Zur Festschrift für Kurt Gossweiler

Fritz Dittmar:
Zur Festschrift für Kurt Gossweiler

Von ganzem Herzen Glückwunsch, dem Jubilar und der Offensiv. Statt eigenen Lobs noch einmal Peter Hacks, auf dessen „Verwandtschaft“ zu Kurt mehrere Beiträge hingewiesen haben:

ZEHN GERECHTE

Einige Menschen, Frauen oder Männer,
Ziehn, unter uns sich mischend, ihre Bahn,
Der Wissenschaft unbeugsame Bekenner,
Des Ruhms Verächter, abhold jedem Wahn.
Sie dienen streng. Sie wirken, ernst und leise
Am edlen Werk, jeder auf seine Weise.

Und jeder, hingegeben nur dem Ziele,
Wie er dem Volk zu altem Glanz verhelf,
Tut, was zu tun ist. Ihrer sind nicht viele.
Ich zähle zehn. Ich käme nicht auf elf.
Hoffe auch du, Land. Zehn Gerechte hätten,
Lesen wir, hingelangt, Sodom zu retten.

Ich bin ganz sicher: unter den zehn Gerechten hat Hacks auch Kurt mitgezählt.

Dann zu dem Beitrag von Hanfried Müller. Auch ihn habe ich mit Begeisterung gelesen, geradezu verschlungen. Er fällt formal aus dem Rahmen der Festschrift: Er ist dem Geburtstag Karl Marx´ gewidmet. Inhaltlich gehört er dazu: Sein Hauptanliegen ist, wie in Kurts ganzem Werk, die Verteidigung und schöpferische Anwendung des Marxismus. Und seine Stoßrichtung ist gegen den gleichen Hauptfeind gerichtet: den Revisionismus, das trojanische Pferd der Herrschenden innerhalb der Arbeiterbewegung. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Genosse Müller bei den zehn Gerechten mitgezählt war. Sein Beitrag ist tiefgründig, eloquent und überzeugend.

Probleme habe ich mit zwei Aspekten des Artikels:

Zum einen der Wertung von Lenin durch Müller. Er zieht einen Vergleich von der Entwicklung der Naturwissenschaft durch Einstein/Plack über Galilei/Kepler hinaus auf Lenins theoretische Leistung zu Weiterentwicklung des Marxismus. Müller bestreitet, dass Lenin zur Theorie einen analogen Beitrag geleistet hat.

Dagegen möchte ich einwenden: Lenin hatte nicht wie Marx während 30 Jahren ruhiger kapitalistischer Entwicklung Zeit, die ökonomischen Grundlagen des Imperialismus ebenso gründlich zu erforschen. Dennoch hat er die wichtigsten Aspekte des neuen Stadiums analysiert: Monopolkapitalismus, Reaktion auf der ganzen Linie, Ungleichmäßigkeit der Entwicklung, Kriege um Neuverteilung, faulender Kapitalismus, Heranreifen revolutionärer Krisen. So nützlich vielleicht eine quantitative Analyse der Monopolprofit – Raten gewesen wäre und auch heute noch wäre; wichtiger war die Bestimmung der politischen Aufgaben, die sich aus dem höchsten Stadium des Kapitalismus neu ergaben. Und noch wichtiger wurde die Umsetzung der Erkenntnisse in der praktischen Politik, in der  Revolution. Das hätte Lenin niemals auf „neuem Terrain“ erfolgreich leisten können, wäre er nur ein zweitrangiger Theoretiker gewesen. Und die Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Entwicklung konnten erst gründlich erforscht werden, als genug empirisches Tatsachenmaterial vorlag.

Zum anderen gilt dasselbe m. E. in noch höherem Grade für Stalin. Genosse Müller zählt ihn unter den Theoretikern in Marx´ Nachfolge nicht einmal  mit auf. Lenin konnte immerhin noch für die Revolution auf die Lehren aus der Pariser Kommune zurückgreifen („Gerade wenn uns das Andenken der Kommune teuer ist, müssen wir sagen: So wie die Kommune darf unser Staat nicht sein.“) Und erst bei der NÖP betrat er absolutes Neuland. Stalin dagegen musste als Generalsekretär die Partei und den Staat von Anfang an durch Neuland führen. Ab dem Beginn der Fünfjahrespläne konnte er nicht einmal mehr auf Erkenntnisse Lenins zurückgreifen. Dass er nicht nur Praktiker war, haben die Beiträge von U. Huar in der Offensiv eindrucksvoll  belegt. Hier finden sich z.B. seine Beiträge zur Debatte um das „Wertgesetz im  Sozialismus“, die seine Nachfolger ignoriert haben. Vor allem aber hat Stalin, gestützt auf seine theoretischen Arbeiten, die Anforderungen der Praxis erfolgreich erfüllt: Aufbau der industriellen Basis des Landes, Vorbereitung auf die imperialistische Aggression, Ausnutzung der innerimperialistischen Widersprüche, Abwehr und Zerschlagung des faschistischen Angriffs, Befreiung der Osteuropäischen Länder, Standhaftigkeit unter der Drohung des US-Atombomben-Monopols und Bau der eigenen Bombe, das alles ist mit seiner Führung verbunden. Und das vermochte er nur gestützt auf richtige Theorie zu leisten, Theorie, auf die er nicht einfach zurückgreifen konnte.

Bei Genossen Müller klingt an, die theoretische Entwicklung sei zurückgeblieben, weil Russland als „schwächstes Kettenglied“ weder die „Internationalität“ in der Wissenschaft noch die „sozialistische Demokratie“ genügend entwickeln konnte. Dagegen möchte ich einwenden, dass zu Stalins Zeiten die Praxis der Sowjetunion erfolgreich war, dass in Lenins Sinn keine „wesentlichen Fehler“ mit tödlichen Konsequenzen begangen wurden. Fünfundzwanzig Jahre erfolgreiche Praxis ohne hinlängliche Theorie scheint mir unvorstellbar. Ein weiterer Einwand: Die wesentlichen Fehler wurden erst von Stalins Nachfolgern begangen, nachdem die Isolation und der Rückstand des „Sozialismus in einem Land“ tendenziell überwunden war.

Genosse Müller hat den zwanzigsten Parteitag als die Bruchstelle benannt, wo Stagnation, Abbruch und Zerfall einsetzten. Ich hätte mir gewünscht, dass er mit gleicher Deutlichkeit auch das Gute benannt hätte, das damals zerstört wurde.

Fritz Dittmar, Hamburg