Imperialismus“. Damit wurde das Bewusstsein der Werktätigen gebrochen, dass der Kampf um den Sozialismus bis zum weltweiten Sieg ein Kampf auf Leben und Tod bleibt, ob der Gegner nun von Hitler oder von Kennedy repräsentiert wird. Wie sollten die Menschen zu schmerzhaftesten Opfern für die Landesverteidigung bereit sein, wenn man sich mit dem Gegner auch arrangieren konnte? Der leninsche Begriff der „friedlichen Koexistenz“wurde von Chruschtschow verdreht von einem Kampfbegriff zu einer Parole der Illusionen.
Die Behandlung von Stalin und seiner Zeit auf dem XX. Parteitag war ein weiterer Schritt, die Unterstützung für den Kommunismus zu zerstören. Wenn man Stalins Taten aus ihrem historischen Zusammenhang löst, müssen sie als ausschließlich brutal und verbrecherisch erscheinen. Der wirkliche Zusammenhang war aber der bevorstehende Entscheidungskampf mit dem Imperialismus, mit dem deutschen Faschismus. Berücksichtigt man das, erkennt man vieles als unvermeidliche Notwehrmaßnahme, was so einfach nur verurteilt wurde.
Nachdem so die Überzeugung der Menschen erschüttert war, dass sie für eine gerechte und menschliche Sache einstehen, versprach ihnen Chruschtschow den Überganz zum Kommunismus in 20 Jahren. Damit konnte er die Menschen so lange bei Laune halten, bis das Kartenhaus einstürzte. Eher rasch mussten sie den Gegensatz erkennen zwischen den real erreichten und erreichbaren Fortschritten und den vorher geweckten Illusionen.
Um die Illusionen länger aufrecht zu erhalten, wurde die Wirtschaftspolitik geändert. Der Schwerpunkt der Investitionen wurde von der Abteilung I (Investitionsgüter) zur Abteilung II (Konsumgüter) verschoben. Das bedeutete, die Lage der Menschen kurzfristig zu erleichtern, anstatt dauerhafte Verbesserungen in der Zukunft vorzubereiten. In der DDR unter Honnecker hieß das „Einheit von Wirtschafts– und Sozialpolitik“.
Allein diese vier Punkte führten dazu, dass im Realsozialismus in den siebziger Jahren eine Stagnation einsetzte, und die Menschen den Glauben an ihre Sache verloren. Ihren Abschluss fand diese Stagnation mit der Liquidierung des Realsozialismus durch Gorbatschow. Nachträglich betrachtet, ist es eigentlich weniger erstaunlich, dass der Realsozialismus schließlich beseitigt wurde, es verwundert vielmehr, dass er sich trotz der grundlegenden Fehlentwicklung noch so lange gehalten hat.
Fritz Dittmar, Hamburg