Inkonsequente Ansichten

Roland Turba: Inkonsequente Ansichten

Leserbriefbeitrag zum Gespräch mit Kurt Gossweiler in offensiv 10/2005 und 01/2006 zum Thema Sozialismus und Revisionismus

Liebe Genossen der offensiv-Redaktion, lieber Genosse Gossweiler, mit Interesse habe ich das Interview in den beiden offensiv- Ausgaben gelesen. Sehr interessant fand ich die Frage-stellungen der Gesprächspartner Gossweilers von der Zeitung Özgürlik Dünyasi. Die türkischen Genossinnen und Genossen bringen beispielsweise immer wieder das sozialistische Albanien und Enver Hoxha in das Gespräch ein, um die aufrechte Haltung Albaniens mit dem Revisionismus der DDR-Führung gegenüberzustellen und zu konfrontieren!

Lieber Genosse Gossweiler, meiner Meinung nach hat dieses Interview Ihre persönliche Befangenheit zu bestimmten Personen aus dem politischen Leben der DDR, wie Walter Ulbricht, ebenso aufgedeckt, wie Ihre inkonsequente Haltung zur DDR und ihrem Revi-sionismus insgesamt.

Um nicht in allgemeine Missverständlichkeiten zu geraten, teile ich vorab mit, dass ich viele Ihrer umfassenden und oftmals sehr detaillierten Ausführungen zum Verrat Chruschtschows, Tito und anderer am Sozialismus sehr schätze. Ich kenne Ihr Buch „Wider den Revisionismus“ und auch sonst zahlreiche Ihrer Stellungnahmen in verschiedenen Publikationen zu dieser Thematik in den letzten Jahren. Die enormen Probleme, die sich aus der objektiven Situation und den subjektiven Faktoren ergaben und sich der jungen DDR nach dem II. Weltkrieg als schwer zu lösende Aufgaben stellten, sind mir zudem durchaus bewusst.

Doch gerade Ihre Stellungnahmen und Einschätzungen zur DDR nach dem XX. Parteitag 1956 machen mich immer wieder stutzig! Mit diesen widersprüchlichen Ansichten zur DDR und ihrer doch insgesamt positiven Bewertung stehen sie jedoch keineswegs alleine da. In der Offensiv-Redaktion sind solcherlei inkonsequenten Ansichten ebenso vertreten wie in der Organisation KPD (RF-Berlin) und bilden m. E. eine ideologische Linie innerhalb der sich marxistisch-leninistisch nennenden Linken in Deutschland, die auch bei Ihnen, Genosse Gossweiler, im Interview zum Tragen kommt!

Die Leugnung bzw. Geringschätzung des DDR- Revisionismus

Lieber Genosse Gossweiler, auch Ihre Positionen gehen dahin, die DDR- Führung als Opfer der verräterischen Politik Chruschtschows darzustellen. Insgesamt, so kann man diesem Interview entnehmen, blieb die DDR-Führung und insbesondere Walter Ulbricht ein Kämpfer gegen den Revisionismus.

So etwa im Interview auf S.25 im zweiten Teil, offensiv 01/2006: „Zu den Fakten, die dann zur Hand sein mussten, gehörten nach meiner Ansicht vor allem auch solche, die zeigten, wie von den Chruschtschow- Leuten versucht wurde, aus der  SED- Führung die stand festesten Marxisten-Leninisten, vor allem Walter Ulbricht und Hermann Matern, herauszuschießen, und wie umgekehrt die Ulbricht’ sche Führung  sich bemühte, die Auswirkungen der Chruschtschow schen Schädlingspolitik von der DDR fernzuhalten oder sie wenigstens so stark wie möglich zu begrenzen [1];“

Im Gespräch konfrontiert mit der vorbildlichen Rolle des zu dieser Zeit sozialistischen Albaniens gegen den Revisionismus können sie jedoch den Widerstand der SED mit Ulbricht an der Spitze nicht mehr glaubwürdig darstellen und versuchen den Kampf der DDR-Führung gegen den Revisionismus als versteckten Kampf zu konstruieren und ihn an die Leser zu verkaufen: „Um das Schlimmste in der DDR – nämlich die Führung der SED durch einen Parteigänger Chruschtschows – zu verhindern und der Chruschtschow-Clique keinen Vorwand zu liefern, ihn, Ulbricht, abzusetzen, damit er immerhin die Möglichkeit behielt, den von Moskau ausgehenden Schaden so gering wie möglich zu halten, musste er für die Dauer der Chruschtschow- Periode in der SU nach außen hin das Image eines loyalen Gefolgsmannes der Moskauer Führung erhalten. So widerwärtig das auch war – die andere Möglichkeit, nämlich der Chruschtschow Führung offen den Kampf anzusagen, schien die schlimmere, weil sie die Lebenszeit der DDR auf wenige Monate verkürzt hätte. Denn wir hatten nicht die Möglichkeit, den Kampf so aufzunehmen wie das Albanien getan hat [2].“

Die DDR hat also angeblich lt. Ihrer Meinung, Genosse Gossweiler, statt einem offenen und ehrlichen Kampf einen versteckten Kampf im Stillen gegen die Sowjetrevisionisten geführt! Anstelle aus historischen Versatzstücken etwas zu konstruieren, sollten wir uns doch lieber die historischen Tatsachen ins Gedächtnis rufen, um der Frage nachzugehen, wie sich der Widerstand der SED wirklich dargestellt hat!

Wie hat sich die Führung der DDR beispielsweise gegenüber China und Albanien verhalten, als diese den Mut aufbrachten, die Sowjetführung offen anzugreifen.

Wie reagierte die DDR- Führung mit ihrer „Widerstandstaktik“ bei-spielsweise, als die Partei der Arbeit Albaniens (PAA) mit dem Genossen Enver Hoxha an der Spitze die Intrigen, Komplotte, Drohungen und Erpressungen der Chruschtschow-Revisionisten entlarvte?

Vielsagend hierzu sind alleine die Erinnerungen von Enver Hoxha. Über Walter Ulbricht hat er darin u.a. folgendes festgehalten: „Als wir in Moskau die Chruschtschowianer angriffen, war er auf der Beratung und auch nachher einer von denen, die am blindwütigsten über uns herfielen. Er war der erste, der unsere Partei nach der Moskauer Beratung öffentlich angriff [3].“

Die Moskauer Beratung der 81 kommunistischen und Arbeiterparteien im Jahre 1960, von der bei Enver Hoxha hier die Rede ist, währe sicherlich für die DDR-Führung unter Ulbricht eine besondere Gelegenheit gewesen, vorhandene Widersprüche mit Moskau zumindest vorsichtig anzusprechen. Stattdessen greift Ulbricht das sozialistische Albanien an. Und dies war keineswegs ein Ausrutscher.

Denn ebenso verhielt sich die SED auf ihrem 6. Parteitag im Januar 1963 gegenüber der VR China. Denn als Chruschtschow in seiner Rede bestrebt war, die Meinungsverschiedenheiten mit der KP Chinas und der Partei der Arbeit Albaniens herunter-zuspielen und dieser Versuch misslang, Albanien und China sich verteidigten, wurden die Vertreter der damals revolutionären KP Chinas auf diesen Parteitag der SED regelrecht niedergeschrieen [4]. Bald danach wurde die PAA gar nicht mehr zu den Parteitagen in Bulgarien, Ungarn, der CSSR, Italien und der DDR eingeladen.

In der albanischen Zeitung Zeri i Popullit wurde am 07. Februar u.a. darüber wie folgt berichtet: „Auf allen diesen Parteitagen, zu denen die PAA nicht eingeladen war, besonders aber auf dem VI.Parteitag der SED, trat die Tendenz, die PAA aus der internationalen kommunistischen Bewegung und die VRA aus dem sozialistischen Lager auszustoßen, klar zutage. Die Spalter gingen zum Angriff über, um der internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung einen schweren Schlag zu versetzen [5].“ Pflichtbewußt sorgte die SED- Führung obendrein dafür, dass der öffentliche Vertrieb der Dokumente über die ideologischen Auseinandersetzungen in der DDR verboten wurde [6].

Lieber Genosse Gossweiler, mir geht es hierbei keineswegs um die Diskreditierung von Personen, sondern mir geht es um eine ehrliche Einschätzung über die ideologischen Gegner des sowjetischen Revisionismus, oder die sonst wie in irgendeiner Form Widerstand ent-gegengebracht haben.

Zu diesen Gegnern kann Ulbricht & Co nicht ernsthaft gezählt werden, weil es keine ernstzunehmenden Anhaltspunkte hierfür gibt. Hier wurde von der SED auch kein Schaden so gering wie möglich gehalten, wie Sie es im Gespräch ausgedrückt haben. Ganz im Gegenteil, der Schaden für die Arbeiterklasse war unermesslich und das Ansehen des Sozialismus ist bis heute durch diese Politik schwer beschädigt. (…)

Ich sehe auch im „Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ (NÖSPL) keine Anzeichen dafür, dass diese eine ökonomische Abschirmung gegen den Revisionismus gewesen sein soll, wie Sie im Gespräch ausführen. Dort führten Sie über dieses System aus: „Den Einbruch des Revisionismus in die politökonomische Theorie bei uns habe ich damals nicht bemerkt. Warum nicht? Wohl vor allem deshalb, weil ich im ‘NÖSPL’ und in Walter Ulbrichts erwähnter Feststellung von der langdauernden Phase des Sozialismus Reaktionen begrüßte, mit denen Walter Ulbricht die DDR gegen die Auswirkungen des Chruschtschow- Revisionismus abschirmen wollte [7].“ Das 1963 eingeführte „NÖSPL“ war doch viel eher ein weiterer Schritt in den revisionistischen Sumpf, eine Stärkung für die Bürokratie, mehr Markt statt Planwirtschaft. (…)

Nein die SED-Führung hatte sich längst entschieden, sie war längst zum Vasallen und treuesten Verbündeten Moskaus geworden.

Natürlich stand die rohstoffarme DDR den Sowjet-revisionisten gegenüber in einem Abhängigkeitsverhältnis, dass diese als Druckmittel für eine Komplicenschaft schamlos auszunutzen verstanden. (…)

Mit herzlichen Grüßen, Roland Turba, Türkenfeld, März 2006

 

Quellenangaben

1  Vgl. offen-siv 01/2006, Gespräch mit Kurt Gossweiler, Teil 2, S.25
2  ebenda, S. 22 Mitte.
3 Enver Hoxha, Die Chruschtschowianer, Erinnerungen, Verlag 8 Nentori, Tirana 1980, S.191/192.
4  Wie der Sozialismus verraten wurde, DDR aktuell 2, MLPD, Verlag Neuer Weg, S. 8.
5  Der Artikel aus der Zeitung Zeri i Popollit ist entnommen aus der Bücherei des Marxismus- Leninismus Band 13, Druck-, Verlags-, Vertriebs-Kooperative Frankfurt, 1971, S.272/273.
6  ebenda, S. 8.
7  offen-siv 01/2006, Gespräch mit Kurt Gossweiler, Teil 2, S. 30/31.