Hans Heinz Holz: Richtungskämpfe müssen ausgefochten werden.
Zwei Linien in einer Partei?
Über den programmatischen Streit in europäischen kommunistischen Parteien
Gegenwärtig werden die kommunistischen Parteien von heftigen Richtungskämpfen erschüttert. Ob in Italien die Rifondazione Comunista, in Frankreich die Parti Comuniste, in Spanien die kommunistische Linke, in Österreich die Kommunistische Partei oder in Deutschland die DKP – überall finden Auseinandersetzungen um die Programminhalte und Parteilinie statt. Es wäre falsch, hier einfach von Opportunismus und Reformismus einerseits, von Orthodoxie und Dogmatismus andererseits zu sprechen. Vielmehr müssen die Ursachen geklärt werden, aus denen die Richtungsdifferenzen hervorgehen, um die Wiederherstellung der gemeinsamen Grundlagen kommunistischer Politik in Angriff nehmen zu können.
Die Erklärung Otto Bruckners zu seinem Austritt aus der KPÖ ist ein Indiz für die tiefen persönlichen Zerwürfnisse, die sich aus dem Kampf um eine Rekonsolidierung kommunistischer Identität ergeben haben. Richtungskämpfe werden als Machtkämpfe ausgetragen. Machtkämpfe machen sich an Personen fest. Das ist ein organisationssoziologischer Mechanismus, der durchbrochen werden muß. Es geht darum, daß kommunistischen Parteien die Klarheit ihrer revolutionären Programmatik, ihres marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnisses in einer defätistischen Reaktion auf die Niederlage abhanden zu kommen droht. Die Reaktion darauf kann nicht sein, die Partei zu verlassen, sondern sie von ihren Wurzeln her zu festigen. Und das schließt den Kampf gegen falsche »Erneuerungs«parolen und gegen eine Reduktion auf eine verschwommene »linke« Emotionalität ein. Darum müssen Richtungskämpfe ausgefochten und dürfen nicht unter einem scheinbaren Einverständnis versteckt werden.
Die Niederlage des Sozialismus in der Sowjetunion hat die kommunistischen Parteien Europas in eine tiefe Krise gestürzt. Ich betone: Europas. Denn kommunistischer Kampfgeist ist in Indien und Lateinamerika, im Nahen Osten und in Südafrika und anderen Gegenden der kapitalistischen Welt ungebrochen. Deren Verbindung mit der nationalen Befreiung aus der Abhängigkeit von den imperialistischen Metropolen bedeutet für die soziale Revolution einen bodenständigen Kraftquell, der Widerstand gegen den Imperialismus hat hier eine zweifache Wurzel.
Anders in Europa. Der Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg, der Aufstieg zur zweiten Weltmacht und zum Träger einer internationalen Politik des Friedens – so prekär er auch immer sein mochte – machte die Sowjetunion zum zentralen Orientierungspunkt der kommunistischen Parteien. Als dieses stabilisierende Zentrum zerbrach, zerfiel auch die identitätsstiftende Einheit der weltpolitischen Zielsetzung.
Ursprünge der Krise
Die außenpolitische Stärke des sozialistischen Gesellschaftssystems hatte manche innere Schwächen verdeckt. Mängel und Stagnationserscheinungen waren als nebensächlich abgetan worden oder verschwanden in der großen welthistorischen Perspektive. Daß mit der sozialistischen Produktionsweise die sich viel langsamer vollziehende Entwicklung sozialistischen Bewußtseins nicht Schritt hielt, blieb in einer technizistisch-ökonomistischen Fortschrittskonzeption oft unbeachtet; der ideologische Klassenkampf erlahmte oder nahm rituelle Formen an, die der Differenziertheit der Probleme nicht gerecht wurden. Das Verändern der Eigentumsverhältnisse hat nicht gleichzeitig den Wandel der Klassenverhältnisse zur Folge, zu denen eben auch das Bewußtsein gehört; beide verlaufen als ungleichmäßiger Prozeß.
Die auf Standards der bürgerlichen Welt ausgerichtete Konsumkonzeption und die moralisierende Verurteilung statt historisch analysierender Kritik der während der Konsolidierungs- und Abwehrphase im Aufbau der Sowjetunion begangenen Verbrechen hatten seit dem XX. Parteitag der
KPdSU eine Unsicherheit in Wertmaßstäben und Selbstbewußtsein der Kommunisten erzeugt, die nicht nur den Widerstand gegen die Gorbatschowsche Konterrevolution lähmte, sondern auch die Infiltration bürgerlicher Ideologie in die westeuropäischen kommunistischen Parteien begünstigte.
Die Ereignisse der Jahre 1989/90 sind nur die letzte Phase dieser Entwicklung gewesen. Phänomene wie der »Euro-Kommunismus«, die Illusionen des »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, die »Erneuerer-Fraktion« in der DKP und ähnliche Erscheinungen in anderen europäischen kommunistischen Parteien gingen voran; ideologische Anfänge reichen bis in die endsechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.
In den Ländern des sozialistischen Aufbaus wurden die Gesellschaftswissenschaftler vielfach zu Legitimationsinstrumenten der gerade betriebenen praktischen Politik und verloren die Funktion, in kritischer Auseinandersetzung mit der Realität vorwärts weisende Impulse auszulösen. Damit begab sich auch die Partei ihrer Avantgarderolle, die ja im Aufbau des Sozialismus darin zu bestehen hätte, sowohl einerseits die Stabilität der bestehenden sozialistischen Gesellschaft zu verteidigen, als auch andererseits kritisch über den jeweils erreichten Zustand hinaus auf die nächsten Schritte zum Kommunismus zu drängen. Die Selbsttäuschung, man sei bereits auf der Stufe eines »entwickelten Sozialismus« im Übergang zum Kommunismus mußte Enttäuschungen gegenüber dem tatsächlichen Zustand der Gesellschaft befördern. Die während des Aufbaus des Sozialismus fortbestehenden Klassenstrukturen und darin begründete Einstellungen wurden harmonisierend verdrängt und zeigten sich erst in dem Augenblick, als die sozialistische Gesellschaft gegen die Konterrevolution hätte verteidigt werden müssen.
Weltpolitische Rahmenbedingungen
Die weltpolitische Konstellation begünstigte die gesellschaftspolitische Stagnation und Pragmatik in den sozialistischen Staaten. Umringt von den durch permanente Hochrüstung immer bedrohlicher werdenden imperialistischen Mächten unter der Führung der USA war die Politik der sozialistischen Länder vordringlich auf die Erhaltung des Friedens und die Stärkung der Friedenskräfte ausgerichtet. Das bedeutete auf allen Ebenen die Herstellung breiter Bündnisse über die Klassenfronten hinweg, unter Zurückstellung revolutionärer Ziele der kommunistischen Parteien.
Es gibt keinen Zweifel, daß diese strategische Orientierung richtig war. Angesichts der Gefahr eines Krieges mit atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen hatte die Friedenssicherung höchste Priorität. Eine solche Politik erfordert jedoch ein subtiles Auspendeln zwischen der Pragmatik alltäglichen Handelns und dem Festhalten an den Prinzipien revolutionärer Gesellschaftsveränderung. Statt dessen wurde die Politik der friedlichen Koexistenz mehr und mehr zu einem Prozeß der Öffnung für kapitalistische Einflüsse – ökonomische und idologische. Selbstverständlich mußte es auch zu Widersprüchen zwischen nationalen Kampfbedingungen und Klasseninteressen und den weltpolitischen Belangen der Vormacht Sowjetunion kommen, die theoretisch hätten verarbeitet und ausgeglichen werden müssen, statt dessen aber verkleistert wurden. So verblaßte das Bewußtsein von der Universalität des Klassenkampfs und der Einschätzung seiner verschiedenen Fronten und Kampfformen und des Zusammenhangs zwischen ihnen.
Voraussetzungen des Reformismus
Wo kommunistische Parteien stark waren und parlamentarische Mehrheiten in Provinzen und Kommunen erringen konnten (wie z.B. in Italien und Frankreich), wurden sie mehr und mehr in die bürgerliche Staatlichkeit eingebunden; sie waren genötigt, praktische politische Verantwortung im Rahmen eines gesamthaft hochkapitalistischen Systems zu übernehmen und wurden damit praktisch auf die Möglichkeit systeminterner Reformen beschränkt. Wider Willen reduzierte sich dann kommunistische Politik auf den Bereich sozialdemokratischer Strategien und entwickelte auch ihre theoretischen Fragestellungen im Hinblick auf diese zu bewältigenden Aufgaben. Der Abstieg des italienischen PCI von Togliatti bis zu d’Alema belegt diesen Gang der Dinge.
So gab es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den nationalen kommunistischen Parteien Europas mehrere objektiv widersprüchliche Tendenzen, die zu einem Abbau revolutionären Potentials führten und die ideologische Integration förderten: Die relative Unbeweglichkeit der weltpolitischen Blockbildung zweier antagonistischer, aber koexistierender Gesellschaftssysteme; die Rücksichtnahme auf Partner klassenübergreifender Bündnisse im Friedenskampf; das Versanden des Klassenkampfs in den im Aufbau begriffenen sozialistischen Gesellschaften und die damit verbundene Fortdauer bürgerlicher Bewußtseinsinhalte, die auch auf die Ideologiebildung der westlichen Parteien abfärbte; die Konzentration auf (wenigstens vorläufig) reformerische Aktivitäten im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus, auf den ja auch außerparlamentarische Bewegungen bezogen blieben. Wie auch immer subjektiv die Handelnden ihre Absichten verstanden haben mögen – objektiv vollzog sich eine »Sozialdemokratisierung« der kommunistischen Parteien in der Praxis, während in den Köpfen das revolutionäre Selbstverständnis erhalten blieb. Diese Konsequenz, die im politischen Alltag nicht offen in Erscheinung trat, mußte im Augenblick der Krise ihre Wirkungen zeigen.
Mit der Zerschlagung des sozialistischen Blocks änderte sich die Lage für die kommunistischen Parteien. Die Koordination unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Stärkung des sozialistischen Lagers und die Unterordnung nationaler Interessen unter dieses gemeinsame weltpolitische Ziel entfiel. Ihre nationalen Strategien waren aber auf pragmatisches Handeln im Rahmen bürgerlicher Gesellschaften angelegt. Das konnte nicht ohne Folgen für ihre politische Neupositionierung bleiben.
Das sozialistische Ziel
Die Niederlage des Sozialismus in Osteuropa und der vorläufige Sieg des Kapitalismus hatten mit der Schwächung der Arbeiterbewegung einen immensen Restaurationsschub zur Folge. Ausgerichtet auf die bürgerliche Gesellschaft und in ihrer Mitgliederzahl stark geschrumpft, sehen die kommunistischen Parteien heute ihre Aufgabe in der Verteidigung der in den vergangenen Jahren erreichten Reformen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse. Widerstand gegen den rücksichtslosen Sozialabbau, gegen die Weltherrschaftsansprüche des US-Imperialismus, gegen die Formierungsideologie des Neoliberalismus sind die Kampfziele, die die gebliebene Anhängerschaft mobilisieren. So weit, so gut. Aber politische Defensive ist kein positives Ziel. Sie wird, insbesondere aus der Position der Schwäche, der offensiven Ausbeutungsstrategie der herrschenden Klasse immer unterlegen sein und selbst trotz möglicher Zwischenerfolge schließlich eine Niederlage erleiden. Nur im Angriff auf die Wesensverfassung des Kapitals können die Ziele formuliert werden, die in einem langen und opferreichen Kampf mehr und mehr die Massen ergreifen und in Bewegung versetzen.
Ziele benennen eine Zukunft, sie sind Inhalt einer Weltanschauung. Die Weltanschauung, die dem Kapitalismus revolutionäre Ziele entgegensetzt, ist die Theorie von Marx, Engels und Lenin und den auf sie folgenden marxistischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie ist der begründete Entwurf einer offensiven Strategie zur Gesellschaftsveränderung. In einer defensiven Haltung kann man wenig mit ihr anfangen; sie bleibt dann ein »Hintergrundrauschen«. An der Ernsthaftigkeit, mit der der Marxismus-Leninismus zum Leitfaden und Inhalt des Handelns gemacht wird, erweist sich die Klarheit kommunistischer Politik. In voller Offenheit und mit aller Radikalität ist sie die Voraussetzung, die verunsicherten und nach Orientierung suchenden Massen zu gewinnen; nicht durch Eingehen auf ihre Unsicherheit, sondern durch kämpferische Darstellung einer Alternative, die sich auf den Schauplätzen des Klassenkampfs bewährt. Das kann für eine Partei eine lange Durststrecke bedeuten, aber ohne Bereitschaft dazu wird sie das System nicht aufbrechen.
Viel Taktik und keine Strategie
Hier scheiden sich die Geister! Wer schon aus den vergangenen Jahren die Einpassung in die Mechanismen des Systems mitbringt, wird in der Niederlage lieber an den vertrauten Mustern festhalten und den scheinbar so hoffnungslosen Sprung in eine offensive Minderheitenstrategie nicht wagen. Auch wenn ich eine andere Position vertrete und sie mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte untermauern könnte, meine ich das nicht als Vorwurf. Es ist durchaus verständlich und ehrenhaft, einen einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Nur ersetzt der Respekt vor dem ehrlichen Willen nicht die Analyse der Wirklichkeit! Und die zeigt, daß Pragmatik und Anpassung, Defensive und Preisgabe grundsätzlicher Erkenntnisse zum Reformismus führen, in dem die weltgeschichtliche Programmatik des Kommunismus untergeht.
Wer also mit Marx radikal sein will, d. h. an die Wurzeln gehen, um nicht die Symptome, sondern die Ursachen des menschenverachtenden, menschheitsbedrohenden Kapitalismus zu beseitigen, der muß von den Grundkenntnissen des Marxismus-Leninismus ausgehen. Er muß, nicht nur verbal, sondern in der Praxis an der Lehre vom Klassenkampf festhalten, muß seinen Klassenstandpunkt bestimmen und zur Geltung bringen. Er muß die Dialektik der Widersprüche und das Verhältnis von Wesen und Erscheinung begreifen und danach sein Handeln einrichten. Jede kommunistische Bewegung bedarf dieses revolutionären, klassenbewußten, theoriegeschulten Kerns, der sie davor bewahrt, sich in den Opportunitäten der täglich notwendigen Entscheidungen und Kompromisse zu verlieren.
Das ist der grundsätzliche Gegensatz in den Richtungskämpfen, die heute in den kommunistischen Parteien ausgefochten werden. An welchen konkreten Problemen sie sich auch entzünden mögen – Imperialismusfrage, Globalisierung, Sozialismusvorstellungen, Parteiverständnis, Bündnisperspektiven – immer geht es letztlich darum, ob eine defensive und pragmatische oder eine offensive und prinzipienfeste Politik gemacht werden soll.
Kommunistische Identität
Aber sind wir nicht durch die Niederlage des Sozialismus in die Defensive gedrängt? Müssen wir nicht auf eine multimediale Gehirnwäsche Rücksicht nehmen, die den gesamten Versuch, den Sozialismus aufzubauen, als eine Summe von Fehlern und Verbrechen darstellt? Ist der Sozialismus nicht wirklich an seinen Mängeln gescheitert? Müssen wir nicht liebgewordene Vorstellungen aus der Vergangenheit revidieren? Natürlich sind diese Fragen berechtigt. Aber wer so fragt, will Antworten, ehe er die Sache begriffen hat. Die Sache ist: Es gab den Sieg der Oktoberrevolution und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft unter den schwierigsten Bedingungen der ökonomischen und politischen Unreife, der aggressiven Einkreisung, der konterrevolutionären Klassenkämpfe. Es gab den Aufstieg dieser Gesellschaft zur zweiten Weltmacht, den Sieg über den deutschen Faschismus. Es gab eine grandiose soziale Besserstellung und kulturelle Bildung der Massen. Die Sache ist auch: Dieser Weg forderte ungeheure Opfer. Auf ihm wurden auch Verbrechen begangen, die nicht hingenommen und gerechtfertigt werden dürfen. Es gab schließlich eine bürokratische Erstarrung, die die Initiative der Menschen lähmte und die Weiterentwicklung zum Erliegen brachte.
Kommunisten brauchen sich dieser Epoche nicht zu schämen. Ihre Aufgabe ist zu erklären, wie aus den Widersprüchen, unter denen das Positive geleistet wurde, das Negative entsprang. Sie müssen die Dialektik der Geschichte begreifen. Nur so kann für die Zukunft gelernt werden, was getan werden muß und was zu vermeiden ist. Die Entwicklung der Menschheit verläuft nicht in der Harmonie des Ideals, »hart im Raume stoßen sich die Sachen« (Schiller). Wer die Geschichte moralisierend betrachtet, bezieht den kleinbürgerlichen Ort des Lehnstuhls hinter dem Ofen. Auch das ist ein Aspekt des Richtungsstreits in den kommunistischen Parteien.
Wir haben nicht nur die politische Schlacht um den Sozialismus verloren, sondern auch die weltanschauliche um unser Geschichtsverständnis. Das theoretische Instrument der materialistischen Dialektik ist uns entglitten. Kleinbürgerliche Ideologie ist in den wissenschaftlichen Sozialismus eingesickert. Gegen die eine wie die andere Niederlage gilt es, offensiv den Kampf aufzunehmen und das heißt auch: Die Identität der kommunistischen Bewegung in ihrer Gesamtheit zu bewahren. Das ist die richtige Richtung, und darum sind die gegenwärtigen Richtungskämpfe ein notwendiger Klärungs- und Reinigungsprozeß, dessen es bedarf, um dem Ziel des Sozialismus wieder ein solides organisatorisches Fundament zu geben. junge Welt, 8./9. 1. 2005;
Hans Heinz Holz, S. Abbondio