Prof. Dr. Ingo Wagner:
Leserbrief zu offensiv 10/2001: „Genosse Domenico Losurdos ‚Flucht aus der Geschichte’” von Kurt Gossweiler
Als ich die in der „jungen Welt” vom 15. bis 23. März 2000 veröffentlichte Studie Losurdos „Flucht aus der Geschichte” las, wurde ich von argen Zweifeln geplagt, die sich in Fragezeichen, kritischen Randbemerkungen und Notizen niederschlugen. Die von Kurt Gossweiler vorgelegte Studie habe ich deshalb aufmerksam und mit großer Spannung gelesen.
Glückwunsch! Diese kritische Auseinandersetzung war dringend geboten. Gossweiler rückt auf der Grundlage seines umfassenden, gediegenen historischen Fundus und einer überzeugenden Handhabung der dialektisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung vieles gerade – ohne das Positive der Argumentation Losurdos zu verkennen. Bei der Herangehensweise an die diesbezüglichen Probleme kann man natürlich auch in diesen oder jenen Fragen methodologisch-theoretisch etwas anderer Auffassung als Gossweiler sein. Aber entscheidend ist der Haupttrend seiner Auseinandersetzung mit Losurdo, den ich ohne jede Einschränkung unterstütze. Denn er macht kenntlich, dass es sich hier nicht um „normale” Irrtümer bei weiteren marxistischen Erkenntnissen sozialer Prozesse handelt, ohne die es auch bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus nicht abgeht. Auch aus Sicht dialektisch-materialistischer Geschichtsbetrachtung ist der Irrtum eine Form des Wissens vom Unbekannten, der neben der Wahrheit als integrierendes Moment des sozialen Erkenntnisprozesses erscheint. Gossweiler macht aber deutlich – und dies ist auch mein Haupteinwand zu Losurdo -, dass die Verurteilung der Losung: „Zurück zu Marx” die Aufgabe der Positionierung von Marx und Engels hinsichtlich ihrer Theorie vom Kommunismus bedeutet, der letztlich die Schuld am Untergang der Sowjetunion angelastet wird.
Mit der Entstellung der Aussagen von Marx und Engels über das Absterben des Staates führt Gossweiler eine zutreffende Diskussion, die vielleicht einer Ergänzung durch Lenins Position zum sozialistischen „Halbstaat” bedurft hätte. Überzeugend weist Gossweiler den Anarchismus-Verdacht Losurdos gegenüber Marx und Engels in die Schranken. Er folgert u. a., völlig zutreffend, dass wir uns aus der Verwirrung, die Losurdo angereichert hat, am besten dadurch befreien, „daß wir die von Losurdo verworfene Losung wiederaufnehmen und erweitern: Zurück zu den Quellen, zu Marx und Lenin und ihrer konsequent historisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung!
Ich erlaube mir den Zusatz: Und auf dieser Grundlage jede (theoretische und normative) These des wissenschaftlichen Sozialismus historisch betrachten und mit den aufhebenswerten Errungenschaften der modernen Sozialwissenschaften und den konkreten Erfahrungen der Geschichte verbinden und so den wissenschaftlichen Sozialismus schöpferisch weiterführen.
Der Offensiv-Redaktion gebührt Dank für die Herausgabe dieses Sonderheftes, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Prof. Dr. Ingo Wagner, Leipzig