Wolfgang Hermann:
Zur „Niederlagenanalyse“
Der Band Niederlagenanalyse ist eine außergewöhnlich wertvolle Literatur. Viele der dort veröffentlichten Analysen, Einschätzungen und Ausblicke decken sich mit meinen Kenntnissen und Erfahrungen. Das Wertvolle besteht meiner Ansicht nach darin, dass der Nachwelt Ansichten hinterlassen werden, die schon allein durch ihre Existenz den Beweis dafür antreten, dass die vom bürgerlichem Lager gewünschte Auffassung vom Ende der Geschichte, Humbug ist. Bei allem, was ich an Analysen, Einschätzungen und Ausblicken bisher gelesen habe, stellt sich für mich die Frage, für wen sie geschrieben wurden, für wen sie wichtig sein müssen. Eigentlich wenden wir uns an die Arbeiterklasse, an das historische Subjekt, an den Träger der von Kommunisten gedachten Weltveränderung. Andere denken auch die Weltveränderung. Aber eben nicht für die Arbeiterklasse und nicht für das gesellschaftliche Eigentum. Ich verweise auf das Kapitel III „Sozialistische und Kommunistische Literatur“ im Kommunistischen Manifest.
Wenn unsere Analysen, Einschätzungen und Ausblicke für die Arbeiterklasse bestimmt sein sollten – und sie sollten es – dann ergibt sich die nächste Frage, wie sie diese Analysen, Einschätzungen und Ausblicke aufnimmt. Wird sie davon beflügelt oder wird sie davon abgestoßen? Wenn der klassenbewusste Arbeiter liest, was die seine Klasse führende Partei alles so angerichtet haben soll, dann müssen ihm Zweifel kommen. Die Partei der Arbeiterklasse ist kein Gott. Sie ist eine Organisation von Menschen. Sie will die Menschheit von der Ausbeutung und Unterdrückung befreien. Dabei vollbringt sie Hervorragendes, dabei unterlaufen ihr aber auch Fehler. Das muss man sagen dürfen. Die wichtigste Aufgabe für Kommunisten in der Gegenwart besteht darin, das Vertrauen der Arbeiterklasse zurück zu gewinnen. Geschieht das, wenn sich Kommunisten mit Vorwürfen überhäufen? Wie will zum Beispiel die DKP das Vertrauen der Arbeiterklasse zurück gewinnen, wenn sie dem realen Sozialismus Verbrechen nachsagt? Wie können Kommunisten Vertrauen zurück gewinnen, wenn die Arbeiterklasse von ihnen liest, dass sie vom Revisionismus verdorben sind? Kommunisten müssen vor der Arbeiterklasse ehrlich sein. Sie müssen zu ihren Fehlern Stellung nehmen. Damit meine ich auch die Kommunisten, die heute alles wissen und sich aufführen, als hätten sie nichts mit der Niederlage zu tun. Man kann es drehen und wenden wie man will. Das Versagen der Kommunistischen und Arbeiterparteien der europäischen sozialistischen Länder hat seine hauptsächliche Ursache darin, dass sie sich von der Arbeiterklasse gelöst haben, dass sie nicht mehr revolutionär waren.
Für eine wissenschaftliche Niederlagenanalyse setze ich voraus, dass wir uns von jeglichem Subjektivismus trennen. Nicht die einzelne, sondern die gesellschaftliche Erfahrung ist grundsätzlich. Ich gehe davon aus, dass die sozialistische Revolution für die Arbeiterklasse Neuland ist. Sie ist mit der marxistisch-leninistischen Theorie ausgerüstet, die auf die praktische Erfahrungen des Kapitalismus und dank der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution des Beginns der sozialistischen Revolution zurückgreifen kann. Für mich ist die sozialistische Revolution nicht nur der Aufstand, um die Macht zu ergreifen. Sie ist die gesamte Periode des revolutionären Übergangs der kapitalistischen in die kommunistische Gesellschaft – also diese politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Diese Übergangsperiode verstehe ich international. In ihr wirkt die Dialektik vom Sieg der sozialistischen Revolution in einem Land und der sozialistischen Weltrevolution. Erst wenn alle Länder der Erde ihre nationalen sozialistischen Revolutionen siegreich beendet haben, wird der Übergang zum Kommunismus im Weltmaßstab möglich werden, weil es dann nirgendwo auch nur ein Nest gibt, aus dem heraus die Konterrevolution ausgebrütet würde. Dabei ist verständlich, dass der Prozess an Tempo zunehmen wird, je mehr Länder sich auf dem Weg zum Sozialismus befinden.
Ich teile die Auffassung, dass wir eine marxistisch-leninistische Einschätzung der Gründe für die Niederlage des Sozialismus in Europa benötigen. Sie ist nötig, um die richtigen Schlussfolgerungen für den „neuen Anlauf“ zu ziehen.
Es ist kein Wunder, dass für diejenigen, welche die Gründe für die Niederlage des Sozialismus in Europa in Demokratie- und Menschenrechtsdefiziten, gar Verbrechen sehen, die erste Schlussfolgerung darin besteht, dass der „nächste“ Sozialismus ein demokratischer sein müsse, ohne Diktatur und ohne führende Rolle einer Partei. Als würde Demokratie die Eigentumsfrage lösen. Als Marx und Engels die Gründe für die Niederlage der Pariser Kommune analysierten, hoben sie zwei hervor: Die Frage der Macht und die Frage des Eigentums. Mir gefallen deshalb in der Niederlagenanalyse vor allem die Beiträge, die sich mit den Fragen der Macht und der Ökonomie beschäftigen.
Für Marx und Engels lag eine Ursache der Niederlage der Pariser Kommunarden darin, dass sie es versäumten, den bestehenden Staatsapparat zu zerstören. Eine andere war, dass sie der Ausbeuterklasse nicht das Eigentum nahmen, es vergesellschafteten und auf seiner Grundlage eine eigene ökonomische Macht errichteten. Von mangelnder Demokratie und Menschenrechtsverletzungen, gar Verbrechen der Pariser Kommunarden, las ich bei ihnen nichts. Dabei waren die Kommunarden nicht gerade zimperlich, wenn ihnen ein Aristokrat über den Weg lief.
Sehen wir uns die Ursachen der Niederlage des Sozialismus in Europa im Lichte der Einschätzung der Pariser Kommune von Marx und Engels an. Hat die junge Sowjetmacht, haben die ihr folgenden Volksdemokratien, den alten Staatsapparat zertrümmert? Förmlich schon. Sie besetzten ihn mit ihren Leuten und wo sie nicht reichten, wählten sie aus den alten Staatsdienern solche aus, die ihnen verlässlich schienen – das ging gar nicht anders. Damit übernahmen sie aber auch altes Gedankengut. Man hob die Trennung der Macht in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion auf. Die Abgeordneten hatten keine höheren Einkünfte als die Arbeiter. Es wurden aber die Strukturen der Machtorgane beibehalten. Sachgebietsbezogene Ministerien, Armee, Polizei und Sicherheitsorgane hatten neue Inhalte und neue Leuten, arbeiteten aber nach altem Muster. Die zu Beginn in der Sowjetunion (Räteunion) entstandenen Räte trugen zunächst den Keim des Neuen in sich, trugen aber das Neue nicht aus. Dafür gab es Gründe.
Um also die Arbeiterklasse in die Lage zu versetzen, ihre errungene Macht auszuüben, bedarf es völlig neuer Machtorgane: Räte, welche die Macht in Gesetze kleiden, Komitees, die sie durchführen und Organe, die sie kontrollieren.
Heute wissen wir, dass die Eigentumsfrage nicht so angepackt worden ist, wie es nötig gewesen wäre. Marx sprach immer vom gesellschaftlichen Eigentum. Ist staatliches Eigentum eine Form gesellschaftlichen? Hier möchte ich abschweifen und mich kurz mit der Warenproduktion beschäftigen. Gibt es sie im Sozialismus oder gibt es sie nicht? In der Niederlagenanalyse beschäftigt sich Hermann Jacobs damit. Nun wissen wir, dass ein Produkt zur Ware wird, wenn es für den Tausch bestimmt ist. In der kapitalistischen Produktionsweise wird das Produkt zum Zwecke des Tauschs (Verkaufs) hergestellt: also Warenproduktion. Aber nicht nur das. Der Warenproduktion wohnt auch inne, dass die Arbeitskraft als Ware auftaucht. Wenn im Sozialismus die Arbeitskraft auch Ware sein sollte, die der Arbeiter gezwungen wäre zu verkaufen, dann stellt sich die Frage, wie die ihre Arbeitskraft verkaufende Arbeiterklasse herrschende Klasse sein kann. Sie könnte es zwar formell, aber eben nicht ökonomisch und damit politisch. Im Sozialismus widersprechen sich Warenproduktion und Diktatur des Proletariats.
In den Ländern, die auf dem Wege zum Sozialismus sind, wird vorrangig nicht für den Austausch, sondern für die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft produziert. Damit entfiele von vornherein der Charakter der Produktion als Warenproduktion. Die Arbeitskraft wäre nicht mehr Ware, der Lohn nicht ihr Kaufpreis. Die Vergütung erfolgte als Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprodukt, der je nach Leistung noch unterschiedlich ausfällt. Nun kann aber ein Teil der Produkte für den Tausch auf dem Weltmarkt bestimmt sein. Dieser Teil müsste nach den auf dem Weltmarkt geltenden Regeln auftreten. Und diese Regeln werden von der den Weltmarkt dominierenden Produktionsweise bestimmt.
Solang das die kapitalistische ist, solang werden die aus den Ländern, die auf dem Wege zum Sozialismus sind, angebotenen Produkte den Charakter von Waren annehmen müssen, es sei denn, diese Länder verzichten auf den Auftritt auf einem vom Kapitalismus bestimmten Weltmarkt und bilden einen eigenen.
Wenn wir uns also mit der Niederlagenanalyse beschäftigen, dann müssen wir die Frage beantworten, warum es den Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft nicht gelang, eine der kapitalistischen Produktionsweise überlegene, von Warenproduktion freie Produktionsweise zu entwickeln. Eine der kapitalistischen Produktionsweise überlegene Produktionsweise verlangt nach gesellschaftlichem Eigentum. Vom Staat verwaltetes Eigentum reicht dafür wahrscheinlich nicht aus. Wenn die Arbeiterklasse die Macht ausüben will, dann muss sie volle Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel haben. So paradox es klingt, das genossenschaftliche Eigentum war für die Genossenschaftsmitglieder mehr verfügbar als das staatliche für die Arbeiterklasse.
Es gibt Kommunisten, die meinen, dass der Weg zum Sozialismus mit anderen zum Sozialismus strebenden Kräften ausgetragen werden muss. Welche andere Kraft als die von den Kommunisten angeführte Arbeiterklasse will den Weg zum Sozialismus – genauer zum wissenschaftlichen Sozialismus? Die Erfahrung lehrt, dass andere Kräfte, auch wenn sie bereits auf sozialistischem Wege waren, wieder zum Privateigentum zurückkehren, wenn man sie gewähren lässt. Und ich wage die Behauptung, wäre das staatliche Eigentum in den sozialistischen Ländern gesellschaftliches, also für die Arbeiterklasse verfügbares Eigentum gewesen, dann hätte sie es verteidigt. Dann hätte sie ihre Kampfgruppen nicht auflösen lassen. Aber so…
Ich denke, dass es solche Überlegungen in den Kommunistischen und Arbeiterparteien gegen hat. Aber irgendwann sind Brüche aufgetreten. Sie hängen sicherlich mit dem XX. Parteitag der KPdSU zusammen. Dabei stellt sich für mich aber die Frage, worin der größere Irrtum der KPdSU bestand: In der Abrechnung mit Stalin oder in der Proklamierung des Aufbaus des Kommunismus? Man kann die Führung der KPdSU für die Niederlage verantwortlich machen. Ich halte das aber für zu wenig. Muss man nicht die Rolle der Arbeiterklasse und der gesamten Partei der Sowjetunion betrachten? Muss man nicht auch die Reife der kommunistischen Bewegung einschätzen? Wie gesagt, es wurde Neuland beschritten.
Wir wissen, dass der Marxismus-Leninismus nicht in der Arbeiterklasse entstanden ist. Intellektuelle deckten die Bewegungsgesetze der menschlichen Gesellschaft auf. Ihre besten Vertreter übernahmen und erfüllten die Aufgabe, ihn in die Arbeiterbewegung zu tragen. Marx, Engels und Lenin schufen nicht nur die Lehre, sie verbanden sie auch mit der Arbeiterbewegung, indem sie deren Bewegung studierten und in ihr wirkten. Sie gaben das Vorbild für die Rolle der Partei als Führerin der Arbeiterklasse. Studiert man die Erfahrungen von erfolgreichen Kommunistischen und Arbeiterparteien, so gelangt man zur Erkenntnis, dass sie eng mit der Arbeiterklasse verbunden waren, in ihr lebten und aufgingen. Das war bei den Bolschewiki, bei der Thälmannschen KPD und bei der KP Brasiliens zur Zeit Luis Carlos Prestes so wie heute bei der KP Griechenlands und Portugals. Die Ursache der erfolgreichen Zeiten der Sowjetunion lag in der festen Verbindung der KPdSU mit der Arbeiterklasse. Die größten Erfolge der Sowjetunion gründeten sich auf den unerschöpflichen Enthusiasmus der Arbeiterklasse und der Bauernschaft. Wir haben das übrigens auch in der DDR erlebt. Es gab durchaus revolutionäre Phasen beim Aufbau des Sozialismus.
Irgendwann traten also Brüche ein. Die Parteien wischen von der marxistisch-leninistischen Lehre ab. Darunter verstehe ich nicht nur das Abweichen von theoretischen Leitsätzen, sondern auch das Abweichen von der Methode: Marxistisch-leninistische Analyse der Lage und klassenmäßige Schlussfolgerungen. Für Kommunistische Parteien muss es aus der Niederlage des Sozialismus in Europa eine wichtige Lehre geben: Sie müssen darauf achten, dass ihre Gesellschaftswissenschaftler nicht die Verbindung zur Arbeiterklasse verlieren.
Ich halte wenig davon, dass Gesellschaftswissenschaftler in der Zeit der sozialistischen Revolution schwiegen und in der Zeit der Niederlage auf einmal wissen, woran es lag. Damit leisteten und leisten sie der Arbeiterklasse keinen guten Dienst.
Ich negiere nicht das Versagen von Parteiführungen, ich lehne jedoch die Überbewertung ihrer Rolle ab. Eine Parteiführung ist letztendlich nur so gut wie die gesamte Partei. Ist all das, was dem Opportunismus und Revisionismus zugeschrieben wird, auch solcher? Manches wird auch aus Unwissenheit und fehlender Erfahrung passiert sein. Damit meine ich nicht die Gorbatschowisten. Nach ihren eigenen Aussagen über ihre Mission waren sie nicht schlechthin Opportunisten, sondern Verräter an der Sache der Arbeiterklasse.
In der Niederlagenanalyse gibt es Einzelheiten, die ich nicht bestätigen kann. Auf Seite 287 wird der Rotfuchs zitiert. Danach „machte eine Gruppe durch niemanden gewählter jüngerer Mitglieder auf der Straße Politik, nutzte das bestehende Machtdefizit sowie die Kopf- und Tatenlosigkeit der gelähmten Führungsspitze aus, fegte die bestehenden Leitungsstrukturen – Politbüro und Zentralkomitee – hinweg, etablierte sich selbst als ‚provisorischer Nachlassverwalter’, berief für den 8. und 9. November einen ‚Außerordentlichen Parteitag’ ein und nutzte die dort herrschende Verwirrung, im nicht nur den Namen der Partei, sondern auch die Richtung ihres Weges ins Gegenteil zu verkehren.“
Die Fakten sind andere. Im Buch „Das Geschenk“ von Eberhard Czichon und Heinz Marohn werden sie ziemlich genau beschrieben. Zunächst war vom noch existierenden Zentralkomitee der XII. Parteitag für das Frühjahr 1990 einberufen worden. Auf der 10. Tagung am 8. November 1989 beschloss das gleiche ZK die Durchführung einer Parteikonferenz im Dezember 1989. Mitte November fanden in allen Kreisen Delegiertenkonferenzen statt, auf denen die politische Situation erörtert und die Delegierten der Parteikonferenz gewählt wurden. Während Egon Krenz in Ribnitz-Damgarten gewählt wurde, fielen andere führende Genossen durch. Es waren nicht durch niemanden gewählte jüngere Mitglieder, die auf der Straße Politik machten, sondern die gewählten Delegierten der Parteikonferenz. Der Außerordentliche Parteitag wurde auch nicht für den 8. und 9. November, sondern für die Zeit vom 8. bis 10. Dezember einberufen. Diese Entscheidung fiel am 3. Dezember, als die letzte Tagung des ZK stattfand. Das Zentralkomitee und das Politbüro lösten sich am 3. Dezember selbst auf und übertrugen einer Gruppe gewählter Delegierter die Vorbereitung der Parteikonferenz, aus der dann der Außerordentliche Parteitag wurde. Ich war am 3. Dezember dabei, ich habe das original miterlebt. In der Stunde der Wahrheit fehlte nicht nur die zweite marxistisch-leninistische Reihe, die angeblich marxistisch-leninistische Partei war in der Auflösung begriffen.
Wenn Erstarrung in den Kommunistischen und Arbeiterparteien eingetreten ist, dann bezieht sich das meines Erachtens auf die Gesamtpartei. Auch aus dem Rotfuchszitat leuchtet altes Parteidenken: Die erstarrte Führung, ihre Sprachlosigkeit etc. Wo waren die nicht Erstarrten und nicht Sprachlosen, wie zum Beispiel die späteren Rotfüchse? Auf der Tagung des ZK am 18. Oktober 1989, auf der Egon Krenz zum Generalsekretär gewählt wurde, sprach Moritz Mebel: „Ich bin sechsundvierzigeinhalb Jahre Mitglied dieser Partei und zwanzig Jahre im ZK… Und ich muss sagen, ich trage die volle Verantwortung für das, was in diesem Land Positives, aber auch Negatives geschehen ist… Ich frage mich aber auch, warum habe ich geschwiegen und nicht den Mut gehabt habe, hier vorzutreten und zu sagen: Genossen, das und das ist nicht so. Ich habe vorm Feind Mut gezeigt. Ich war an der Front… Ich bin Mitstreiter in der Sowjetarmee gewesen. Aber hier habe ich den Mut nicht gezeigt. Ich habe in den Korridoren diskutiert, aber hier an dieser Tribüne war der Moritz Mebel mit positiver Kritik nicht zu hören…“ Der Genosse war wenigstens ehrlich.
Worauf bezieht sich der Vorwurf der Erstarrung? Wer oder was war erstarrt? Darauf geben die klugen Leute keine Antwort. Wenn Erstarrung in den Führungen Grund für die Niederlage des Sozialismus in Europa gewesen sein sollte, dann müssten Monarchien und bürgerlichen Republiken kein langes Leben gehabt haben. Die Erstarrung dort war weitaus ausgeprägter.
Die Parteimitgliedschaft hatte sich angewöhnt, darauf zu warten, dass die Parteiführung entschied. Und nun fand die Parteiführung im Herbst 1989 nicht sofort die adäquate Antwort auf die entstandene Situation. Die Mitglieder warteten auf Antworten und vergaßen, selbst zu handeln. Wer also vom Erstarren der Führung spricht, muss gleichzeitig die Trägheit der Mitgliedschaft zugeben.
Ich nehme an, dass die „Erstarrung“ etwas mit der schleppenden Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hatte. Um den Gegner in die Schranken zu weisen, wäre es notwendig gewesen, den ökonomischen Klassenkampf aufzunehmen und siegreich zu gestalten. Ist die berühmte Schlacht um die höhere Arbeitsproduktivität geführt worden? Vor dem II. Weltkrieg war die Sowjetunion nahe dran. Nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus fand sie oder organisierte sie sich mit den Volksdemokratien Verbündete. Das Wort der Kommunisten „Gemeinsam sind wir stark“ hätte im ökonomischen Klassenkampf verwirklichen werden können. Ich erkenne hier keine Erstarrung, sondern ein Gar-Nicht-Stattfinden. Dabei gab es Ansätze, die aber eingestellt wurden, als man sich ihres Erfolgs nicht sicher war.
Ich denke auch, dass hier die Gesellschaftswissenschaften versagt haben. Sie fanden keine wissenschaftlich begründete Gesellschaftsprognose. In der DDR war die Strategie seit 1981 auf die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgelegt. Das war einfach zu wenig. In den 1960er Jahren unternahm die SED den Versuch, die Entwicklung der Produktivkräfte voran zu treiben. Darauf baute sie ein weiter entwickeltes Gesellschaftssystem auf. Es gibt heute Leute, die das Neue Ökonomische System der DDR und die These vom Sozialismus als relativ selbständige Gesellschaftsformation in den Garten des Revisionismus verlegen. Warum eigentlich? War es nicht notwendig geworden, die gesellschaftliche Entwicklung zu bewerten und ihr neue Impulse zu geben? In einer Diskussion um die höhere Arbeitsproduktivität fragte mich ein Genosse der Plankommission, ob ich Arbeitslosigkeit in der DDR riskieren wolle. Ich antwortete ihm, dass unter sozialistischen Produktionsverhältnissen eine höhere Arbeitsproduktivität nicht wie im Kapitalismus zu Arbeitslosigkeit führen müsse, sondern zur 30-Stunden-Arbeitswoche und Rente mit 50. Das konnte er nicht fassen.
Was ich heute über den realen Sozialismus und über seine Niederlage sage und schreibe, mache ich vor dem Hintergrund der bitteren Erfahrungen. Was ich heute darüber denke und weiß, dachte und wusste ich vor 20 Jahren noch nicht. Für mich war einfach nicht vorstellbar, dass sich das Vaterland in Gefahr befand. Revolutionen haben es an sich, auch verloren gehen zu können. Das macht mich zwar nicht glücklich, aber zuversichtlich für neue Siege.
Nach wie vor gilt, dass die Welt nicht nur interpretiert, sondern verändert werden muss. Das trifft auch für die Niederlagenanalyse zu. Sie muss auf einem Erkenntnisstand angelangt, auch einmal ein vorläufiges Ende haben, damit man Kopf und Hände für das tatsächlich zu Leistende frei bekommt.
Wolfgang Herrmann, Dreesch