Der Zweiklassenstaat

Günther Lange:
Über das Gesundheits- und Sozialwesen der BRD. „Der Zweiklassenstaat“

Im Juni 2007 erschien bei rowohlt Berlin ein – was seine Feststellungen betrifft – für meine Begriffe erstaunliches Buch: „Der Zweiklassenstaat – Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren“ (ISBN 978-3-87134-579-1). Prof.Dr.Karl Lauterbach, gewissermaßen der Adlatus von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (oder gar ihr Ziehkind?), lässt darin nahezu keinen einzigen guten Faden am Gesundheits- und Sozialwesen dieser BRD. Er deckt unverblümt auf, wie unsozial und ineffizient dieser Staat ist, wie dieses System soziale Ungerechtigkeit und Massenarbeitslosigkeit verursacht! Lauterbach fordert mehr Bildungschancen für die Ärmsten, gerechte Gesundheits-, Renten- und Pflegesysteme sowie die konsequente Beschneidung der Privilegien, die von Politikern und Lobbys verteidigt werden.

Es ist sehr aufschlussreich (und für diese Gesellschaft demaskierend), dieses Buch zu lesen, kommt es doch quasi von der ‚anderen Seite der Barrikade’. Immerhin war K. Lauterbach Mitglied der so genannten Rürup-Kommission, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und gehörte der Verhandlungskommission zur Gesundheitsreform an.

Als dialektisch-materialistisch denkender Marxist-Leninist kann man seinen Schlussfolgerungen und Reformvorschlägen nicht folgen, ist doch das Privateigentum an Produktionsmitteln die eigentliche letztendliche Ursache dieses Desasters, das sich schnell noch weiter verschlimmern wird. Das objektive Gewinnstreben, die zwangsläufige Profitmaximierung, wird allem noch so redlichen Wohlwollen immer wieder schnell die Grenzen setzen. Marx lebt! (Aber das sei Herrn Lauterbach – wegen seiner Offenheit – ausnahmsweise geschenkt!)

Das alles ist aber zwingender Anlaß genug, an das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR zu erinnern:

Heute wissen viele junge Menschen aus den neuen Bundesländern nicht, was ihnen durch die so genannte „Wende“ an garantiertem Gesundheitsschutz und sozialer Sicherheit verloren gegangen ist. Und die bürgerlichen Medien bauen auf diese Unwissenheit. Und faseln unablässig von ihren „westlichen Werten“. Viele, sehr viele der ehemals „Eingemauerten“ sind deren oberflächlichem, ja pervertiertem Freiheitsbegriff auf den Leim gekrochen und huldigen gar dem Superapostel der Westliche-Werte-Lehre aus Washington. Gesellschaftlich-historische Dummheit ist ein Massenphänomen geworden. Aber: „Nur wer sozial sicher ist, kann auch frei sein!“ (Wilhelm von Humboldt).

Manche Ältere verschweigen es aus Scham ob ihrer Angepasstheit und ihres Kriechertums. Viele aber erinnern sich angesichts des nun schon nicht mehr verschleierten und sich weiter schnell beschleunigenden Sozialabbaus und der sich weiter herausbildenden Zweiklassenmedizin.

Noch kein früheres Staatsgebilde der deutschen Geschichte hatte eine solche Wandlung in Bezug auf humanistische Zielstellungen, Strukturen, Systemlösungen und Beziehungen der Menschen zueinander und zu anderen Staaten versucht wie diese DDR. Auch sind wohl noch nie in so kurzem Zeitraum derart einschneidende Umbrüche alter Vorstellungen und Lebensweisen erfolgt wie in den 40 Jahren der DDR.

Manche „wahrheitssuchenden“ Historiker (insbesondere westgeprägte!) versuchen die Aufarbeitung der Geschichte der DDR mit Verlogenheiten und Halbwahrheiten, verschweigen aber tunlichst, was nach der „Wende“ in den neuen Bundesländern auch im Gesundheitswesen bittere Realität wurde: Vernichtete Existenzen, tausendfache Entlassungen, „Abwicklung“ ganzer wissenschaftlicher Institutionen, die ersatzlose Streichung von sehr stark praxisorientierten Forschungsprojekten, von ideenreichen Neuerungen, die Auflösung funktionierender Strukturen – das alles verzerrt heute die Erinnerung an das Originalbild der DDR und vermittelt den unwissenden Nachkommen, ebenso wie der heutigen manipulierten Umwelt, die die DDR nicht aus eigenem Erleben kennen gelernt hat, falsche Vorstellungen, die ihren Höhepunkt in der Charakterisierung der DDR als „Unrechtsstaat“ finden!

Es ist sicher nachdenkenswert, dass in den Erinnerungen der früheren DDR-Bürger das Gesundheits- und Sozialwesen der DDR, einige Facetten des Bildungswesens, die Landwirtschaft, die allgemeine systematische Sportförderung u.a.m. immer wieder als besonders positiv auftauchen. Selbst dem notorisch DDR-unfreundlichen Leser sei hier zur Nachhilfe und Annäherung an das Thema empfohlen: Bollinger/Vilmar: „Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer soziokulturellen Einrichtungen.“ Verlag Das Neue Berlin, edition ost 2002.

Ich möchte beispielhaft und wohl weit entfernt von Vollständigkeit einige Stärken des DDR-Gesundheitswesens benennen:

1.) Es gelang, vorher bestehende soziale Schranken für die Inanspruchnahme medizinischer und sozialer Leistungen und Hilfen zu beseitigen (heute kommen sie wieder!) und allen Menschen eine unentgeltliche und gleichermaßen zugängliche Versorgung zu ermöglichen. Grundlage dafür war ein durchgehend und konsequent verwirklichtes Solidarprinzip auf der Basis eines einheitlichen sozialen Versicherungssystems sowie von Zuschüssen aus dem Staatshaushalt.

2.) Die medizinisch-fachliche und berufsethische Grundsituation des Arztes.

Im unmittelbaren Arzt-Patient-Verhältnis konnte er sich frei von jeglichen kommerziellen Erwägungen und ohne Rücksichten auf die eigene ökonomische Existenz den individuellen gesundheitlichen Problemen seiner Patienten widmen. Es gab keine strukturell eingebaute Steuerung des medizinischen Denkens und Handelns über das Geld! Diese fundamentalen Vorzüge waren unseren Ärzten offensichtlich so selbstverständlich geworden, daß ihr Verlust von vielen erst im nachhinein schmerzlich empfunden wurde, wie ich in vielen Kollegengesprächen immer wieder hören konnte. „In der Sprechstunde drehen sich heute 50% meiner Überlegungen nicht um den Patienten, sondern in irgendeiner Weise um Geld – früher undenkbar!“, so kürzlich ein mir bekannter Augenarzt zu mir.

Jeder Arzt, der fremdbestimmten repressiven, ökonomischen Zwängen unterworfen ist oder sich selbst primär dem pekuniären Gewinnstreben unterwirft, kann heute seinen Hippokrates vergessen!

3.) Die Spezialisierung in der Medizin schreitet objektiv schnell voran, was in gleichem Maße und Tempo Integration erfordert. Kooperation und Zusammenarbeit der zunehmenden Zahl ärztlicher Spezialisten, aller anderen Ärzte und Gesundheitsberufe müssen bewusst gestaltet und organisiert werden. Die praktische Umsetzung dieses elementaren Erfordernisses war im DDR-Gesundheitswesen in vielen Jahren immer bewusst betrieben worden und weitestgehend nahezu flächendeckend gelungen. Hier sei nur an die poliklinische Idee und die mit ihr verbundene Kooperation ambulant tätiger Ärzte untereinander und mit den stationären Einrichtungen erinnert, die vielerorts unter einem Dach zusammengeführt waren. Aber diese großartige Errungenschaft wurde nach der „Wende“ zerschlagen. Heute mit dem Wesen nach gleicher inhaltlicher Tendenz zunehmend geäußerte Gedanken werden als „strukturelle Neuerungen“ ausgegeben!

4.) Zu den herausragenden Merkmalen des DDR-Gesundheitswesens zählt zweifellos auch der von vornherein hohe Stellenwert prophylaktischen Handelns. Die dafür geschaffenen gesetzlichen Grundlagen und praktischen Arbeitsformen enthielten auch auf längere Sicht eine Vielzahl vorbildlicher Regelungen. So seien z.B.genannt:

·         Der Gesundheitsschutz für Mutter und Kind

·         Die prophylaktische zahnärztliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen

·         Die arbeitsmedizinische Versorgung durch ein leistungsfähiges Betriebsgesundheitswesen, was von den Betriebsleitungen nun wahrlich völlig unabhängig war

·         Die Dispensairebetreuung von Patienten mit bestimmten Krankheiten

·         Der durchgreifende effektive Infektionsschutz u.v.a. sowie die dies alles tragenden Einrichtungen!

Mit deutlich geringeren Mitteln als z.B. die Alt-BRD konnte die DDR – trotz auch hier seit etwa Anfang der 80er Jahre sektorenweise stagnierender Tendenzen – Gesundheitsparameter erreichen, die sich durchaus in der Spannbreite der entwickelten westlichen Industrieländer bewegten, punktuell diese sogar übertrafen. Das spricht eher für vergleichsweise hohe medizinische, soziale und ökonomische Effizienz eines Gesundheitswesens. In ihrer letzten Sitzung kam eine Kommission des DDR-Gesundheitsministeriums im Sommer 1990 in Konsultation mit den westdeutschen Professoren Obladen und Versmold (die einen Teil der „Abwicklung“ mitvorzubereiten hatten) zu dem Ergebnis: „Die Vermutung liegt nahe, daß in der ehemaligen DDR Faktoren wirksam wurden, die in der Lage waren, die . . .  teilweise bestehenden Mängel im Gesundheitswesen allgemein . . . auszugleichen . . .“! (Monatsschrift Kinderheilkunde, Springer Verlag Berlin – Heidelberg – New York 1991, S.139, 303, 306). Welch wundersame Faktoren werden das wohl gewesen sein???

Sehen wir uns einige wenige sozialpolitische Details an, deren Vorbildcharakter gerade heute Nichtkennern der Materie unglaublich erscheinen mag:

Das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ vom 09. März 1972 bedeutete die Befreiung der Frauen vom Gebärzwang und eröffnete ihnen das Selbstbestimmungsrecht, über Zeitpunkt, Anzahl und zeitliche Aufeinanderfolge von Geburten frei zu entscheiden. Gleichzeitig wurde durch dieses Gesetz die kostenfreie Abgabe ärztlich verordneter Verhütungsmittel geregelt und damit der Prävention das Primat eingeräumt. Die politisch klare und von großer menschlicher Wärme getragene Begründung dieses Gesetzes durch den Minister für Gesundheitswesen der DDR, Prof. Dr. Mecklinger, vor der Volkskammer, war eine Sternstunde für uralte Forderungen der Kommunisten nach Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen. Aus medizinischer Sicht zeigten sich schon sehr bald die Auswirkungen dieses Gesetzes in der deutlichen Senkung der Müttersterblichkeit, der Suizide bei Schwangeren und Wöchnerinnen und der Anzahl klinischer Erkrankungen infolge von Aborten. Die direkten demographischen Folgen der Fristenlösung waren in relativ kurzer Zeit überwunden. Der nach Einführung von Fristenlösungen international bekannte Anstieg legaler Schwangerschaftsabbrüche auf das Fünffache war bereits nach zwei Jahren beendet und ab 1975 stiegen die Geburtenzahlen wieder an! Folgende konkrete Daten sind sehr aufschlussreich:

Tabelle IFruchtbarkeitsziffer – Vergleich BRD / DDR 1970 bis 1990 (d.h. Lebendgeborene je 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren)

                                                                    BRD                                         DDR

                 1970                                           67,2                                          70,1

                 1975                                           47,6                                          52,3

                 1980                                           46,7                                          67,4

                 1985                                              ?                                            63,8

                 1990                                           53,9                                          58,2

(Zynisch kommentiert: Man glich sich an! Richtiger aber: Die „blühenden Landschaften“ brachten auch die „Befreiung“ von sozialer Sicherheit, von staatlich breit geförderter Kinder- und Familienfreundlichkeit!)

Hier erkennt man eine der Ursachen für die heute so beklagte „demographische Lücke“. Der Maximalprofit war mit dem Import billigerer ausländischer Arbeitskräfte viel kostengünstiger zu realisieren, als mit der Auflage eines flächendeckenden, teuren kinder- und familienfreundlichen sozialpolitischen Programms!

Der Fristenlösung in der DDR folgte 1974 die Fristenlösung in der BRD. Aber „umso größer war die Fassungslosigkeit, als die von Millionen Frauen in einem harten aber demokratischen Kampf den Politikern abgerungene Fristenlösung wenig später durch sechs alte Männer des Bundesgerichtshofes mit einem Federstrich zunichte gemacht werden konnte.“(Zitat Zeitschrift „Emma“). Bekanntlich wurde das seit 1995 gültige einschlägige Gesetz ungeachtet der Folgen auf gleiche Weise weiter verschärft.

Nach dem „Beitritt“ der DDR zur BRD wurde den Frauen der Ex-DDR die frauenfeindliche, diskriminierende Gesetzgebung der BRD mit den Paragraphen 218 und 219 StGB übergestülpt. Die Rücknahme der einstigen kostenlosen Abgabe von Verhütungsmitteln an Frauen, Existenzunsicherheiten und hohe Kosten für die Kinderbetreuung – das alles sind Ursachen für den derart gravierenden Geburtenrückgang auf ein Drittel (!!) der Geburtenhäufigkeit auf dem Gebiet der ehemaligen DDR im Vergleich zu den Jahren vor 1990:

Tabelle IILebendgeborene in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost:

                                                                    1980     —       245 132

                                                                    1985     —       227 648

                                                                    1989     —       198 922

                                                                    1991     —       107 800

                                                                    1992     —         88 300

Tabelle III:  Fruchtbarkeitsziffer Berlin-Ost u. Berlin-West (= Zahl der Lebendgeborenen                     je 1000 Frauen im Alter von 15 bis unter 45 Jahren)

                                                                        Ost                    West

                                                   1988             61,4      —          47,8

                                                   1993             25,7                44,8

Dies alles u.a.m. sind sehr konkrete und ebenso sensible Indikatoren; sprechen sie etwa für die großmäulig und demagogisch versprochenen „blühenden Landschaften“, denen viele auf den Leim gekrochen sind?

Viele sozialpolitische Maßnahmen der ehemaligen DDR wären es wert, wieder in Erinnerung gerufen zu werden. Sie sind teilweise in Vergessenheit geraten, werden von den bürgerlichen Medien natürlich bewusst ignoriert und klingen gelegentlich fast unglaubwürdig.

Dazu möchte ich z.B. die Möglichkeit für berufstätige Großmütter nennen, in Vertretung ihrer Töchter oder Schwiegertöchter das bezahlte Babyjahr in Anspruch zu nehmen (bei Garantie des eigenen Arbeitsplatzes!), damit die Mutter des Kindes ihre Ausbildung oder ihr Studium ungehindert fortsetzen konnte. Das heute in dieser BRD zur Übernahme in die einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu empfehlen, würde bei den Zuständigen wohl nur überhebliche Heiterkeit auslösen?!

Ernsthafter wäre schon an solche Bedingungen wie die kostenlose Abgabe der Antikonzeptiva an alle Frauen, die das wünschen, die vollständige Kostenübernahme des Schwangerschafts-abbruchs und aller damit im Zusammenhang notwendigen medizinischen Maßnahmen sowie die selbstverständliche Arbeitsbefreiung mit Lohnfortzahlung u.v.a. DDR-Errungenschaften zu denken.

Alle sozial Benachteiligten, alle Linken müssen – insbesondere in den neuen Bundesländern – entschlossen den Verlogenheiten und Halbwahrheiten vieler angepasster „DDR-Geschichtsaufarbeiter“ mit der Wahrheit entgegentreten, dabei die seinerzeitigen konkret historischen Bedingungen nicht vergessend!

Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist fast doppelt so hoch wie in den alten,  rücksichtsloses Lohndumping ist an der Tagesordnung. Die soziale Barbarei wächst in allen Segmenten!

Welch hohe Verantwortung haben alle Linken und Globalisierungsgegner, gleich welcher Couleur, außerparlamentarisch in Bündnissen, in gemeinsamen Aktionen,  in Bewegungen gegen Sozialabbau und Ausbeuterbarbarei, Arbeitslosigkeit und Armut, um diesen Weg in die soziale Barbarei, Völkerentrechtung und Krieg zu stoppen.

Dennoch gibt es Grund, davor zu warnen, sich nicht erneut ins „Bockshorn jagen zu lassen“! Niemand sollte sich von der kürzlichen sozialdemokratischen Müntefering-Kapitalismuskritik täuschen lassen. Ihre „Herausgeber“ geben sich inzwischen noch nicht einmal mehr die Mühe zu verbergen, daß sie als Ouverture zu einem neuen Reformismus gedacht ist!

Die gegenwärtige gesamtgesellschaftliche Krise hat eine Dynamik soziokultureller Selbstzerstörung in Gang gesetzt, die durch partielle Maßnahmen (eher hilflose Flickschusterei) nicht mehr gestoppt werden kann. Aber nur daran sind im Interesse der Systemerhaltung die so genannten großen Volksparteien sowie ihre bayerischen und gelben Helfershelfer interessiert!

Durch die kapitalistische Organisationsform der Gesellschaft wird schleichend das zivilisatorische Fundament menschlichen Zusammenlebens zerstört.

Bürgerliche Ideologen sprechen von einer gegenwärtigen tiefen Krise der allgemeinen Moral und des elementaren Verantwortungsbewusstseins, das ist ebenso oberflächlich wie hilflos!

Die Dialektik von Wesen und Erscheinung muß man verstehen und man erkennt:

Es bleibt dabei, das Grundübel ist letztendlich das Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln, der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, der gesetzmäßige Zwang zur Profitmaximierung!

                                   OMR Dr.med. Günther Lange