Welträtsel oder Klassenkampf ?

Heinz Hoffmann:

Welträtsel oder Klassenkampf ?

(Vorbemerkung der Redaktion: Heinz Hoffmann hatte an den Vorsitzenden des RotFuchs-Fördervereins, Rolf Berthold, nach der Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Gründung der SED, die der RotFuchs gemeinsam mit Freunden und Bündnispartnern organisiert hatte, u.a. geschrieben: „Im Besitz der Rede des stellv. Vorsitzenden des RotFuchs-Fördervereins e.V. Prof. Dr. Dieckmann, welche dieser aus Anlass des 60. Jahrestages der Gründung der SED hielt, kann ich nicht umhin, dazu einige kritische Bemerkungen zu machen. Diese habe ich als Anlage beigefügt. (…) Ich halte es für legitim, der großen Leserzahl des RotFuchs nicht nur die Auffassungen von Prof. Dieckmann (oder des RotFuchs-Vorstandes?) zur Kenntnis zu geben, sondern auch meine Darlegungen auf einem Einlegeblatt der nächsten Ausgabe des „RotFuchs“ beizufügen.“ Und einige Zeit später, nämlich am 23.7.06, kündigte er gegenüber Rolf Berthold an: „Da ich bis zum heutigen Tage keine Antwort erhalten habe, gestatte ich mir, dieses Anschreiben und meine Darlegungen den RotFuchs-Lesern zur Kenntnis zu geben, – soweit mir das organisatorisch möglich ist.“  Er hat uns den Text zugeschickt, und da wir der Auffassung sind, dass die Kenntnisnahme des Textes durchaus lohnen ist, bringen wir ihn hier.  D. Red.)

„Als die Arbeitereinheit vollzogen wurde“ war die Veranstaltung anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung der SED überschrieben. Das Hauptreferat hielt Prof. Dr. Dieckmann, stell-vertretender Vorsitzender des RotFuchs-Fördervereins e.V., veröffentlicht in „junge Welt“ und in einer Beilage zu „RotFuchs“, Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland’.

Der Schaffung der Arbeitereinheit, gipfelnd in der Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED),  zu gedenken, ist eine gute Sache. Eine solche einheitliche marxistisch-leninistische Partei wieder ins Leben zu rufen, ist dringend notwendig. Leider sind wir davon meilenweit entfernt. Ich bezweifle, dass einige Passagen des Referats diesem perspektiven Ziel dienlich sind. Nachfolgend meine Gedanken zu der einen oder anderen Aussage im Referat, teilweise unter Verwendung der o.a. Veröffentlichung.

Das Parteiprogramm der Eisenacher (1875) war theoretisch falsch. Trotzdem entwickelte sich die Sozialdemokratie zur stärksten revolutionären Kraft, bekam einen großen Stimmenzuwachs. Das Erfurter Programm von 1891 war im Sinne Lenins, – aber es hat den Zusammenbruch 1914, die Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten, nicht verhindert.

Prof. Dieckmann fügte an: „Parteiprogramme sind von großem Gewicht. Aber Programme an sich kämpfen nicht. Es sind immer Menschen, die von programmatisch gefassten Ideen erfüllt, tatkräftig in die Speichen der geschichtlichen Bewegung greifen“. Zugespitzt könnte ich schlussfolgern: ein Programm ist zwar theoretisch bedeutungsvoll, aber ob es richtig oder falsch ist, hat keinen Einfluss auf Zuwachs und Aktivitäten der Arbeiterbewegung, sie greift in die Speichen der Geschichte, ob mit oder ohne Programm, ob es richtig ist oder falsch. Höre ich da: „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts?“

Wenn die Arbeiterbewegung zwischen 1875 und 1891 einen großen Aufschwung nahm, die Sozialdemokratie sich zur anerkannten revolutionären Partei entwickelte, könnten dafür nicht das Sozialistengesetz und die schnelle Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland Ursachen sein? Das Sozialistengesetz unterdrückte nicht nur die Arbeiterbewegung, es hatte auch zur Folge, dass die Sozialdemokraten vielfältige Methoden der Parteiarbeit entwickelten, die Lage der Arbeitenden richtig erkannten und ihre Interessen zu denen der Partei machten – und auf dieser Basis das neue, richtige Parteiprogramm zustande kam?

Von  1891 bis 1914 vergingen 15 Jahre bis zur Kapitulation der Sozialdemokratie. Waren das nicht die Jahre, in denen sich der deutsche Kapitalismus zum Imperialismus entwickelte? Dieser ökonomische Faktor könnte schon Einfluss auf die Haltung der Sozialdemokratie genommen haben. Hinzu kommt, dass Parlamentarier mitunter eigene Wege  gehen – wie man auch in der heutigen Politik sieht –  unabhängig vom Parteiprogramm, „nur ihrem Gewissen verpflichtet“.

An einer andern Stelle des Referats heißt es: „die Deutungshoheit über die Schwachstellen unserer Geschichte darf nicht den Gegnern überlassen werden. Das ist in mancher Hinsicht schmerzhaft. Zu schlichte Erklärungsmuster sollten wir meiden“. Der Gegner verfügt über alle Mittel der Massenbeeinflussung – und hat damit Erfolg. Um die Deutungshoheit über die Schwachstellen unserer Geschichte zu erlangen, bedarf es eines klaren Klassenstandpunktes, fußend auf dem Marxismus-Leninismus.

Der Hinweis des Dresdner Genossen auf den Revisionismus sollte Anlass sein, sich dieser Problematik zu stellen, denn eine allgemeine Erscheinung ist, dass diejenigen, die heutzutage eine revisionistische Programmatik und Politik verfechten, es gar nicht leiden können, wenn man sie Revisionisten nennt – und sich auch nicht bemühen, dazu Stellung zu nehmen.

Das Beispiel vom Sieg des vietnamesischen Volkes widerlege die These von der revisionistischen Verkommenheit – trifft das zu ? Der Kampf des vietnamesischen Volkes für seine Befreiung vom Kolonialjoch begann 1945 mit der Ausrufung der DRV, sie führte einen aufopferungsvollen heroischen Kampf gegen die französischen Kolonisten, konnte einen großen Sieg 1954 in der Schlacht um die Dschungelfestung Dien Bien Phu erringen und am 1. Mai 1975 Saigon befreien, die Truppen der USA vertreiben.

Es liegt also ein großer Zeitraum zwischen Beginn des Kampfes und dem Datum des Sieges. Das vietnamesische Volk, unterirdische Gräben bauend, in Erdhöhlen lebend, Lasten wie die Mulis schleppend, amerikanischen Entlaubungs-Gift trotzend, hätte sich auch nach 1956 von seinem Freiheitskampf nicht abbringen lassen. Auch ein Chruschtschow konnte hier nicht bremsen, denn die Prinzipien des proletarischen Internationalismus wirkten weiter – wie auch die Hilfe der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten, die DDR eingeschlossen. Chruschtschow tat immer zwei Dinge gleichzeitig: Den Revolutionär spielen und den revisionistischen Kurs mal versteckt, mal offen oder ein wenig verbrämt weiterführen.

Im Zusammenhang mit Vietnam  wäre außerdem noch in Betracht zu ziehen, wie sich die Kommunistische Partei Chinas in dieser Periode verhielt, denn sie trug den Chruschtschowschen Kurs nicht mit, was letztlich dazu führte, dass das Drittel der Erde mit kommunistischer Zielstellung unter neuen Gesichtspunkten gesehen werden musste.

 „Zu schlichte Erklärungsmuster sollten wir meiden“ – dafür bin ich auch. Nur, welche Erklärungen bietet uns der Referent an? Fast ausschließlich nur Fragen aufwerfen und vorhandene Kenntnisse über die Hauptursache unserer großen, vorläufigen Niederlage anzuzweifeln, das bringt uns keinen Schritt weiter. „Es war schon immer ein Irrtum, zu glauben, einäugig beherrsche man das räumliche Sehen besser“ – wer tut so etwas? Könnte nicht die bei Götz Dieckmann sicher vorhandene umfassende marxistisch-leninistische Bildung helfen, das räumliche Sehen zu erweitern? Seine letzte hohe Funktion im Parteiapparat der SED lässt dieses vermuten.

Wenn dann noch alle akademisch Gebildeten, die in der DDR und/oder der Sowjetunion den Marxismus-Leninismus studierten, hier lehrten oder mit dessen Anwendung befasst waren – und heute noch dazu stehen – sich der Aufgabe unterziehen würden, ihren Beitrag zur Analyse der Hauptursache des Niedergangs des Sozialismus in Europa zu leisten, dann könnten über diese hinaus die vom Revisionismus ausgehenden Wirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche erklärbar werden.

Die revisionistischen Zersetzung der kommunistischen Weltbewegung beginnt mit dem Jahre 1956 als Chruschtschow am Ende des XX. Parteitages der KPdSU in Hasardmanier die Delegierten mit seiner „Geheimrede“ konfrontierte, keine Diskussion möglich war, der Text den kommunistischen Parteien vorenthalten wurde. So lange alle, die sich mit den Ursachen des Niederganges der kommunistischen Weltbewegung befassen, nicht gewillt sind, die im Rechenschaftsbericht an den Parteitag enthaltenen revisionistischen Thesen als solche wahrzunehmen, die Art und Weise der Kritik am Personenkult als parteischädlich zu erkennen, so lange wird es keine Übereinstimmung bei der Ursachenanalyse geben.

Dass es bei der Beurteilung gesellschaftlicher Vorgänge im Weltmaßstab um „Rätsel“ gehen könnte, ist mir neu. Agententätigkeit ist sicher ein vielseitiges Problem. Für unsere Betrachtung geht es nicht um kleine Fische, die irgendwo ein Objekt ausspähen, eine Brücke sprengen, einen Sendesaal in Brand setzen, in eine politische Partei eindringen, um diese zu unterwandern. Da der Revisionismus eine geistige Strömung ist und von Menschen erdacht wurde, kann er nur über Menschen wirksam werden. Folglich werden Politiker, politische Parteien, Abgeordnete in den Parlamenten, Regierungs- und Staatschefs manipuliert und sie wirken in ihren Handlungen als Agenten des Imperialismus.  Ob sie dabei aus Überzeugung, Geltungsbedürfnis, Hass oder für Dollars tätig werden, ist unerheblich. Ungeachtet dessen ist allgemein bekannt, dass die CIA weltweit als eines der Hauptinstrumente zur Destabilisierung ’ungeliebter’ politischer Systeme fungiert, die Organisation bzw. Durchführung von Morden eingeschlossen. Klaus Steiniger zitierte in „Tops und Flops“, aus der  Direktive 10/2  (1948) des ‚Nationalen Sicherheitsrates der USA’ „als geheime Aktivitäten wurden genannt: Propaganda, Wirtschaftskrieg, direkte Präventivhandlungen einschließlich Sabotage … Wühlarbeit gegen feindliche Staaten, einschließlich Hilfe für die illegalen Widerstandsbewegungen im Untergrund, für Guerillas sowie die Unterstützung von antikommunistischen Elementen in bedrohten Ländern der freien Welt“.

Wieviel Augen für das „räumliche Sehen“ erforderlich sind, müsste noch definiert werden, zumal uns ein solches Genie wie Lenin fehlt. Aber ganz so nackt stehen wir auch nicht da. So stellte bereits die „Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien 1957“ fest: „Der moderne Revisionismus ist bemüht, die große Lehre des Marxismus-Leninismus in Verruf zu bringen, er erklärt sie für ‚veraltet`, behauptet, sie habe heute ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung verloren. Die Revisionisten sind bestrebt, die revolutionäre Seele des Marxismus auszumerzen und den Glauben der Arbeiterklasse und des schaffenden Volkes an den Sozialismus zu erschüttern. Sie wenden sich gegen die historische Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, sie leugnen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei, sie lehnen die Prinzipien des proletarischen Internationalismus ab, sie fordern Verzicht auf die grundlegenden Leninschen Prinzipien des Parteiaufbaus und vor allem auf den demokratischen Zentralismus, sie fordern, dass die kommunistische Partei aus einer revolutionären Kampf-organisation in eine Art Diskutierclub verwandelt wird“. In der Schlusserklärung der „Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien 1960“ wurde erneut betont, dass der Revisionismus die Hauptgefahr für die kommunistische Weltbewegung darstellt – wobei der Demagoge Chruschtschow sich dieser Einschätzung nicht entziehen konnte.

Da bei diesen Beratungen eine große Anzahl Vertreter der kommunistischen und Arbeiter-parteien anwesend waren, kann wohl kaum von Einäugigkeit gesprochen werden. In der Gegenwart gibt es Kommunisten, die dem Marxismus-Leninismus treu geblieben sind, die sich noch auf der Höhe von Marx, Engels, Lenin und Stalin befinden. Ihnen ist es zu danken, dass 16 Jahre nach dem vorläufigen Sieg der Konterrevolution der `Diskutierclub` mit Tatsachen konfrontiert wird. Was auf theoretischem Gebiet für den gesellschaftlichen Fortschritt im 21. Jahrhundert zu leisten ist, wird nur dann über den `Diskutierclub` hinausreichen, wenn bei dem Höhenflug nicht nur drei Namen genannt werden und sich jeder aus ihren Werken heraussucht, was ihm gerade passt, sondern der Marxismus-Leninismus in seinem Zusammenhang zugrunde gelegt wird. Wer dabei die theoretischen Leistungen Stalins bewusst und absichtlich vergisst, ist unglaubwürdig, erweist der kommunistischen Bewegung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen schlechten Dienst – ganz zu schweigen davon, welches Ansehen Stalin als Persönlichkeit, als Politiker, Staatsmann und militärischer Führer bis 1956 in der DDR genoss. Es gereicht keineswegs kommunistischen Parteien bzw.  Gruppierungen oder Einzelpersonen zur Ehre, wenn sie heute den Mann, der fast 30 Jahre an der Spitze der kommunistischen Weltbewegung stand, diese maßgeblich prägte und der international geachtet wurde, in die Vergessenheit verbannen wollen – Schützenhilfe dem Klassengegner und insbesondere dessen Medien leistend.

Für den gesellschaftlichen Fortschritt, insbesondere das Zusammenführen der zersplitterten kommunistischen Gruppierungen zu einer einheitlichen kommunistischen Partei  gibt es nur eine einzige Möglichkeit: das Sich-wieder-Besinnen auf die Lehre von der Partei neuen Typus – einschließlich der theoretischen Leistungen Stalins. Das ist der einzige Maßstab, an dem sich eine kommunistische Partei messen lassen muss, will sie diesen Namen zu Recht tragen – und damit endet der `Diskutierklub`. Es gibt nur eine wissenschaftliche marxistisch-leninistische Weltanschauung und nicht hundert, wie man meinen könnte, liest man so manchen ganz- oder mehrseitigen Zeitungsartikel oder Beitrag in einer Zeitschrift – bis hin zu Leserbriefen, wo jeder Verfasser mehr oder weniger für sich in Anspruch nimmt, nur er habe recht.

Was die weiteren „Problemkreise“, Beispiel Arbeitsproduktivität anbetrifft, so könnte es eine dankbare Aufgabe der Zeitschrift „RotFuchs“ sein, sich diesen zuzuwenden. Ob es jedoch notwendig ist, bezüglich der Nichtverteidigung der DDR, den Betriebsparteiorganisationen, dem Eigentümerbewusstsein … die Diskussion neu anzukurbeln, bezweifle ich.

Heinz Hoffmann,
Strausberg