Rolf Vellay:
“…Ohne Kenntnis der SED-Führung…”!
Diskussionsbeitrag von Rolf Vellay zum „Dialogpapier” SED – SPD, gehalten beim Symposion „Deutsch-deutsche Beziehungen auf dem Prüfstand der Geschichte” der Arbeitsgemeinschaft Geschichtsforschung der Marx-Engels-Stiftung am 11./12. Dezember 1993 in Wuppertal.
Bei einer Veranstaltung des IMSF in Frankfurt im Herbst 1987 referierte der damalige erste Mann der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Prof. Otto Reinold, das kurz zuvor veröffentlichte so genannte „Dialogpapier” zwischen SED und SPD. In einer Pause brachte ich gegenüber Prof. Reinold meine Bedenken zu solcher Art ideologischer Gemeinsamkeit mit der SPD vor. Er tat sie ab mit der Bemerkung” „Wir müssen es versuchen, vielleicht lohnt es sich”. Ich nahm es zur Kenntnis, ohne überzeugt zu sein – aber wie kam unsereiner als Basiskommunist dazu, die bei den besten Köpfen unserer Ideologie-Arbeit konzentrierte Weisheit in der Konkretisierung marxistisch-leninistischer Politik in Frage zu stellen?
Heute wissen wir: „Es hat sich gelohnt!” – aber für die Sozialdemokratie, die heute wie eh und je in ihrer Führung nichts anderes ist als die, wie Lenin sie zu seiner Zeit apostrophierte, „sozialchauvinistische” Fraktion des deutschen Imperialismus. Heute stellt sich die Übereinkunft zum „Dialogpapier” dar geradezu als Krönung der einst von Egon Bahr in die Wege geleiteten Politik des „Wandels durch Annäherung”. Der damalige Außenminister der DDR, Otto Winzer, hatte noch genügend Scharfblick, um diese Politik als Konterrevolution auf Filzlatschen” treffend zu charakterisieren. Das war die Aktualisierung und konkrete Nutzanwendung in der Tagespolitik der Aussage Lenins in „Staat und Revolution”, die Führer der Zweiten Internationale seien „Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung”.
Noch in den 70er Jahren war diese Einsicht in der kommunistischen Weltbewegung und insbesondere in der gerade wieder legal gewordenen kommunistischen Partei der Bundesrepublik Deutschland lebendig – wie anders sonst hätte der unvergessene Max Schäfer, zu der Zeit Chefredakteur der „Marxistischen Blätter”, in der Ausgabe 8/73 von „Probleme des Friedens und des Sozialismus” als Resumée einer kritischen Auseinandersetzung mit der damals von der SPD als Gegenpol zu unserer Ideologie vertretenen These vom „demokratischen Sozialismus”, folgendes schreiben können: „Eine Untersuchung der Konzeption des „demokratischen Sozialismus” führt zu dem Ergebnis, das in den Thesen des Düsseldorfer Parteitages der DKP mit folgenden Worten festgehalten wird: <Der so genannte demokratische Sozialismus ist nicht etwa eine Variante der sozialistischen Ideologie und steht auch nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Er ist vielmehr Bestandteil imperialistischer Ideologie und Politik. Er kämpft gegen den Sozialismus und dessen Ideologie vom Standpunkt des staatsmonopolistischen Kapitalismus>”.
Noch im Jahr 1977 heißt es in der Unterrichtsvorlage des „MSB Spartakus” zum ersten Ausbildungsthema „Kautsky – ein Vorläufer des demokratischen Sozialismus” über selbigen: „Er (der demokratische Sozialismus, d. Verf.) dient der Reformierung des imperialistischen Systems und der Integration der Arbeiterbewegung und der Linkskräfte”. An anderer Stelle wird festgehalten, „dass der demokratische Sozialismus nicht wesensverschieden ist von der herrschenden Klasse” und schließlich: „Der demokratische Sozialismus fungiert als Konjunktursozialismus und als Integrationsideologie gegenüber der linken Basis der Sozialdemokratie”.
Wer heute unter der Flagge des demokratischen Sozialismus segelt, ist ja landläufig bekannt, und dass es dieses Phänomen gibt, beweist, als wie tauglich sich der demokratische Sozialismus als „Integrationsideologie” gegenüber bestimmten Kräften in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und darüber hinaus bis hin zu mindestens einem Bezirkssekretär der SED und sogar bis ins Politbüro hinein erwiesen hat.
Denn inzwischen hatte reichlicher Genuss der bekannten Wodka-Marke „Gorbatschow” und der triviale „Friedensfusel” der achtziger Jahre die Verstandeskräfte verantwortlicher Leute offenbar so weit beeinträchtigt, dass man dem Imperialismus „Friedensfähigkeit” zusprach. Dazu muss man fragen: „Warum dem Imperialismus etwas zusprechen, wessen er offenbar nicht entbehrt?” Denn, wären die imperialistischen Mächte nicht auch „friedensfähig”, würden sie ja nicht nur von Zeit zu Zeit, sondern ununterbrochen Krieg führen! Was die Autoren des den Befürwortern eines „Eia-Popeia-Friedens” so verführerisch in den Ohren klingenden Begriffes wirklich meinten, war, den Imperialismus „kriegsunfähig” zu machen – was allerdings nicht anders möglich ist, als ihm seine Herrschaftsgrundlage revolutionär zu entziehen. Und um eben von dieser unausweichlichen Notwendigkeit – wenn man denn der Menschheit den Frieden dauerhaft sichern will – nicht reden zu müssen, wurde die Basis unter Missbrauch des ehrlichen Friedenswillens der einfachen Menschen mit dem Scheinbegriff der „Friedensfähigkeit” des Imperialismus ideologisch entwaffnet.
Hans Peter Brenner hat dankenswerter Weise in einem Beitrag in der UZ vom 10. April 1992 dargelegt, dass eben diese ideologische Entwaffnung der Kommunisten sorgfältig geplanter Teil der Langzeitstrategie des US-Imperialismus war. Er weist ferner darauf hin, welche Rolle die Sozialdemokratie bei der ideologischen Unterwanderung gespielt hat und dass dieses obskure so genannte „Ideologie”-Papier von Anfang an nichts anderes als Teil dieser Unterwanderungs-strategie war und der ideologischen Aushöhlung des real existierenden Sozialismus diente – wozu sich inzwischen explizit ja auch die damaligen SPD-Protagonisten Eppler, Bahr und Vogel offen bekennen – so noch jüngst in der Enquete-Kommission des Bundestages zur Erforschung der DDR-Geschichte.
Wie aber war es denn möglich, dass trotz der vorhergehend zitierten Einschätzungen der Sozialdemokratie und des „demokratischen Sozialismus” durch Lenin, Otto Winzer, Max Schäfer usw. diese Politik Erfolg haben konnte? Heute kann man sagen, dass das nur möglich war, weil die Sozialdemokraten auf der anderen Seite Partner hatten, die mit gezinkten Karten spielten. Den authentischen Beweis dafür, dass dem so ist, liefert ein Interview mit Prof. Rolf Reissig, ehemals führendes Mitglied der ZK-Akademie, das er dem Deutschlandfunk am 8. August 1992 aus Anlass des 5. Jahrestages der Veröffentlichung des „Ideologiepapiers” gab. Eingangs des Interviews führte Reissig zu der Frage, welche Bedeutung das Papier für die SED-Führung hatte, aus: „Hier ist etwas ganz Eigenartiges geschehen. Dieses Papier ist eben nicht von der SED-Führung initiiert worden, ist nicht von ihr ausgearbeitet worden, auch nicht in ihrem Auftrag, nicht von ihr kontrolliert. Das mag viele überraschen, aber es ist so. Es ist von uns im ganz kleinen Kreis erarbeitet worden, ohne Kenntnis der SED-Führung, weil wir immer der Meinung waren, das Papier wird so nicht durchgehen, das wird abgelehnt werden, wir warten bis zuletzt, bis eine günstige Gelegenheit entsteht, um dann in einem Überraschungsmoment dies uns bestätigen zu lassen. Das ist gelungen.”
Was Reissig hier erklärt, heißt nichts anderes, als dass im ideologischen Zentrum der Partei hinter dem Rücken der Führung unter Verschweigen der wahren Absichten gearbeitet wurde. Es ist dies – aus meiner vielleicht als „orthodox” empfundenen Sicht – das Schlimmste, was ein Kommunist parteiintern tun kann! Reissig weiter, befragt nach der Wirkung des Papiers in der SED: „In der SED-Basis hat es wie eine Lawine gewirkt, darf man sagen. Es hat eine Diskussion ausgelöst, zumindest wie ich sie seit dem Prager Frühling 68 nicht mehr gekannt habe. Es war ein Aufruf im Grunde genommen nach einem Einstieg in eine DDR-spezifische Perestroika- und Glasnostpolitik, es war ja doch ein Bruch mit der Realität der DDR und mit der Politik der SED, mit der Informationspolitik, mit der Medienpolitik, mit der Verweigerung des Dialogs, mit der Propagierung der Feindbilder, einem überlebten, aggressiven Imperialismusbild, einer Konzeption von revolutionären Weltprozessen – das alles wurde dort in Frage gestellt.”
Ganz genau so, denke ich, haben sich die Planer der ideologischen Diversion auf der Gegenseite die Wirkung der Tätigkeit derjenigen, die objektiv die Rolle ihrer Handlanger im Innern der Partei spielten, vorgestellt. Schwerpunkt: „Bruch mit einem überlebten, aggressiven Imperialismusbild” – statt dessen Ronald Reagen mit der Friedenspfeife, Helmut Kohl mit Appetit höchstens auf Pfälzer Saumagen statt auf die DDR – und die Bundeswehr als die „größte deutsche Friedensbewegung” im Rahmen des „friedensfähigen Imperialismus”!
Schließlich bekennt sich Reissig zur unmittelbar konterrevolutionären Zielsetzung des Papiers – oder wie anders soll man folgende Passage aus dem Reissig-Interview verstehen? Auf die Frage, welche Bedeutung das Papier damals denn für die oppositionellen Gruppen in der DDR gehabt habe, antwortete Reissig: „Als wir das Papier ausarbeiteten, spielte das eine große Rolle. Natürlich war zunächst ein Papier gedacht zwischen der Staatspartei SED und der SPD zur Entwicklung des Aussen- und des Innendialogs. Gleichzeitig war in diesem Papier der Gedanke, die Opposition – dort formuliert als Individuen, Bürger, Gruppen aller Art – soll in den Dialog einbezogen werden.”
Was heißt das, „die Opposition einbeziehen”? Das heißt nichts anderes, als Hilfestellung leisten für die Mobilisierung der Konterrevolution aus der Partei heraus! Wenn man ein solches Eingeständnis heute liest, versteht man den November 89 und begreift jetzt, warum die Partei kampflos vor Bärbel Boley und Pfarrer Eppelmann mit Kerzchen in der Hand und der Forderung nach „Freiheit für Andersdenkende” auf den Lippen kapitulierte!
Schließlich bestätigt Reissig genau die Einschätzung der sogenannten „Entspannungspolitik” durch Otto Winzel als „Konterrevolution auf Filzlatschen”. Gefragt zu dem im Zusammenhang mit dem Papier der SPD gegenüber erhobenen Vorwurf, sie „biedere sich der SED an”, erklärte Reissig: „Ich fand das nicht. Ich glaube, es war die Fortsetzung, allerdings in neuer Form, der SPD-Entspannungspolitik, die nun erweitert werden sollte um eine Dimension, die man bisher ausgeklammert hatte, die Dimension des Ideologischen…”
Abschließend nach seiner jetzigen Einschätzung des „Dialog”-Papiers befragt, bewertete es Reissig auch heute noch (8. August 1992; Red. Offensiv) als für die damalige Situation positiv. Angesichts der seither eingetretenen Entwicklung mit ihren katastrophalen Folgen sprich eine solche Äußerung für sich selbst und bedarf aus meiner Sicht keines weiteren Kommentars.
Rolf Vellay, 12. Dezember 1993