Zur Niederlagen- und Fehleranalyse sowie zur Würdigung der DDR im neuen Programm der DKP

Fritz Dittmar:

Zur Niederlagen- und Fehleranalyse sowie zur Würdigung der DDR im neuen Programm der DKP

Bei der Wertung möchte ich an die bekannte Aussage über Programme erinnern, die Marx und Engels in der Kritik des Gothaer Programms formulierten. „Ein Programm ist so etwas wie eine Fahne, die man aufrichtet, um die Höhe der Bewegung anzuzeigen.“ Um in diesem Bild zu bleiben: Es genügt nicht, nur zu erörtern, ob die rote Fahne am „richtigen“ Mast hängt, man muss auch prüfen, wie hoch sie hängt, man muss die Geschichte der Programmatik reflektieren.

Es ist hier wohl allen klar, dass der XX. Parteitag der KPdSU vor 50 Jahren einen Bruch in der theoretischen Diskussion bedeutete. Die regierenden kommunistischen Parteien Europas, mit Ausnahme Albaniens, folgten damals, mehr oder weniger widerstrebend oder auch überzeugt, der Linie Chruschtschows. Die KPD in Westdeutschland, in deren Nachfolge die DKP zu sehen ist, übernahm Chruschtschows Kritik an Stalins „Fehlern und Verbrechen“. Das lag zum einen an der erheblichen Zahl von deutschen Opfern der „Säuberung“ im sowjetischen Exil, deren Rehabilitierung nun möglich wurde. Zum anderen beruhte diese Haltung darauf, dass die KPD sich nicht isolieren wollte, insbesondere von der SED, und zum dritten stand die KPD damals schon unter dem Druck drohender Illegalisierung. Das Verbot ein halbes Jahr später machte es unmöglich, die Diskussion über die Vergangenheit zu vertiefen. Nach der Neukonstituierung der DKP war der Umgang mit der Vergangenheit des Sozialismus etwa so, dass die meisten Genossen Stalin als ein Mann mit Fehlern und Verdiensten sahen, dass die Fehler nicht die großartigen Leistungen des Volks verhindert haben und dass dem Realsozialismus die Zukunft gehört.

Der letzte Punkt ist nun durch Gorbatschow widerlegt, und vor der DKP stand die theoretische Aufgabe, das Scheitern des Realsozialismus und die Chruschtschowsche Kritik an Stalin in das richtige Verhältnis zu setzen. Zunächst galt es aber, in der Konterrevolution den eigenen Laden zusammenzuhalten, den parteiinternen, als „Neuerer“ bezeichneten Liquidatoren und Kapitu-lanten zu widerstehen und auf der historischen Überlegenheit des Sozialismus mitten im Zusammenbruch zu beharren. Mehr war damals von den standhaft gebliebenen Genossen nicht zu erwarten, und als einer, der damals aus der DKP ausgetreten ist und erst 10 Jahre danach den Weg zurück gefunden hat, will ich hier nicht versäumen, die Haltung dieser Genossen zu rühmen.

Jetzt, mehr als 15 Jahre später, ist aber offensichtlich, dass der Kapitalismus nach seinem vorläufigen Sieg noch der alte ist, und es war an der Zeit, die Ursachen der Niederlage zu analysieren, wenn neue Anläufe mehr Erfolg bringen sollen. Ist das mit dem neuen Programm gelungen? Meine Antwort ist ein klares Nein.

Dennoch will ich hervorheben, dass in dem ersten Teil des Abschnitts die Errungenschaften des Realsozialismus für das tägliche Leben der Menschen deutlich hervorgehoben wurden. Noch besser wäre dieser Abschnitt gewesen, wenn er auch die direkt politischen Aspekte des Lebens mit in das Lob einbezogen hätte, zum Beispiel die Freiheit von der im Kapitalismus üblichen Verdummung durch Reklame, pfäffisches Geschwätz, „Bild“ und Christiansen.

Danach betont das Programm zurecht die äußerst schwierigen Bedingungen für den Realsozialismus von 1917 bis 90. Das Handeln der KPdSU unter diesen schwierigen Bedin-gungen wird aber eher entschuldigt denn als notwendig, richtig und revolutionär dargestellt. Ärgerlich ist hierbei die Allgemeinheit und fehlende Präzision der Kritik:

„Die führende Rolle der Arbeiterklasse wurde…durch die führende Rolle der kommunistischen Partei ersetzt.“  Was sollte denn einen Arbeiter, Bauern oder Soldaten in den Jahren nach 1917 daran hindern, sich innerhalb der Partei für den Sozialismus zu engagieren, wenn er mehr tun wollte als seine tägliche Arbeit? Sollten neben der Partei andere politische Organe der Macht-ausübung bestehen, und was sollte der Inhalt ihrer Arbeit sein?

„An die Stelle wirklicher Vergesellschaftung trat…bloße Verstaatlichung.“ Bei der „wirklichen Vergesellschaftung“ kann sich jeder seins denken, sei es genossenschaftliches Eigentum, sei es Eigentum der Belegschaft an den Betrieben in Form von Belegschaftsaktien, sei es ein Betrieb, in dem die Belegschaft ihre Produktion unabhängig plant, wer weiß? All diese Formen stehen tiefer, sind noch stärker von der Warenproduktion bestimmt als das Staatseigentum. Klar ist nur, dass sich in der Formulierung im Programm ein tiefer Unglaube an die Entwicklung sozialistischen Bewusstseins verbirgt: Dass nämlich die Arbeiter im Sozialismus begreifen können, dass sie als Kollektiv, als herrschende Klasse die Produktion zu ihrem Nutzen organisieren. Ich erinnere an das Lied von Majakowski über den Subotnik, das damals in der Sowjetunion populär war und Massenstimmung ausdrückte:

Die Arbeit ist schwer. Die Arbeit ist schier
zermürbend und ganz unentgeltlich,
doch arbeiten wir und schaffen hier
ein Werk human und ganz weltlich.
Und diesen Schweiß, ihn heischt kein Geheiß
Wir spenden ihn gerne und stolz.
In unsren Waggons, auf unserem Gleis
Verladen wir unser Holz.

Ich glaube, dass die Arbeiter den primitiven Standpunkt überwinden können: „Und welcher Meter vom Fließband gehört nun mir?“

Die fehlende Präzision des Gedankens drückt sich in der Folgerung aus: „Die Folge war eine zunehmende Entfremdung vom sozialistischen Eigentum.“ Diese Aussagen beziehen sich nicht auf die Zeit Chruschtschows oder Breschnews, sondern auf die dreißiger Jahre („Das administrativ-zentralistische `Sozialismusmodell` wurde nach dem zweiten Weltkrieg auf die Länder übertragen usw.“, war also schon vorher vorhanden.) Hier wird nicht einmal mehr die Notwehr–Situation gesehen, der Umstand, dass in dieser Zeit die SU am Vorabend und in konzentrierter Vorbereitung auf den Weltkrieg alle Kräfte anspannen musste und keine Zeit hatte für Gorbatschowsche Experimente mit Perestroika und ähnlichen nicht–administrativen Sozialismusmodellen. Dabei hat der damalige Sozialismus diese Entschuldigung nicht einmal nötig. Die im Programm behauptete Entfremdung ist nämlich nicht eingetreten. Sonst soll mal jemand erklären, woher das angeblich vom sozialistischen Eigentum entfremdete Volk die Kraft nahm, unter unglaublichen Opfern den Faschismus zu besiegen und das sozialistische Eigentum zu verteidigen.

Der Bezug auf die Notwehr–Situation fehlt im folgenden Absatz über die Verbrechen und Verletzungen der sozialistischen Demokratie. Hier wäre er in der Tat nötig gewesen. Ich verweise hierzu auf meinen Artikel in der letzten Offensiv.

Ähnlich unpräzise geht es weiter: Staatliche Durchdringung aller Bereiche, gehemmte Eigeninitiative, keine streitbare gesellschaftliche Debatte, Verlust an Glaubwürdigkeit, und, und und. Als Zusammenfassung: Verlust der Hegemonie. Das soll unter Stalin passiert sein? Und Verlust an wen denn? Um die KPdSU zu stürzen, reichten nicht irgendwelche orangenen Konterrevolutionäre, es bedurfte dafür selbst nach 20 Jahren der Stagnation noch eines Mannes, der sich auf die Hegemonie oder Autorität des Amtes als 1. Sekretär stützen konnte. Dieser Fisch musste vom Kopf her zu stinken beginnen.

Im Programm folgt der Versuch einer ökonomischen Analyse: Zunächst wurden mit diesem (sowjetischen) Typ des Sozialismus bedeutende wirtschaftliche Erfolge erzielt, aber später erwies er sich nicht mehr in der Lage, flexibel auf neue Anforderungen zu reagieren. Nun gut, aber was war zwischen „zunächst“ und „später“ geschehen?

Für das DKP-Programm waren es die Anforderungen der wissenschaftlich–technischen Revolution. Eine Ökonomie, die den ersten Satelliten und den ersten Menschen ins All gebracht hatte, sollte nicht in der Lage sein, die Elektronik zu meistern? Wie wäre es mit einer schlichteren Erklärung: Solange das Schwergewicht der Investitionen auf den Investitionsgütern lag, wurden alle Anforderungen erfüllt, vom besten Panzer, der besten Maschinenpistole und dem besten Raketenwerfer im Weltkrieg über den ersten Atomeisbrecher bis hin zu den Interkontinentalraketen wurden alle Anforderungen der ökonomischen und militärischen Entwicklung erfüllt. Als Chruschtschow den Schwerpunkt änderte und den Sowjetbürgern einen Lebensstandard wie in den USA versprach, setzte die Stagnation ein und entfaltete sich, zumal keiner der späteren Führer es wagte, das Ruder in der Ökonomie wieder herum zu werfen. Ein kleines Beispiel: Als die Arbeiter in der DDR über die langen Lieferfristen und die niedrigen technischen Standards der Trabbis murrten, machte Honecker mehrere hundert Millionen der knappen  DM-Devisen locker. Damit hätte man allerhand Verbesserungen in der Trabbi–Produktion finanzieren können. Er ließ stattdessen 10.000 VW-Golf im Westen kaufen, um die Arbeiter zu beschwichtigen. So funktioniert Stagnation im Realsozialismus!

Weiter heißt es im Programm: „Auch konnten sich sozialistische Wertvorstellungen nicht dauerhaft und umfassend durchsetzen“. In der Tat: Die Arbeiter konnten aus dem Beispiel dieses „Golfstroms“ nur eines lernen: Unsere Forderung nach besseren Autos war berechtigt und war zu erfüllen, nur weiter gemault und gefordert, dann kommen die schönen Waren aus dem Westen, und am besten gehört man gleich ganz zu diesem glorreichen System. Wenn die Führung etwas anderes predigt und gleichzeitig so handelt, verstehen wir, was von ihrer Predigt zu halten ist.

Nachdem im Programm die wirklichen und angeblichen Fehler des Realsozialismus angeführt wurden, kommt im Sinne des programmatischen Pluralismus zum Schluss eine Aussage, die zu den vorigen im krassen Widerspruch steht: „Die Niederlage des Sozialismus ist zugleich das Ergebnis der äußeren und inneren Konterrevolution.“ Konterrevolution heißt eine aktive Um-wälzung der Macht– und Eigentumsverhältnisse. Der Untergang war also ein langsames Dahin-siechen an Altersschwäche und zugleich ein Mord!

Offensichtlich ein Zugeständnis an Hans Heinz Holz, nachdem er bei der diffusen Fehlerliste sicher viele Kröten geschluckt hat. Aber nur ein kleines Zugeständnis: Die Akteure dieser Konterrevolution, Klassen, Gruppen oder Individuen werden nicht benannt. Das wäre aber für die innere Konterrevolution sehr wichtig zu klären. Wir müssen schließlich wissen, vor wem wir uns bei künftigen Anläufen in Acht nehmen müssen.

Hierzu möchte ich auf Kurt Gossweilers Artikel zu Pirker und Gorbatschow in der letzten Offensiv verweisen. In diesem Zusammenhang möchte ich den Genossen in der DKP, denen die sozialistische Gesetzlichkeit so am Herzen liegt, zurufen: „Was wollt ihr noch? Die Tat und die Leiche liegen vor, die Täterschaft ist unstrittig, sogar ein umfassendes Geständnis liegt vor, keineswegs erfoltert, sondern freiwillig und in prahlerischem Ton vorgetragen. Was hindert euch, das Urteil zu sprechen: Schuldig!“ Schuldig der Konterrevolution ist Gorbatschow mit seinen Anhängern und Vorläufern, schuldig des Revisionismus.

Ich möchte meine Genossen deshalb auch aufrufen, über die Frage des Terrors angesichts der erlebten Konterrevolution neu nachzudenken. Die grundsätzliche Ablehnung von Terror ist moralisierend und unmarxistisch. Und auch für die sozialistische Gesetzlichkeit gilt, dass sie in der Situation von „Sein oder Nichtsein“ des Sozialismus nicht das einzige Prinzip sein kann. Ein „fiat justitia, pereat mundus !“ (Möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen, und wenn darüber die Welt (oder der Sozialismus) untergeht!), passt nicht zu Kommunisten. Gestalten wie Gorbatschow und Co. rechtzeitig auszuschalten, hätte der Menschheit eine ganze Periode neuer blutiger Kämpfe um die Wiedererlangung des bereits Erreichten erspart.

Summa Summarum: Mit dem Programm hängt die DKP in Bezug auf die Würdigung der DDR ihre rote Fahne schon an den richtigen Mast. Im Zusammenhang mit dem Ausscheiden des Rotfuchs gab es seinerzeit die bekannten 11 Forderungen zur ehemaligen DDR. Damals war der wichtigste Streitpunkt die Formulierung des Rotfuchs, dass die DDR die größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterklasse war. Dieser Satz ist jetzt in das Programm eingegangen. Auch die Würdigung der Errungenschaften für die Menschen der DDR ist klar und eindeutig.

Dennoch hängt die Fahne nicht hoch genug. Die Fehleranalyse hat nicht die für revolutionäre Politik nötige Höhe erreicht. Hier steht Richtiges neben Grundfalschem. Die angeblichen Fehler sind so allgemein und unpräzise formuliert, dass ein wohlmeinender Leser höchstens zu dem Ergebnis kommen kann, dass in der DKP über die Ursachen der Niederlage eher Unklarheit und Verwirrung herrscht.

In Kenntnis der Entstehungsgeschichte des Programms würde ich eher sagen, dass die einzelnen Autoren der diversen Vorbereitungsgruppen schon klare Vorstellungen haben, dass diese aber miteinander in vielen Aspekten unvereinbar sind. Der Versuch, sie dennoch in einem einzigen Programm zusammen zu fassen, musste zu einem Dokument wie dem vorliegenden führen. Es gibt mindestens zwei Linien in der DKP, und die von Hans Heinz Holz repräsentierte ist die einer linken Minderheit.

Es bleibt abzuwarten, bzw. daran zu arbeiten, dass diese Linie die Hegemonie erreicht und dann ein Programm möglich wird, das marxistischer Kritik standhält.

Fritz Dittmar,
Hamburg