Ulrich Sander:
„Endlich das Grundgesetz einhalten!“
Rede beim Auftakt des Ostermarsches 2006 am 15. April in Duisburg. Ulrich Sander ist Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA)
Wir sind im Krieg. Und wir stehen vor neuen Kriegen. Der höchste General sagt, „der Einsatz“, er meint den Krieg, „bestimmt den Alltag der Bundeswehr.“ (Generalinspekteur W. Schneiderhan in „Y“, Magazin der Bundeswehr, April 2006) Deutschland und die EU wollen den Iran nicht den USA als Beute überlassen. Sie wollen am Krieg um das dortige Öl im eigenen Kapitalinteresse teilnehmen. Das sind die Gründe des Konflikts – und nicht jene, die uns Tag für Tag genannt werden. Weil der Iran nach Atomwaffen strebt, müssen wir gegen Iran Atom-waffen einsetzen. Derartiger Wahnsinn wird uns von der us-amerikanischen und der französischen Regierung eingehämmert – und die deutsche Kanzlerin findet kein Wort der Kritik, sondern trieft vor Verständnis.
Deutschland war und ist im Krieg – mit rund 7.000 Soldaten auf dem Balkan und in Afgha-nistan. Ständig sind 35.000 Soldaten abmarschbereit.
Wir werden mit Lügen überschüttet, um die Kriege zu begründen. Das allgemein anerkannte „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“ wurde zu „Nie wieder Auschwitz“ verkürzt, wobei übersehen wird, dass Krieg die Voraussetzung für Auschwitz war. In Belgrad und Bagdad mussten dann je ein neuer Hitler beseitigt werden, um die Zugangswege zu den Ölreserven zu sichern – und das Öl selbst. In Teheran wartet der nächste Hitler, der beseitigt werden muss. Auch dort gibt es viel Öl. In Afghanistan sollten die Menschenrechte geschützt und die Terroristen bekämpft werden. Doch Terroristen und Staatsterroristen agieren weltweit und verstärkt. Statt Menschenrechten floriert die Heroinproduktion am Hindukusch. Die Bundes-wehr schützt eine mittelaltzerliche, grausame Rechtsordnung in Afghanistan, die den Religionswechsel mit Todesstrafe belegt, – und die Verlegung neuer Pipelines der Ölindustrie.
Und im Kongo soll nun mit Militär eine Wahl organisiert werden. Wann wird Lukaschenko zum neuen Hitler erklärt, auf dass in Minsk mit Hilfe der Bundeswehr eine ordentliche Wahl stattfindet? Worum geht es wirklich im Kongo, in Afrika? Es müsse der Immigrationsdruck auf Europa abgewehrt werden, es müsse das Land mittels einer demokratischen Regierung stabilisiert werden und dies im entwicklungspolitischen Interesse (Jung lt. FR, 5.4.06). Das heißt: Krieg gegen Flüchtlinge, Krieg im Sinne einer Stabilität, die dem Westen den Zugriff auf die Rohstoffe des Kongo sichert. Es handelt sich um einen klassischen Kolonialkrieg mit dem eine genehme Regierung eingesetzt, das Land ausgebeutet und die Bevölkerung unter erbärm-lichen Bedingungen im Land gehalten wird.
„Da muss die Bundeswehr ran“, fordert der neue Kriegsminister Franz Josef Jung am 5. April 2006 in dicker Überschrift in der Frankfurter Rundschau. Für die Zukunft, so sagt Kriegsminister Jung, brauchen wir eine „Anpassung der verfassungsrechtlichen an die tatsäch-liche Lage“. Das bedeutet: die tatsächliche Lage, die Kriege der Deutschen von heute sind verfassungswidrig. Das haben wir von der Friedensbewegung immer gesagt.
Der seit dem Angriffskrieg gegen Jugoslawien größte Verfassungsbruch steht unmittelbar bevor. 7.000 Soldaten sollen erstmals gegen den Feind im Innern eingesetzt werden. Die Fußball-weltmeisterschaft in unserem Land wird genutzt, um einen Präzedenzfall zu schaffen für die langersehnte Wiederherstellung des Kampfauftrages nach dem alten kaiserlichen Motto: „Ruhe und Ordnung“ schaffen gegen mögliche soziale Unruhen – und sei es mit Panzern. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“, hieß es einst. (…)
Auf die Frage der Süddeutschen Zeitung (4.2.04), ob er die Steigerung des Rüstungsetats bezahlen könne, sagte Minister Struck: „Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen dafür. Die Agenda 2010 wird ihre Früchte tragen und auch dem Haushalt mehr Spielraum verschaffen. Die ungeschmälerte Rüstung und der Abbau des Sozialstaats durch die „Agenda 2010“ und Hartz IV bedeuten zusammen genommen nicht nur Verarmung für Hunderttausende Menschen in Deutschland, sondern auch erhöhte Kriegsgefahr.
Es kann keine Rede davon sein, dass wir mit der neuen Regierung der Abschaffung der Wehrpflicht näher gekommen sind. Entscheidend sind die Anforderungen des Militärs. Sie be-nötigen die Wehrpflicht, um der Bundeswehr das geeignete Menschenmaterial zu beschaffen, das schnell auch zum Kanonenfutter werden kann. Aus Wehrpflichtigen werden Zeitsoldaten; schnell hat man sich verpflichtet, wenn sonst die Arbeitslosigkeit droht. Und schnell sieht man sich im Auslandseinsatz. Allein aus Afghanistan haben bereits 18 Soldaten ihren Heimweg im Zinksarg angetreten, nicht gerechnet die unbekannte Zahl der Opfer im Kommando Spezialkräfte, über die wir nichts erfahren dürfen.
Weithin unbemerkt von der Öffentlichkeit hat eine große Abstimmungskoalition im alten Deutschen Bundestag beschlossen, alle ehemaligen Bundeswehrangehörigen bis zum 60. Lebensjahr zu Reservisten zu erklären. Auf sie soll zurückgegriffen werden im „Einsatz“ – und zwar nicht nur wegen ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch wegen ihrer beruflichen Qualifikation. Der Offizier hat „polizeiähnliche“ Fähigkeiten zu erlangen, stellte der Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan in „Informationen für die Truppe“ fest, und der Polizist hat soldatische Fähigkeiten zu haben, möchte man angesichts der Studien des „Zentrums für Transformation der Bundeswehr“ hinzufügen – und handwerkliche und wissenschaftliche und ökonomische. Und all dies für Einsätze – sowohl im Innern als auch in aller Welt.
Verteidigung am Hindukusch und in Hindelang nennt das die neue Regierung. Zwischen ständig 50.000 und im Notfall 250.000 Soldaten und Reservisten sowie Wehrpflichtige will die CDU als neue Heimatschutztruppe in Deutschland bereit halten, um das zu bekämpfen, was jetzt mit „Großschadensfälle“ umschrieben wird. Erstmals sollen 7.000 Soldaten bei der Fußball-weltmeisterschaft im Einsatz sein, um den Feind im Innern zu bekämpfen. Und das können sowohl Demonstranten als auch Streikende sein. In Bundeswehrstudien werden denn auch „Globalisierungskritiker“ bei den „Terroristen“ einsortiert. (Informationen für die Truppe, Nr. 3/02)
Wenn der Kriegsminister die Anpassung der Verfassung an die kriegerischen Tatsachen ver-langt, so fordern wir die Verteidigung der Verfassung. Sie verbietet Bundeswehreinsätze außerhalb der Landesverteidigung und der Bündnisverteidigung. Sie verbietet Einsätze im Innern. Sie verbietet Angriffskriege und die Vorbereitung dazu.
Dies ist das Jahr 45 seit dem ersten Ostermarsch an Rhein und Ruhr. Der Ostermarsch war zuerst ein Marsch gegen Atomwaffen. Daran müssen wir heute wieder erinnern. Bald darauf nannte sich die westdeutsche Friedensbewegung „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“. Das wäre auch heute ein Moto. Wir brauchen Abrüstung und Demokratie.
Wann wird endlich das Grundgesetz eingehalten?
Nach dem Grundgesetz sollten wir frei sein von Krieg, weshalb der Angriffskrieg (Artikel 26 GG und 87a GG) verboten ist, seine Vorbereitung unter Strafe steht. Wir sollen frei sein von Not, weshalb der Sozialstaat vorgeschrieben ist und das Eigentum dem Sozialen verpflichtet ist (Artikel 14/15 GG). Wir sollen frei sein von Faschismus, weshalb das Verbot der NS und des Militarismus, das nach 1945 nachhaltig ausgesprochen wurde, weiter gilt (Artikel 139 GG).
Heute leben wir wieder in Zeiten wachsender Kriegsgefahr. Wie seit vielen Jahren nicht mehr, ist auch der Kampf gegen Atomwaffen besonders dringend notwendig. Wir wollen atomare Ab-rüstung – im Nahen Osten und weltweit. Wer gegen Atomwaffen ist, soll mit ihrer Abschaffung in Deutschland beginnen.
Statt die Fußballweltmeisterschaft im Juni/Juli an Rhein und Ruhr zur militärischen Auf-marschübung zu machen, wie es die Bundesregierung vor hat, gilt es, für Frieden und Völker-verständigung, gegen Nationalismus und die Nazi-Fan-Szene zu wirken.
Wir rufen dazu auf, keine weiteren Grundgesetzverstöße der Militaristen zuzulassen. Schluss mit den Auslandseinsätzen und Absage an Bundeswehreinsätze in Innern, die nach eindeutiger Verfassungslage verboten sind. Die ungeheuerlichen Pläne, entgegen der Verfassung und entgegen dem Verfassungsgerichtsurteil auch über unserem dicht besiedelten NRW angeblich terrorverdächtige Zivilflugzeuge abzuschießen, müssen auf den Widerstand aller Vernünftigen stoßen-
Nach dem 45. Jahrestag des Ostermarsches steht im Herbst der 60. Jahrestag der Gründung unseres Landes NRW bevor. Wir treten ein für die Verwirklichung der NRW-Landesverfassung, die das Recht auf Arbeit vorsieht und die Demokratisierung der Wirtschaftsmacht verlangt. Die Landesverfassung ist eine Absage an den Neoliberalismus. Wir treten ein für die Forderung: Endlich das Grundgesetz einhalten. Endlich den Frieden herstellen.
Ich wünsche frohe, friedliche Ostern – und einen stark beachteten Ostermarsch.
Ulrich Sander, Bundessprecher VVN-BdA