Die Recherchen des Commissario Pallotta:
Warum Aldo Moro sterben musste
Eine Kriminalgeschichte nach Tatsachen von Gerhard Feldbauer
Der Mord
Für Pietro Pallotta war der Fall Moro nie endgültig aufgeklärt, nie bis zu Ende gelöst worden; trotz der geführten Prozesse, der Geständnisse der Angeklagten, der ergangenen Urteile. Das hing ursächlich mit der Arbeit zusammen, mit der er anfangs im Fall Moro befasst war.
Unmittelbar nachdem der Vorsitzende der Democrazia Cristiana am morgen des 16. März 1978 entführt worden war, hatte man ihn in der römischen Questura beauftragt, die Fahndungsergebnisse auszuwerten. Abend für Abend fasste er diese zu einem Tagesrapport zusammen.
Routinearbeit, eher eine administrative Funktion.
Dem Commissario aber, der von seinem Vater, einem Offizier der Resistenza und späteren Historiker der Zeitgeschichte, etwas von dessen analytischem Scharfsinn geerbt hatte, gewährte sie brisante Einblicke in diese größte Tragödie der italienischen Nachkriegsgeschichte.
Die ersten Meldungen, die auf dem Schreibtisch Pallottas landeten, befassten sich mit dem Hergang bis zur Entführung. Aldo Moro, Führer der Democrazia Cristiana (DC = Christliche Demokratie, Christdemokratische Partei), hatte am Morgen kurz vor neun Uhr seine Wohnung in der Via di Forte trionfale verlassen, um sich in den Montecitorio zu begeben. Dort sollte am Vormittag die Debatte über das neue Kabinett eröffnet werden, das zum ersten Mal seit 1947 wieder die Kommunisten in die Regierungsverantwortung einbezog.
Moro war in seinen Dienstwagen, einen blauen FIAT 130, gestiegen. Der Chef der Eskorte hatte vorn neben dem Fahrer Platz genommen. Dem Fahrzeug des Parteichefs folgte ein weißer Alfetta mit drei weiteren Polizisten. Moro hatte zunächst die Kirche Santa Chiara, in der er fast täglich betete, besuchen wollen. Vor der Kreuzung Via Fani-Stresa fuhr plötzlich ein weißer FIAT 128 rückwärts auf Moros Wagen zu. Sein Fahrer konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und stieß auf ihn. Das folgende Fahrzeug mit dem Begleitkommando fuhr auf den Wagen des Politikers.
Der Überfall danach spielte sich zwischen 9.05 Uhr und 9.15 Uhr ab. Einer der Entführer stand an einem Blumenstand links der Kreuzung. Vier weitere in Uniformen der italienischen Fluggesellschaft „Allitalia“ hatten vor einer geschlossenen Bar Posten bezogen. Die übrigen, unter ihnen eine Frau, saßen in fünf PKWs und auf einem Honda-Krad. Einer der Wagen hatte ein diplomatisches Nummernschild. Wie sich später herausstellte, stammte es von einem früheren Fahrzeug der venezolanischen Botschaft in Rom. Nachdem Moro und seine Eskorte gestoppt worden waren, eröffneten die Attentäter das Feuer und schossen die fünf Leibwächter nieder. Nur einem gelang es, seine Pistole zu ziehen und drei Schüsse abzugeben, die aber niemanden trafen. Vier der Polizisten waren sofort tot. Der fünfte starb während der Operation im Krankenhaus.
Der Parteivorsitzende wurde aus seinem Wagen gezerrt und in einen PKW der Entführer, einen FIAT 130, gestoßen. Aus Moros Aktentasche wurden zwei Mappen entnommen. Eine enthielt, wie Rückfragen ergaben, geheime Dokumente. Die zweite Medikamente, die der kranke Politiker regelmäßig einnehmen musste. Drei weitere Mappen blieben unbeachtet zurück.
Eher routinemäßig vermerkt Pallotta, dass die Entführer die Fahrstrecke des DC-Führers gekannt haben mussten. Diese wechselte täglich und war nur den Sicherheitsbeamten bekannt. Der Chef des Begleitkommandos erfuhr sie jeweils erst am Morgen. Auffällig erscheint ihm auch, dass die Attentäter nicht die Aktentasche Moros mit sich nahmen, sondern mit sicherem Griff aus ihr die Mappe mit den Geheimdokumenten und die mit den Medikamenten herausnahmen. Die Angaben über die Zahl der Entführer schwankten zwischen neun und elf Personen.
Der Commissario vermerkt weiter, dass die Telefonverbindungen im Stadtbezirk des Tatorts kurz nach dem Anschlag für etwa eine Stunde ausfielen. Das verzögerte eine sofortige und koordinierte Fahndung. Unter anderem führte es dazu, dass Straßensperren teilweise erst eine Stunde nach dem Überfall errichtet wurden.
Höchstwahrscheinlich hatten die Entführer zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Opfer bereits das vorbereitete Versteck erreicht. Denn um 10.05 Uhr erhielten gleich mehrere Zeitungen folgenden Text: „Heute Morgen haben wir den Vorsitzenden der Democrazia Cristiana entführt und seine Eskorte, die ‚Ledernacken’ Cossigas, eliminiert. Ein Kommunique folgt.“
Die Mitteilung ist mit „Brigate Rosse“ unterzeichnet.
Pallotta war, wie viele seiner Kollegen, einigermaßen überrascht. Die 1970 entstandenen „Brigate Rosse“ hatten seitdem den bewaffneten Kampf gegen den Staat propagiert und vor allem durch spektakuläre Entführungen von Industriellen und Richtern von sich reden gemacht. Trotz zahlreicher tödlicher Anschläge wurden sie seit der 1976 erfolgten Verhaftung des so genannten „Historischen Kerns“ mit dem Brigate-Rosse-Gründer Renato Curcio und seinem Stellvertreter Alberto Franceschini an der Spitze nicht mehr als eine ernsthafte Gefahr gesehen. Die Ausschaltung der BR-Führung galt als Werk des Chefs der Anti-Terrorabteilung, des Carabinieri-Generals Alberto Dalla Chiesa. Curcio und Genossen standen zur Zeit in Turin vor Gericht.
Italienische und ausländische Zeitungen, beileibe nicht nur linke, waren voll von Berichten über Geheimdienst- und Polizeiagenten, die in linksradikale Organisationen einschließlich der BR eingeschleust worden seien. Die seriöse Pariser Zeitung „Le Monde“ sprach 1972 gar davon, dass zehn Prozent der Linksradikalen Polizeiagenten seien. Belegt war, auch wenn es nicht im Polizeicomputer stand, dass Curcio und Genossen von einem Agenten namens Silvano Girotti, Sohn eines Carabinieri-Offiziers und selbst ehemaliger Fremdenlegionär, „ans Messer geliefert worden waren.“ Danach hieß es, man habe die BR und ihre Ableger „unter Kontrolle“. Dafür schien zu sprechen, dass die Abteilung des Generals Anfang 1976 aufgelöst wurde.
Wer da was und wie „unter Kontrolle“ haben wollte, wurde für den Commissario in den kommenden Tagen und Wochen seiner Arbeit im Fahndungsstab mehr und mehr fragwürdig. Den Ausfall des Telefonnetzes unmittelbar nach dem Überfall hatte Pallotta für einen verhängnisvollen Zufall gehalten. Als kurze Zeit später während zweier Telefongespräche der Entführer mit der römischen Tageszeitung „Il Messagero“ wieder die Telefonleitungen unterbrochen werden, kommen ihm Zweifel, dass auch das ein Zufall sein soll. Denn dadurch ist es nicht möglich, über die polizeilich abgehörten Leitungen möglicherweise festzustellen, woher die Anrufe kommen.
In der Presseübersicht, die Pallotta am Morgen nach der Entführung auf den Tisch kommt, fällt ihm als erstes die Schlagzeile von „Il Giornale“ auf. „Moro Gefangener der Roten Brigaden / Freilassung gefangener Terroristen gefordert“, schreibt das rechts stehende Blatt. Der ebenfalls in Mailand erscheinende „Corriere della Séra“ titelt seinen Bericht: „Das Land hat die Erpressung der Roten Brigaden zurückgewiesen.“ Der Commissario vergewissert sich in den Nachtmeldungen, dass seit der telefonischen Durchgabe der Entführer am Vortage keine weiteren Nachrichten von den BR vorliegen. Das „Comunicato N I“ der BR trifft erst am nächsten Tag, dem 18. März ein. Es enthält keinerlei Forderungen, auch nicht die über die Freilassung politischer Gefangener, die erst später erhoben wird. „N I“ teilt zunächst nur mit, dass dem DC-Vorsitzenden in einem „Prigione del Pòpolo“ der Prozess gemacht würde, denn er sei „der `Theoretiker´, der unbestrittene `Stratege´ dieses christdemokratischen Regimes, das seit dreißig Jahren das italienische Volk unterdrückt. Beigefügt ist ein mit einer Polaroid-Kamera aufgenommenes Foto, das Moro vor einem Plakat mit dem roten Stern, dem BR-Symbol, und der Aufschrift „Brigade Rosse“ zeigt.
Pallotta vermerkt: „Betreffende Berichte entsprechen nicht der Sachlage. Woher stammen die Informationen, was bezwecken die Zeitungen damit?“
Er bittet die Kollegen der Presseabteilung, dem nachzugehen. Als er zwei Tage später auf einer Dienstbesprechung nachhakt, wird er ungehalten angefahren, sich um seine Aufgaben zu kümmern. Die Journalisten des „Giornale“ seien „sicher auf der richtigen Spur“.
Pallotta liegt eine scharfe Réplica auf der Zunge, ob „Il Giornale“ oder „Il Corriere“ nun auch schon ihre V-Leute in den BR hätten, hält es aber dann doch für geraten, besser zu schweigen.
Den gut gemeinten Rat, sich in die „seltsame Linie der Ermittlungen“ besser nicht einzumischen, gibt ihm ein paar Tage darauf sein Freund Maurizio, der mit ihm im selben Ressort arbeitet, bei einem Glas Vino nach Dienstschluss. Mit Maurizio verbindet ihn eine lange Freundschaft, die in der ihrer Väter wurzelt, die in der Resistenza gemeinsam in einer Partisanenbrigade „Gerechtigkeit und Freiheit“ der radikaldemokratischen Aktionspartei kämpften.
Die Charakteristik „seltsam“ reicht indes für nicht wenige der Fahndungsergebnisse, die Kommissar Pallotta im weiteren Verlauf der „Jagd auf die Entführer“ – so ein gern benutzter Slogan auf den Einsatzbesprechungen – zu Gesicht bekommt, schon bald nicht mehr aus. Darunter fällt die Mitteilung, dass von den 92 am Tatort gefundenen Patronenhülsen 39 mit einem Speziallack überzogen sind, mit dem die Munition „nichtkonventioneller Armee-Einheiten“ – so werden Spezial-Truppenteile der NATO bezeichnet – präpariert wird, um sie auch in Erd-Depots vergraben zu können. Pallotta entschließt sich, das brisante Thema diesmal nicht auf der täglichen Dienstbesprechung zur Sprache zu bringen. Er begibt sich direkt zum leitenden Offizier und fragt, ob diesbezügliche Diebstähle aus Heeresbeständen bekannt seien. Dieser sagt zu, das zu klären und bedankt sich, dass der Commissario die Angelegenheit „diskret“ an ihn herantrug.
Denn das sei ein Thema, das strikter Geheimhaltung unterliege, keine Erwähnung im Abendbericht.
Pallotta erfährt nicht, ob seiner Frage nachgegangen wird. Sie spielt in den laufenden Untersuchungen keine Rolle. Er stellt bald fest, dass derartige Themen tabu sind, bei den Ermittlungen ausgeklammert werden. Begründungen, wenn sie denn einmal nicht zu umgehen sind, lauten: Damit befassen sich die „zuständigen Dienste“.
Angesichts der „seltsamen” Haltung bei der Fahndung wundert es im römischen Polizeipräsidium kaum noch jemanden, dass der die Ermittlungen führende Staatsanwalt Luciano Infelisi erst 14 Tage nach der Entführung einen Termin zur kriminaltechnischen Rekonstruktion am Tatort festlegt. Obendrein wird bekannt, dass in diesem in der italienischen Nachkriegsgeschichte einmaligen politischen Kriminalfall Infelisi allein ermittelt. Schon für weniger gewichtige Fälle wurden dazu in der Vergangenheit Sonderkommissionen von Staatsanwälten und Untersuchungsrichtern gebildet. Wie erst später durch die parlamentarischen Untersuchungen der Moro-Kommission bekannt wird, war die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen im Fall Moro entscheidend eingeschränkt und deren Leitung vom Innenministerium übernommen worden.
Die Abgeordnetenkammer und anschließend der Senat verzichten angesichts der dramatischen Situation auf die angesetzte Debatte über das Regierungsprogramm und sprechen noch am Tag der Entführung der von Giulio Andreotti geführten Regierung mit einer in der Nachkriegsgeschichte nicht gekannten Mehrheit von 95 Prozent das Vertrauen aus.
Die Kommunisten votieren einstimmig für Andreotti, in dessen Kabinett Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten sowie die Republikaner vertreten sind.
Die Liberalen treten nach kurzer Zeit ebenfalls bei.
Gegen die Regierung Andreotti stimmen die Neofaschisten der Sozialbewegung Movimento Sociale Italiano. Ihr Parteiführer Giorgio Almirante bezichtigt die Christdemokraten des „Paktierens mit den Kommunisten” und beschuldigt sie, unfähig zu sein, „Sicherheit und Ordnung” zu garantieren. Er fordert den Staatspräsidenten auf, zurückzutreten, ein Präsidialregime einzuführen, den Ausnahmezustand zu verhängen, Notstandsgesetze zu erlassen und Militärs in die Regierung aufzunehmen. Entsprechende Ausnahmegesetze werden fünf Tage später verabschiedet. Sie erlauben Polizeiverhöre ohne Anwalt, längere Festnahmezeiten ohne Haftprüfungstermine, Telefonüberwach-ungen ohne richterliche Verfügung. Damit werden die umstrittenen Repressivmaßnah-men erweitert, die Cossiga seit seinem Amtsantritt als Innenminister 1976 bereits erlassen hat: Einführung des Paragraphen über „terroristische Vereinigungen”, Hochsicherheits-trakte nach dem Vorbild von Stammheim, Anhebung der Höchstdauer der Unter-suchungshaft.
Der Commissario ist kein Sympathisant der Kommunisten, steht mehr den Sozialisten nahe und stimmt bei Wahlen meist für sie. Aber er teilte die Meinung seines Vaters, der als Aktionist in der Resistenza kämpfte, deren führende Kraft die IKP war. Der Vater blieb seinen antifaschistischen Überzeugungen treu und trat Angriffen gegen die einstigen Kampfgefährten stets entgegen. Pietro Pallotta fragt sich wieder einmal, wie ein Almirante, der unter dem „Duce“ als Staatssekretär einen Genickschusserlass gegen Partisanen unterschrieb, nach 1945 nicht nur ungestraft davonkommen, sondern in Gestalt des MSI die faschistische Partei wiedergründen, mit ihr schon 1947 ins Parlament der Republik, die sich in der Verfassung auf die Resistenza berief, einziehen und noch heute agieren konnte.
Die Kommunisten treten vorerst nicht in die Regierung ein.
Das geschieht vor allem, um die Amerikaner, die strikt dagegen sind, zu beruhigen.
Bereits ein Jahr vorher hatte Berlinguer, der Führer der IKP, dazu das Einverständnis seiner Partei zur NATO-Mitgliedschaft und zur Bündnistreue Italiens erklärt.
Mit Moro ist der Regierungseintritt der IKP für einen späteren Zeitpunkt bereits vereinbart worden, was jedoch tunlichst zunächst nicht publik gemacht wird. Bereits jetzt stehen den Kommunisten gegenüber dem Kabinett jedoch Kontrollrechte zu.
Die erste Amtshandlung des Ministerpräsidenten besteht in einer von Rundfunk und Fernsehen wiedergegebenen Erklärung, gegen die Entführer mit „Fermezza” und „Intransigenza” vorzugehen. Die Linie „unnachgiebiger Härte” bedeutet, dass im Gegensatz zu allen früheren Fällen und auch zu der nach dem Fall Moro wieder gängigen Praxis Verhandlungen mit den Entführern abgelehnt werden. Alle Parteien der Regie-rungskoalition stimmen dieser Linie zu.
Am entschiedensten vertritt sie die IKP, die befürchtet, anderenfalls als Komplize der BR hingestellt zu werden, was seitens der Neofaschisten und äußersten Rechten trotzdem nicht ausbleibt.
Am 15. April verkünden die BR das „Ende des Prozesses” gegen Moro und das gegen ihn „verhängte Todesurteil“. Am 24. April verlangen sie in ihrem „Comunicato N 8″ im Austausch gegen den DC-Chef 13 politische Gefangene freizulassen. Moro schreibt Briefe an den Sekretär und weitere hohe Funktionsträger seiner Partei einschließlich Staatspräsident Leone und Ministerpräsident Andreotti sowie an den Parlamentspräsi-denten Ingrao von der IKP, in denen er inständig für den Austausch plädiert. Das Regime bleibt bei seiner „Intransigenza” auch dann, als die BR am 5 Mai im „Comunicato N 9″ „die Vollstreckung des Urteils” ankündigen.
Als Modell der „unnachgiebigen Härte” dient der Regierung Andreotti die „Lösung”, die von der deutschen Bundesregierung unter dem sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt ein Jahr vorher im Fall des von der Roten Armeefraktion entführten Präsidenten des Unternehmerverbandes, Hans Martin Schleyer, praktiziert worden war: Nicht verhandeln, allenfalls hinhalten, Befreiungsaktionen ankündigen, den Tod der Geisel in Kauf nehmen. Im Ergebnis dieser Linie deutscher „Intransigenza” exekutierte die RAF ihre Geisel. Als Andreottis „Intransigenza” zu kippen drohte, weil die Sozialisten ankündigten, aus der Phalanx auszuscheren, kommt kein geringerer als US-Präsident Jimmy Carter seinem italienischen Kollegen zu Hilfe und stellt sich „voll und ganz” hinter ihn.
Zur Unterstützung des von Innenminister Cossiga gebildeten Krisenstabes, dem die höchsten Vertreter der Geheimdienste, der Polizei und des Militärs angehören, reisen aus der Bundesrepublik scharenweise Beamte des Bundeskriminalamtes, des Innenminis-teriums und des Bundesnachrichtendienstes an. Aus den USA wird ein gewisser Steve Pieczenik eingeflogen, ein Havardabsolvent, Chef des Antiterrorismus-Ressorts im State Department und Außenminister Kissingers Spezial-Assistent. Er wird als „erfahrener Krisenmanager” gehandelt und avanciert umgehend in Cossigas Krisenstab zum Berater des Innenministers. Der römische Polizeicomputer sagt allerdings nichts über Pieczeniks Erfolge aus. Sie werden eher in der hauseigenen subversiven Arbeit in Südamerika, besonders gegen das Chile Allendes vermutet, bei der Kissinger seinerzeit eine unrühmliche Rolle spielte.
In der römischen Questura ist natürlich zur Genüge bekannt, dass die Amerikaner entschiedene Gegner der von Moro betriebenen Politik des „Compromesso Stòrico” mit den Kommunisten sind. Kissinger persönlich hatte den DC-Vorsitzenden erst kurz vor der Entführung bezichtigt, „Italien in kommunistische Abhängigkeit” zu steuern. Das Agieren seines Assistenten im Krisenstab in Rom vermittelt denn auch zunehmend den Eindruck, dass man in Washington frohlocken würde, wenn die BR mit ihrer Geisel „kurzen Prozess” machten. So gibt Pieczenik den „Rat”, die Fahndung auf keinen Fall „zu forcieren”. Einen anderer seiner „aufmunternden” Sprüche, den Pallotta in der „New York Times” vom 29. April wiederfindet, lautet: „Kein Mensch ist für das Leben eines Nationalstaates unentbehrlich.” Den Gipfel der Unverfrorenheit amerikanischer „Standpunkte” erklimmt der Kolumnist William F. Buckley, der am 7. Mai in der „Washington Post” den christdemokratischen Parteiführer und strenggläubigen Katholiken Moro auffordert, Selbstmord zu begehen. Der Papst solle ihn überreden, „mutig zu sterben”.
Als die Ausgabe der Zeitung erscheint, hat Moro nur noch zwei Tage zu leben.
Am 9. Mai wird das Urteil der BR vollstreckt.
Nach einem anonymen Telefonanruf findet man seine Leiche im Kofferraum eines im Stadtzentrum Roms in der Via Caetani abgestellten roten Renault R 4. Die Obduktion der Leiche ergibt elf Einschüsse in der linken Brusthälfte. Sie sind aus nächster Nähe vom Rücksitz des PKW auf ihn abgefeuert worden. Zehn Kugeln stammen aus einer 7,65er Beretta, eine aus einem Colt 9 mm. Die linke Hand Moros, mit der er sich instinktiv zu schützen suchte, ist an zwei Stellen durchschossen. Es ergibt sich ferner, dass er weder gefesselt noch betäubt war oder unter Drogen gestanden hatte.
Der Abendbericht über die Fahndung macht Kommissar Pallotta am 9. Mai mehr zu schaffen als alle anderen in den vorangegangenen 55 Tagen der Entführung. Der Tod des DC-Vorsitzenden geht ihm menschlich sehr nahe, vor allem, weil er bereits zu dieser Zeit ahnt, dass ein Urteil vollstreckt wurde, das letzten Endes einflussreiche Männer des Staates gefällt haben.
Nach der Zusammenfassung der spärlichen Fakten hebt er hervor, dass es sich bei dem roten R 4 um einen fabrikneuen und gestohlenen Wagen handelt, dessen Tacho erst 15 km anzeigte. Da kaum anzunehmen ist, dass die Attentäter von ihrem Versteck aus einen Wagenwechsel vorgenommen haben, muss sich dieses im Stadtzentrum nur wenige Kilometer von der Via Caetano entfernt befunden haben. Der R 4 war in fast gleicher Entfernung zum Parteisitz der Democrazia Cristiana und dem der Kommunistischen Partei abgestellt worden. Das sollte verdeutlichen, dass Moro für seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten bestraft wurde, schreiben die meisten Zeitungen am nächsten Tag. Pallotta vermerkt weiter, dass aus der Benutzung von zwei verschiedenen Waffen zu schlussfolgern ist, dass zwei Attentäter den Mord ausführten.
Einige Tage nach der Ermordung legt Innenminister Cossiga einen umfangreichen Bericht seines Krisenstabes über die Aktivitäten der Polizeikräfte vor. Danach wurden zwischen dem 16. März und dem 10. Mai 510.724 Polizisten landesweit eingesetzt, davon 172.270 in Rom; 104.417 Fahrzeuge, davon 21.399 in Rom; 70 Flugzeuge und Hubschrauber, 570 Schiffe; 72.460 Straßensperren errichtet, davon 6.296 in Rom; 75.251 Streifen eingesetzt, davon 17.756 in Rom, 1.986 Razzien landesweit durchgeführt; 37.702 Hausdurchsuchungen vorgenommen, davon 6.933 in Rom; 106 Luftbewegungen und 852 Bewegungen zu Wasser kontrolliert; 6.413.713 Personen insgesamt überprüft, davon 167.109 in Rom, sowie 3.303.123 Kraftfahrzeuge, davon 96.572 in Rom.
Der groß aufgemachte Bericht soll offensichtlich über den völligen Misserfolg der Fahndung nach den Entführern hinwegtäuschen und den Eindruck erwecken, es sei alles getan worden, um den DC-Vorsitzenden zu retten.
Die parlamentarische Moro-Kommission kommt zwei Jahre später bei der Einschätzung der Effektivität der Fahndung zu einem völlig anderen Ergebnis. Sie hält nach Anhörung der Verantwortlichen der Polizeikräfte in ihrem Bericht fest, dass es „für die Stadt Rom keine wirkliche Blockade im Sinne eines dauerhaften und undurchdringlichen Sicherheitsgürtels gegeben hat”, dass „viele Personen in die Stadt hinein und heraus konnten, ohne kontrolliert zu werden”.
Innenminister Cossiga tritt angesichts der massiven Kritik in der Öffentlichkeit am „Versagen des Staatsapparates” im Fall Moro im Mai 1978 zurück. Das erweist sich vordergründig als ein geschicktes Manöver, denn dadurch werden weitere Ablösungen von Verantwortlichen, besonders der Geheimdienstchefs, vermieden. Das katastrophale Versagen im Fall Moro hat für den DC-Politiker indessen keine weiteren Folgen, im Gegenteil: 1979 wird er in den Senat gewählt, steigt zu dessen Präsidenten auf, wird im selben Jahr Ministerpräsident und erklimmt 1985 schließlich das Amt des Staats-präsidenten.
Während der Fall Moro sich für die offiziellen Ermittlungen bald erledigt hat, ergibt sich für Kommissar Pallotta die interessante Perspektive, ihn für längere Zeit weiter zu verfolgen.
Allerdings haben seine Dienstherren dabei keine Ermittlungen im Auge. Sie wollen vielmehr auf dem laufenden darüber sein, was Journalisten, Publizisten oder Politologen und dergleichen unliebsame Beobachter dazu weiter äußern könnten. Einige Vorgesetzte haben bemerkt, dass der Commissario während der Fahndung mehr als gewöhnlich üblich, über das informierte, was man „Presseecho” nennt. Auch benutzte er für seine täglichen Berichte fleißig den Polizeicomputer, ein relativ junges Informationsinstrument, dessen Beherrschung den meisten Beamten noch ungewohnt war.
So kommt es, dass der Leiter des Polizeicomputers ihn für das Ressort „Caso Moro” in der Sektion Presseauswertung vorschlägt. Freudige Zustimmung könnte misstrauisch machen, und so erbittet sich Pallotta einige Tage Bedenkzeit aus, ehe er, nicht ohne einige Vorbehalte zu äußern, zustimmt. Je tiefer er in dieser Funktion in Tatsachen, Hintergründe und Zusammenhänge eindringt, um so mehr verbeißt er sich in die Affäre, deren Aufklärung für ihn zu einer Lebensaufgabe wird.
Neben Maurizio, der sich ebenfalls mehr und mehr des Falles annimmt, trägt die Beziehung zu Antonella das ihre dazu bei. Dass diese Frau ihn in seinen Recherchen bestärkt und hilft, ergibt sich aus ihrem Beruf als Journalistin bei der römischen „Repùbblica”, deren Herausgeber, der Abgeordnete Eugenio Scalfaro, zu den bekanntesten Journalisten gehört, der sich auf linksliberalen Positionen strikt der Wahrheit verpflichtet fühlt.
Wohlweislich verschweigt Pallotta bei der ersten Begegnung seinen Beruf.
Nicht zu Unrecht vermutet er, eine links engagierte Journalistin, die Rossana Rossanda verehrt, ein bekanntes früheres Mitglied der IKP, würde mit einem Poliziotto (Polizisten) nichts im Sinne haben.
Als sie sich am Fuße des Gianicolo in einem Café kennen lernen und Pallotta von Garibaldi schwärmt, der hier im Juni 1849 seine Freischaren zum Sturm auf den von den päpstlichen Truppen besetzten Hügel führte, tippt Antonella auf Historiker. Als er sich einige Zeit später “offenbart”, ist die gegenseitige Zuneigung und die Kenntnis von den Auffassungen des anderen schon so weit gediehen, dass sie sich auf eine Probezeit verständigen, aus der eine feste Beziehung entsteht.
Die Feinde
Es ging schon auf 23.00 Uhr zu, als Pallotta in seinem Appartamento am Prato della Signora eintraf. Im Büro war es wieder einmal spät geworden. Auf dem Nachhauseweg hatte er in seiner Stamm-Tratoria an der Piazza Vescovio etwas gegessen. Der Digestivo war für zu Hause reserviert geblieben.
Nun schenkte er sich einen großen Vecchia Romana ein und tat etwas Eis dazu. Eine barbarische Sitte, den edlen Cognac so zu verwässern, nannte sein Freund Maurizio das immer. Dafür sei der billigste Whisky gerade gut genug. Pallotta aber hatte diese Art Digestivo von seinem Vater übernommen. Wie diesem mundete ihm der eisgekühlte Romana wegen seines auch in diesem Zustand gut erhaltenen kräftigen Aromas besser als der teuerste schottische Whisky.
Er schaltete den Fernseher ein, um noch die Spätnachrichten der RAI zu sehen und machte es sich dann in seinem alten Plüschsessel bequem. Die Nachrichten gingen gerade zu Ende. Pallotta ließ den Apparat weiterlaufen, er wollte etwas abschalten, ehe er sich schlafen legte. Er genoss noch einen Schluck seines Romana. Die Eiswürfel schepperten, als er das Glas auf den Tisch zurückstellte und lenkten ihn vom Bildschirm ab. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, als die Ansagerin die nächste Folge einer spannenden Giallo-Serie ankündigte. Es begann die Fortsetzung einer amerikanischen Serie „Colombo”, benannt nach dem immer erfolgreich agierenden Film-Inspektor. Wie viele seiner Kollegen hielt Pallotta nichts von den in den meisten solcher Krimis gebotenen Superlösungen ausgeklügelter Fälle.
Das Spezielle bei „Colombo” bestand darin, dass der Mörder von Anfang an bekannt war. Man sah, wie er sein Opfer umbringt und dann die Spuren in eine falsche Richtung lenkt. Diesmal sollte es nach einem Unfall aussehen. Der Killer war ein General, Kommandeur einer Kadettenanstalt. Sein Opfer war Aufsichtsratsmitglied einer Stiftung, welche die Lehranstalt finanzierte. Der wollte dem General den Geldhahn zudrehen. Ziemlich simpel, denn damit wurde das Problem des Generals ja nicht gelöst, sinnierte Pallotta und wollte gerade abschalten, als dem Film-Inspektor erste Zweifel kamen und er die aus dem kleinen Einmaleins der Tätersuche bekannten Fragen stellte. Wer war der Ermordete, welche Rolle spielte er im Tatumfeld, hatte er Feinde, wurde er bedroht, welche Tatmotive konnte der Täter haben, wer zog Nutzen aus dem Tod des Opfers.
Bei der „Computerfütterung” in den vergangenen Wochen war Pallotta schon einige Male aufgefallen, dass diese Kardinalfragen bei der Fahndung nach den Mördern Moros keine Rolle spielten, so wie sie auch bereits nach der Entführung nie gestellt worden waren. Die Täter kamen aus den Brigate Rosse, sie waren aufzuspüren und dann vor Gericht zu stellen. Fragen nach dem Umfeld, nach Hintergründen und Zusammenhängen richteten sich ausschließlich nach links, insbesondere ins linksradikale Spektrum. Alles andere galt als unerheblich, uninteressant, nicht relevant.
Pallotta nahm sich vor, endlich, wie er es sich nach dem schrecklichen Ende des DC-Führers vorgenommen hatte, seine Erkenntnisse Schritt für Schritt zu Papier zu bringen, sein eigenes “Dossier Moro” anzulegen. Am liebsten hätte er sofort Antonella, die in der Redaktion Nachtdienst hatte, angerufen, um sie zu bitten, alles über Moro in ihrem Redaktionsarchiv aufzustöbern. Er lässt es aber dann doch sein. Das musste man in Ruhe besprechen. Er ruft in ihrer Wohnung an und hinterlässt auf dem Anrufbeantworter eine Einladung in ein kleines Ristorante in der Nähe des Präsidiums. Vor dem Einschlafen denkt er noch an die Kuriosität, dass ihn der “Film-Inspektor” an eigene Versäumnisse erinnert hat, und er nimmt sich vor, spannende Krimis in Zukunft nicht ganz so kritisch zu sehen.
Am nächsten Wochenende beginnt Pallotta mit seinem „Dossier Moro”. Er hat einen ansehnlichen Stapel Material zur Biographie des DC-Politikers vor sich liegen und versucht, sich hindurchzuarbeiten. Es dauert einige Wochen, ehe er sich an ein erstes Resümee macht. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, dass ihn der Caso Jahre beschäftigen und er sich in dieser Zeit über den Kriminalisten hinaus zum geschätzten Rechercheur entwickeln wird. Über Jahre verteilt kommen neue Erkenntnisse, Indizien und Beweise hinzu, die verdeutlichten, dass Moro nicht einfach von den BR umgebracht, sondern Opfer eines heimtückischen Komplotts seiner politischen Feinde geworden war.
Wer war der Ermordete? Der 1916 in der Kleinstadt Maglie im südlichen Apulien geborene Moro kam aus den einfachen Verhältnissen einer ländlichen Pädagogenfamilie. Der Vater war Schulinspektor, die Mutter Elementarschullehrerin. Der sehr begabte Schüler studierte Jura an der Universität von Bari, an der er anschließend promovierte, sich habilitierte und später eine Professur für Strafrecht übernahm, die er auch während seiner politischen Laufbahn bis zu seinem Tod ausübte. Seit 1943 gehörte er der am antifaschistischen Widerstand teilnehmenden Democrazia Cristiana an, die nach dem Sturz Mussolinis zusammen mit Kommunisten, Sozialisten, Aktionisten, Liberalen und Monarchisten eine antifaschistische Einheitsregierung bildete. Innerhalb der Partei zählte er zu den führenden Köpfen der „Initiative Democratica”, einer Gruppe von DC-Politikern, die für eine soziale Erneuerung der italienischen Gesellschaft auf christdemo-kratischen Grundlagen eintrat.
Der sehr gebildete Jurist reift frühzeitig zu einem fähigen Politiker mit Realitätssinn für die Probleme sowohl des eigenen Landes als auch internationaler Fragen heran. Er gilt als volksverbunden und ist, geradezu ein Novum in der italienischen Politik, niemals in einen Bestechungsskandal verwickelt. 1946 zieht er in die Verfassungsgebende Versammlung ein und ist danach ununterbrochen Mitglied der Abgeordnetenkammer. Fünfmal steht er an der Spitze der Regierung, ist mehrmals Außenminister und Chef anderer Kabinettsressorts. Für die 1979 anberaumten Präsidentenwahlen gilt er als aussichts-reichster Bewerber.
In der Abgeordnetenkammer sitzt Moro mit dem zehn Jahre älteren Enrico Mattei auf einer Bank. Der frühere Chemieunternehmer gehörte nach Kriegsende zu den wenigen herausragenden Persönlichkeiten des wirtschaftlichen Establishment, die sich entschieden der massiven Bevormundung ihres Landes durch die USA entgegenstellten. Als einer der führenden katholischen Antifaschisten kommandierte er in der Resistenza eine Partisanenbrigade. Der im Klima des kalten Krieges herbeigeführten konservativen Restauration des kapitalistischen Systems steht er kritisch gegenüber, ebenso der Mitgliedschaft im Nordatlantikpakt. Ihm schwebt eine Jugoslawien ähnliche Position für Italien vor. Im Algerienkonflikt unterstützt er die antikoloniale Befreiungsbewegung gegen Frankreich. Ende der 50er Jahre ist er selbst als Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Gespräch.
Als Regierungsbeauftragter steht Mattei an der Spitze des staatlichen Erdölunternehmens AGIP. Ab Anfang der 50er Jahre baut er die Energiebehörde Ente Nationale Idrocarburi auf, mit der er dem Staat die Monopolstellung sichert,1953 wird er Präsident der ENI. In dieser Funktion stellt er sich der Beherrschung des italienischen Energiesektors durch die in der Standard Oil zusammengeschlossenen Sette Sorelle, den sieben amerikanischen Erdölgesellschaften, entgegen. Um Italien aus der einseitigen Abhängigkeit von der Erdölversorgung durch die USA zu lösen, schließt Mattei Lieferverträge mit der Sowjetunion und mit arabischen Staaten, die 30 Prozent des Landesbedarfs decken sollen. Das aber berührt die Versorgung der in Italien dislozierten NATO-Verbände und der im Mittelmeer operierenden 6. USA-Flotte.
Innenpolitisch tritt der ENI-Präsident der Ausgrenzung der Kommunisten, die Anfang der 50er Jahre bereits über 22 Prozent Wählerstimmen verfügen, entgegen. Aufschlussreich ist der Vermerk, den die USA-Botschaftern, Claire Booth Luce, über ein Gespräch, das sie im Jahre 1955 mit Mattei führte, anfertigte. Antonella hat ihn „besorgt“, was heißt, er stammt nicht, wie sonst üblich, aus dem Archiv der „Repùblica”.
Der Konzernchef äußerte für die USA-Diplomatin höchst ketzerische Gedanken: „Das Problem des Antikommunismus kann nicht durch die Polizei gelöst werden. Die Confindustria und die privilegierten Klassen sehen es als ihr einziges Ziel, hierin Positionen zu bewahren, die jedoch nicht mehr vertretbar sind. Die Lösung des Kommunismus in Italien ist über kraftvolle soziale und ökonomische Reformen herbeizuführen.” Antonella hat an den Rand geschrieben: „Das ist in etwa die Linie, die Moro mit Berlinguer einschlagen wollte. Nur nicht mehr so radikal, wie das vielleicht 1955 möglich gewesen wäre.”
Am 27. Oktober 1962 kommt der unbequeme Industrielle beim Absturz seines Privatflugzeugs bei Pavia in Norditalien ums Leben. Seitdem sind die Stimmen nicht verstummt, die von einem Anschlag sprechen. Fest steht, dass es bereits im Januar 1962 einen Attentatsversuch gab. Im Düsentriebwerk der Privatmaschine des Erdöl-industriellen war ein Schraubenzieher gefunden worden, der während des Fluges eine Explosion hätte auslösen können. Antonella hat ihm ein paar ,Seiten aus der von Giorgio Galli verfassten Mattei-Biographie, die 1976 erschien, kopiert. Der Starpublizist stellte darin den ENI-Chef in die Reihe der Persönlichkeiten, die von der CIA eliminiert wurden, weil sie sich „gegen die Interessen mächtiger amerikanischer Industrieller stellten.” Als einen Drahtzieher nennt Galli den Milliardär und Aktionär der Standard Oil, John McCone, der lange Jahre Resident der CIA in Rom war und später zum Chef des Geheimdienstes aufstieg. 1973 inszenierte McCone, der inzwischen auch Präsident des ITT-Konzerns war, der unter der Regierung der Unidad Popular in Chile enteignet wurde, den Militärputsch, der zur Ermordung Allendes und zum Sturz seiner Regierung führte.
Auch im Falle Mattei waren die Probleme für Washington mit dessen Tod gelöst. Mit der von ihm verfolgten Linie der wirtschaftlichen Unabhängigkeit war es vorbei. Sein Nachfolger wurde Eugenio Cefis, der später als Finanzier der Neofaschisten Aufsehen erregte. Bereits im März 1963 regelte er die italienische Energieversorgung durch einen langfristigen Vertrag wieder ganz im Sinne der Standard Oil.
Als Pallotta auf einen Artikel von Flaminio Piccoli, Moros Nachfolger als DC-Vorsitzender, stößt, fallen ihm Matteis Pläne ein, Italien aus den Konflikten der Großmächte herauszuhalten. Verfolgte Moro fünfzehn Jahre später in einer weiter zugespitzten internationalen Situation etwa ähnliche Ziele? Piccolis Beitrag, der in der Südtiroler Zeitung „L’Alto Adige” am 6. August 1978 erschien, deutet es jedenfalls an. Es heißt: „Ich bin überzeugt, dass, wenn die Wahrheit über die Entführung und Tötung Moros herauskommt, wir entdecken werden, dass er ausgeschaltet wurde, weil er nicht wollte, dass Italien der Schauplatz von Konkurrenzkämpfen geheimer Mächte wird, wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg; er wurde ausgeschaltet, weil er in den letzten drei Monaten in Gesprächen mit Amerikanern und den Russen seine Fähigkeit gezeigt hat, Initiativen zur Herstellung des nationalen Ausgleichs zu ergreifen.”
Mit seinen weiteren Notizen berührt Pallotta bereits die Frage, ob der Ermordete Feinde hatte. Die Brigate Rosse hatten die Entführung und Ermordung, „Hinrichtung“ genannt, Moros beansprucht und galten in den polizeilichen Ermittlungen als die alleinigen Täter. Es war zu bezweifeln, dass sie das wirklich waren. Der Commissario hält es aber für zweckmäßig, das widersprüchliche und komplizierte Thema für später aufzusparen. Das auch deshalb, weil die Frage nach Feinden fast drei Jahrzehnte zurückführt, in eine Zeit, in der es noch keine BR gab. Es war am 4. April 1949, als Moro, inzwischen Staats-sekretär für Auswärtige Angelegenheiten, demonstrativ der Sitzung des Parlaments, auf der Italiens Beitritt zur NATO beschlossen wurde, fernblieb. Ministerpräsident De Gasperi schloss ihn wegen dieser „Eigenmächtigkeit” aus dem Kabinett aus. In dieser Zeit, so geht es Pallotta durch den Kopf, dürfte die Feindschaft bestimmter Kreise in Washington gegenüber Moro begonnen haben.
1963 wird Moro zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten berufen. Die DC ist bei den Parlamentswahlen von 48,5 Prozent 1948 auf 38,3 Prozent abgesunken und nicht mehr in der Lage, mit ihren Koalitionspartnern eine mehrheitliche Regierung zu bilden. Will man nicht auf die Neofaschisten zurückgreifen, gibt es nur einen Ausweg: die sogenannte apertura a sinistra, ein Kabinett mit den Sozialisten, die De Gasperi 1947 zusammen mit den Kommunisten aus seiner Regierung ausgeschlossen hatte. Moro entscheidet sich für diesen Weg. Vor der Kabinettsbildung hat er sich in Washington der Billigung John F. Kennedys versichert. Doch als er am 4. Dezember seine Regierung vorstellt, sind seit den Schüssen von Dallas bereits zwölf Tage vergangen. Die USA haben ihren 35. Präsidenten verloren, die Welt den sicher liberalsten amerikanischen Staatschef der Nachkriegs-geschichte und Moro die Rückendeckung für seine Öffnung nach Links.
Pallotta erinnert sich dunkel, dass es Staatsstreichpläne gegen die Moro-Regierung gab. Er könnte den Computer im Präsidium befragen. Aber da er gerade ein paar Tage Urlaub hat, würde es auffallen, wenn er dort erscheint. Antonella ist auf Reportagereise und kommt erst in einer Woche zurück. Er beschließt, eine Pause zu machen. Für den Abend verabredet er sich mit Maurizio in einem Gartenristorante an der Via Salaria im Norden am Stadtrand. Im Bivaco gibt es das beste Fiorentiner Steak, das Maurizio unter den Fleischspeisen als Sécondo bevorzugt.
Pallotta hat einen Tisch im Hintergrund im Schatten der Bäume reservieren lassen. Sie bestellen einen Valpolicella 73, einen ausgesprochen guten Jahrgang. Maurizio sieht eine Möglichkeit zu helfen. Ein entfernter Verwandter von ihm arbeitet im Gramsci-Institut der IKP. War unter Mussolini Offizier, ging nach dessen Sturz 1943 zur Resistenza, kam in eine Garibaldibrigade und so in die Partei. Pallotta weiß nicht recht, ob er sich darauf einlassen soll.
„Also, ich verstehe Dich da nicht”, erwidert Maurizio. „Du willst die Hintergründe aufklären, die mit der Ermordung Moros zusammenhängen. Er hat mit den Kommunisten ein Regierungsabkommen geschlossen, sie gehören jetzt quasi zur Regierung, und Du willst noch nicht einmal von einem ihrer Historiker ein paar Informationen einholen. Und im Übrigen, Berlinguers Eurokommunismus, das ist gar kein richtiger Kommunismus mehr. Sie haben sogar die NATO anerkannt.”
Maurizio nimmt einen Schluck Valpollicella und fährt fort: „So groß sind die Unterschiede zu unseren Sozialisten gar nicht mehr. Und Berlinguer”, er hält einen Moment inne, „weißt Du, dass der mit einer praktizierenden Katholikin verheiratet ist? Sozusagen der Compromesso in Famiglia. Moro hat diese Entwicklung ganz richtig erkannt. Nur die Amerikaner, diese Idioten, haben nichts kapiert.”
Er hat eigentlich recht, überlegt Pallotta und bedankt sich. Mit einem Grappa Stravecchia Bocchino beschließen sie den Abend.
Schon zwei Tage später kommt Maurizio mit einem umfangreichen Materialstapel auf einen Sprung bei ihm am Prato vorbei. Auf einem Deckblatt steht „De Lorenzo – piano solo”. Das meiste sind Zeitungsberichte, Agenturmeldungen, dazwischen Notizen, die auf Hintergründe und Zusammenhänge verweisen, auch Wertungen enthalten. Ein Bulletin fasst die Ergebnisse eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zusammen. Schon beim ersten Durchblättern beeindruckt Pallotta die Akribie, mit der das zusammengestellt wurde. Zugleich ist er etwas enttäuscht. Irgendwie hat er Interna erwartet, eine Art geheime Parteiberichte.
„Arbeite erst mal alles gründlich durch, dann wirst Du den Informationsgehalt zu schätzen wissen”, bemerkt Maurizio lakonisch und fügt hinzu: „Selbst von der CIA wird behauptet, dass sich 80 Prozent der Berichte ihrer Agenten aus Zeitungsmeldungen zusammensetzen.”
Der Wert des Materials lässt sich kaum leugnen. Dennoch fällt es dem Commissario nicht leicht, sich mit den Realitäten vertraut zu machen. Er erfährt Dinge über die Rolle des amerikanischen Geheimdienstes in der italienischen Politik und die fast totale Abhängigkeit der italienischen Partner, die Missachtung der Souveränität seines Landes durch die NATO und die Gefügigkeit der eigenen Militärs, die von der Leitung seines Präsidiums immer als kommunistische Propaganda abgetan werden. Immer wieder sträubt sich etwas in Pallotta, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Aber die Fakten lassen an Deutlichkeit kaum etwas zu wünschen übrig. Außerdem scheinen den Leuten im Gramsci-Institut solche Zweifel nicht unbekannt zu sein, denn ihr Material stützt sich durchweg auf nichtkommunistische oder nichtlinke Quellen, darunter selbst solche rechter Provenienz.
Als er ein Konspekt beginnt, kommt es ihm streckenweise vor, als erarbeite er das Drehbuch für einen Politkrimi a la James Bond. Bereits im Vorfeld der Bildung der linken Zentrumsregierung durch Moro fasste man im Pentagon und in Langley den Sturz eines solchen Kabinetts durch einen Militärputsch ins Auge. Entsprechende Vereinbarungen zwischen der Central Intelligence Agency und dem italienischen Servicio Informazione Forze Armate über den sogenannten “Einzelplan” datieren bereits vom Juni 1962. Chef des SIFAR war zu dieser Zeit General Giovanni De Lorenzo, ein neofaschistisch orientierter General, Mitglied der Monarchistischen Partei, der Ende der 60er Jahre zu Almirantes Sozialbewegung überwechselte. Auf Betreiben der CIA übernahm er Anfang 1963 das Kommando über das Carabinieri-Korps, mit dem der Putsch bewerkstelligt werden sollte.
Die militärische Leitung vor Ort lag in den Händen des amerikanischen Militärattachés, Oberst Vernon Anthony Walters, der Italien bereits aus der Zeit des zweiten Weltkrieges kannte. Er war damals Adjutant bei General Mark Clark. Walters vertrat den Standpunkt – hier folgte ein wörtliches Zitat – „dass, wenn die Sozialistische Partei in die Regierung eintritt, die Vereinigten Staaten ohne zu zögern das Land militärisch besetzen müssten.”
An den Rand war gekritzelt „siehe Faenza”.
Wie ihm Antonella mitteilt, handelt es sich um einen Historiker Roberto Faenza, der gerade ein brisantes Buch, „Die verrufenen Geschäfte”, über die Einmischungspolitik der USA, unter anderem in Italien, veröffentlicht hat. Antonella kennt sich wieder einmal bestens aus und ergänzt, dass besagter Faenza bereits 1976 mit einem Marco Fini einen ebenso hochexplosiven Rapport über „Gli Americani in Italia” herausgebracht hat. Nicht genug damit hat sie ihm noch einen höchst aktuellen langen Artikel beigefügt, der gerade in der Mailänder Wochenschrift „Giorni vie nuove” erschienen war. Das linksliberale Journal schien, wie Pallotta auch, der Frage nachzugehen, ob der Ermordete Feinde hatte und begann bei dem „Piano solo”. Einen Bestandteil stellte die „psychologische Kriegführung” dar, die Oberst Walters persönlich leitete. Ziel war, nachzuweisen, dass Moros „Öffnung nach links” angeblich in eine „kommunistische Machtergreifung” münden werde.
Zu dieser Zeit führten die CIA und der SIFAR 34 einflussreiche Journalisten auf ihren Gehaltslisten, die in ihrem Sinne entsprechende Artikel schrieben, darunter im „Corriere della Séra”, „Rèsto del Carlino”, „La Nazione”, „Il Tempo”, „Il Sóle 24 Ore” und „Lo Spechio”.
Der Commissario hält einen Augenblick inne. Er erinnert sich der Falschmeldungen des „Corriere” und des „Giornale” über die „Erpressung der Roten Brigaden” nach der Entführung Moros und wie er auf der Dienstbesprechung abgekanzelt wurde, als er diesbezügliche Fragen stellte.
Er vertieft sich wieder in seinen Konspekt und hält fest, dass damals ein SIFAR-Oberst Renzo Rocca nach Instruktionen der CIA „beunruhigende Berichte” über „gefährliche Aktivitäten” der Kommunisten und der Gewerkschaften verfasste, die dem Staatspräsidenten, dem Verteidigungsminister, dem Innenminister und anderen hohen Politikern übermittelt wurden. In einem Bericht erfand Rocca eine „Sitzung der kommunistischen Führer”, auf der „die Revolution und die Machtübernahme vorbereitet” worden sei. Den Politikern sollte damit, so hieß es in dem „Giorni”-Bericht, „ein so schweres Bild vor Augen geführt werden, das jede Gewaltaktion rechtfertigen konnte“. Der Beitrag gipfelte in der Schlussfolgerung, dass es der CIA darum ging, „Italien an den Rand einer Gewaltlösung zu führen, die von rechts und in Übereinstimmung mit Regierungskräften durchgeführt werden sollte.” Unter „Regierungskräften” waren besagte Carabinieri De Lorenzos zu verstehen.
Aus dem Urlaub zurückgekehrt fragt Pallotta in der Presseabteilung nach, ob es zu dem „Giorni”-Artikel ein Dementi gäbe. Davon sei nichts bekannt, lautete die lapidare Antwort. Nach bekannten Spielregeln der Öffentlichkeitsarbeit wird damit der Wahrheitsgehalt des Beitrages bestätigt, zumindest nicht in Frage gestellt. Wie nicht anders zu erwarten, gab es auch im Dokumentationsarchiv zu den beiden Büchern keinerlei Einschätzungen.
Von Maurizio, der am Wochenende am Prato vorbeikommt, erfährt er, dass er mit seinen Anfragen wieder einmal unangenehm aufgefallen ist.
„Sei in Zukunft vorsichtiger”, meint Maurizio. „Der Caso Moro ist ein ganz heißes Eisen. Neugierige Fragen sind da völlig fehl am Platz.”
Pallotta nickt zustimmend und nimmt sich vor, den Rat zu beherzigen. Er reicht dem Freund seine Notizen zum Piano De Lorenzos. Während dieser sie durchsieht, schenkt er ihm einen Rosso antico ein und sich selbst den üblichen Romana.
„Gab es zu De Lorenzo nicht einen Untersuchungsausschuss des Parlaments?“, fragt Maurizio.
Pallotta reicht ihm seinen Drink, ehe er antwortet. „Es gab Indiskretionen. Der Piano wurde publik, ehe der General losschlagen konnte. Wahrscheinlich gab es unter den Militärs auch Leute, die zur Verfassung standen, und so bekam Moro Wind von der Sache. Einzelheiten drangen aber erst ab 1966 an die Öffentlichkeit, als auf Forderung der Kommunisten und Sozialisten der Parlamentsausschuss, den Du eben erwähntest, eingesetzt werden musste.“
Der Commissario blättert in seinen Aufzeichnungen.
„Ich nenne Dir mal ein paar gravierende Fakten: Über den SIFAR hatte De Lorenzo die Spitzen des Staates und der Parteien bespitzeln lassen, beileibe nicht nur die Sozialisten und Kommunisten. Selbst im Quirinal waren ‘Wanzen’ installiert worden. Von über 150.000 Personen existierten Dossiers, ja, Du hörst richtig, 150.000! Bei nicht wenigen waren dunkle Seiten des Lebens, Fälle von Korruption, Erpressung, Unterschlagung erfasst worden, mit denen diese zum Mitmachen gezwungen werden sollten.”
Maurizio gießt sich noch einen Rosso ein. „Kaum zu glauben”, entfährt es ihm.
„Warte, es kommt noch schlimmer”, erwidert Pallotta. „Für den Tag X hatte der General `schwarze Listen´ von ‘verdächtigen’ Funktionären der linken Parteien, der Gewerkschaften, von Antifaschisten, Parteipolitikern aller Couleur, ausgenommen nur die Rechten und Neofaschisten, anlegen lassen. Hier handelte es sich um die ungeheuerliche Zahl von fast 175.000 Personen, unter ihnen Minister, als ‘unzuverlässig’ eingestufte Offiziere und sogar Bischöfe. Sie alle sollten bei Auslösung des Putsches auf zwei Sardinien vorgelagerte Inseln gebracht und dort in Konzentrationslager eingesperrt werden. In Zeitungsberichten, nicht nur der Linken, war davon die Rede, dass eine Anzahl der Festgenommenen auch gleich umgebracht werden sollte.”
„Wurde De Lorenzo nicht abgelöst?” fragt Maurizio.
“Ja, aber das war auch die einzige Konsequenz. Er blieb ansonsten völlig ungeschoren. 1972 kandidierte er für den MSI bei den Parlamentswahlen und zog als Abgeordneter in die Kammer ein. Der SIFAR wurde ‘reorganisiert’, was aber, wie sich später zeigte, eine reine Namensänderung blieb. Er hieß von nun an Servizio Informazione Difesa, SID.”
Nach einer kurzen Pause fährt Pallotta fort: „Bei der Vertuschung des Piano solo kamen gut ein halbes Dutzend Kameraden, alles höhere Dienstgrade, auf mysteriöse Weise ums Leben. Darunter Oberst Rocca und die beiden Generäle Giorgio Manes und De Lorenzos Nachfolger Carlo Ciglieri. Die beiden Generäle waren vor die Parlamentskommission geladen worden und man befürchtete, dass sie über die Staatsstreichpläne aussagen würden. Ciglieri kam bei einem Autounfall ums Leben, bei dem seine Aktentasche mit geheimen Unterlagen über De Lorenzos Putschplan spurlos verschwand. Manes erlitt unmittelbar, nachdem er in der Abgeordnetenkammer einen Kaffee getrunken hatte, einen tödlichen Herzinfarkt.”
Der Commissario nippt an seinem Drink.
„Der Piano solo war übrigens nicht der letzte Staatsstreichversuch.”
Er nennt einige Fakten: Im Dezember 1970 wollte der frühere MSI-Präsident Valerio Borghese losschlagen, ein ehemaliger Mussolini-Kommodore, der nach Kriegsende wegen 800-fachen Mordes an Partisanen von einem italienischen Gericht als Kriegsverbrecher abgeurteilt, von den alten Kameraden in der Justiz aber bald begnadigt wurde. Der SID kannte die Pläne, der Generalstab des Heeres wusste Bescheid, NATO-Stäbe hatten Rückendeckung zugesagt. Borghese schlug jedoch eigenmächtig früher als geplant los und wurde von der CIA zurückgepfiffen, die den Zeitpunkt für verfrüht hielt. Borghese floh nach Spanien. Seine Nachfolge in der Reihe der Putschisten trat der neue Geheimdienstchef, SID-General Vito Miceli, an.
Anlass für das Handeln Micelis und seiner Komplizen war das Ansteigen der kommunistischen Stimmen bei den Wahlen 1972 auf über 27 Prozent. Moro begann danach mit dem Gedanken einer zweiten apertura a sinistra zu spielen, der Einbeziehung der Kommunisten in die Regierung, wie sie seinem Freund Enrico Mattei vorgeschwebt hatte. Der von Moro angeführte linke Flügel in der Democrazia Cristiana hatte seine Positionen inzwischen gefestigt, auch unter demokratisch gesinnten Offizieren in der Armee und Polizei.
Darauf war es offensichtlich zurückzuführen, dass ab November 1973 die neuen Putschpläne, wenn auch nur teilweise, in den Medien aufgedeckt wurden. Sie liefen unter dem Code „Windose”. Ziel der Generäle war, in Rom eine Junta wie in Griechenland oder Chile an die Macht zu bringen. Wenigstens 15 Generäle und Dutzende weitere hohe Offiziere befanden sich unter den Putschisten. Dazu zählten fünf Geheimdienstgeneräle, weiter der Chef des Generalstabes, Admiral Eugenio Henke, der Generalstabschef der Luftwaffe, General Dulio Fanali und der Befehlshaber der Militärregion von Salerno, General Ugo Ricci.
„Ich spare mir weitere Einzelheiten”, unterbricht Pallotta seine Rede. „Vieles glich dem Szenarium De Lorenzos wie ein Ei dem anderen. Nur dass jetzt die seit Ende der sechziger Jahre begonnene sogenannte Strategie der Spannungen eine gewichtige Rolle spielte. Aber darauf komme ich später zurück, vor allem auf ihre ‘linke Variante’, denn die scheint auch bei Moro hineinzuwirken. Nur noch diesen Fakt: Es existierten Todeslisten mit den Namen von 1.617 Personen, darunter Enrico Berlinguer und Luigi Longo, Sandro Pertini, damals Präsident der Abgeordnetenkammer, und sein sozialistischer Partei-Chef Francesco De Martino sowie die Schriftsteller Alberto Moravia und Paolo Pasolini. Angesichts der zu erwartenden Kampfaktionen der Arbeiter sollten Armee und Polizei gegen die ‘rote Gefahr’ vorgehen.”
Pallotta geht in die Küche, um zwei Espressi anzusetzen.
Als er zurückkommt, fährt er fort: „Diesmal ging es zunächst nicht ganz so glimpflich ab wie bei De Lorenzo. In der Öffentlichkeit schlugen die Wellen der Empörung hoch. Die Staatsanwaltschaft musste eine Untersuchung einleiten. Über 90 Rädelsführer wurden verhaftet, gegen mehrere Hundert ermittelt. Viele der Verschwörer waren allerdings vor der Verhaftung geflohen.”
Der Commissario reicht Maurizio einen Zeitungsbericht des „Paese Séra” vom 1. November 1974, der den Haftbefehl gegen Miceli veröffentlicht hatte. Man beschuldigte den General, `eine Geheimorganisation von Militär- und Zivilpersonen mit dem Ziel gegründet zu haben, einen bewaffneten Staatsstreich auszulösen.´ Ziel der Verschwörung sei `die Beseitigung der gegenwärtigen Staatsordnung und der Regierung Italiens unter Verwendung eines Teils der Streitkräfte´ gewesen.
„Trotzdem gingen die meisten straffrei aus. Allenfalls kam es zu ‘Strafversetzungen’ oder Kommandoenthebungen”, bemerkt Pallotta mit Resignation in der Stimme.
„Es waren offizielle USA-Kreise, die massiven Druck auf unsere Regierung ausübten, um zu verhindern, dass die Putschisten vor Gericht kamen. Kein geringerer als Außenminister Kissinger kam extra nach Rom und drängte, mit Miceli ‘vorsichtig zu verfahren’. Die Leute in Washington befürchteten, der General könnte sonst, um seine Haut zu retten, über die Rolle der CIA, des Pentagon oder der NATO aussagen. Kurze Zeit nach Kissingers Besuch wurde der General denn auch prompt aus der Untersuchungshaft entlassen.”
Pallotta macht eine kleine Pause, ehe er abschließt: „Und mit Kissinger bin ich wieder bei den ‘Feinden Moros’. Doch damit muss ich mich erst noch etwas näher befassen, ehe ich dazu genaueres sagen kann.”
Es dauert ziemlich lange, ehe der Commissario wieder Zeit findet, seinem „Nebenjob”, wie Antonella es nennt, nachzugehen.
Das Jahresende `78 war mit allerlei Abschlussberichten ausgefüllt. Einige beschäftigten ihn noch die ersten Wochen des Neuen. Hinzu kam, dass sich der erste Jahrestag der Entführung bzw. Ermordung Moros näherte und diverse Abteilungen des Hauses in ihm den Spezialisten sahen, der Auskunft geben konnte. Das war zwar schmeichelhaft für ihn, barg aber auch das Risiko, zuviel von seinem Insiderwissen preiszugeben und damit aufzufallen.
Aber nun hatte er etwas Luft und konnte sich wieder einmal seinen persönlichen Recherchen widmen. Er wollte den Komplex „Feinde Moros” abschließen. An die Spitze hatte er Kissinger gesetzt. Der langjährige Chef des State Department war seit jeher ein erbitterter Gegner der linksorientierten Politik Moros. Er billigte bereits 1970 das Vorgehen der italienischen Obristen unter dem Kriegsverbrecher Borghese zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung. Sein Botschafter in Rom, Graham Martin, übergab damals zur Unterstützung der Putschisten zwei Millionen Dollar.
Als Moro sich im September 1974 in Begleitung von Staatspräsident Leones in Washington befand, wurde er wegen seiner links orientierten Politik von Kissinger persönlich massiv unter Druck gesetzt. Moro ist zu dieser Zeit Außenminister. Aber im State Department rechnet man angesichts einer schwelenden Regierungskrise mit seiner erneuten Berufung zum Regierungschef, die dann nach der Rückkehr aus Washington auch erfolgt. Kurz vor dem Eintreffen der Italiener rechtfertigt Präsident Ford auf einer Pressekonferenz unverhüllt die Rolle der Amerikaner beim Putsch Pinochets, der seinen Präsidenten und Oberbefehlshaber brutal ermorden ließ und ein auf blutigen Terror gestütztes militärfaschistisches Regime errichtete.
Pallotta notiert aus Fords Rede wörtlich: „Wir haben dort das getan, was die Vereinigten Staaten tun, um ihre Interessen im Ausland zu verteidigen.”
In einer jeglicher diplomatischen Etikette hohnsprechenden Weise wird die italienische Delegation anschließend mit der Aussage, die Kissinger soeben vor dem Kongress zur USA-Einmischung in Chile abgegeben hat, konfrontiert: „Sie machen uns Vorwürfe wegen Chile. Sie würden uns noch härtere Vorwürfe machen, wenn wir nichts dafür tun würden, die Beteiligung der Kommunisten an der Machtausübung in Italien oder in anderen Ländern Westeuropas zu verhindern.”
Moro reist nach diesem Affront gegen seine Politik vorzeitig aus Washington ab. Offiziell gibt er „gesundheitliche Gründe” an.
Pallotta fischt die Agentur- und Zeitungsmeldungen heraus, die Äußerungen Kissingers und anderer zuständiger Leute aus Washington über Moro enthalten. Kissinger folgt Moro fast auf den Fersen und ist im November bereits wieder in Rom. In einem Interview äußert er sich zur Aufgabe der CIA, die „Realitäten zu schaffen” habe, was der Korrespondent Ray Cline in der „New York Time” so sieht: „Ich bin mir so gut wie sicher, dass die verwirrende Situation in Italien durch Geheimaktivitäten der CIA gelöst werden wird.”
Die Meinung verwundert nicht, wenn man weiß, dass Cline auf den Gehaltslisten der CIA geführt wird und das zur Company gehörende Center of Strategies and International Studies leitet. Zu den Studienschwerpunkten des der Georgetown Universität in Washington angeschlossenen CSIS gehört, antikommunistische Strategien gegen Moros Koalitionspolitik mit den Kommunisten auszuarbeiten.
Bei den Landtagswahlen 1975 erreicht die IKP sagenhafte 33 Prozent. Ein Jahr später legt sie bei den Parlamentswahlen noch etwas zu und kommt auf über 34 Prozent.
Moro stützt sich mit einer Minderheitsregierung im Parlament auf die Unterstützung der Kommunisten – vorerst durch Stimmenthaltung. Aber ihre Einbeziehung in die Regierung wird nunmehr bereits in aller Offenheit erörtert.
Kissingers Angriffe auf Moro werden noch schärfer. Immer wieder wertet er dessen politische Linie als „äußerst negativ”, nennt Moro den „Allende Italiens”, einen „Kommunisten, der gefährlicher als Castro” sei und Italien „in kommunistische Abhängigkeit” steuere.
Kissingers Botschafter in Rom, John Volpe, erklärt offiziell, eine Regierungsbeteiligung der IKP stünde „in grundsätzlichem Widerspruch zur NATO”.
Sein Nachfolger Richard Gardner bezeichnet Moro noch nach der Entführung und wenige Tage vor seiner Ermordung als den „gefährlichsten Politiker Italiens”.
Zu den erbitterten Feinden Moros gehörten Outerbridge Horsey und William Nigt, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Politische Abteilung der USA-Botschaft in Rom leiten und nach ihrer Rückkehr in die Staaten die Italien-Sektion des State Department.
Pallotta resümiert, dass die Schuldigen an der Entführung und Ermordung Moros – die nicht mit den ausführenden Tätern identisch sein müssen – unter denen zu suchen sind, die sich gegen das Programm des DC-Führers gestellt hatten.
Das waren Geheimdienstler, Militärs und Politiker bis in die höchsten Kreise, wie die Beispiele Ford und Clinton zeigten, in den USA und im eigenen Lande, hier selbst in den Reihen der Partei des Ermordeten. Mit dem Tod des DC-Vorsitzenden waren für sie ihre Probleme gelöst.
Bis auf wenige Ausnahmen waren selbst Moros Anhänger vom Compromesso stòrico abgerückt. Das mit den Kommunisten geschlossene Regierungsabkommen war ad acta gelegt worden. Der IKP war nichts anderes übrig geblieben, als die parlamentarische Koalition mit der DC aufzukündigen. Die Gegner der zweiten apertura a sinistra Moros waren also Nutznießer seines Todes.
Blieb die Frage ihres Verhältnisses zu den Tätern.
Waren sie nur Beobachter geblieben, die Moro in den Händen der BR seinem Schicksal überließen, oder hatten sie selbst Einfluss auf sie genommen.
Hatten undercover agents, wie es bereits bei der Verhaftung Curcios und Franchescchinis der Fall gewesen war, auch bei der Entführung Moros mitgemacht? Waren sie vielleicht auch bei den Todesschüssen zugegen gewesen?
Und wenn, hatten sie eigenständig gehandelt – oder bestimmte Weisungen erhalten? Wer hatte sie gegeben?
Auf jeden Fall war klar, dass so oder so alles unternommen würde, das nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Ihm fielen die am Tatort gefundenen Patronenhülsen aus NATO-Beständen ein und wie der leitende Offizier, als er ihn darauf hinwies, entgegnete, das unterliege „strikter Geheimhaltung” und dürfte nicht im Fahndungsbericht erwähnt werden. Dann die ständig wiederkehrenden Hinweise, dass sich mit solchen Fragen die „entsprechenden Dienste” befassten, woraus eigentlich nur geschlussfolgert werden konnte, die verdeckten Operationen lagen in den Händen der Geheimdienste.
Tote Zeugen
Unerwartet erweist sich Pallottas Arbeit im Präsidium zwar wieder einmal als sehr strapaziös und zeitaufwendig, aber zugleich als vorteilhaft für seinen „Nebenjob”.
Seit dem Mord an Moro sind die Terroranschläge weiter angestiegen. Wenige Wochen vor dem für Februar 1980 anberaumten Parteitag der Christdemokraten wird am 6. Januar deren Präsident des Landtages von Sizilien, Piersanti Mattarella, vor seinem Haus erschossen. Die Killer werden in Mafiakreisen vermutet. Für die Ermittlungen ist die Staatsanwaltschaft von Palermo zuständig. Insgeheim aber hat Innenminister Rognoni die Angelegenheit unter seine Kontrolle genommen. Einige Mitarbeiter aus dem Stab der Moro-Fahndung, der inzwischen aufgelöst worden ist, werden beauftragt, den Caso Mattarella zu beobachten. Der Minister verlangt täglich Rapport. Dazu sind auch Pallottas Kenntnisse wieder gefragt. Er hat das Presseecho zu verfolgen. Bei Bedarf täglich zu berichten, außerdem eine Zusammenfassung der terroristischen Aktivitäten seit dem Tod Moros vorzulegen.
Mehr als von seinen Kollegen in der Presseabteilung erfährt Pallotta von Antonella über die jüngsten Ereignisse.
Am Telefon spricht man darüber grundsätzlich nicht. Er hält das für etwas übertrieben, aber Maurizio hat dazu gelegentlich lakonisch bemerkt:
„Du würdest dich wundern, wenn du wüsstest, was da alles mitgehört wird, vor allem bei Leuten, die solch brisante Themen bearbeiten, wie du sie auf den Schreibtisch bekommst. Glaube nur nicht, dass sich seit De Lorenzos Zeiten da viel geändert hat.“
Antonella teilt Maurizios Meinung.
Seit der Ermordung Mattarellas hat er noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu sehen.
Auch heute würde es wieder nichts aus einem gemeinsamen Abend werden. Sie hatte einen Termin in der Abgeordnetenkammer und danach konnte es in der Redaktion spät werden.
Sie vereinbaren, sich nach ihrem Termin vor der Kammer zu treffen. Als sie kurz nach 18 Uhr anruft, fährt er los. Vom Präsidium an der Via Nazionale zum Montecitorio ist es nur ein Katzensprung. Sie beschließen, zur Tazza d´Oro zu gehen, die gleich hinter der Kammer liegt, und wo es den besten Café von ganz Rom gibt. Sie finden noch ein freies Tavolino und setzen sich. Er bestellt für Antonella einen Cappuccino und ein Cornetto, für sich nur einen Espresso.
„Weißt Du, wen ich im Montecitorio getroffen habe?” Er merkt ihr an, dass sie es kaum erwarten kann, ihm das zu sagen.
“Sciascia, Leonardo Sciascia”!
Er erinnert sich. Erst kürzlich hatten sie sich über den bekannten Schriftsteller unterhalten, der nicht schlechthin politische Kriminalromane schrieb, die spannend und unterhaltend waren, sondern auch soziale und politische Hintergründe aufzeigten. Über die Entführung und Ermordung des DC-Politikers hatte er ein Büchlein geschrieben, die „Affäre Moro”, das mit seinen Enthüllungen über politische Intrigen wie der berüchtigte Stich ins Wespennest wirkte und verdeutlichte, dass Moro von den höchsten Spitzen seiner Partei und des von ihr beherrschten Staates kaltblütig seinem Schicksal, das heißt der Exekution durch die Brigate Rosse, überlassen worden war. Nach Sciascia gab es im Caso Moro zwei Tätergruppen, einmal jene, die ein Interesse an der Ermordung des DC-Vorsitzenden hatten, die den Mord begünstigten, herbeiwünschten, aber nicht identisch mit den ausführenden Tätern, den BR, waren,
„Mittelbare” und „unmittelbare” Täter hatte sich Pallotta in seinen Aufzeichnungen notiert. Bei allem war der Autor ohne Zweifel höllisch auf der Hut, sich keinen juristischen Anschuldigungen auszuliefern, wie sie dem satirischen Stückeschreiber Dario Fo zu Dutzenden angehängt worden waren. Unter anderem, weil er sich mit deutlicher Anspielung auf den Tod des Anarchisten Pinelli, in „Zufälliger Tod eines Anarchisten” mit den diesbezüglichen anrüchigen Polizeipraktiken befasst hatte.
Sciascia charakterisiere den Mord als „politisch mafiosen Terrorismus”, beginnt Antonella ihren kurzen Überblick über die Rolle Mattarellas auf der Insel. Er hatte – im Mezzogiorno fast eine Normalität – mit Mafiosi Kontakte unterhalten, die seiner Partei die erforderliche Stimmenmehrheit auf der Insel sicherten. Gegen „kleine Gefälligkeiten”, verstand sich. Mal ein lukrativer Bauauftrag aus öffentlicher Hand, mal „ein Auge zudrücken”, wenn „übereifrige” Juristen einem Mitglied der „ehrenwerten Gesellschaft” zu sehr auf die Pelle rückten.
Aber trotz mafioser Hilfe konnte die Democrazia Cristiana auch in Sizilien bald nicht mehr ohne die Unterstützung der Kommunisten regieren. Mit beiden Seiten konnte man schwerlich kooperieren.
So schlug sich Mattarella auf Moros Seite und versuchte, sich aus der Umklammerung der Mafia zu lösen.
Die Warnung, die der Tod seines Parteifreundes Michele Reina sein sollte, schlug er offenkundig in den Wind. Der Sekretär der DC-Leitung von Palermo war am 9. März 79 erschossen worden. Zweifelsohne durch Mafia-Killer, denn Reina war gegen die Vergabe öffentlicher Bauaufträge an Mafiosi aufgetreten und hatte sich ebenfalls für ein Bündnis mit den Kommunisten in der Landeshauptstadt ausgesprochen.
Im Gegensatz zu seiner Parteiführung in Rom hielt Mattarella weiterhin an Moros Compromesso stòrico fest und wollte mit der IKP eine Regionalregierung bilden.
„Das wurde ihm wohl zum tödlichen Verhängnis”, meint Antonella.
„Sicher“, stimmt Pallotta ihr zu. “Das Strickmuster ähnelt dem bei Moro. Ein weiterer Befürworter des Compromesso mit den Kommunisten ist ausgeschaltet worden, offensichtlich ein besonders hartnäckiger, den man mit Moros Tod nicht abschrecken konnte.” Er wirkt sehr nachdenklich.
„Kannst du eine kleine ‘Zuarbeit’ für mich machen”, bittet Pallotta sie zum Abschluss.
„Was brauchst du denn diesmal?”
„Rognoni hat eine Zusammenfassung der terroristischen Aktivitäten seit Moros Tod angefordert, und das hat man mir aufgehalst. Da wäre es gut, wenn ich etwas mehr wüsste, als wir im Computer haben.”
„Ich habe mir schon gedacht, dass du demnächst damit kommen wirst. Es ist fast fertig”, antwortet die Freundin etwas schelmisch.
„Du bist einfach ein Schatz, ohne dich hätte ich das ganze schon längst aufgegeben”, bedankt er sich.
In seinem Ufficio wundert sich Pallotta längst nicht mehr, dass er von den Informationen, die er von Antonella zum „Fall Mattarella” erhalten hat, nichts erfährt. Dafür fällt ihm auf, dass der Minister anfragt, ob der Terrorbericht fertig ist, und das am Freitag-nachmittag. Mit Mühe kann er ihn überzeugen, die Sache bis Montag aufzuschieben.
Antonella hat ein freies Wochenende, was in ihrer Zeitung selten ist. Obwohl es ein Arbeitswochenende werden wird, kommt sie zu ihm an den Prato. Der Commissario freut sich. Nicht nur, weil die Freundin eine ausgezeichnete Cucina a la Casalinga serviert, sondern ihm auch bei der Vorbereitung seines Berichts an den Minister behilflich sein wird. Aus dem „Repùbblica”-Archiv hat sie ihm einen umfangreichen Packen Kopien zum Thema mitgebracht.
„Fang mit der Piazza Fontana an”, empfiehlt sie ihm. „Übrigens habe ich Maurizio zum Essen eingeladen. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen.”
„Ganz im Gegenteil. Der alte Junggeselle wird sich freuen, wieder einmal bei uns zu sein und dazu noch Deine Kochkunst zu genießen. Und dann konnte ich mich schon lange nicht mehr in Ruhe mit ihm über meinen ‘Caso’ unterhalten.”
Natürlich kennt Pallotta die schrecklichen Vorgänge am 12. Dezember 1969 auf der Piazza Fontana in Milano. An diesem Tag explodierte dort gegen 16.30 Uhr in der Schalterhalle der Landwirtschaftsbank eine Bombe. Sie tötete 16 Menschen und verletzte über achtzig. Dutzende weitere Verletzter gab es bei noch vier Bombenanschlägen, die sich innerhalb der folgenden Stunde an anderen Plätzen der Wirtschaftsmetropole ereigneten. Das Dossier, das ihm Antonella zusammengestellt hat, vermittelt jedoch bedeutend gründlichere und vor allem den tatsächlichen Ereignissen entsprechende Kenntnisse.
Bei den Attentaten handelte es sich, wie später bekannt wurde, um Anschläge der von Pino Rauti, der Nummer zwei der Sozialbewegung, angeführten Terrororganisation Ordine Nuòvo. Als weitere Rädelsführer agierten die hinlänglich bekannten Neofaschisten Franco Freda und Giovanni Ventura sowie ein Guido Giannettini. Rautis Credo lautete: „Die Demokratie verseucht den Geist.” Die von ihm schon 1954 gegründete “Neue Ordnung” bekannte sich in ihrem Programm zur Salò-Republik sowie zum “Dritten Reich”. Sie propagierte den „Kampf für die Vorherrschaft der weißen Rasse”. Ihren Wahlspruch entlehnte sie dem der deutschen SS: „Unsere Ehre heißt Treue”, und ihr Organisationssymbol war das keltische Kreuz. Rauti war mit dreizehn seiner Ordensmänner in der Parteiführung des MSI vertreten.
Amerikanische und italienische Geheimdienstkreise sowie mit ihnen liierte Polizeibeamte versuchten, die Ermittlungen nach links zu lenken.
In den ersten beiden Tagen nach den Anschlägen verhaftete die Polizei über 300 Personen aus linken Kreisen, darunter zwei bekannte Anarchisten: den Eisenbahner Giuseppe Pinelli und den Balletttänzer Pietro Valpreda. Die Untersuchungen leitete in der Mailänder Questura der Kommissar Luigi Calabresi.
Pinelli stürzte nach dreitägigem Verhör in der Nacht zum 16. Dezember aus dem Fenster des im fünften Stock gelegenen Zimmers Calabresis in den Tod. Auf einer noch in derselben Nacht durchgeführten Pressekonferenz erklärte die Polizei, Pinelli habe Selbstmord begangen.
Zehntausende, vor allem von der außerparlamentarischen Linken, demonstrierten mit dem Sprechchor „Calabresi Mörder” durch die Straßen von Mailand und forderten die Freilassung Valpredas und der anderen Inhaftierten.
In der Protestbewegung und bei der Aufdeckung der Machenschaften der Polizei und der Geheimdienste spielte die Gruppe Lòtta Continua von der außerparlamentarischen Linken eine gewichtige Rolle. Die Organisation zählte etwa 20.000 Mitglieder, gab eine Tageszeitung gleichen Namens und eine Informationsschrift „Contre-Informazione” heraus.
Es kamen folgende Beweise bzw. Indizien ans Licht: Ein Krankenwagen, der zur angeblichen Ersten Hilfe für den angeblich aus dem Fenster gestürzten Pinelli erschien, war von der Polizei bereits vor dem Fenstersturz gerufen worden. Der Anarchist war bei den Verhören schwer gefoltert worden und bereits tot, als er in die Tiefe stürzte.
Calabresi wurde am 17. Mai 1972 in Mailand auf offener Straße erschossen. Als der Tat dringend verdächtig suchte die Polizei zunächst einen gewissen Gianni Nardi, der nach Spanien geflohen war. Wiederum handelte es sich um einen bekannten Neofaschisten, der 1970 Mitglied des Putschistenstabes von Borghese gewesen war. 1976 kam er bei einem Autounfall auf Mallorca ums Leben.
Für einen Agenten immer ein fragwürdiger Tod, denkt Pallotta und sieht, dass auch Antonella ein Fragezeichen gesetzt hat.
„Was hat es mit Calabresis Tod auf sich?”
Zunächst findet Pallotta darauf keine Antwort. Er muss wohl laut gedacht haben, denn Antonella ruft ihm aus der Küche zu: „Das findest Du unter dem Stichwort ‘tote Zeugen’, etwas weiter hinten in dem Material.”
Pallotta wird bald klar, was es mit den „toten Zeugen” auf sich hat. Nicht alle Ermittler haben sich auf die „linke Spur” festlegen lassen. Eine Anzahl Untersuchungsrichter ist den Neofaschisten auf die Schliche gekommen.
Zwei Namen tauchen immer wieder auf: Ugo Paolillo und Gherardo D’Ambrosio. Während Paolillo der Fall entzogen wurde und seine Berichte spurlos verschwanden, gelang es D’Ambrosio, beträchtliche Beweise für die neofaschistische Täterschaft vorzulegen. Unter anderem wies er nach, dass die Aktentaschen, in denen die Bomben in Mailand explodierten, von Franco Freda zwei Tage vor den Anschlägen gekauft worden waren. D’Ambrosios Ermittlungen führten zur Verhaftung Giannettinis.
1974 musste Giulio Andreotti als Verteidigungsminister unter dem Druck der Enthüllungen in den Medien eingestehen, dass Guido Giannettini ein Agent des SID war. Nicht zugegeben wurde, dass er aber vor allem als Mann der CIA handelte.
Im gleichen Jahr begannen die ersten Prozesse, die 1979 vorerst abgeschlossen wurden. Fredda und Ventura konnten nur in Abwesenheit verurteilt werden. Sie waren in die Bundesrepublik Deutschland geflohen, wo sie sich bezeichnenderweise unbehelligt in Bad Tölz aufhalten konnten, obwohl sie von Interpol per Haftbefehl gesucht wurden. Sie residierten im ersten Hotel der Stadt, dem „Hof zur Jodquelle”, einem Treffpunkt der Offiziere vom benachbarten US-Stützpunkt in Garmisch Partenkirchen.
„Ein Zufall konnte dieser Zufluchtsort wohl kaum gewesen sein”, meint Antonella, die gerade an seinem Schreibtisch vorbeischaut, um das Mittagessen anzukündigen. „Dort gab es sicher auch eine CIA-Station, die sich um die beiden kümmerte.”
Sie hat ihm einen Absatz aus dem römischen „Messaggero” angestrichen, in dem die Flucht der beiden Attentäter am 26. Januar 1978 wie folgt kommentiert worden war: „In der Bundesrepublik haben italienische Neofaschisten schon immer den notwendigen Beistand, alle Mittel und auch die Pässe erhalten, um sicher weiter fliehen zu können.“ Weiter hieß es; „Es ist kein Geheimnis, dass gerade Bayern in der Vergangenheit zahlreiche flüchtige italienische Neofaschisten aufgenommen hat.”
„Die beiden Typen sind übrigens inzwischen aus der Bundesrepublik ausgeflogen worden. Wohin ist noch nicht bekannt”, ergänzt Antonella.
„In einer halben Stunde ist das Essen fertig“, schließt sie und entfernt sich in die Küche, aus der es bereits ganz verführerisch duftet.
Pallotta wandte sich wieder den „toten Zeugen” zu. Das waren elf Personen, die in den Prozessen gegen die Neofaschisten aussagen sollten, zumindest vorgeladen worden waren.
Sie kamen alle ums Leben, bevor sie vernommen werden konnten.
Eine Anneliese Borth aus Deutschland, die als Komplizin Valpredas angeklagt worden war, und vier Anarchisten aus Reggio Calabria fanden bei einem Autounfall den Tod. Sie hatten an einer Dokumentation über die neofaschistischen Täter auf der Piazza Fontana und an anderen Orten gearbeitet. Unter den Toten befanden sich auch Leute aus dem rechten Lager, die als unsichere Kantonisten galten. Ein Taxifahrer Cornelio Rolandi, Kronzeuge der Anklage gegen Valpreda, kam in seiner Wohnung in der Badewanne ums Leben. Er hatte ausgesagt, Valpreda vor dem Attentat zur Landwirtschaftsbank gefahren zu haben. Für die Aussage war er präpariert worden. Man hatte ihm vor der Gegenüberstellung ein Foto des Anarchisten gezeigt. Die Verteidigung hatte das herausbekommen und man befürchtete, Cornelio werde seine Aussage widerrufen. Der Rechtsanwalt Vittorio Ambrosini, Bruder des ehemaligen Präsidenten des Verfassungs-gerichts, stürzte aus dem siebten Stock einer römischen Klinik in den Tod. Als ehemaliger Mitarbeiter des Geheimdienstes wusste er, dass der Anschlag in Mailand von der Ordine Nuòvo verübt worden war und wollte dazu aussagen.
Wie nun war Calabresi in den Kreis der „toten Zeugen” geraten?
Der Kommissar war 1966, als er einen Fortbildungskurs in New York besuchte, von der CIA angeworben worden. Den Geheimdienst der USA bei der Abwehr der kommunis-tischen Gefahr zu unterstützen, hatte er ohne Probleme zu sehen, zugestimmt. Zumal die Angelegenheit mit den italienischen Diensten abgestimmt schien. Auch in der Questura in Rom tuschelte man schon mal hinter vorgehaltener Hand, dass sich dieser oder jener Kollege mit solcherart „Bündnistreue” das nicht gerade üppige Gehalt etwas aufbesserte. Maurizio hatte einmal erzählt, wie ein etwas unbedarfter Kollege, der für eine Mitarbeit in der amerikanischen Company angesprochen worden war, sich an seinen Abteilungs-leiter um Rat gewandt hatte. Auf seine Frage, ob das zulässig sei, habe er von seinem Chef die beruhigende Antwort erhalten, unter Freunden der Allianz sei das geradezu eine „vaterländische Pflicht”. Maurizio war sich sicher gewesen, dass der noch recht junge Abteilungsleiter seine rasche Karriere zweifelsohne auch der Protektion seiner „Allianzfreunde” aus Langley verdankte. Was Calabresi betraf, so machte er jedenfalls nach seiner Rückkehr vom Fortbildungskurs in den USA ebenfalls einen Sprung nach oben. Er avancierte zum stellvertretenden Leiter des politischen Dezernats.
Was damit auf ihn zukam, hatte Calabresi bei seiner Verpflichtung wohl kaum voraus-gesehen. Das politische Dezernat war für die seit Mitte der sechziger Jahre zunehmenden terroristischen Umtriebe zuständig. So war auf Calabresi die Untersuchung des Anschlags auf der Piazza Fontana zugekommen. Der erfahrene Kriminalist war sicher bald dahinter gekommen, dass er mit der Verfolgung der Anarchisten auf eine falsche Fährte gehetzt wurde. Im Frühjahr 1972 stieß der Kommissar dann auch noch auf ein neofaschistisches Waffenlager größten Ausmaßes. Es wurde publik, dass es Karabiner, Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Handgranaten, Minen und selbst Artillerie-geschosse umfasste. Vermutlich war es für den „Windrose”-Putsch angelegt worden. Bei seinen Recherchen stellte der Kommissar fest, dass ein Großteil der Waffen aus der Bundesrepublik Deutschland stammte. Die Lieferanten verfügten über Kontakte zum Bundesnachrichtendienst. Einer ihrer Verbindungsleute war der frühere SS-Standarten-führer Skorzeny, der im September 1943 Mussolini in einem spektakulärem Kommando-unternehmen aus der Haft vom Gran Sasso geholt hatte, wohin dieser nach seinem Sturz im Juli gebracht worden war. Nach dem Krieg hatte er in Spanien eine Waffenexportgesellschaft gegründet, zu deren bevorzugten Kunden die neuen Schwarzhemden Italiens gehörten.
Beim Weiterblättern stößt Pallotta auf ein Foto aus dem römischen „Europeo” aus dem Jahre 1974. Es zeigt Pino Rauti und Guido Giannettini. Sie sitzen lachend auf einem Panzer. Aus dem Text geht hervor, dass es sich um den „Leopard” handelte einen Panzertyp der deutschen Bundeswehr. Das Foto stammte vom Herbst 1969 und der Panzer war damals noch „streng geheim”. Nicht aber für die beiden römischen Neofaschisten, die zu dieser Zeit an einem Lehrgang für psychologische Kriegführung an der Bundeswehrschule in Euskirchen teilnahmen. Anschließend besuchten beide die Bundeswehrschule der Panzertruppen, wo das Foto mit dem „Leopard” geschossen wurde. Die freundschaftlichen Beziehungen zu den Kameraden der Bundeswehr hinderten Giannettini nach seiner Verhaftung 1974 nicht, auszusagen, Calabresi sei wegen der Aufdeckung der Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik von Leuten des Bundesnachrichtendienstes umgebracht worden.
Giannettinis Aussage konnte ebenso ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, überlegt Pallotta.
Denn es war auch ganz im Interesse der italienischen Neofaschisten und ihrer Hintermänner im SID und in der CIA, dass Calabresi beseitigt wurde.
Antonella hatte ihm die Recherchen eines Wiener Publizisten, eines Experten in Fragen des Terrorismus zusammengefasst. Der Mann namens Harald Irnberger hatte sie bereits 1976 unter dem Titel „Terrormultis” veröffentlicht. Er schrieb: „Die im Prozess aufgedeckten Spuren zeigten, welch prominente Mächte hinter den blutigen Faschistenumtrieben standen – und dass Calabresi nun wohl etliche sehr bekannte Namen auszuplaudern gehabt hätte, wenn er zu sprechen begonnen hätte. Das wurde verhindert durch die am 17. Mai auf Luigi Calabresi abgefeuerten Schüsse.”
Pallotta hatte die Liste der „toten Zeugen” gerade abgeschlossen, als es klingelte.
„Lass mal, ich gehe schon öffnen”, ruft er Antonella zu. Routinemäßig schaut er durch den Sehschlitz, ehe er Maurizio hereinlässt.
Maurizio ist wieder einmal des Lobes voll über das, was Antonella auftafelt. Nach der Pasta, Spaghetti al tartuffo néro, serviert sie das Lieblings Sécondo der beiden Männer, Saltimbócca a la romana, eine Spezialität der Hauptstadt, die Maurizio als gebürtigem Römer besonders mundet.
„Selten eine so gute Kalbsroulade gegessen”, schwelgt er und bringt einen Toast auf „die beste Köchin der Welt” aus.
Sie stoßen mit einem fruchtigen Frascati an. Den leichten trockenen Weißen bezieht Antonella von der Mutter einer Kollegin direkt vom Weingut in den Albaner Bergen.
Nun sitzen sie in den plüschigen, schon etwas abgewetzten Sesseln, die Antonella am liebsten auf den Müll befördern möchte, trinken Capuccino und lassen sich eine Torta mandorle schmecken.
Pallotta hat sich seinen „verwässerten” Romana gemixt, Maurizio bevorzugt wie immer einen Grappa, und Antonella hat sich einen Amaretto di Saronna einschenken lassen.
Nun aber möchte Maurizio wissen, wie die Arbeit vorangeht.
„Ich habe mich zunächst mit dem Anschlag auf der Piazza Fontana befasst”, beginnt Pallotta. „Denn damit beginnt das, was man in der Presse gewöhnlich Spannungsstrategie nennt. Die Grundzüge sind – dazu hast Du mir ja eine Menge Material besorgt – bereits beim Piano solo sichtbar geworden. Das Ziel ist, die Linken auszuschalten, in erster Linie die Kommunisten, die Sozialisten gelten inzwischen nicht mehr als gefährlich, sind sozusagen integriert worden. Die Opposition, die Gewerkschaften, aber auch Politiker der Regierungsparteien, die mit den Kommunisten liebäugeln, sollen eingeschüchtert, mundtot gemacht werden. Beginnend mit der Piazza Fontana sind die Terroranschläge sprunghaft angestiegen. Das schafft ein Klima, in dem ein Militärputsch möglich wird, eine Situation, in der die Armee, wenn notwendig, als ‘Ordnungsfaktor’ eingreifen kann.”
Pallotta reicht dem Freund die Notizen, auf denen er die Fakten und gravierenden Ereignisse zusammengefasst hat.
Vor 1969 gab es jährlich einige Dutzend Anschläge, keine Toten. 1969 sind es dann rund 150, darunter die Explosion in der Mailänder Landwirtschaftsbank. Im Mai 1974 werden bei einem Attentat auf eine Gewerkschaftskundgebung in Brescia acht Menschen getötet und 94 verletzt. Im Dezember explodiert im Italicus-Express von Rom zum Brenner im Apenninentunnel hinter Florenz eine Bombe, zwölf Tote und 48 Verletzte. Die Zündung sollte ursprünglich auf dem immer sehr belebten Bahnhof von Bologna erfolgen, wo sie nicht nur im Zug, sondern auch unter den Reisenden auf den Bahnsteigen ein regelrechtes Massaker angerichtet hätte. Für die angeführten Anschläge wurden neofaschistische Attentäter ermittelt, obwohl es auch in diesen Fällen immer wieder Versuche gab, linke Terroristen zu präsentieren. 1978, im Jahr der Entführung und Ermordung Moros, stiegen die Terrorakte dann auf fast 2.400 an. In diesem Jahr gab es 37 Todesopfer, 1979 noch drei mehr. Für den Januar 1980 liegen noch keine Zahlen vor, es dürften aber bereits mehr als 10 Tote sein, darunter Mattarella als prominentestes Opfer. Symptomatisch ist, dass es seit 1969 zunehmend linke Attentate gibt, deren Echtheit in vielen Fällen fraglich ist bzw, bei denen agents provocateurs am Werk sind. Den letzten Satz hat Pallotta unterstrichen und am Rande angemerkt: siehe Merlino.
„Was bedeutet `Merlino?´”, fragt Maurizio.
„Der Name eines typischen agent provocateur, der vom SID bei dem Anschlag auf der Piazza Fontana eingesetzt wurde”, antwortet Pallotta und reicht ihm eine Karteikarte.
Unter dem Stichwort Personaggi ist vermerkt: Merlino, Mario: Philosophiestudent, Ausbildung in der Ordine Nuòvo, danach rechte Hand von Stefano Delle Chiaie, des Chefs der Avanguardia Nazionale. 1965/66 Teilnahme an einem Sechsmonate-Lehrgang der neonazistischen Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland. Unter Leitung Rautis nimmt Merlino 1968 zusammen mit etwa 20 Neofaschisten in Griechenland an einer Schulung zum Studium der Erfahrungen der Obristen bei der Infiltration linksradikaler Gruppen teil. Zurückgekehrt gründet er einen Anarchistenzirkel, der MolotowCocktails wirft und Autos anzündet. Die rechte Presse berichtet daraufhin über „blinde Gewaltakte der von der IKP manipulierten linken Extremisten.” Merlino wirbt Valpreda für seinen Zirkel an.
„So ist Valpreda durch Manipulierung und falsche Aussagen zum Haupträdelsführer des Anschlags auf der Piazza Fontana gestempelt worden”, ergänzt Pallotta.
„Der Provokateur Merlino aber wurde 1977 im Prozess freigesprochen.”
„Mammamìa”, entfährt es Maurizio. „Das ist ja schon keine Kriminalstatistik mehr. Du betreibst hier wissenschaftliche Arbeit. Es fehlt nicht mehr viel, und du kannst das als Doktorarbeit einreichen.”
„Dagegen wäre nichts einzuwenden”, meint Pallotta. „Aber wenn ich mich so mit dem Thema exponiere, werden sie mich anschließend in der Questura sicher rausschmeißen und ich kann mich unter die arbeitslosen Akademiker einreihen.”
„Das würde so schlimm nicht sein”, äußert Antonella. „Wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, kannst Du bei uns im Archiv anfangen. Einen Dokumentalisten mit Insiderwissen über Polizeipraktiken, den würden sie sicher nehmen.”
„Du vergisst”, wendet Pallotta ein, „dass ich beim Ausscheiden aus dem Dienst unterschreiben muss, nie ein Wort darüber zu verlieren, was ich in der Polizeiarbeit erfahren habe.”
„Ach”, bedeutet ihm Antonella mit freundschaftlichem Spott in der Stimme, „bei uns kannst du verdeckt arbeiten. Niemand erfährt, dass du da ermittelst. Du erhältst einen Decknamen. Pseudonym heißt das bei uns.”
Maurizio hat dem Geplänkel, das er ausgelöst: hat, belustigt zugehört.
Nun fragt er, ob man sich noch ein paar ernsthaften Fragen zuwenden könne.
Nach zustimmendem Nicken nennt er die Manipulierung der radikalen Linken im Konzept der Spannungsstrategie und fragt nach Parallelen zum Putsch der Obristen in Athen.
Pallotta schlägt vor, dass er zur ersten Frage demnächst einmal informieren wird, da er sich erst noch näher sachkundig machen müsse.
Antonella sagt zu, dazu etwas aus dem Archiv ihrer Zeitung zu beschaffen. Bei der Spannungsstrategie handele es sich um keine ausschließlich italienische Angelegenheit, fährt sie fort.
In Griechenland sei 1967 ein Wahlsieg der Linken so gut wie sicher gewesen. Also hätten die Obristen einen Präventivschlag geführt und bereits vorher ihr profaschistisches Regime errichtet. Die von den Experten der CIA und der NATO konzipierte Operation lief unter dem Decknamen OPLAN 100-1 ab. Sie sucht eine Zeitungsmeldung heraus, sie stammt aus dem „Los Angeles Herald Examiner” vom Juni 1972. Kurz nach den Parlamentswahlen, die den Kommunisten mit über 27 Prozent einen starken zweiten Platz brachten, fragte die amerikanische Zeitung unverblümt, ob das Obristenregime von Athen nicht „ein gutes Modell” für Rom sei. „Das Problem besteht heute darin, zu entscheiden, ob unser NATO-Verbündeter Italien in der Lage ist, allein gegen eine rote Revolution ungeahnten Ausmaßes vorzugehen, oder ob die Situation nicht besser von den Carabinieri, den bewaffneten Kräften, der Armee in die Hand genommen werden sollte”, hieß es.
Antonella erwähnt noch frappierende Parallelen zu Chile, wo die Unidad Popular unter dem Sozialisten Allende durch freie Wahlen an die Macht gekommen und dabei gewesen war, die Vorherrschaft der USA-Konzerne zu brechen. Auswirkungen auf ganz Süd-amerika waren zu erwarten. So wurde auch hier die Spannungsstrategie inszeniert, welche die Unfähigkeit der linken Regierung belegen und das Eingreifen der Generäle rechtfertigen sollte. Tankstellen explodierten, Pipelines fielen aus, Brücken stürzten ein, die Versorgung der Bevölkerung brach zusammen. Im September 1973 schlug Pinochet zu.
Der Mann, der ihm unter dem Code „Centaurio” den Putschplan ausarbeitete, war der inzwischen zum General aufgestiegene Vernon Walters, der für De Lorenzo den Piano Solo entworfen hatte. Selbst der Mörder Allendes und seiner Sekretärin, Miriam Ruppert, ein gewisser Hauptmann Roberto Garrido, hatte seine Ausbildung an der Special Force School in dem in der US-Zone von Panama liegendem Fort Kulick erhalten. Die Anstalt wird allgemein nur Putschistenakademie genannt. Die speziellen Vorlesungen dort hielt General Walters.
Im November reiste eine MSI-Delegation mit dem Abgeordneten Mirko Tremaglia nach Chile, um Junta-Chef Pinochet eine Botschaft „der Solidarität und des Verständnisses im Namen der Italiener” zu überbringen. Für Italien forderte die Sozialbewegung danach offen „eine chilenische Lösung.”
Schließlich möchte Maurizio erfahren, was Pallotta dem Minister berichten wird. Der Commissario informiert ihn in Stichpunkten: Die Fakten über die Attentate, ihre Zunahme vor Moros Entführung und jetzt vor dem DC-Parteitag. Mögliche Parallelen zwischen Mattarella und Moro, dazu Hinweis auf Sciascia, dessen Äußerung ja in den Zeitungen stand.
„Erwähne doch ruhig sein Büchlein über die ‘Affäre Moro’, das kann nicht schaden”, meint Maurizio.
„Ja, gut”, stimmt Pallotta zu. „Ich habe aber ein viel brisanteres Thema. Im März 79 gab es einen Mordfall, der im Zusammenhang mit unserem Caso Moro steht. Ich überlege, ob ich das erwähnen soll.”
„Wer ist es?”, fragt Maurizio.
„Ein gewisser Mino Pecorelli, ein Enthüllungsjournalist, dessen Spezialstrecke das Geheimdienstmilieu war. Politisch nicht fest angesiedelt, keinesfalls links, eher rechts. Verdiente mit seinen Enthüllungen einen Haufen Geld. Vielleicht hat er manchmal auch Schweigegeld angenommen. Er gab ein eigenes Nachrichtenbulletin heraus, den ‘Osservatore politico’. Antonella hat ein paar aufschlussreiche Berichte ausfindig gemacht. Schauen wir sie uns mal an, denn ich bin auch noch nicht dazugekommen, sie zu lesen.”
Nachdem Antonella ihnen ein paar kopierte Seiten gereicht hat, vertiefen sich die beiden in die Berichte. Der erste stammt vom 13. September 1975. Pecorelli berichtet über den Besuch Präsident Fords kurz vorher in Rom, in dessen Verlauf er Moro, der zu dieser Zeit Ministerpräsident war, wie schon ein Jahr vorher in Washington erneut Konsequenzen für den Fall einer Regierungsbeteiligung der Kommunisten angedroht hatte. Was dann folgt, kann man eigentlich als eine verschlüsselte Vorhersage des Todes Moros interpretieren. Pecorelli zitierte einen Beamten, der in Anspielung auf die Ermordung John F. Kennedys und seiner Witwe davon gesprochen habe, dass es „in der Zukunft unseres Landes eine Jacqueline geben werde.”
Am 2. Mai 1978, eine Woche vor der Ermordung Moros, befasst sich der „Osservatore” mit den Hintergründen der Entführung des DC-Führers und den Brigate Rosse. Es heißt: „Die Gefangennahme Moros stellt eine der größten politischen Operationen dar, die in den letzten Jahrzehnten in einem industrialisierten Land, das in das westliche System integriert ist, durchgeführt wird. Das oberste Ziel ist es, die Kommunistische Partei vom Bereich der politischen Macht zu entfernen, und zwar in dem Moment, wo sie sich anschickt, an der Regierungsgewalt teilzuhaben. Es ist eine Tatsache, dass man dies unter keinen Umständen zulassen kann.”
Zu den Roten Brigaden schreibt Pecorelli: „Das leitende, die Gefangenschaft Moros organisierende Hirn, hat nichts mit den traditionellen Roten Brigaden zu tun. Das Kommando in der Via Fani drückte in nicht gewohnter, aber effizienter Weise die neue politische Strategie in Italien aus. Die Entführer Moros haben nichts mit den gemeinhin bekannten Roten Brigaden zu tun.”
Vier Monate nach Moros Tod, am 12. September 1978, kommt Pecorelli erneut auf die zwielichtige Rolle der Roten Brigaden zurück. Er schreibt: „Die BR stellen nicht den Hauptmotor der Rakete dar, sie reagieren als Hilfsmotor für eine Korrektur der Richtung des Raumschiffes Italien.” In derselben Ausgabe seines „Politischen Beobachters” vertritt auch Pecorelli die Meinung, dass die Schuldigen an der Entführung und Ermordung Moros unter denen zu suchen sind, die sich gegen das Programm des DC-Vorsitzenden gestellt haben. „Es gibt ausreichende Indizien dafür, dass die Roten Brigaden im Auftrag Dritter, Italiener oder Ausländer, gehandelt haben.”
„Da hat der Mann starkes Geschütz aufgefahren”, kommentiert Maurizio. „Ein Schuss ist wahrscheinlich nach hinten losgegangen. Du kannst den Pecorelli auf die Liste deiner ‘toten Zeugen’ setzen. Ich erinnere mich jetzt auch an den Vorfall. Typische Mafia-Exekution. Schuss in den Mund, direkt vor seiner Haustür, er wollte. gerade aus seinem Wagen steigen.”
„Es war vor den Räumen seiner Redaktion”, präzisiert Antonella. „In der Via Tacito, unweit des Castel S. Angelo. Und es waren zwei Killer. Sie gaben vier Schüsse ab, einen davon in den Mund. Ich erinnere mich so genau, weil ich Chef vom Dienst war und wir zwei Reporter losschickten.”
„Aber die Berichte im ‘Osservatore’ allein dürften kaum seinen Tod herbeigeführt haben”, meint Maurizio.
„Da bist du sicher auf der richtigen Fährte”, wirft Antonella ein. „Aber das, was Pecorelli enthüllt hat, ist nur die Spitze des Eisberges. Ihr wisst ja, dass die Ermordung Moros von einer Parlamentskommission untersucht wird. Cossiga, der für die ‘Intransigenza’ im Komplott gegen Moro mit dem Amt des Premiers belohnt wurde, hat sich der Einsetzung des Ausschusses bis zuletzt widersetzt. Eine Mehrheit der DC-Führung hat ihn unterstützt. Die ganze Wahrheit wird bestimmt nicht ans Licht kommen. Aber einige Aufschlüsse sind sicher zu erwarten. Unser Chef äußerte dieser Tage, dass Andreotti den bevorstehenden Anhörungen mit sehr gemischten Gefühlen entgegensieht.”
„Jedenfalls bestätigt sich, dass Moro einem regelrechten Komplott zum Opfer gefallen ist”, fasst Pallotta die Meinung zusammen. „Die ‘traditionellen Roten Brigaden’, wie Pecorelli sie nennt, sind allem Anschein nach in eine Falle getappt. Wie, das bleibt zu klären“.
Pallotta kommt nochmals auf die von Pecorelli erwähnte internationale Einwirkung auf die BR zurück. „Ist es möglich, dass die Sowjets oder andere Ostblockstaaten Einfluss ausübten?”
„Das kann zweifelsfrei ausgeschlossen werden”, antwortet Maurizio. „So wird das auch bei unseren ‘Diensten’ gesehen. Denn die CIA hätte sich dann kaum die Gelegenheit entgehen lassen, dem KGB eine überzubraten.”
„Auf eine derart abenteuerliche Sache hätte man sich in Moskau auch kaum eingelassen”, meint Antonella. „Ganz abgesehen davon, dass unsere Brigadisten Anhänger Mao Zedongs und seiner Theorie sind, ‘die Revolution kommt aus den Gewehrläufen’, die von den Sowjets entschieden abgelehnt wird.”
„Aber die Moskauer KP war doch auch gegen den historischen Kompromiss der IKP”, wirft Pallotta ein.
„Das stimmt nur zum Teil”, entgegnet Antonella. „Breshnew lehnte insbesondere Berlinguers These ab, dass die Linken bei einem Wahlsieg die Regierung nicht allein übernehmen, sondern auch dann ein Bündnis mit den Christdemokraten schließen sollten. Berlinguer meinte dagegen, dass eine Linksregierung ähnlich wie in Chile ohne Einbeziehung der Christdemokraten dazu führen könnte, dass die Democrazia Cristiana einen militärfaschistischen Putsch toleriert.”
„Von Andreotti und seinem Anhang wäre etwas anderes kaum zu erwarten gewesen”, entgegnet Maurizio.
„Es gibt noch einen weiteren Gesichtspunkt”, ergreift Antonella wieder das Wort. „Gegen einen Eintritt der Kommunisten in eine Koalitionsregierung mit unserer DC und anderen Parteien hätten sie in Moskau generell nichts einzuwenden gehabt, denn sie erwarteten, dass das der NATO ziemliche Probleme bereiten würde. Aber insgeheim ging Breshnew wohl davon aus, dass das Projekt Moros zum Scheitern verurteilt war. Es verstieß gegen den von beiden Blöcken stillschweigend respektierten Status quo. Die Amerikaner haben auch nichts unternommen, als die Sowjets ihren Status in Prag gewahrt haben.”
„Aber Dubcek ist nicht wie Moro umgebracht worden”, bemerkt Pallotta. „Bei uns sind die Amerikaner mit ihren Truppen nach Kriegsende eben gleich hier geblieben. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten wir unser ‘Prag’ hier schon viel früher erlebt. Abgesehen davon, dass wir angesichts der ständigen Einmischung von CIA und Pentagon, vom Weißen Haus und dem State Departmenteine permanente Intervention erleben.”
Maurizio fällt noch ein guter Rat ein. „Benutze den Terminus ‘Spannungsstrategie’ nicht. Der ist bei uns als ‘kommunistischer Propagandaslogan’ gebrandmarkt.”
Bevor sie sich am Wagen auf dem Parkplatz vor dem Haus verabschieden, vertraut Maurizio dem Freund an, dass sein Onkel ins Sicherheitsbüro des Innenministeriums versetzt worden ist, zuständig für Kontakte zum SISMI.
„Er ist ein verfassungstreuer Mann, verabscheut Methoden wie sie gegen Moro angewendet wurden, steht Dalla Chiesa nahe”, erläutert er. „Manchmal sucht er den Gedankenaustausch, und ich bin der einzige, mit dem er sich dann unterhalten kann. So erfahre ich, wie du schon bemerkt hast, hin und wieder einiges, was für unsere Recherchen nützlich ist. Das muss natürlich unter uns bleiben. Wenn Antonella etwas zum Schreiben verwendet, muss sie andere Quellen dafür nennen.”
„Darauf kannst Du Dich verlassen”, erwidert Pallotta, ehe sie sich mit einem festen Händedruck verabschieden.
Entgegen gehegten Befürchtungen kommt Pallotta mit seinem Bericht an den Minister problemlos über die Runden. Obwohl größere Erfolge in der Fahndung nach den BR noch immer ausstehen, scheint das Thema vorerst keine prioritäre Rolle zu spielen.
Das hängt mit dem Christdemokratischen Parteitag zusammen, der den Compromesso stòrico mit der IKP endgültig beendet hat. Der einst von Moro angeführte starke linke Parteiflügel besitzt keinen nennenswerten Einfluss mehr. Die Rechten beherrschen die Partei und gewinnen weiter an Einfluss. Auf Sizilien kann die Mafia wieder ungeschoren ihren Geschäften nachgehen.
Die Sozialisten sind unter dem rechten und korrupten Bettino Craxi inzwischen zum anerkannten Partner auch in Washington aufgestiegen. Sie besiegeln im April 1980 mit ihrem Wiedereintritt in die Regierung ebenfalls den Bruch mit dem Compromesso.
Die Kommunisten haben bei den Wahlen 1979 vier Prozent ihrer Wähler verloren. Das Scheitern ihrer Kompromisspolitik mit den Christdemokraten stellt eine schwere Niederlage dar, von der sie sich nicht mehr erholen.
Die „Korrektur der Richtung des Raumschiffes Italien”, von der im „Osservatore politico” die Rede war, ist vollzogen worden, schlussfolgert Pallotta.
Trotzdem scheint es, dass die Spannungsstrategen sich ihres Sieges noch nicht ganz sicher sind. Im August kommt es im „roten Bologna” zum bis dahin blutigsten Terroranschlag. Auf dem Hauptbahnhof explodiert eine Bombe, die 85 Menschen tötet und über 200 verletzt. Die hektischen Fahndungsaktionen führen zu keinen Ergebnissen, obwohl die neofaschistische Herkunft der Attentäter und die geheimdienstliche Urheberschaft wieder offensichtlich sind. Maurizio bekommt heraus und informiert ihn “top secret”, dass zu den Rädelsführern ein gewisser Joachim Fiebelkorn aus Deutschland gehört. Er ist ein enger Vertrauter des berüchtigten Kriegsverbrechers Klaus Barbie, den die Amerikaner nach 1945 vor der Bestrafung in Sicherheit brachten. Wie Barbie arbeitet Fiebelkorn für die CIA und auch noch für den BND. Bologna war nicht zufällig Ziel des furchtbaren Massakers. Die Regionalhauptstadt wird, wie die meisten Städte und Gemeinden der Emilia Romagna und auch das Land selbst von Kommunisten und Sozialisten mit hoher Dominanz der IKP regiert. Es ist unschwer zu erkennen, dass die linke Stadtverwaltung als unfähig zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung für die Bürger diffamiert werden soll.
Das Feldhandbuch
Der Anschlag in Bologna veranlasst Pallotta, endlich das Kapitel Spannungsstrategie zu vollenden. Seit geraumer Zeit liegt bereits ein ansehnlicher Materialpacken bereit, den ihm Antonella zum linksradikalen Spektrum aufbereitet hat. Sie hebt hervor, dass das linksradikale Potenzial eigenständig entstanden ist und erst dann von den Spannungsstrategen benutzt wurde. Aber auch das könne man nicht durchgängig voraussetzen, es blieben eigenständige Aktionen. Des weiteren handele es sich um eine linksradikale Minderheit, die den bewaffneten Kampf, wie sie ihre Aktionen nennt, führte. Diese Gruppen grenzten sich entschieden von der herkömmlichen Linken ab, für die vornehmlich die IKP steht. Es sind die Rechten, in erster Linie die Neofaschisten mit ihren Komplizen in Armee, Polizei und Geheimdiensten, die für die linksradikalen Anschläge die IKP verantwortlich machen, sie als Urheber ausgeben.
Pallotta befasst sich nun bereits seit Jahren mit dem, was in der Polizeiarbeit Terrorismusbekämpfung genannt wird. Jetzt lernt er Aspekte, Hintergründe und Zusammenhänge kennen, die in den Ermittlungen nicht oder kaum eine Rolle spielen.
Die radikale Linke ist keineswegs ein italienisches Phänomen. Ähnliche Gruppen gab es seit den 60er Jahren in den USA, in Lateinamerika, weiteren Staaten Westeuropas, in Japan und einigen Ländern der dritten Welt. Anfang der 70er Jahre begannen diese Gruppen auch in Westeuropa teilweise den bewaffneten Kampf gegen das herrschende System. Auf die größtenteils aus jungen Menschen, überwiegend Intellektuellen und Studenten, bestehende Bewegung wirkten viele Faktoren ein: der mörderische Krieg der USA in Vietnam, die Black Power in Nordamerika, die Guerilla im Süden des Kontinents, der vielerorts erfolgreiche bewaffnete Befreiungskampf in Asien und Afrika, der Widerstand der Palästinenser im Nahen Osten. Einen Höhepunkt bildete die studentische Protestbewegung 1968. Unter dem Stichwort „Leitbilder” hat Antonella einige Persönlichkeiten aufgeführt, an denen sich diese neue Linke, wie sie sich auch nannte, orientierte: Che Guevara, Ho Chi Minh und Mao Zedong, Patrice Lumumba, Jean Paul Sartre und Franz Fanon, aber auch die deutsche RAF-Kämpferin Ulrike Meinhof.
Es folgen Angaben zu den bekanntesten Organisationen: Lòtta Continua und Potére Operàio. Anhänger beider Organisationen, denen deren Kurs nicht radikal genug war, gründeten Mitte der 70er Jahre die Autonomia Operàia. Den extremen Flügel bildeten die Brigate Rosse, eine Prima Linea und die Nùclei Armati Proletari. Lòtta Continua und Potére Operàio praktizierten Gewalt und bewaffnete Auseinandersetzungen, verfielen jedoch nicht dem Extremismus der drei letztgenannten Gruppen. Das ist, wie Antonella vermerkt hat, im Zusammenhang damit zu sehen, dass vor allem diese Gruppen und hier in erster Linie die Brigate Rosse durch die Geheimdienste infiltriert wurden.
Im nächsten Abschnitt hat die Freundin einiges zur Herkunft der italienischen Linksradikalen aus der kommunistischen, teilweise auch aus der sozialistischen Partei zusammengestellt.
Es ist ein Aspekt, der in anderen westeuropäischen Ländern keine solche Rolle spielte. Nicht wenige Linksradikale, darunter auch Mitglieder der BR, kamen aus den Arbeiterparteien, waren Söhne, Töchter oder Enkel von deren Mitgliedern, darunter auch von früheren Partisanen der Resistenza. Viele Linksradikale glaubten, mit dem bewaffneten Kampf im antifaschistischen Geist zu handeln und wie die Resistenza in der Tradition des Volkshelden Garibaldi zu stehen, wie überhaupt vom Recht der Unterdrückten auf bewaffneten Widerstand gegen eine Ausbeutergesellschaft Gebrauch zu machen. Diese Positionen brachten die radikalen Linken nahezu zwangsläufig in scharfe Opposition zur Politik des Compromesso stòrico der IKP unter Enrico Berlinguer, den sie als Verrat an den revolutionären Zielen der kommunistischen Bewegung ablehnten. 1968/69 wurden Tausende dieser Opponenten aus der IKP ausgeschlossen. Herausragende Linke wie Rossana Rossanda und Luigi Pintor gründeten danach die Zeitung „Manifèsto“, um die sich eine kommunistische Gruppierung sammelte. Wenn die Zeitung streckenweise an die Hunderttausend Exemplare vertrieb, dann zeugte das von einem beträchtlichen Einfluss.
Antonella sympathisiert noch heute mit „Manifèsto“ und ist eine regelrechte Verehrerin von Rossanda. Sie ist der Ansicht, dass die IKP, während sie sich sozialdemokratischen Ideen öffnete, sich gleichzeitig von diesen oppositionellen Linken in der Partei trennte, ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Radikalisierung auf der linken Seite trägt.
Dass der soziale Faktor eine Triebkraft des Linksradikalismus darstellt, ist Pallotta erst durch die gemeinsamen Recherchen mit Antonella sichtbar geworden.
Durch ihre Herkunft aus dem Mezzogiorno bringt die Freundin auch noch starke eigene Erlebnisse ein. „Wenn dort Jugendliche von 25 oder 30 Jahren noch nie eine feste Arbeit gehabt haben, dahinvegetieren, keine Zukunft haben, dann sehen viele nur noch einen Ausweg: die Mafia, die Unterwelt oder den radikalen Protest”, hat sie ihm kürzlich erläutert und einige Zahlen genannt: 1978 wurden rund zwei Millionen Arbeitslose und drei Millionen Kurzarbeiter gezählt. Unter den Arbeitslosen waren die Hälfte Jugendliche, die meisten seit Jahren auf der Suche nach einer ersten Beschäftigung. 350.000 Arbeitslose besaßen einen Hochschulabschluss. Seit 1972 fanden etwa die Hälfte aller Hochschulabgänger keinen Arbeitsplatz. Von denen, die eine Arbeitsstelle fanden, waren 55 Prozent unterbeschäftigt. 50 Prozent der Akademiker ging einer Arbeit nach, die weit unter ihrer Qualifikation lag. Sie arbeiteten als Verkäufer, Sekretäre, Taxifahrer, Busschaffner, ja selbst als Straßenkehrer. Trotzdem nahmen Zehntausende Jugendliche weiterhin ein Studium auf. Die Universitäten wurden so zu „Parkplätzen” für Arbeitslose und gleichzeitig zu Zentren „linksradikaler“ Umtriebe. Anhänger fanden die radikalen Studenten vor allem unter den Jugendlichen in den Armenvierteln der Großstädte. Die Mailänder Zeitschrift „Panorama”, die gewiss nicht den linken Medien zuzuordnen ist, schrieb 1977 über die Zusammensetzung der linksradikalen Gruppen: „In Rom ist ein großer Teil des ärmsten Proletariats der Vorstadtghettos in der Autonomia Operàia gelandet.”
Am Ende des Materials liegen ein paar Archivseiten, die Antonella mit dem Stichwort „staatliche Repression und Linksradikalismus” überschrieben hat.
Pallotta kommt nicht umhin, zu schlussfolgern, dass die Praktiken von Polizei- und Justizorganen, anarchistische und linke Kreise für neofaschistische Anschläge wie den auf der Piazza Fontana verantwortlich zu machen, eine weitere Radikalisierung dieser Kräfte bewirkte. Der Tod Pinellis, die Inhaftierung und jahrelange juristische Verfolgung des unschuldigen Valpreda und später anderer Lòtta-Leute sowie die Schützenhilfe für neofaschistische Mörder, brachte viele Linksradikale dazu, dem System mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Nachdem Pallotta sich zum linksradikalen Potenzial sachkundig gemacht hat, befasst er sich mit dessen Infiltration. Der amerikanische Geheimdienst hatte dazu ein umfangreiches Programm ausgearbeitet, das er mit Hilfe der italienischen Dienste verwirklichte. Maurizio hat ihm einige Informationen gegeben, Antonella gewichtige Pressestimmen aus ihrem Zeitungsarchiv zusammengestellt. Das Material ist wieder einmal brisant. So hat der zuständige Ausschuss des Repräsentantenhauses der USA bereits 1968 allen Geheimdienstorganen der USA empfohlen, bei ihren Aktionen stärker linksextreme Kräfte zu nutzen. Das Pentagon erließ dann im November 1970 ein sogenanntes „Field manuel 30-31“ mit detaillierten Weisungen für „Stabilisierung-aktionen” in Staaten der atlantischen Allianz. Das Dokument mit der kriegsmäßigen Bezeichnung „Feldhandbuch“ enthielt auch Instruktionen zur Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen.
Die Schlüsselfigur dieser Untergrundarbeit war bis zu seiner Verhaftung 1974 der Staragent Guido Giannettini. Er wurde geopfert, um Schlimmeres für die CIA und den SID zu verhindern.
Giannettini kennt Pallotta bereits von seinen Recherchen zum Attentat auf der Piazza Fontana. Auf einem der ihm schon bekannten Personaggi-Karteiblättchen hat Antonella weitere höchst interessante Fakten über ihn festgehalten: Jahrgang 1930, Journalist, schreibt für MSI-Parteiblatt „Secolo d’Italia”, Tageszeitung „Il Tempo”, „Rivista Militare” (Hg. Generalstab des Heeres). Experte für Militärfragen, akkreditiert bei diversen Kommandostellen der NATO, regelmäßiger Teilnehmer an Pakt-Tagungen. Vermutlich seit 1960 oder 1961 als Agent für die CIA und den SIFAR, später den SID tätig. Spezialist für Agenteneinschleusung in linksradikale Organisationen. Bei mehreren Operationen persönlich von den Geheimdienstchefs Admiral Henke und General Miceli geführt.
Antonella, die Deutsch spricht, hat einen Artikel des sozialdemokratischen „Vorwärts“ aus Bonn vom Jahre 1974 herausgesucht, in dem Giannettini wie folgt zitiert wurde: „Ich bin Nazifaschist. Männer wie ich arbeiten, um in Italien zu einem Militärputsch oder zum Bürgerkrieg zu kommen.”
Aus weiteren Angaben geht hervor, dass Giannettini als Putschspezialist bereits 1961 an der Schule der US-Marines Vorlesungen über „Techniken und Möglichkeiten eines Staatsstreiches in Europa” hielt. 1964 gründete der Agent einen „weltweiten Geheimapparat für revolutionäre Aktionen”, der neofaschistische Terroristen instruierte, links getarnte Anschläge durchzuführen. Im Mai 1965 hielt er in Rom auf einer Tagung führender Militärs und Geheimdienstmitarbeiter das Hauptreferat zum Thema „subversiver Kampf gegen die Kommunisten”. Den zweiten Vortrag belegte Rauti. Zu den Teilnehmern gehörten der Generalstabschef Aloja, der Kommandeur der Fallschirmjäger, General Nulli, und General De Lorenzo. Anschließend hielt Giannettini dasselbe Referat an der Militärakademie in Modena. Im Auftrag des SID fabrizierte er zusammen mit Rauti eine Broschüre „Rote Hände über den Streitkräften”, die dem Offizierskorps vor Augen führen sollte, dass die Armee „kommunistisch unterwandert” sei und die „rote Machtergreifung” unmittelbar bevorstünde.
Rauti und Giannettini sind keineswegs Einzeltäter aus kleinen Gruppen unverbesserlicher Altfaschisten, als die manche Blätter sie gern hinstellen, sondern Exponenten einer gut organisierten und zahlenmäßig außerordentlich starken neofaschistischen Bewegung.
Antonella hat mit ihrer gewohnten Akribie einige Fakten zu diesem Potenzial zusammengestellt, auf das sich die Spannungsstrategie stützt.
Pallotta kennt sich nicht schlecht aus. Trotzdem ist er wieder einmal entsetzt, feststellen zu müssen, welch neofaschistischer Apparat sich nach 1945 über die Niederlage des Mussolini-Faschismus hinwegretten konnte und über drei Jahrzehnte danach nicht nur unbehelligt existiert, sondern zum Verbündeten der NATO und der CIA bei der Untergrabung und Beseitigung der italienischen Demokratie geworden ist.
Die schon 1946 gegründete neofaschistische Partei Movimento Sociale Italiano hat sich 1972 mit der Monarchistischen Partei vereint und zählt seitdem etwa 400.000 Mitglieder. Die Agrarherren des Südens, einflussreiche Industrie- und Bankkreise aus Italien und den USA unterstützen sie, nicht zuletzt finanziell. Es gibt eine neofaschistische sogenannte nationale Gewerkschaft CISNAL, die eine Million Mitglieder angibt, eine durchaus ernst zu nehmende Zahl, meint Antonella. Die MSI-Jugendfront zählt nach Angaben des Innenministeriums 120.000 Mitglieder, die Studentische Kampffront 20.000, eine Nationale Front, die Borghese gewissermaßen als seine eigene Putschgarde gründete, besteht weiter und vereint etwa 5.000, eine Nationale Vorhut etwa 1.500, ein MSI-Freiwilligenverband, der nach dem Vorbild des einstigen faschistischen „Saalschutz“ Hitlers aufgebaut ist, ungefähr 1.000 Mann. Es gibt ein Dutzend paramilitärischer Banden wie die Sturmabteilungen Mussolinis, den Angriff, eine revolutionäre Aktion, nationale Kampfgruppen und einen Verband Phönix. Insgesamt existieren ungefähr 30 größere überregionale Organisationen und 200 Grüppchen und Vereine auf örtlicher Ebene. Zirka 720.000 ehemalige Angehörige der Mussoliniarmee, der Parteimiliz des „Duce“ und anderer Formationen aus der Zeit des Faschismus, darunter die Rrigate nére, der italienischen Waffen-SS der Salò-Republik, sind in Traditionsverbänden zusammengeschlossen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Kontakte zu gleichgesinnten Kreisen ist der vom MSI ins Leben gerufene Verein der Freunde der Streitkräfte.
Neofaschisten stellten nicht nur einen großen Teil der eingeschleusten Agenten, die den bewaffneten Kampf anheizten, sie bildeten auch selbst „linksextreme” Gruppen und gaben eigenen Terrorbanden einfach linke Namen. Nachdem im März 1973 ein neofaschistisches Attentat auf den D-Zug Genua-Rom gescheitert war, wurde bekannt, dass in dem Zug zahlreiche Neofaschisten vor den Reisenden demonstrativ mit Zeitungen und Flugblättern von Lòtta Continua und Potére Operàio aufgetreten waren, um entsprechende Spuren zu hinterlassen.
Zwei Monate später explodierte im Mailänder Polizeipräsidium eine Bombe, die vier Menschen tötete und 52 verletzte. Der Attentäter namens Gianfranco Bertoli von der Ordine Nuòvo gab sich als Anarchist aus. Zum „Beweis” hatte er sich ein von einem Kreis umgebenes A auf den Arm tätowieren lassen, das Erkennungszeichen der Anarchisten. Bertoli erklärte, er habe den Tod seines Freundes Pinelli rächen wollen. Im Frühjahr 1975 berichteten Zeitungen über Neofaschisten, die in linke Studentengruppen eingeschleust wurden, um „linke Unruhen” vom Zaune zu brechen. In Mailand waren „linke” Ausschreitungen, die zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei führten, von Neofaschisten organisiert worden, die vorher ins linksradikale Lager gewechselt waren. 1977 wurde bekannt, dass die CIA unter Studenten italienischer Universitäten Agenten anheuerte und sie dann an die John Hopkins-University in Kalifornien einlud, wo sie eine entsprechende Ausbildung erhielten. Nach Italien zurückgekehrt, wurden sie in linksradikale Gruppen infiltriert, um terroristische Aktionen zu organisieren und selbst zu leiten. Wie der Mailänder ’“Espresso“ berichtete, habe „ein CIA-Agent es sogar geschafft, Führer einer linken Gruppe zu werden.“
Als es 1977 in Rom zu blutigen Ausschreitungen der Autonomia Operàia gegen eine Gewerkschaftskundgebung kam, befanden sich unter den Autonomisten zahlreiche Mitglieder der für ihre Schlägerpraktiken berüchtigten neofaschistischen Universitäts-front, die zu den Angriffen anstachelten.
Während der Geiselhaft Moros verübte eine neofaschistische Bande Sprengstoffanschläge, verwüstete Schulen und beging Diebstähle. An den Tatorten hinterließ sie Flugblätter mit dem Roten Stern der Brigate Rosse.
In Bari tauchte vor der Entführung Moros eine neofaschistische Gruppe unter dem Namen Nationale Sozialistische Ordnung auf, in Catania eine Nationale Befreiungsfront und in Rom eine Gruppe, die sich den linksextremen Bewaffneten Proletarischen Zellen zum verwechseln ähnlich Bewaffnete Revolutionäre Zelle nannte.
Was die Pressebeiträge betrifft, so stammen sie zum geringsten Teil aus der kommunistischen „Unita”.
Die bekannten Mailänder Zeitschriften „Panorama” oder „Espresso”, Tageszeitungen wie „Il Messaggero”, der „Paese Séra”, natürlich die „Repùbblica”, aber auch die zum größten privaten Industriekonzern des Landes, der FIAT gehörende Turiner „Stampa” haben sich immer wieder mit dem brisanten Thema beschäftigt. In einem Artikel protestierte die „Stampa” energisch gegen die Washingtoner Haltung, „Italien wie ein Protektorat der USA” zu behandeln.
Antonella hat zur Position des FIAT-Chefs am Rand vermerkt: „Agnelli billigt seit Mitte der 70er Jahre stillschweigend Moros apertura a sinistra.”
Der Commissario sucht sich das heraus, was speziell die Brigate Rosse betrifft. Nach der 1975 erfolgten Verhaftung des sogenannten „historischen Kerns” mit den Gründern Renato Curcio, erster Brigate-Chef, und Alberto Franceschini an der Spitze, erfolgte eine Wende zum Extremismus, die vier Jahre später zur Ermordung Moros führt.
Antonella hat nicht nur „politische Leitsätze” ausfindig gemacht, die Curcio vor der BR-Gründung verfasste, sondern diese auch eingeschätzt.
Da Pallotta die Arbeit seines Vaters als Historiker immer mit Interesse begleitet hat, sind ihm Marx, Lenin oder Gramsci nicht ganz fremd.
Aber die Freundin kennt sich da weit besser aus. Sie hält sich zugute einiges von Marx im Original gelesen zu haben. Gramsci kennt sie besonders aus seinen „Gefängnistagebüchern”. Sie hält den Mitbegründer der IKP für einen der genialsten Denker der Arbeiterbewegung.
Sie hat festgehalten, dass Curcio sich in den „Leitsätzen” zu Gramscis These vom „Stellungskrieg” bekannte, den dieser als lange Periode des Klassenkampfes verstand. Der erste BR-Chef habe den Standpunkt vertreten, aus den Massen müsse eine „organisierte revolutionäre Bewegung” hervorgehen. Er hatte sich gegen jede Form von „Abenteurertum” gewandt.
Der erste Anschlag der Brigate unter Curcio datiert vom Januar 1971. Ein Lastwagen der Pirellifabrik in Mailand wird in Brand gesteckt. Es folgen ähnliche Aktionen, bei denen Autos von Konzernmanagern angezündet werden. Im März 1972 kommt es zur ersten Entführung. Opfer ist ein Direktor von SIT-Siemens, dessen Foto auf einem Flugblatt mit folgendem Text publik gemacht wird: “Schlag zu und entkomme! Nichts bleibt unbestraft! Treffe einen, um 100 zu erziehen. Alle Macht dem bewaffneten Volk!“ Im Februar 1973 wird ein Gewerkschaftsfunktionär entführt: und als „Verräter an den Arbeitern” bezeichnet, im Dezember der Personaldirektor von FIAT und danach im April 1974 der Richter Mario Sossi aus Genua. Sossi wird als „Volksfeind” der ’“Prozess gemacht“, da er hohe Gefängnisstrafen gegen Linksradikale verhängte.
Alle Entführten werden nach kurzer Zeit wieder freigelassen. Mit fünf Wochen befand sich Sossi am längsten in den Händen der BR.
Bis 1974 gibt es also keine Mordfälle, schlussfolgert Pallotta. Ausgenommen sind zwei Neofaschisten, die im Herbst `74 bei einem Zusammenstoß mit den Brigate erschossen werden.
Zwischen 1970 und 1974 sind dagegen 40 Menschen bei neofaschistischen Anschlägen ums Leben gekommen.
Die Verhaftung Curcios und des „historischen Kerns” hatte der eingeschleuste Agent Girotti bewerkstelligt. Damit wurde, so meint Maurizio, der Weg frei für einen Mario Moretti, der seit der Organisationsgründung der harte Kontrahent Curcios war. Mehrfach hatte er bei vergangenen Entführungen verlangt, die Geiseln zu töten, so zuletzt im Fall Sossi. Curcio lehnte das ab und setzte sich durch. Außerdem wurde der Hardliner kurz vor Curcios Verhaftung aus der BR-Führung ausgeschlossen.
Nach Maurizios Information, der sicher wieder einmal seinen Onkel „abgeschöpft” hat, bestehen zu Moretti Kontakte der Polizei. Ob er zur Kollaboration gewonnen, vielleicht auch gezwungen oder nur manipuliert wurde, sei nicht genau auszumachen. Der Freund hat auf einige aufschlussreiche Indizien verwiesen:
Bei der Verhaftung Curcios gelang es Moretti zu entkommen. Mehr noch, er sei in der Lage gewesen, seine Genossen vor der Festnahme zu retten, habe indessen nichts unternommen. Nachdem der „historische Kern” ausgeschaltet worden ist, kehrt ein weiterer alter Widersacher der „weichen” Linie Curcios in die Brigate zurück: Corrado Simioni.
Der Mann hat bereits eine schillernde Vergangenheit. 1965 arbeitete er beim United States Information Service. Danach ging er bis etwa Anfang 1968 nach München zu Radio Free Europe, bekanntermaßen eine Rundfunkstation der CIA. Dann beteiligte er sich an der Gründung der Brigate Rosse. Schon in der Gründungsphase legte er eine Konzeption vor, die aufs Haar den Instruktionen des „Feldhandbuch 30-31“ entsprach. Detailreich unterbreitete er Mordanschläge auf drei NATO-Generäle, die exakt das Terrain für den Borgheseputsch und das von Vernon Walters geforderte militärische Eingreifen der USA bereitet hätten. Als Curcio seine Pläne ablehnt, verlässt er die BR wieder.
In den folgenden Jahren hält er sich häufig an einem Hyperion-Sprachinstitut am Quai della Tournelle in Paris auf. An der Einrichtung, die von vielen Linksradikalen besucht wird, arbeiten verdeckte CIA-Agenten. Wenige Wochen vor der Entführung Moros richtet das Institut in Rom eine Filiale ein. In der Hauptstadt der Schweiz, wo die Company ihre zentrale Station für Europa unterhält, ist Simioni öfter Gast des Berner Klubs, einem Treffpunkt von Geheimdienstleuten der NATO-Staaten. Als er im Herbst 1974 in die BR zurückkehrt – hat ihn Lòtta Continua bereits als CIA-Agent enttarnt.
Wenn es sich bei Moretti um keinen Agenten oder Kollaborateur handelt, dann können er und seine Anhänger auch von Simioni gesteuert worden sein. Denn nachdem Moretti mit Hilfe Simionis die Führung der Brigate übernommen hat, bestimmt dieser ganz auf der Linie des Feldhandbuches das Vorgehen. Sergio Flamigni von der Parlamentarischen Untersuchungskommission hält Simioni überhaupt für den „eigentlichen Chef“ der BR. Unter Moretti fallen im Juni 1976 die ersten tödlichen Schüsse. Opfer sind der Oberstaatsanwalt Francesco Coco mit seinem Fahrer und dem Begleitpolizisten. Danach werden noch neun Richter erschossen. Zu den weiteren Opfern gehören Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Gesellschaft, darunter ein Journalist der „Stampa“ namens Carlo Casalegno.
Maurizio, mit dem Pallotta wieder einmal einen Abend im Bivacco verbringt, kommt auf Casalegno zu sprechen. Er wurde im November 1977 erschossen, auf dem bekannten Flugblatt als „verachtenswerter Staatsdiener” bezeichnet.
„Oberflächlich betrachtet passt das ins Raster. Ein Journalist der FIAT-Zeitung, der gegen die Linken zu Felde zieht, wird bestraft”, beginnt Maurizio.
„Nur müssten sie dann die Journalisten der rechten und neofaschistischen Presse, von ‘Il Tempo’ und ‘Giornale’ bis zum ‘Secolo’ zu Hauf erschießen. Casalegno aber, und damit beginnt das Problem, ist gar nicht gegen den Linksterror schlechthin vorgegangen, sondern gegen seine Hintermänner und Drahtzieher. Er hat in einem Artikel ’vom gezielten Linksterror’ gesprochen und den ‘Inspiratoren und Koordinatoren’, die dahinter stünden. Das hat Leute wie Simioni auf den Plan gerufen und Casalegno auf die Abschussliste gebracht.”
„Das erinnert ja an den Pecorelli vom ‘Osservatore politico’. Du meinst, er wurde wie dieser umgebracht, weil er dabei war, die Steuerung der BR aufzudecken?”, erwidert Pallotta.
„Das ist sicher ein wesentlicher Faktor. Denn in der Terrorwelle in der zweiten Hälfte der 70er Jahre werden überhaupt viele unliebsame Zeugen ausgeschaltet, so wie wir es bereits aus den Prozessen nach der Piazza Fontana- kennen.“
Maurizio nennt als erstes Beispiel Coco. Natürlich war dieser mit Ermittlungen gegen linksradikale Terroristen befasst. Gleichzeitig aber war er einem viel brisanteren Fall auf die Spur gekommen: der Ermordung des Journalisten De Mauro. Der Redakteur der palermitanischen Zeitung „L’Ora” hatte 1970 für den Film „Der Fall Mattei”, den der Regisseur Rossi auf Sizilien drehte, recherchiert. Von dort aus war der Präsident des ENI-Konzerns 1962 zu seinem Flug in den Tod gestartet. Während seiner Recherchen verschwand De Mauro und wurde später erdrosselt aufgefunden. Er hatte sicher Beweise dafür gefunden, dass Mattei einem Attentat zum Opfer gefallen war. Und Oberstaatsanwalt Coco war dabei, das Attentat gegen den ENI-Chef und Freund Moros aufzuklären.
„Ich bin sicher”, schließt Maurizio, „dass das und nicht seine Ermittlungen gegen Linksradikale Coco auf die Abschussliste gebracht hat.”
Auch der entführte Richter Sossi ermittelte nicht nur gegen linksradikale Kreise. Er war, wie einst Kommissar Calabresi, auf Verwicklungen des SID in illegale Waffengeschäfte gestoßen, deren Aufklärung auf jeden Fall verhindert werden sollte. Der Geheimdienst war durch seinen V-Mann detailliert informiert und kannte das Geiselversteck. Nachdem Curcio die Forderung Morettis, Sossi zu liquidieren, abgelehnt hatte und beschlossen worden war, den Richter freizulassen, schlug SID-Chef Miceli vor, das Versteck zu stürmen und bei der „Befreiungsaktion” die BR-Führung, die sich dort aufhielt, zu liquidieren. Damit wäre der moderate „historische Kern” der Brigaden mit Curcio an der Spitze ausgeschaltet und der Weg für Moretti freigeworden. Wäre auch dieser dabei ums Leben gekommen, hätte der in Bereitschaft stehende Simioni die BR-Führung direkt übernehmen können. Micelis Plan stieß auf Widerstand und wurde so nicht ausgeführt.
„Sossi hat während seiner Geiselhaft bestimmt mitbekommen, dass seine Entführung nicht nur das Werk der BR war”, ergänzt Maurizio. „Er hat sich in seinen weiteren Ermittlungen bezüglich der Waffenaffäre tunlichst zurückgehalten. Aber nach Moros Tod hat er voriges Jahr ein Buch unter dem Titel ‘Im Volksgefängnis’ veröffentlicht, in dem er die Steuerung der Brigaden deutlich anspricht, wenngleich er die entsprechenden Geheimdienste natürlich nicht beim Namen nennt und nur von ausländischen spricht.”
Maurizio reicht ihm einen Zettel, auf dem er einen Auszug notiert hat: „Da ich völlig überzeugt von dem künstlichem Charakter unserer revolutionären Guerilla bin, habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass die Strategen dieser Operation Geheimdienstagenten fremder Staaten sind.”
„Ich habe noch einen weiteren gewichtigen Fakt herausbekommen“, fährt der Freund fort. „Unter der Führung Curcios haben er, Francheschini und Curcios Frau, Margherita Cagol, eine Schlag gegen ‚das Herz des Staates’ genannte Operation geplant, wie sie dann mit der Entführung Moros erfolgte. Nur war die Zielperson damals Andreotti, der Exponent der Rechten in der Democrazia Cristiana. Nachdem Moretti die Führung übernommen hatte, wurde das Objekt des ‚entscheidenden Schlages’ ausgewechselt. Statt Andreotti, der immer als Mann der Amerikaner bekannt war und noch heute ist, wurde Moro, den die Falken in Pentagon und CIA wie die Pest hassten, Ziel des Anschlags.”
Maurizio hält einen Augenblick inne.
„Da gibt es noch so ein Teilchen im Brigate-Puzzle. Margherita Cagol kam einige Zeit nach Curcios Verhaftung während einer Entführung bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben. Die Umstände waren mehr als seltsam. Ein an der Entführung beteiligter Maraschini gab sich bei einer Routinekontrolle seines Fahrzeuges ohne jeden Grund sofort als Brigadist zu erkennen. Die Carabinieri drangen danach zu dem Haus vor, in dem sich die Cagol mit noch einem Brigadisten aufhielt. Die beiden flohen, wobei die Cagol verletzt wurde. Sie erreichte ihr Fahrzeug und fuhr los. Ihr Genosse nahm ein zweites Fahrzeug. Später ließ er es stehen und entkam zu Fuß. Die verwundete Cagol kam von der Straße ab, ihr Wagen blieb stecken und sie versuchte ebenfalls zu Fuß zu fliehen. Sie kam nicht weit, wurde von einem Carabinieri gestellt und erschossen. Möglicherweise wurde die Verletzte vorsätzlich exekutiert. Jedenfalls war damit das letzte Mitglied des ‘historischen Kerns’ der BR und die letzte Widersacherin der Hardliner Moretti und Simioni ausgeschaltet worden.”
„Damit sind wir ein ganzes Stück weiter”, bemerkt Pallotta.
„Ich bin noch nicht ganz fertig”, unterbricht ihn der Freund und schildert ihm noch einen Mordfall, den des Richters Occorsio, der einen Monat nach Coco in Rom erschossen wurde. Als Täter bekannten sich ausnahmsweise die Neofaschisten offen zu dem Anschlag, den sie eine „Bestrafung” nannten. Occorsio hatte in einem Verbotsprozess gegen die Ordine Nuòvo den Vorsitz geführt. Aber auch in diesem Fall lagen die Hintergründe tiefer. Der Jurist hatte hochexplosive Fälle bearbeitet, deren Spuren ins Geheimdienstmilieu führten. Maurizio verweist auf einige Beispiele: De Lorenzo und seinen Piano solo und den Anschlag auf die Mailänder Landwirtschaftsbank. In seinem jüngsten Fall ging es um Mafia-Geschäfte, darunter Waffenhandel und Geldwäsche, Verbindungen zu den Neofaschisten und wieder zu den Geheimdiensten, involviert erneut direkt Miceli.
„Occorsio war auf einen gewissen Licio Gelli als zentrale Figur gestoßen und hatte ihn wenige Tage vor seinem Tod verhört”, fügt Maurizio ein und nennt ein paar Fakten:
Altfaschist und SS-Mann aus der Salò-Zeit. Floh bei Kriegsende nach Argentinien, wohin das Hitlerregime vor seinem Zusammenbruch riesige Vermögenswerte transferiert hatte. Unter Juan Peron, einem Bewunderer Hitlers und Mussolinis, avancierte Gelli zum Wirtschaftsberater der Regierung und wurde ein reicher Unternehmer. Nach Italien zurückgekehrt knüpfte er enge Beziehungen zu führenden DC-Leuten und stieg in die Geschäfte des mit der Vatikan-Bank liierten Finanzmagnaten Michele Sindona ein. Dieser gehörte zu den Finanziers der Neofaschisten und bereits 1964 zu den Hintermännern aus der Wirtschaft, die hinter der Putschvorbereitung De Lorenzos standen. Sindona machte 1974 betrügerischen Bankrott, floh in die USA, wurde dort zu lebenslanger Haft verurteilt, danach nach Italien ausgeliefert, wo derzeit ein weiteres Verfahren gegen ihn läuft, unter anderem wegen Waffenhandel, Geldwäsche und Anstiftung zum Mord, der von Mafia-Killern ausgeführt wurde.
„Mit zum Hintergrund gehört unser Andreotti”, fährt Maurizio fort. „Er vertuschte Gellis Herkunft und verhalf ihm als Verteidigungsminister zu lukrativen NATO-Aufträgen. Sindona, der 1973 vom Club of Rome zum ‘Unternehmer des Jahres’ gekürt wurde, feierte er auf einem prunkvollen Bankett, das er im New Yorker Waldorf Astoria für ihn gab, als ‘Retter der Lira’. Zusammen mit Staatsbankpräsident Carli versuchte er, Sindona vor der Anklage zu retten.”
„Ich frage mich wieder einmal, wie Moro sich bei seiner Zusammenarbeit mit der IKP auf einen Andreotti einlassen konnte”, wirft Pallotta ein.
„Im Palazzo nennt man ihn nur den ‘Fuchs’, Schlitzohr wäre aber zutreffender. Genauso verwunderlich aber ist, dass sich ein Berlinguer auf diesen Handel eingelassen hat.”
„Beide hofften wohl, Andreotti unter Kontrolle halten zu können”, entgegnet Maurizio.
„Diese Gefahr sahen sicher auch die Spannungsstrategen und haben zugeschlagen oder zuschlagen lassen, durch ihre nützlichen Helfer, die Brigate Rosse”, meint Pallotta dazu.
„Was Andreotti betrifft, gibt es noch einen weiteren Fakt”, nimmt Maurizio das Gespräch wieder auf. „Viele Maßnahmen im Polizei- und Sicherheitssektor, die das Agieren der BR begünstigten, wenn nicht gar erst ermöglichten, erfolgten in den 70er Jahren, als er Ministerpräsident oder Verteidigungsminister war.“
Der Freund nennt zwei solcher Maßnahmen:
General Malletti, Nummer zwei des SID und Opponent Micelis im Geheimdienst, legte nach der Verhaftung des „historischen Kerns” der BR eine Analyse über deren neue Strategie unter Moretti, über geplante „blutige Aktivitäten” vor. Er erwähnte Auftraggeber, die im Dunklen blieben und hielt ausdrücklich: fest, man könnte sie nicht „als links” definieren.
Kurz darauf wurde Malletti von seiner hochrangigen Funktion entbunden und auf den untergeordneten Posten eines Kommandeurs der Carabinieri-Division auf Sardinien versetzt.
General Dalla Chiesa hatte mit seinen V-Leuten den „historischen Kern” der BR ausgeschaltet. Fast zeitgleich mit der Versetzung Mallettis wurde die von ihm geleitete Antiterrorismus-Abteilung aufgelöst, da er durch seine weiteren Ermittlungen wahrscheinlich auf neue, verdächtige Zusammenhänge gestoßen wäre. Die folgenden tödlichen Anschläge waren für die Verantwortlichen kein Anlass, sie wieder zu aktivieren.
Ähnlich seltsames wiederholt sich sechs Wochen vor der Entführung Moros mit der Auflösung des 400 Spezialisten umfassenden Anti-Terrorismus-Amtes Gen. Santillos.
Maurizio verweist auf die Pressekonferenz eines gewissen Januzzi 1976 in Rom. Der Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Tempo”, die nicht zu verwechseln sei mit der fast gleichnamigen rechten Tageszeitung, behauptete, „Rotbrigadisten” würden auf einem NATO-Stützpunkt auf Sardinien für ihre „linken Operationen” ausgebildet.
„Ich habe das damals für kommunistische Propaganda gehalten. Dass es keine Dementis oder strafrechtliche Konsequenzen gab, was im Allgemeinen als Bestätigung des Wahrheitsgehalts solcher Berichte gilt, habe ich gar nicht bemerkt!
Mein Onkel”, -der Freund hält einen Moment inne, weil ihm entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, der Name seiner vertrauten „Quelle“ entschlüpft ist,- „hat mir später einmal bedeutet, dass das so aus der Luft gegriffen gar nicht sei. Und unsere Recherchen seit der Ermordung Moros sagen dasselbe aus”, schließt Maurizio und schlägt vor, Antonella zu bitten, das Material aus ihrem Archiv zu besorgen.
Schon zwei Tage später holt Pallotta sich bei Antonella in ihrer kleinen Stadtwohnung das Material ab.
Die Pressekonferenz fand am 14. Juni 76 statt, zwei Wochen nach der Ermordung Cocos und seiner Begleiter. Januzzi erklärte damals tatsächlich, Polizeiagenten würden in Absprache mit der CIA und den italienischen Diensten in die BR eingeschleust und dann als Ausbilder fungieren, die Brigadisten anleiten, wie Kommandounternehmen zur Entführung und Ermordung von Personen aus Politik, Wirtschaft und Justiz durchzuführen sind.
Polizeiagenten seien auch an der Mordaktion gegen Coco beteiligt gewesen.
Sogenannte Volksgefängnisse der Brigate für entführte Personen würden vom italienischen Geheimdienst vorbereitet.
Der Plan, Aktionen der BR geheimdienstlich zu steuern, sei von General Miceli persönlich gebilligt worden. Die Ausbildung der als Brigadisten auftretenden undercover agents erfolge auf einem geheimen NATO-Stützpunkt auf Sardinien.
Schwerpunkt sei, Kommandounternehmen in Städten durchzuführen, bei denen Personen „beseitigt” würden.
Pallotta erinnert sich, dass einer der eingeschleusten Agenten namentlich bekannt ist. Silvano Girotti, der auch die Verhaftung des „historischen Kerns” in die Wege leitete, kam unter der Legende eines Guerillakämpfers aus Lateinamerika in die Brigade und fungierte als Instrukteur.
Auch bei Simioni dürfte es sich zweifelsohne um einen V-Mann, wenn nicht gar um einen Agent provocateur handeln. Die Grenzen zwischen beiden Kategorien sind ohnehin nicht exakt zu ziehen. Generell wird das bekannt werden von Namen Seltenheitswert behalten. Die Sicherung der Anonymität der Agenten gehört zu den Prioritäten verdeckter Arbeit. Andernfalls würden sich kaum Leute dafür finden.
Mitte Mai ereignet sich ein Mord, der das Freundestrio unmittelbar berührt.
Ein Kollege Antonellas, Guido Passalaqua, wird erschossen. Der Journalist hatte sich mit Fragen der Spannungsstrategie, speziell der Steuerung des Linksterrorismus, befasst.
„Es gibt jemanden weiter oben, eine, zwei, drei Personen, welche die ‘Kampagne des Terrorismus’ entscheiden. Jemand, der weitaus mehr zählt, als die strategische Leitung der Roten Brigaden”, hatte Passalaqua am 12. April in der „Repùbblica” geschrieben und diesen „Jemand” als „die wahre politische Leitung der Roten Brigaden” bezeichnet. Antonella kennt keine näheren Einzelheiten, weiß aber immerhin, dass Passalaqua mysteriösen „Waffenlieferungen“ für die BR auf der Spur war.
Ganz plötzlich werden sich die drei Freunde bewusst, dass auch für sie die Beschäftigung mit den Hintergründen und Zusammenhängen der Ermordung Moros und der Hintermänner lebensgefährlich werden kann. Sie erörtern, ob man aufgeben soll, sind sich jedoch einig, dass das nicht in Frage kommt, beschließen aber, größte Vorsicht walten zu lassen. Wenn sie bisher zuweilen mit dem Gedanken gespielt hatten, mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu treten, dann wird das vorerst aufgeschoben.
Kurze Zeit später wird umfangreich über die Verhaftung eines Patrizio Peci berichtet, der ein führender Kopf der Turiner BR-Kolonne, die einst Cucio führte, gewesen sein soll. Auf 70 Seiten habe er über die Struktur der BR ausgesagt und 50 Namen preisgegeben. Bei Moros Entführung will er nicht dabei gewesen sein, nennt aber Moretti und Galinari als die Organisatoren und mutmaßlichen Täter bei dessen Ermordung. Den BR-Anwalt Edoardo Arnaldi beschuldigt Peci der Komplizenschaft mit den Brigate. Er habe zwischen inhaftierten Brigadisten die Verbindungen aufrecht erhalten. Bei einer Hausdurchsuchung seien dafür die Beweise gefunden worden.
Bei der bevorstehenden Festnahme erschießt sich der Anwalt.
Wahrscheinlich als Ergebnis der Aussagen Pecis werden danach Galinari und Morucci aus dem neuen Führungskern unter Moretti verhaftet. Galinari wird aus den eigenen Reihen als V-Mann verdächtigt. Moretti, der das Entführungskommando geleitet haben soll, wird am 4. April 1981 verhaftet. Von dem mutmaßlichen Agenten Simioni fehlt jede Spur. Die verhafteten Brigadisten weigern sich auszusagen, wer an der Entführung beteiligt war und wer später die tödlichen Schüsse abgegeben hat.
Nach der Verhaftung Morettis erregen zwei Entführungen der BR die besondere Aufmerksamkeit, die des DC-Politikers aus Neapel Ciro Cirilli im April und die des amerikanischen NATO-Generals James Lee Dozier im Dezember 1981. Während gegenüber Moro im Namen der Staatsräson unnachgiebige Härte praktiziert worden war, verhandeln in diesen Fällen hohe Spitzenpolitiker und Geheimdienstler unter Einschaltung von Mafia-Bossen als Vermittler mit den BR.
Cirilli wird danach freigelassen, Lee Dozier durch ein Anti-Terror-Kommando befreit, das sich ebenfalls auf die Hilfe von Mafiosi stützt.
Treffpunkt Heiliger Stuhl
Im Mai 1981 erhellt ein spektakuläres Ereignis in bisher nicht vorhandener Weise das Komplott gegen Moro. In Castiglione Fibocchio in der nördlich von Rom liegenden Provinz Arezzo wird die Villa Licio Gellis von der Guardia di Finanza durchsucht. Er wird im Zusammenhang mit dem Bankrott des Bankiers Sindona der Steuerhinterziehung und anderer betrügerischer Delikte beschuldigt. Die Finanzpolizisten wundern sich zunächst, dass Gelli nicht anwesend ist. Erst später stellt sich heraus, dass er überstürzt in die Schweiz geflohen ist – und zwar nicht wegen Steuerhinterziehung.
Pallotta erinnert sich schon bei den ersten Nachrichten, dass es sich bei Gelli um den Mann handelt, den Maurizio kürzlich im Mordfall Occorsio erwähnte. Der Richter hatte ihn kurz vor seinem Tod verhört. Sicher nicht wegen Steuerhinterziehung, das dürfte allenfalls der Anlass gewesen sein, sondern weil er ahnte, dass er einer Verschwörung größten Ausmaßes auf der Spur war. Dieses Verhör hatte Occorsio das Leben gekostet.
Denn nun kommt im Laufe der sich hinziehenden Ermittlungen, vor allem der Untersuchung einer Parlamentskommission, ans Licht, dass der Altfaschist und Finanzmagnat Gelli an der Spitze einer als Freimaurerloge getarnten Putschzentrale stand. Die Loge nannte sich „Propaganda due“, kurz als P2 bezeichnet. Es handelte sich um einen Geheimbund, der exakt plante, die verfassungsmäßige Ordnung nicht mehr wie De Lorenzo, Borghese oder Miceli beabsichtigt hatten, durch einen Putsch der Generäle zu stürzen, sondern sie mittels eines Colpo bianco Schritt für Schritt zu untergraben und an ihre Stelle ein diktatorisches Regime rechtsextremer Prägung zu setzen. Neben führenden Männern der Wirtschaft und des Staates war gleichwohl auch in diesem kalten Staatsstreich der Armee, den Geheimdiensten und den Neofaschisten die zuschlagende Rolle zugedacht. Das verdeutlichten unter anderem die Mitgliederlisten und die Pläne der Putschloge. Zum ersten Mal gab es aber auch Anzeichen, dass diese Kreise mit der Mafia verflochten und Mafiosi der Spitzenklasse Logenmitglieder waren. Selbst Kardinäle der Kurie hatten ihre Schäfchen im Schatten der P2 ins Trockene gebracht.
Als Ministerpräsident Forlani sich weigert, die Mitgliederlisten zur Publikation freizugeben, ist er angesichts der öffentlichen Empörung gezwungen, zurückzutreten. Das Ansehen der Christdemokratischen Partei, die seit Mai 1946 ununterbrochen den Regierungschef stellt, ist so schwer angeschlagen, dass sie zum ersten Mal keine Berufung zur Regierungsbildung erhält. Der sozialistische Staatspräsident Sandro Pertini beruft Giovanni Spadolini von der Republikanischen Partei zum Ministerpräsidenten.
Das Freundes-Trio macht sich mit neuen Hoffnungen und daraus genährtem Eifer an die Arbeit. Je tiefer es in das P2-Geflecht eindringt, umso mehr findet es Hinweise dafür, dass die Loge die zentrale Rolle im Komplott gegen Moro spielte. Bei Recherchen über die Mafia rückt ins Blickfeld, dass ihre Killer, wie die Fälle Pecorelli und Mattarella zeigen, seit Ende der 70er Jahre zunehmend das Feld der Tötungsaktionen bestreiten.
Die in der Villa Gellis gefundenen Mitgliederlisten offenbaren, was Forlani verbergen wollte: Die Namen von 962 führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Parlamentskommission stößt jedoch darauf, dass die Loge weit über 2.500 Mitglieder zählte. Davon zeugt unter anderem, dass ihre Mitgliedsnummern diese Marke erreichten.
Antonella beschafft die ersten Stellungnahmen der Parlamentskommission. Deren Vorsitzende Tina Anselmi, eine – eher heimliche – Anhängerin Moros in der Democrazia Cristiana, erklärt zur Zusammensetzung der P2: „Wir können sagen, dass wir sie in den für das italienische Staatsleben empfindlichsten Organismen gefunden haben: genauer gesagt, in den hohen Rängen der Militärs, der Geheimdienste, der Pressewelt, der Finanzen, der Politik. Ein Machtzentrum innerhalb der staatlichen Einrichtungen, in den Lebensadern des Landes.”
Maurizio hat die Listen durchforstet und die „hohen Ränge” sichtbar gemacht: 47 Industrielle, 119 Bankiers und Leute der Hochfinanz, 43 Generäle, darunter die gesamte Führungsspitze der Geheimdienste der letzten 30 Jahre, der komplette Generalstab des Heeres, etwa 400 hohe Offiziere, drei Minister und drei Staatssekretäre der amtierenden Regierung, 18 hohe Vertreter der Justiz, Angelo Rizzoli, Besitzer der nach ihm benannten Rizzoli-Gruppe, des größten italienischen Zeitungs- und Zeitschriftenimperiums, und sein Geschäftsführer Bruno Tassan, ferner 22 Spitzenjournalisten, darunter ein Chefredakteur der RAI und der Chefredakteur des „Corriere della Séra”, 38 Parlamentarier aus den Regierungsparteien. Offiziell als P2-Mitglied wurde auch der Chief of Station der CIA in Rom, Howard Stone, geführt.
Gelli war die graue Eminenz, welche die Oberaufsicht über die italienischen Geheimdienste innehatte. Die 1977 eingeleitete sogenannte Reform dieser Dienste war von ihm mit dem Ziel eingefädelt worden, sie der P2 unterzuordnen. Als die „Reform” zwei Monate vor der Entführung realisiert wurde, besetzte Gelli im Rahmen der personellen Veränderungen die meisten leitenden Funktionen mit Leuten der Loge. Das ermöglichte es, die Dienste bei einer wirksamen Verfolgung der Brigate Rosse und nach der Entführung Moros auch seiner Befreiung auszuschalten. Darunter fielen auch die Auflösung des Anti-Terrorismusamtes General Santillos und die vorangegangene Auflösung der Anti-Terrorismusabteilung Dalla Chiesas.
Die Idee, das in Italien populäre Freimaurertum für ihre Zwecke zu nutzen, kam von der CIA. Die Company ging davon aus, dass Freimaurerlogen noch immer von einem gewissen Geist des Fortschritts umgeben waren. Ihre Traditionen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gingen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Giuseppe Garibaldi stand 1864 in Palermo der dortigen Loge als Großmeister vor. Bewusst knüpfte die P2 mit ihrem Namen auch an die in der Revolution von 1848/49 von Giuseppe Mazzini angeführte Propagandaloge an. Unter der faschistischen Herrschaft waren die Freimaurer 1925 von Mussolini verboten worden. Die Neugründungen nach 1945 standen deshalb unter antifaschistischen Vorzeichen.
Maurizio ist bei der Beschaffung einiger Informationen über die P2 auf den Namen Brennecke, der Nummer zwei der CIA für Westeuropa, als einer zentralen Bezugsperson für die Loge gestoßen. Deren Gründung leitete der für verdeckte Operationen der Company in Italien verantwortliche Ted Sharckley. Er machte Gelli mit dem damaligen NATO-Oberbefehlshaber Haig bekannt, der ihm nach Rücksprache mit Außenminister Kissinger behilflich war, 400 hohe italienische und NATO-Offiziere für die P2 anzuwerben.
Die Kontakte der Loge in die USA wurden über die Chefs der CIA-Station in Rom unterhalten. Der Chef des SISMI, Giuseppe Santovito, gibt vor der Parlaments-kommission zu Protokoll, dass Gelli Gast bei der Amtseinführung der Präsidenten Carter und Reagan war, bei der Inauguration Reagans sogar in der ersten Reihe saß. P2-Mitglied und Geheimdienstoberst Antonio Viezzer erklärt, Gelli sei in den 70er Jahren „der mächtigste Mann Italiens, über dem niemand mehr stand”, gewesen. Der Chef des Büros für Geheimdienstangelegenheiten im Innenministerium, Frederico D’Amato, spricht vor der Kommission von der „außerordentlichen Machtfülle” Gellis und nennt als Beispiel, dass zur Berufung vorgeschlagene Ministerpräsidenten dessen Zustimmung einholten, bevor sie annahmen.
Aus anderen Aussagen geht hervor, dass der P2-Chef bereits darüber nachdachte, sich als Kandidat für die Wahl zum Staatspräsidenten aufstellen zu lassen. Seine „Machtfülle” stellte der Logenchef offen zur Schau. Im Hotel Exelsior in Rom empfing er zwischen Dienstag und Freitag in seiner Suite, die monatlich gute 30.000 Dollar kostete, die Größen der Gesellschaft, den USA-Botschafter, Generäle der NATO.
Zunächst nur vereinzelt, später sich verdichtend, kommt ans Licht, dass die P2 bereits ab Ende der 60er Jahre die Zentrale war, welche die Spannungsstrategie umsetzte. Aus einem der Staatsanwaltschaft in die Hände gefallenen Sitzungsprotokoll vom März 1971 geht hervor, dass die P2 sich mit der „Bedrohung durch die IKP, die in Übereinstimmung mit den Klerikalen auf eine Machtergreifung“ aus sei, befasste sowie mit dem „Einsatz der Ordnungskräfte” und „dem Vorgehen der P2″ im Falle „einer Machtergreifung der Klerikalkommunisten”.
1974 verfasste Gelli einen „Plan der demokratischen Wiedergeburt”, faktisch das Programm für den kalten Staatsstreich. Es ging den Putschisten darum, die von Moro angestrebte Zusammenarbeit mit den Kommunisten mit allen Mitteln zu verhindern und die Führung des Staates durch Leute der Loge an den Schalthebeln der Macht selbst zu übernehmen. Nachdem die IKP bei den Landtagswahlen 1975 mit 33 Prozent ihren zweiten Platz weiter ausgebaut hatte, traf sich Gelli in der USA-Botschaft mit führenden Vertretern der amerikanischen und italienischen Geheimdienste, des Militärs und multinationaler Konzerne der USA, um das weitere Vorgehen zu beraten.
Eleonora Moro bestätigt vor der P2-Kommission, wie ihrem Mann 1974 während des Staatsbesuchs in Washington massiv Konsequenzen angedroht wurden, wenn er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe. „Entweder hören Sie damit auf, oder Sie werden es teuer bezahlen müssen”, habe ihm ein Gesprächspartner angekündigt. Ihr Mann habe das so ernst genommen, dass er, nach Rom zurückgekehrt, sein Testament aufsetzte, sagte die Witwe.
Um entsprechende Politiker für die P2 gefügig zu machen, besaß Gelli ein schwerwiegendes Druckmittel, die einst unter De Lorenzo vom Geheimdienst angelegten Dossiers über unzählige Politiker. Von einem großen Teil dieser Akten besaß er Kopien, die ihm der Geheimdienstgeneral Giovanni Allavena, der zu den ersten Logenmitgliedern gehörte, übergeben hatte, bevor die Originale auf Weisung des Parlaments damals vernichtet wurden. Die Dossiers enthielten genügend Informationen über dunkle Seiten im Leben vieler Betroffener, mit denen diese zur Mitarbeit erpresst werden konnten.
Maurizio hat einige Details über die Rolle der P2 bei der Entführung und Ermordung Moros hervorgehoben: Fast alle Mitglieder des Krisenstabes Innenminister Cossigas waren Logenmitglieder. Die Parlamentskommission stieß auf einen zweiten, sogenannten Schattenkrisenstab, der seinen Sitz im Marineministerium gehabt habe. Folgende Mitglieder sind bisher bekannt geworden: P2-Chef Gelli höchstpersönlich, der Geheimdienstgeneral und Vertrauensmann der CIA, Frederico D’Amato, der USA-Berater von Innenminister Cossiga, Steve Pieczenik, und ein Polizeipsychiater namens Franco Perracuti, ebenfalls ein Kontaktmann des amerikanischen Geheimdienstes.
Pallotta erinnert sich aus seiner Zeit im Fahndungsstab, dass besagter Pieczenik damals die Ermittlungen ständig behinderte und riet, die Fahndung auf keinen Fall zu forcieren.
Antonella hat zu dem Fakt die Meinung des Kommissionsmitgliedes der IKP Sergio Flamigni beigesteuert, die lautet: Ziel des Schattenkrisenstabes sei gewesen, den offiziellen „Ermittlungen, die das Gefängnis Moros ausfindig machen sollten, entgegenzuwirken und sie auf falsche Spuren zu lenken.”
So wurde einem bei der Polizei eingegangenen telefonischen Hinweis auf vier an der Entführung beteiligte Brigadisten und auf eines der benutzten Fahrzeuge nicht nachgegangen. Die zuständige Spezialeinheit erhielt die Angaben erst einen Monat später. Hinweise auf das Geiselversteck wurden völlig ignoriert. Der vor die P2-Kommission geladene Journalist Marcello Poppetti, ein Vertrauter Gellis, bestätigt, dass „Staatsapparat und Geheimdienste während der Entführung aktiv waren, um zu vermeiden, dass das Gefängnis Moros entdeckt werde.”
Der diensthabende Offizier in der Questura am Entführungstag, Antonio Esposito, war ebenfalls Mitglied der P2. Der Geheimdienstoberst Cornacchia, auch er Mitglied der Loge, führte während der 55 Tage der Geiselnahme einen in die BR eingeschleusten Agenten namens Santini, unternahm jedoch nichts, um diesen für die Fahndung zu nutzen. Als Santini im September 1979 verhaftet wird, kommt er nach ein paar Tagen wieder frei und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.
Der Ausfall des Telefonnetzes nach der Entführung für etwa eine Stunde im Stadtbezirk des Tatortes kann nur das Werk des Chefs der Telefongesellschaft SIP, Michele Principe, ebenfalls Mitglied der P2, gewesen sein. Dasselbe dürfte auf die spätere zweimalige Unterbrechung der Telefonverbindungen während Gesprächen der Entführer mit der römischen Zeitung „Il Messaggero” zutreffen.
Eine nach dem Tod Moros gefundene Druckerpresse, auf der die BR ihre Kommuniques vervielfältigten, stammte aus dem Bestand der Abteilung für Spezialeinheiten des SISMI, dessen Chef Santovito vor der Parlamentskommission behauptet, er könne nicht erklären, wie sie in die Hände der Brigate kam. Pallotta erinnert sich der am Entführungsort gefundenen Patronenhülsen, die eindeutig die Herkunft eines Teils der verschossenen Munition aus NATO-Beständen verriet. Als er das damals beim Einsatzleiter in der Questura zur Sprache brachte, wurde er sofort zum Stillschweigen verpflichtet, da das Sache der „zuständigen Dienste” sei.
Angesichts der neuen Erkenntnisse über das Wirken der P2 im Komplott gegen Moro geht Maurizio noch einen Schritt weiter und wagt die Vermutung, es sei durchaus. möglich, dass ein nicht zum BR-Kommando gehörender Agent auf Moros Leibwache einen Teil der Schüsse, und zwar mit besagter Spezialmunition, abgefeuert hat.
Er hat dazu ein paar brisante Fakten herausbekommen. Nach der Rekonstruktion des Geschehens am Tatort wurden nicht, wie die bisherige Version besagt, alle Schüsse von der linken Seite auf Moros Begleiter abgefeuert. Ein Attentäter hat von der rechten Seite geschossen. Er könnte die Spezialmunition verwendet haben. Der Beweis wäre durch Fotos möglich, die ein Beobachter während des Überfalls aufgenommen hat. Sie wurden Staatsanwalt Infelisi ausgehändigt. Das ist jener Jurist, der erst 14 Tage nach der Geiselnahme eine kriminaltechnische Rekonstruktion am Tatort vornahm. Kaum verwunderlich, dass die Infelisi übergebenen Fotos spurlos verschwunden sind. Ob der Staatsanwalt Mitglied der P2 war, ist nicht bekannt. Das will jedoch nichts besagen, da weit über 1.500 Namen von Logenmitgliedern unbekannt geblieben sind. Fest steht dagegen, dass die Leitung der Ermittlungen im Fall Moro der römischen Staatsanwaltschaft entzogen und dem Innenministerium und damit Cossiga unterstellt worden war.
Noch ein Detail sollte man bezüglich Infelisis nicht aus den Augen verlieren, meint Maurizio. Der „Osservatore”-Herausgeber Pecorelli hatte im März 1979 Infelisi, der damals Korruptionsaffären führender DC-Politiker untersuchte, belastendes Material dazu angekündigt. Er kam nicht mehr dazu, es zu übergeben, da er kurz darauf erschossen wurde, vermutlich von Mafia-Killern, denn in den Korruptionsaffären der betreffenden Christdemokraten ging es genau um Beziehungen zur „ehrenwerten Gesellschaft”.
Als Pallotta einige Tage später mit Antonella auf das Thema zu sprechen kommt, erzählt sie ihm zunächst den neusten Witz über Andreotti. Pallotta, der sich im allgemeinen nicht sonderlich für Witze interessiert, ist jedoch ausnahmsweise ganz Ohr, als er hört, er handele in der Abgeordnetenkammer und zwar am Morgen der Entführung Moros. Der Saaldiener kommt aufgeregt auf Andreotti zu: „Herr Ministerpräsident, Herr Ministerpräsident, soeben ist Aldo Moro entführt worden!” Andreotti: „Wieso? Ist es schon 9 Uhr?”
Pallotta versucht ein Lachen, aber es will nicht so recht gelingen.
„In dem Witz steckt mehr Wahrheit als im Wein. Es gibt tatsächlich eine Anzahl Stimmen, die Andreotti nicht nur für den Tod Moros verantwortlich machen, sondern ihn auch enger Beziehungen zur P2 beschuldigen. General Luigi Bittoni, selbst Logenmitglied, sagte aus, dass Gelli von Andreotti gestützt wurde und er als langjähriger Verteidigungsminister Einfluss auf breite Teile der Militärs hatte, die inzwischen als P2-Mitglieder bekannt sind.”
Pallotta nennt aus der Indizienkette ein Notizbuch Gellis, das bei der Durchsuchung seiner Villa bei Arezzo gefunden wurde. Darin hatte dieser vermerkt, dass er über Jahre fast jeden Abend mit „Guilio” telefonierte.
“Die Anschuldigungen gehen inzwischen weit über die Beziehungen zu Gelli hinaus”, ergänzt Antonella und erzählt ihm, dass der Ex-Premier unterdessen als der eigentliche Chef der Loge bezeichnet wird.
Tina Anselmi habe ihn vor ihre Kommission geladen und gefragt: „Einige Personen, die wir hier gehört haben, sprechen von Ihnen als einer Person, die gute Kenntnisse der P2-Realität hat. In gewissem Sinne werden Sie von diesen als der ‘Große Papa’ bezeichnet.”
„Nun, das hat die Anselmi aber recht zurückhaltend formuliert. Und was hat der ‘Fuchs’ geantwortet”?, fragt Pallotta.
„Er hat natürlich alles abgestritten”, antwortet Antonella. „Guilio heißen schließlich viele Italiener. Aber bei uns in der Redaktion ist man sicher, dass zu Andreotti noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.”
Zur Begründung kommt die Freundin auf den „Osservatore”-Herausgeber Pecorelli zurück. Sie hat nochmals einige Jahrgänge seines Bulletins durchforstet und erinnert an die Berichte, in denen der Enthüllungsjournalist deutlich die geheimdienstliche Steuerung der Brigate Rosse ansprach. Vor allem aber griff er wiederholt Andreotti an.
Im Januar 1975 schrieb er, dieser habe „ein Klima der Einschüchterung und der Erpressung, ein Regime des Terrors, der Spionage und der Unterdrückung errichtet, wo alles im ungewissen gehalten wird, alles versucht und aufs Spiel gesetzt werden kann.” Pecorelli nannte Andreotti einen „Zerstörer der Organisation zur Landesverteidigung”, der es geschafft habe, „ins Innere unserer Streitkräfte eine schwerwiegende Desorientierung zu tragen.” An anderer Stelle nannte er ihn einen Menschen, der aus „ungezügeltem Machtstreben, aus Gründen finsterer Taktiken und uneingestandener Manöver” handele.
Antonella kommt auf die Briefe zu sprechen, die Moro im „Volksgefängnis” der BR schrieb, von denen aber nur ein Teil die Adressaten erreichte und noch weniger an die Öffentlichkeit gelangten. Kurz vor seiner Ermordung wollte Pecorelli mit skandalträchtigen Enthüllungen über Andreotti aufwarten. Eine Serie „Die Schecks des Ministerpräsidenten” sollte die Zahlung von Schweigegeldern an Mitwisser über seine Komplizenschaft zu den Attentätern der Piazza Fontana offen legen. Mit einer zweiten beabsichtigte er, Hintergründe über die Rolle Andreottis bei der „Ausschaltung” Moros aufzudecken.
„Bei uns vermutet man”, fasst Antonella zusammen, „Pecorelli habe Bescheid gewusst über die verschwundenen Aufzeichnungen Moros – oder sie gar selbst besessen. Der Inhalt hätte wahrscheinlich Näheres über das Komplott gegen den DC-Vorsitzenden ans Licht gebracht.”
Im Frühsommer 1982 werden schlagartig weitere Hintergründe zur Rolle der P2 sichtbar. Am 18. Juni wird Logenmitglied Roberto Calvi, einer der mächtigsten Bankiers Italiens und der Loge, erhängt unter der Black Friars Bridge in London aufgefunden. Er war mit Hilfe der P2 in die britische Hauptstadt geflohen, nachdem gegen die von der Loge kontrollierte Ambrosiano-Bank, der er als Generaldirektor und später als Präsident vorstand, ein Verfahren wegen betrügerischen Bankrotts eingeleitet worden war. In der „Repùbblica” findet sich eine Woche nach dem Tod Calvis ein Artikel, den kein geringerer als Eugenio Scalfaro selbst verfasst hat. Der Autor schreibt vorsichtshalber etwas verschlüsselt. So steht Mama für Mafia – und er wendet sich an Insider, die wissen, dass Monsignore Marcinkus Präsident der Vatikanbank ist, die sich sinnigerweise Istituto per le Opere religiose nennt, es sich bei Don Michele eben um jenen Finanzmagnaten Michele Sindona handelt, oder Eugenio Cefis, der nach dem Unfalltod des Moro-Freundes Enrico Mattei dessen Nachfolger an der Spitze der ENI und danach Chef des größten staatlichen Chemiekonzerns Montedison wurde, und ein Finanzier der Neofaschisten ist. Scalfaro schreibt: „Calvi wurde 1971 Generaldirektor des Banco Ambrosiano. Fast gleichzeitig beschloss der Vatikan, seinen Immobilienbesitz in Italien zu veräußern und den Verkaufserlös ins Ausland zu schaffen. Das IOR wurde mit der Durchführung dieser komplexen Strategie beauftragt und der amerikanische Bischof Marcinkus war der Mann, der die Aufgabe hatte, dieses Unternehmen zu leiten. Marcinkus stieß auf seinem Weg fast sofort auf Michele Sindona, der wiederum Roberto Calvi begegnete, und dieser Eugenio Cefis. Gott schafft sie und dann bringt er sie alle zusammen. Don Michele war so intelligent, sich der ‘Mama’ an die Brust zu werfen. Der Kleine ruft, und die ‘Mama’ antwortet, und die ‘Mama’ forderte zumindest einen Teil der Kontrolle über den Ambrosiano für sich.”
Natürlich erörtern Antonella und Pallotta noch am selben Abend den Beitrag, der in Rundfunk, Fernsehen und den Abendzeitungen für gehöriges Aufsehen sorgt.
„Besser kann man das Geflecht, das zwischen der von der CIA aus der Taufe gehobenen Geheimloge und Neofaschisten, Mafia und Vatikan existiert, kaum offen legen”, meint Antonella. Sie hat dazu wieder einmal tief ins Archiv ihrer Zeitung gegriffen und einiges Hintergrundmaterial mitgebracht.
„Einsame Spitze”, kommentiert Pallotta das Dossier.
Einleitend wird kurz eingeschätzt, warum das Bankensystem bevorzugtes Objekt in den kalten Staatsstreichplänen der Putschistenloge war. Die P2 ging davon aus, dass die großen Banken im Geflecht von Finanz-, Industrie- und Handelskapital die Schlüsselstellung einnehmen. Ihre Vertreter sitzen in den Aufsichtsräten der großen Unternehmen, entscheiden über die Kreditwürdigkeit und beeinflussen maßgeblich ihre geschäftlichen Aktivitäten. Die großen Banken scheffeln enorme Gewinne aus den Kreditgeschäften, Hypotheken und der Finanzierung des Außenhandels. Nicht nur die Wirtschaft, auch der Staat mit seinem wachsenden Haushaltsdefizit hängt im Kreislauf der Macht am Tropf der Großbanken. So verwundert es nicht, dass sich unter den 962 bekannt gewordenen Logenmitgliedern 119 Bankiers befanden. Diese Zahl wurde nur noch von den Generälen und Offizieren übertroffen.
„Letzten Endes wird hier wieder einmal die linke These bestätigt, nach der die eigentliche Macht im Staate in den Händen des Kapitals liegt”, bemerkt Antonella.
„Warum sonst hätte sich die Loge auf die Großbanken konzentriert. Ein Blick auf den Ambrosiano oder die Banca del Lavoro, zwei der Institute, die sie beherrschte, zeigt die Machtfülle, die sie besaß.”
Nachdem Pallotta sich wieder in die Papiere vertieft hat, kann er der Freundin nur zustimmen. Mit dem Banco Ambrosiano kontrollierte die Loge eines der weltweit größten Kreditinstitute, das über ein internationales Netz von Banken und Gesellschaften verfügte, das größer als das der italienischen Staatsbank eingeschätzt wurde. Alle Spitzenpositionen des Ambrosiano hatte die P2 mit Calvi an der Spitze besetzt, In der Banco Nazionale del Lavoro, der größten italienischen Bank, besetzten neun Logenmitglieder mit dem Generaldirektor als erstem die Führungspositionen. Calvi stieg als Chef des Ambrosiano, wie bereits vorher Sindona, zum Vertrauensmann des Vatikans auf und wurde so Partner einer im Herzen Roms existierenden, aber von den italienischen Gesetzten unabhängigen staatlichen Großmacht mit dem Papst als Oberhaupt von 800 Millionen Katholiken an der Spitze. Vor allem aber liierte sich der „Bankier Gottes”, wie Calvi genannt wurde, mit einer Finanzmacht (allein ein Aktienbesitz von fünf Milliarden Dollar), deren Instrumentarium von Börsenspekulationen über Kapitaltransfer bin zur Geldwäsche schwer durchschaubare Möglichkeiten bot.
Maurizio, der sich am Wochenende das Calvi-Dossier „zu Gemüte führt”, wie er es nennt, steuert ein Detail bei, auf das er mehr zufällig bei einem Plausch mit einem Kollegen der Steuerfahndung gestoßen ist. Unter die schmutzigen Geschäfte des Vatikans fiel der Versuch, den italienischen Staat um 2,2 Milliarden Dollar Mineralölsteuer zu betrügen. Weil er dazu Steuerunterlagen manipuliert hatte, ermittelte die Guardia di Finanza gegen Kardinal Ugo Poletti. Bei dieser Gelegenheit erfuhr der Freund noch nebenbei, dass gegen den bankrotten Ambosiano 120 Gläubigerbanken Forderungen erheben. Unter anderem sind über 700 Millionen Dollar, die Calvi mittels „Patronage”-Briefen, Bürgschaften des IOR, von ausländischen Banken als Kredite erhielt, spurlos verschwunden. Man vermutet, auf Nummernkonten der P2 in der Schweiz. Übrigens wurde Gelli, als er an solche Konten in der Eidgenossenschaft heran wollte, verhaftet.
Das Foto von dem erhängten Calvi ist in fast allen großen Zeitungen der Welt erschienen. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass der Banker ermordet wurde.
Nachdem die Ermittlungen Hinweise auf die mafiosen Beziehungen des Ambrosiano und seine Rolle in Waffengeschäften, darunter auch Lieferungen an die Brigate Rosse und Geldwäsche ergeben haben, dürften die Killer aus der ehrenwerten Gesellschaft gekommen sein, die sich ihre Kreise nicht stören lassen wollte.
Denn Calvi hatte ein ehernes Gesetz der Mafia, missachtet. Um seine Haut zu retten, hatte er gedroht, auszupacken und dazu bereits Andeutungen gegenüber der „Financial Times” gemacht. Das Londoner Blatt schrieb drei Tage vor seinem Tod von „Calvis Geheimnissen” und dass „demnächst eine Bombe platzen” werde. Vorab tat der P2-Bankier schon mal kund, dass er an Sozialistenchef Craxi 30 Millionen Dollar gezahlt hatte. Damit gab er, wie Antonella betont, bereits ein Detail über die riesigen Bestechungssummen preis, die über die P2 an verschiedene Regierungsparteien, an der Spitze die Democrazia Cristiana, flossen.
„Auf Sizilien weiß jeder, was einem droht, der die Omerta gebrochen hat”, fügt die Freundin hinzu.
Wie bereits in der Vergangenheit ist Calvi nicht der einzige, den so der Tod ereilt. Mit etwas Verspätung wird bekannt, dass bereits einen Tag vor Calvi seine langjährige Sekretärin und Mitwisserin vieler seiner Geheimnisse, Graziella Teresa Corrocher, ums Leben kam. Durch einen Sturz aus dem Fenster des im vierten Stock gelegenen Mailänder Büros der Ambrosianobank. Eine simple Methode, einen Selbstmord vorzutäuschen, der als Mord schwer nachzuweisen ist, denkt Pallotta. Soviel Mühe geben sich die Killer mit dem Vize Calvis im Ambrosiano nicht, er wird einfach auf der Straße erschossen.
Nach Calvis Tod wird auch Andreotti erneut als eigentlicher Chef der P2 belastet.
„Ich erinnere mich, dass man in P2-Kreisen davon sprach, dass der eigentliche Chef Andreotti und nicht Gelli war”, erklärt die Sekretärin und Geliebte Gellis, Nara Lazzarini, vor der Parlamentskommission. Sozialistenchef Craxi belastet den Ex-Premier, indem er Gelli öffentlich als Generalsekretär des Logenchefs, den er mit Beelzebub tituliert, einem beliebten Spitznamen für Andreotti.
Hatten bereits die Morde an Pecorelli und Mattarella die Mafia in den Blickpunkt der Recherchen der Freunde gerückt, so erhielt sie mit Calvis Tod geradezu einen zentralen Stellenwert. Weitere Mordfälle, die erneut die Komplizenschaft der Feinde Moros mit der „ehrenwerten Gesellschaft” verdeutlichten, bestätigen diese Ansicht.
Davon zeugt, dass zwischen 1980 und 1982 alle sizilianischen Parlamentsabgeordneten der Antimafia-Kommission umgebracht werden: Der Untersuchungsrichter Cesare Teranova, der Generalstaatsanwalt Gaetano Costa und der Sekretär der IKP-Leitung von Sizilien Pio La Torre.
Verbindungen zwischen Mafia, P2 und staatlichen Strukturen werden besonders beim Mord an La Torre sichtbar. Der Parlamentarier hatte, nachdem die Geheimloge und ihre Macht im Bankensystem aufgedeckt worden war, ein Antimafia-Gesetz ausgearbeitet, das erstmals die Mitgliedschaft in der „ehrenwerten Gesellschaft” unter Strafe stellte, Banken zur Auskunft über Verdächtige verpflichtete und für geständige Mafiosi die Kronzeugenregelung vorsah.
Als neue prominente Persönlichkeit kommt der Carabinieri-General Alberto Dalla Chiesa auf die Liste der „toten Zeugen”. Er wird am 3. September 1982 zusammen mit seiner zweiten Frau, die er kurz zuvor geheiratet hat, und mit seinem Fahrer in der Via Carini in Palermo erschossen.
Pallotta blättert in seinen Aufzeichnungen. Dalla Chiesa war verdächtigerweise genau zu dem Zeitpunkt, da die Brigate Rosse mit Moretti an der Spitzte in ihre „tödliche Phase” eintraten, „aus dem Verkehr gezogen” worden. Das war, wie seit der Aufdeckung der P2 bekannt wurde, das Werk Gellis und seiner Logenbrüder. Ganz gleich, ob die Anschuldigung gegen Andreotti, die Chef-Rolle oder auch nur eine andere in der Putschistenloge gespielt zu haben, richtig ist oder nicht, war die Ausschaltung des erfolgreichen Generals nicht ohne ihn oder besser gesagt nur mit ihm möglich.
Das geschah, wie Maurizio meint, weil der General einer Nutzung der BR im Rahmen der Spannungsstrategie im Wege stand. Der Freund hat wieder einmal ein brisantes Detail ausfindig gemacht. Dalla Chiesa war der P2 auf die Spur gekommen. Um sich über diese in seinen Kreisen als höchst einflussreich, aber ebenso mysteriös bekannte Vereinigung ein Bild machen zu können, hatte er 1977 der Loge beitreten wollen, war aber von Gelli als „unsicherer Kantonist” abgelehnt worden.
„Dem Gelli oder auch Andreotti scheint wohl klar gewesen zu sein, dass man sich da einen ‘verdeckten Ermittler’ ganz anderer Art eingehandelt hätte”, kommentiert Maurizio den kühnen Schritt des Generals.
Denn angesichts immer wieder seitens loyaler Offiziere laut werdender Kritik an der Kaltstellung des erfolgreichen Fahnders ernannte ihn Andreotti drei Monate nach Moros Tod wieder zum Chef der Terrorismusbekämpfung, nunmehr allerdings mit stark eingeschränkten Kompetenzen. Ihm stand keine Spezialabteilung mehr zur Verfügung, seine Ermittlungsergebnisse gingen nicht an die Staatsanwaltschaft, sondern an das Innenministerium, dem er auch unterstellt war.
Trotzdem gelang dem General bereits knapp zwei Monate später ein spektakulärer Fahndungserfolg, der höchstwahrscheinlich zu seinem Tod führte. In Mailand hob er in der Via Monte Nevoso ein Versteck der BR aus und verhaftete eine Anzahl Brigadisten der ersten Garnitur. Das weit wichtigere Ergebnis bestand jedoch in einem Fund: Aufzeichnungen, die Moro kurz vor seinem Tod gemacht hatte, und die maschinen-schriftliche Abschrift eines angeblichen Verhörs des DC-Vorsitzenden durch die BR.
Nachdem Dalla Chiesa die Dokumente übergeben hatte, verschwanden sie für einige Tage, tauchten dann, höchstwahrscheinlich unvollständig, wieder auf. Bei den verschwundenen Notizen handelt es sich, das ist nach Maurizio so gut wie sicher, um Enthüllungen Moros über das Komplott seiner Gegner, das ihm den Tod brachte.
„Und eben so sicher dürfte sein“, so Maurizio weiter, „dass der clevere Dalla Chiesa die Aufzeichnungen, bevor er sie weiterleitete, komplett gelesen, sich wahrscheinlich sogar Kopien davon gemacht hat, und so zu einem gefährlichen Mitwisser der Verschwörer wurde.”
Nach dem Fahndungserfolg wird seine Arbeit derartig behindert, dass der General es vorzieht, das Kommando über die Carabinieri-Division in Mailand zu übernehmen.
Seit der Aufdeckung der P2 ist bekannt, dass es Mitglieder der Loge waren, die ihm Knüppel zwischen die Beine warfen. In Mailand ging das weiter. Bei den Ermittlungen gegen die Attentäter des Anschlags auf dem Bahnhof von Bologna wurde er von seinem vorgesetzten, General De Sena, wieder einmal ausgeschaltet, denn P2-Leute und Geheimdienstler versuchten nach althergebrachten Field manuel-Methoden die Spuren nach links zu lenken.
Des Untätigseins müde, ging Dalla Chiesa Anfang 1982 als Anti-Mafia-Präfekt nach Palermo, in eine Hochburg der Christdemokraten, in der Andreotti höchstpersönlich öfters zu Gast ist. Im Geburtsland der italienischen Mafia ist es ein offenes Geheimnis, dass die Organisation hier für die Democrazia Cristiana Wählerstimmen beschafft. Der Tod Mattarellas hat gezeigt, wer dagegen angeht, spielt mit seinem Leben. Und Dalla Chiesa ging natürlich dagegen an. Er stieß, wie Antonella aus den Quellen ihrer Zeitung zu berichten weiß, bei seinen Ermittlungen auf das Geflecht von Mafia, P2 und Staatsapparat, verkörpert durch die DC. Bei einer Audienz soll der General dem Ex-Premier deutlich gesagt haben, dass er keine Rücksicht auf die Parteiinteressen der Christdemokraten nehmen werde. Die Freundin ist sich sicher, dass die verschwundenen Briefe Moros in dem Gespräch eine Rolle gespielt haben müssen.
Auch im Fall Della Chiesa verschwinden nach dem Mord Dokumente, stirbt ein Mitwisser.
Maurizio hat wieder einmal „abgeschöpft” und kennt einige Fakten. Am Abend des Mordes drang ein ehemaliger Caporale der Carabinieri in das Haus Dalla Chiesas ein und entwendete aus dem Safe Unterlagen, darunter vermutlich die Kopien, die sich der Präfekt von den Moro-Briefen aus der Via Monte Nevoso gemacht hatte, bevor er sie weitergab. Gleich mehrere Fragen ergeben sich. Woher hatte der Gefreite den Schlüssel zu dem Haus des Präfekten und den für den Safe? Wie kam er unbemerkt in das bewachte Haus?
Zwei Wochen später stirbt der Mann ganz plötzlich.
Der Prozess
Am 24. Januar 1983 wird vor dem Corte d’Assise von Rom der dritte Prozess gegen die Brigate Rosse abgeschlossen. Angeklagt war die sogenannte „zweite Generation“, worunter die BR seit der Übernahme der Führung durch Moretti zu verstehen waren. Gegenstand der Anklage waren die Delikte zwischen 1977 und 1980. Darunter fielen 17 Morde, eingeschlossen der an Moro und seinem fünfköpfigem Begleitkommando, elf Mordversuche, vier Körperverletzungen, vier Entführungen, vier Attentate auf Sachwerte sowie vier Raubüberfälle. Der Entführung, Bewachung und Ermordung Moros waren 23 Brigadisten direkt angeklagt, von denen 18 lebenslängliche Haftstrafen erhielten. Insgesamt ergingen 59 Urteile, davon 32 mal lebenslänglich.
Die drei Freunde haben sich einige Zeit nach Prozessabschluss zusammengefunden, um die Ergebnisse zu erörtern. Maurizio hat zu seiner Mama eingeladen, die oberhalb der Strada dei Laghi ein kleines Gartenhäuschen bewohnt. Hier, im sogenannten Hügelland der Castelli romani südlich von Rom, mit den vulkanischen Seen von Albano und Nemi, einem bacchischem und signorilem aber zugleich volkstümlichem Gebiet, verbringen sie einen erholsamen Sonntag. Sie genießen ein Abbachio arosto, das Maurizio am Spieß über dem Holzfeuer mit allen Raffinessen selbst zubereitet hat. Dazu Steinpilze aus der Pfanne und einen hier bekannten Lacrime del Re, einen Weißwein aus Velletri hinter den Albaner Bergen.
Beim Digestivo vertiefen sie sich bereits in die Prozessergebnisse. Im Verfahren ist nahezu alles zur Sprache gebracht worden, was die BR als die alleinigen Täter überführt, aber alles vertuscht worden, was die Hintermänner des Komplotts betrifft. Der den Prozess autoritär beherrschende Vorsitzende des Schwurgerichts, Severino Santiapichi, hat jedes Ergebnis der parlamentarischen Untersuchungskommissionen zum Fall Moro sowie der zur P2, die deutlich die Verantwortung höchster Regierungskreise sowie der Geheimdienste und der Polizei bis hin zum damaligen Premier Andreotti für den Tod des Parteiführers aufgezeigt haben, ignoriert und ihnen im Gegensatz dazu Persilscheine ausgestellt.
Die „Repùblica” hat den bekannten Strafrechtler Stefano Rodotà zitiert, der nach einer Prozessanalyse die Frage stellte, „wie viele Aldo Moros Tod wollten”, die das Gericht völlig missachtete.
Antonella hat einige der haarsträubendsten Sentenzen herausgesucht. Schon die erste Passage lässt den Insidern die Haare zu Berge stehen. „Es gibt nicht einen Beweis, nicht ein einziges Indiz, nicht eine einzige Seite im gesamten Prozess, die zu der Hypothese berechtigen würde, beim Fall Moro handele es sich um eine Verschwörung des ‘Palazzo’. Das Regiebuch der Untaten im Fall Moro wurde von den BR angeordnet, und nichts kann andere Mutmaßungen rechtfertigen.”
Pallotta fällt ein Vorfall während der Entführung Moros ein. Da gab es am 15. April die angebliche Mitteilung der BR, der DC-Vorsitzende sei hingerichtet und seine Leiche in dem nördlich von Rom liegenden zugefrorenen Lago della Duchessa versenkt worden. Es handelte sich um eine Desinformation, die gezielt von der Fahndung in Rom ablenken sollte. Wie Maurizio erfuhr, war diese Irreführung von den Geheimdiensten lanciert worden war, an der sich der römische Staatsanwalt Claudio Vitalone beteiligt hatte.
Einen „alarmierenden Zusammenhang mit ausländischer Komplizenschaft” sah das Gericht nur in Verbindung zu auswärtigen bewaffneten Gruppen, zur deutschen RAF, zur ETA Spaniens, zur IRA in Irland, zur PLO im Orient. Die CIA wurde von jeder in der Öffentlichkeit unüberhörbar geäußerten Verantwortung freigesprochen, wenn es im Urteil hieß: „Die Entstehung des Terrorismus kann auf keinen Fall Initiativen angelastet werden, die von außerhalb der Landesgrenzen Beschlüsse fassen und Planungen durchführen.”
Antonella erinnert an den Kollegen Passalaqua von ihrer Zeitung, der Waffenlieferungen für die BR auf der Spur war, bei denen die CIA ihre Hände im Spiel hatte. Die Fäden wurden an der berüchtigten Hyperion-Schule in Paris gezogen. Lieferant war die PLO, sicher ohne zu wissen, dass die Leute aus Langley die Aufträge besorgten. Die „Repùbblica” hat das eine Woche nach der Urteilsverkündung zum Anlass genommen, sich mit diesem Institut als „wichtigstem Büro der CIA in Europa” näher zu befassen.
„Es gibt Leute, die mehr über die Recherchen Passalaquas wissen”, erläutert Antonella. „Aber nach seinem Schicksal hüten sie sich natürlich, dazu etwas zu sagen.”
„Und dieses Prozessergebnis wird ein übriges dazu beitragen, dass sie weiter schweigen”, ergänzt Pallotta.
Lediglich bezüglich der italienischen Geheimdienste kam das Schwurgericht angesichts der erdrückenden Beweise nicht umhin, Kritik, wenn auch völlig anonym, anzudeuten. „Sie waren zerstückelt, psychologisch blockiert, desorganisiert, gar mit Angelegenheiten beschäftigt, die außerhalb ihrer institutionellen Aufgaben liegen”, hieß es.
„Kein Wort zu Andreotti, der diese Desorganisation, diese Zerstückelung und psychologische Blockierung bewusst herbeigeführt hat”, bemerkt Maurizio. Er erinnert an Pecorelli, der bereits Mitte der 70er Jahre Andreotti eben jener Desorganisation der Streitkräfte und der Geheimdienste beschuldigte.
Auch die Vorsitzende der P2-Kommission Anselmi hatte Klartext gesprochen, als sie einschätzte, dass „das völlige Versagen unseres Sicherheitsapparates während der Affäre Moro mit der P2-Mitgliedschaft der fünf Mitglieder des Komitees, das für die Fahndung im Fall Moro verantwortlich war – darunter die beiden Chefs der Geheimdienste – in einem Zusammenhang steht.”
Zu den skandalösen Fakten des Prozessverlaufs gehört, dass noch immer nicht bekannt ist, wo Moro während der 55 Tage der Geiselhaft versteckt gehalten wurde. Die sonst gesprächigen Brigadisten, von denen einige inzwischen als Pentiti auftreten, schweigen sich dazu beharrlich aus. Die Fahndung hat dazu angeblich ebenfalls nichts zu Tage gebracht. Luigi Pintor bezeichnet das „Geheimnis um Moros Aufenthalt” im „Manifèsto“ als „die Metapher eines nichtexistenten Gefängnisses” und hält fest: „Man erkläre mir nur eins: Wie kann man eine Untersuchung ernst nehmen, eine Verhandlung, ein Urteil, wenn im Laufe von fünf Jahren trotz Verhaftungen, Anklagen, Verhören, Gegenüberstellungen und Geständnissen und am Ende von 59 Schuldsprüchen und 32mal lebenslänglich nicht herausgefunden worden ist, wo der Abgeordnete Moro 55 Tage lang eingesperrt war?”
Pallotta hat sich eingehend mit den bekannt gewordenen Briefen Moros befasst, ebenso mit den Ankündigungen der BR, ihn „zu verhören” und das Tonband mit seiner Originalstimme zu veröffentlichen.
Das ist nie geschehen.
Er legt folgende Prognose vor: Dalla Chiesa hat bei seiner Razzia in der Via Monte Nevoso in Mailand. die angebliche Abschrift des „Verhörs” Moros in Maschinenschrift gefunden. Von dem Tonband fehlt noch immer jede Spur. Warum haben die BR, die immer wieder siegessicher angekündigte Veröffentlichung des „Verhörs”, die das christdemokratische Regime entlarven sollte, nicht wahr gemacht?
Die Ursache kann nur sein, dass bei dem „Verhör” eine „Panne” unterlaufen ist. Auf dem Band müssen sich bei der Aufnahme zunächst nicht wahrgenommene Töne, Vibrationen, typische Nebengeräusche befunden haben, die sich nicht aus dem Band entfernen ließen, die aber das – für die Fahndungskräfte so unauffindbare – Gefängnis Moros identifiziert hätten.
Obendrein muss sich wohl ein qualifizierter Experte das Band vorgenommen und die „Panne” festgestellt haben.
Daraus ergibt sie die Frage, ob sich das Versteck Moros an einem Ort befand, nach dem gar nicht gefahndet wurde. In einem Gebäude der amerikanischen Botschaft, die von jeder Fahndung ausgeschlossen war. „Wie bekannt, hat der ‘Tempo’-Journalist Januzzi schon 1976 davon gesprochen, dass die Geheimdienste für die BR Geiselverstecke vorbereiten”, schließt Pallotta. „Das muss nicht heißen, dass die Brigadisten sich dessen bewusst waren. Schon ein V-Mann in der Führung genügte, das zu bewerkstelligen.”
Maurizio greift das Thema auf und verweist darauf, dass entgegen den Behauptungen des Gerichts im Prozessverlauf sowie im Ergebnis der Untersuchungen der Parlaments-kommissionen über Moro und die P2 weitere Indizien für die Infiltrierung der BR durch die Geheimdienste bekannt geworden sind. So ist nach Morettis Verhaftung 1981 ein gewisser Giovanni Senzani dessen Nachfolger als BR-Chef geworden. Es handelt sich um einen früheren Kriminologen und Berater des Justizministeriums. Bekannt ist. dass er in Beziehungen zur Mafia verwickelt war.
Maurizio ist sicher, dass es sich um einen Agenten handelt. Er hat sich bei einem Experten sachkundig gemacht, dem langjährigen CIA-Operations Officer Philip Agee, der mit dem Geheimdienst gebrochen und über ihn das Buch “Inside the Company” geschrieben hat. Er schildert aus eigener Praxis Methoden der Agenteneinschleusung in linke Organisationen, wie sie in der CIA gang und gäbe sind.
Zur Praxis in Italien äußert Agee: „Diese Infiltrationen laufen auf verschiedene Weise ab, vor allem über die Einbeziehung von Angehörigen des Militärs, die erpressbar sind wegen früherer strafrechtlicher Verfolgung oder krimineller Verwicklungen. Doch es gibt auch viele ‘Freiwillige’. Sie dienen zur Informationsbeschaffung, aber auch für alle provokatorischen Operationen und die Organisierung von Gewaltaktionen wie zum Beispiel die des Anschlags auf den Italicus und an der Piazza Fontana.”
„Trifft auf diesen Senzani zu, wie die Faust aufs Auge” entfährt es Pallotta. „Aber, wenn ich mich recht entsinne, war dieser Girotti, der in die BR als Agent provocateur eingeschleust wurde und die Verhaftung Curcios und Franceschinis bewerkstelligte, auch Sohn eines Carabinieri-Offiziers und selbst Fremdenlegionär.”
Die Moro-Kommission stieß auf einen weiteren Fall dieser Art Agentenarbeit in den BR, dem das römische Schwurgericht keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Den Fall des CIA-Agenten Ronald Stark, der wegen Drogenhandels mit dem Gesetz in Konflikt geriet und im Gefängnis mit Mitgliedern des „historischen Kerns”, darunter Curcio, Verbindungen aufnahm.
Stark gab sich als Palästinenser aus und bot die Vermittlung von Waffen sowie die Ausbildung in Palästinenserlagern und in Libyen an. Er half den Brigadisten, ein angeblich geheimes Informationssystem zu installieren und unterstützte sie beim Abfassen von Dokumenten. Im Protokoll der Parlamentskommission ist nachzulesen, dass Starks Mitarbeit im amerikanischen Geheimdienst belegt ist, auch, dass ihn der Bologneser Haftrichter Giorgio Florida am 15. Mai 1979 aus der Untersuchungshaft entließ.
Ein nach Moretti wichtiges Führungsmitglied der „zweiten Generation” der BR, Corrado Simioni, wurde während der Untersuchung der Moro-Kommission eindeutig als Einflussagent des Geheimdienstes enttarnt. Der mit den Fakten während der Befragung konfrontierte SISMI-Chef Santovito, ein P2-Mitglied, war nicht in der Lage, das zu widerlegen. Für das Gericht kein Anlass, darauf einzugehen.
Während Moretti und andere Führungsmitglieder Geheimdiensteinfluss in ihren Reihen, ausgenommen den enttarnten Girotti, abstreiten, gibt es eine BR-Erklärung von 1982, in der zugegeben wird, dass sich Brigadisten „von der Polizei anwerben ließen” und „zu Verrätern“ wurden.
Antonella erzählt von einer Fallstudie, auf die sie kürzlich, gestoßen ist. Ein Experte namens Gianfranco Sanguinetti hat sie nach Moros Tod veröffentlicht.
„Es gibt da ebenfalls einen interessanten Vergleich zum Führungswechsel in den BR von Curcio zu Moretti”. Sanguinetti schreibt, bei einer kleinen terroristischen Gruppe sei es für die staatlichen Sonderabteilungen kein Problem, „sie zu unterwandern, ihrer ursprünglichen Spitze dank der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Bewegungsfreiheit näher zu kommen und sich an ihre Stelle zu setzen, sei es durch bestimmte Verhaftungen im richtigen Augenblick oder durch die Ermordung der ursprünglichen Führer, die im allgemeinen bei einem bewaffneten Zusammenstoss mit den Ordnungskräften passiert. Von diesem Augenblick an können die staatlichen Geheimdienste ganz nach ihrem Belieben über ein voll wirksames, aus naiven oder fanatischen Militanten gebildetes Organ verfügen, das nur geführt werden will.”
„Erinnert an Curcios und Franceschinis Verhaftung und an Mara Cagols Tod”, kommentiert Antonella.
Keine Rolle spielte beim dritten BR-Prozess auch das Notizbuch des nach Moretti führenden Brigadisten Valerio Morucci, das bei dessen Verhaftung sichergestellt wurde. In ihm hatte Morucci zwei brisante Telefonnummern stehen: Die des Leiters des Ufficio für Innere Sicherheit des SISMI, General Giovanni Romeo, und die von Kommissar Antonio Esposito, Mitglied der P2, und am Tag der Entführung Moros diensthabender Offizier im römischen Polizeipräsidium.
Morucci ist, wie Maurizio weiß, während des Prozesses gar nicht gefragt worden, wie er in den Besitz dieser in keinem öffentlichen Telefonbuch stehenden Nummern gekommen ist.
Die Freunde können mit ihrer Analyse der Hintergründe und Zusammenhänge, die der Brigate-Prozess vertuscht hat, statt sie zur Wahrheitsfindung heranzuziehen, eigentlich zufrieden sein. Trotzdem stellt sich bei den beiden Kriminalisten, wie schon bei früheren Themen, Unbehagen ein, stellt sich die alte Frage: cui bono?
Antonella, die von ihrem berufsbedingten Optimismus zehrt, muntert sie auf. Die Ergebnisse würden, wenn auch anonym, in die Berichte der „Repùbblica” einfließen und auch einigen bekannten zuverlässigen Journalisten anderer Zeitungen zugänglich gemacht. Es sei bereits einiges erreicht, wenn Schlimmeres verhindert werde. Und dazu hätten die demokratischen Medien in der Vergangenheit doch einiges beigetragen. Sie erinnert daran, dass die Spannungsstrategie von linken und diesen Zeitungen nahestehenden Journalen enthüllt und die Putschversuche De Lorenzos, Borgheses und der „Windrose” von ihnen aufgedeckt wurden. Nicht zufällig stehe gerade der italienische Journalismus im guten Ruf, ein investigativer zu sein.
Die Brigate Rosse und andere linksextreme Gruppen haben am Ende der „bleiernen Jahre” das Gegenteil von dem erreicht, was Curcio und seine Parteigänger einst verkündeten. Es ist keine revolutionäre Massenbewegung entstanden, sondern ein Rückgang der Arbeiterkämpfe eingetreten, eine generelle Wende nach rechts erfolgt. Der Einfluss linsradikaler Intellektueller ist gesunken. Der Jagd auf sie sind ganze Universitätsfakultäten zum Opfer gefallen, die sie früher dominierten. In Padua fast der gesamte Lehrkörper für Politische Wissenschaften, darunter angesehene Professoren wie Antonio Negri, der angeklagt wird, Leiter der Brigate Rosse zu sein und die Entführung und Ermordung Moros organisiert zu haben. In Mailand gehört der Direktor der katholischen Universität, Professor Maro Borromeo, zu den Verhafteten. Tausende Linksradikale, viele von ihnen ohne sich eines Vergehens schuldig gemacht zu haben, sitzen in den Gefängnissen. Zirka 100.000 Personen sind von den polizeilichen Ermittlungen erfasst, gegen rund 40.000 laufen Prozesse, Tausende sind bereits verurteilt worden. Amnesty international klagt die italienische Polizei an, politische Gefangene, vor allem der BR, in den Gefängnissen zu foltern.
Als im August 1983 der Sozialistenführer Bettino Craxi zum ersten Mal die Regierung bildet, wird die allgemeine Rechtswende übertüncht und der Eindruck eines Linkserfolges beschworen. In der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass bei der Entdeckung der P2 in den Unterlagen Gellis die Nummer eines Schweizer Geheimkontos auf den Namen von Craxi und seines Parteistellvertreters Claudio Martelli gefunden wurde. Calvi hatte vor seinem Tod enthüllt, dass auf dieses Konto Dutzende Millionen Dollar für Craxi flossen, den die Loge als eine Art neuen Mussolini an die Macht bringen wollte. Craxi bestreitet jede Kenntnis über dieses Konto. Es ist jedoch bekannt, dass der Sozialistenchef über seine Leute in der ENI der von der P2 beherrschten Ambrosianobank hohe Kredite zuschanzte, wofür er zweifelsohne entsprechende Tantiemen kassierte.
Verantwortungsbewusste Politiker und Politologen fragen sich, ob die Loge, die 1982 durch Parlamentsbeschluss zwar für aufgelöst erklärt wurde, nicht geheim weiter existiert und mit Craxi einen der ihren an die Spitze der Regierung gehievt hat. Zumal zwischen Craxi und dem Mailänder Großkapitalisten Silvio Berlusconi, der ebenfalls auf der Mitgliederliste der P2 geführt wurde, eine dicke Freundschaft besteht. Berlusconi hat seit Mitte der 70er Jahre in knapp einem Jahrzehnt in Gestalt seiner Fininvestholding, die 300 Gesellschaften umfasst, ein gigantisches Unternehmen zusammengezimmert, das einen Jahresumsatz von umgerechnet elf Milliarden Mark erzielt. Er besitzt ein Medienimperium, das mit 40 Prozent der italienischen Presseerzeugnisse und drei Fernsehsendern den zwölften Platz in der Welt einnimmt. Die P2-Kommission des Parlaments stellte fest, dass er zu den Unternehmern gehört, die „Unterstützung und Finanzierungshilfen, die weit über jede Kreditwürdigkeit hinausgehen”, erhielt. Andreotti, der Mann der Amerikaner und Meister der Geheimdienstpolitik, besetzt sicher nicht zufällig im Kabinett Craxi ein Schlüsselressort: das Außenministerium.
Die Regierungszeit Craxis trägt das ihre dazu bei, dass Pallotta und sein Team den Fall Moro nicht aus den Augen verlieren.
Gleichzeitig büßt die Partei Craxis, der sie immer nahe standen, ihr sozialistisches Profil zusehends ein und wird zu einer bürgerlichen Partei, die sich kaum noch von der im Korruptionssumpf versinkenden Democrazia Cristiana unterscheidet.
Aber zunächst einmal ist in dieser Zeit für Pallotta das Aus in der Questura gekommen. Sein Ressort, die Presseauswertung im Fall Moro, war nach Abschluss des dritten BR-Prozesses aufgelöst worden. Da man sich seiner Analysen im Fall Mattarella erinnerte, bearbeitete er danach politische Mafia-Morde. Zwischen 1983 und 85 stieß er auf fünf Fälle der Ermordung von Polizeibeamten, Untersuchungsrichtern und Journalisten, bei denen es Zusammenhänge und Parallelen zu Dalla Chiesa gab und von da aus die Spuren zu Andreotti, Pecorelli und damit schließlich zu Moro wiesen. Spektakulärster Fall war der des Richters Rocco Chinnici, der im Juli 1983 mit dem Portier seines Hauses und drei Leibwächtern bei der Explosion einer Autobombe ums Leben kam.
Pallotta hütet sich, seine tiefer gehenden Erkenntnisse weiterzugeben.
Trotzdem erregen die Berichte im Ufficio D des SISMI Aufmerksamkeit. Die Abteilung für Innere Sicherheit des Geheimdienstes lässt sich von allen relevanten Informationen Kopien übermitteln.
„Konkret Verwertbares enthalten Deine Rapporte nicht”, klärt Maurizio den Freund auf. „Aber die Leute dort haben eine Spürnase für das, was bla bla ist, und was tiefer lotet. Du giltst dort als scharfsinniger Analytiker, als einer der herausfischt, was, andere übersehen.”
Obwohl Pallotta natürlich ein solches Lob ganz gern hört, ist er doch perplex zu erfahren, dass die Geheimdienstkollegen meinten, in ihm stecke mehr und er sei zu schade für den stupiden Questura-Job.
Mit zunehmend gemischten Gefühlen hört er dann, dass man ernsthaft überlegte, ihm eine Versetzung in den SISMI vorzuschlagen.
Dio mio, geht es dem Commissario durch den Kopf. Noch vor ein paar Jahren, vor der Affäre Moro, hätte er ein solches Angebot wahrscheinlich mit Kusshand angenommen. Eine interessante Arbeit, heraus aus dem eintönigen Polizeialltag und nicht zuletzt ein bedeutend höheres Gehalt. Aber seit er weiß, welche Dreckarbeit dort gemacht wird, käme das nie mehr in Frage. Ganz abgesehen davon, dass Antonella da nicht mitmachen würde. War es doch für sie schon problematisch gewesen, sich mit einem Poliziotto einzulassen.
So war es beruhigend, von Maurizio zu hören, dass der Kelch an ihm vorübergegangen war.
„Gewogen und zu leicht befunden”, meint der Freund und erzählt ihm, dass seine Personalakte bereits einen dunklen Fleck hat: Der Vater Partisanenkommandeur bei den radikalen Aktionisten, die fast so schlimm wie die Kommunisten waren. Aber das hätte man noch hingenommen.
Bei einer bereits angeschobenen Sicherheitsüberprüfung sei dann seine „feste Beziehung” zu Antonella herausgekommen, Journalistin bei dem Blatt Scalfaros, der den Geheimdiensten mit seinen Enthüllungen mehr als suspekt ist.
So sei die Sache dann fallengelassen worden und endete mit dem Vorschlag, den scharfsinnigen, aber wohl doch etwas unbequemen Analytiker zur vorzeitigen Pensionierung vorzuschlagen. Das ist nichts außergewöhnliches. Im gesamten öffentli-chen Dienst gehen die meisten mit 55 oder auch eher in den Ruhestand. Pallotta fehlen zwar noch ein paar Jahre, aber da es gerade einige Umstrukturierungen gibt, ist das eine einleuchtende Begründung, die keinen Verdacht aufkommen ließe, wenn da nicht Maurizios „Hintergrundinformationen” wären.
Da Pallotta, wenn er annimmt, neben einer erklecklichen Abfindung auch noch eine Beförderung zum Ispettore in Aussicht gestellt wird, greift er zu.
Antonella beschließt gleichzuziehen und ihren Traum zu verwirklichen, als Freischaffende zu arbeiten. Im Prinzip bleibt sie bei der „Repùbblica”, nur dass sie nun auf Honorarbasis arbeitet, sich ihre Zeit selbst einteilen, oder wie sie sagt, “den Stress selbst organisieren kann”.
Was Pallotta betrifft, so wird ernst, was sie einmal scherzhaft diskutierten. Er bessert seine Pension mit ein paar Recherchen auf, die ihm Antonella vermittelt.
Den ersten Auftrag hat er bereits in der Tasche: eine Studie über „die Mafia in den 80er Jahren“. Das allgemein gehaltene Thema gibt ihm die Möglichkeit, die Schwerpunkte selbst zu setzen. Natürlich arbeitet er unter Pseudonym, „verdeckt”, wie es Antonella nennt.
Die Freundin nimmt Pallottas „Wechsel”, wie dieser seine Pensionierung dezent umschreibt, zum Anlass, zu ihm an den Prata della Signora zu ziehen. Neben seinem kleinen Drei-Zimmer-Appartamento ist eine Wohnung mit drei Zimmern und mit einem großen Salòtto und herrlicher Terasse freigeworden. Sie lassen zwischen beiden Wohnungen eine Verbindungstür schlagen, wohnen so zusammen und haben gleichzeitig genügend eigenen Freiraum, auf den beide Wert legen. Jeder hat sein eigenes Arbeitszimmer, gemeinsam richten sie sich eine kleine Bibliothek ein, ein Zimmer nimmt das Archiv auf, in einer der beiden Abstellkammern installiert sich Antonella einen ANSA-Empfänger. Maurizio steht, wenn er einmal über Nacht bleibt, ein recht komfortables Gästezimmer zur Verfügung.
Als Pallotta sein Dossier über die Mafia beginnt, ahnt er noch nicht, dass er damit direkt „am Ball” ist, wie es unter Journalisten heißt, denn ein gewichtiger Abschnitt ist Michele Sindona gewidmet. Er ist mit seiner Recherchen fast fertig, als der einstige Finanzmagnat, der nun nach seiner Verurteilung in den USA auch in Italien lebenslänglich erhalten hat, im März 1986 im Gefängnis umgebracht wird.
Wie einst sein Kompagnon und Logenbruder Calvi hatte er gedroht, „klingende Namen” zu nennen, wenn er nicht frei komme.
Als er dann noch den skandalumwitterten Journalisten Nick Tosches zu langen Gesprächen empfing, schlug die „ehrenwerte Gesellschaft” zu. Der Morgenkaffee, den der Wärter brachte, enthielt Zyankali. „Sie haben mich vergiftet”, seien seine letzten Worte gewesen, ehe er tot zu Boden fiel, schrieb besagter Tosches, der sich ansonsten hütete, Interna auszuplaudern. Maurizio hält es für möglich, dass die Mafia selbst jenen Tosches zum Aushorchen in Sindonas Zelle geschickt hatte.
Sindonas Stunde Null begann im Juli 1943 mit der Landung der Amerikaner auf Sizilien. Man möchte es nicht glauben, denkt Pallotta, aber es sind belegte historische Fakten, die ihre Schatten in die Gegenwart werfen: Zwei Wochen nach der am 9.Juli begonnenen Landung auf der Insel ernannte die Allied Military Government of Occupied Territory den Boss der sizilianischen Mafia, Calogero Vizzini, zum Bürgermeister seiner Heimatstadt Villalba. Er und seine Männer erhielten das Recht, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet die öffentliche Ordnung zu sichern.
Bei der sizilianischen Mafia war zu dieser Zeit der Chef aller New Yorker Mafia-Clans, Vito Genovese, untergetaucht. Er war 1936 aus den USA, wo er des mehrfachen Mordes angeklagt worden war, geflohen. Ihn nahm der Chef der Militärregierung, Oberst Charles Poletti, ehemals Gouverneur von New York, als seinen persönlichen Dolmetscher in Dienst.
Für den Don war das jedoch nur eine Nebenbeschäftigung, hauptsächlich befasste er sich mit dem Aufbau und der Organisation des Drogenhandels in Europa nach amerikanischem Vorbild. Unter den Augen der Besatzungsmacht konnte die palermitanische Mafia auch den aus Beständen der US-Army gespeisten Schwarzhandel in ganz Süditalien unter ihre Kontrolle bringen.
„Wenn heute Christdemokraten, Andreotti und P2-Leute mit der Mafia kungeln, dann ahmen sie eigentlich nur die großen atlantischen Vorbilder nach”, bemerkt Maurizio sarkastisch, als er Pallottas Aufzeichnungen durchsieht.
Protegiert von Colonel Poletti legte Don Vitones Zögling Sindona den Grundstein für seine Karriere. 1950 war der damals 33jährige bereits Millionär. In den folgenden Jahren kaufte er zu spekulativen Zwecken Industrieunternehmen auf und stieg hauptsächlich ins Bankengeschäft ein. Binnen weniger Jahre wurde er einer der großen Männer der internationalen Finanzwelt und begründete in Europa und in den USA sein der Mafia und der P2 dienendes Imperium, mit Tausenden von Verzweigungen in allen Wirtschafts-bereichen, von Banken über Finanzierungsgesellschaften, Immobilienunternehmen und Elektrokonzernen bis zu Textilbetrieben und großen Hotels, darunter das berüchtigte Watergate.
Er war Vertrauensmann des Vatikans und Teilhaber großer englischer und amerikanischer Bankiers, so den Hambro von London und der Continental Illinois von Chicago, über die den italienischen Neofaschisten die Gelder zuflossen, und er war Beherrscher der italienischen Börse.
Die Sucht nach immer größeren Profiten und neuen Unternehmen, die Spekulationen mit schwindelerregenden Summen führten 1974 zum Zusammenbruch des Imperiums Sindonas, der natürlich auch mächtige Widersacher hatte. Sein Sturz wurde mit dem Bankrott von vier internationalen Großbanken, die ihm gehörten oder an denen er die maßgeblichen Aktienanteile besaß, darunter die Franklin National Bank von New York, besiegelt.
Pallotta fällt ein, dass Sindonas Name bereits im Zusammenhang mit der Ermordung des Richters Occorsio auftauchte, der auf Gelli gestoßen war, noch bevor die P2 entdeckt wurde.
Jetzt kommt, vor allem dank Maurizios Hilfe, einiges mehr ans Licht.
Sindona hatte Bestechungsgelder in Milliarden Dollarhöhe an Parteien, darunter die Democrazia Cristiana gezahlt, an Politiker, unter ihnen Ministerpräsidenten. In die korrupten Praktiken waren nicht weniger als 500 Personen aus Politik und Wirtschaft verwickelt. Unter ihnen dürften sich wohl diejenigen befunden haben, die alles versuchten, die Anklage zu Fall zu bringen. An ihrer Spitzte Andreotti, Staatsbankpräsident Guido Carli, vom Vatikan die Kardinäle Caprio und Guerri sowie Erzbischof Marcinkus.
Das alles hätte Sindona kein „lebenslänglich” eingebracht. Dafür kam ein Mord in Frage, den er in Auftrag gegeben hatte. Ein Mafioso brachte den mit der Liquidation seines Finanzreiches beauftragten Konkursverwalter Giorgio Ambrosoli um. Der Killer kam aus den USA. Dorthin zurückgekehrt, wurde er 1984 selbst umgebracht. Sicher, um die Spuren, die zu Sindona führten, zu verwischen. Dem Konkursverwalter Ambrosoli wurde zum Verhängnis, dass er auf die Verflechtung von Sindonas Imperium mit der P2, der hohen Politik und den Geheimdiensten stieß.
„Der Mord geschah 1979, im selben Jahr, in dem Pecorelli umgebracht wurde”, stellt Maurizio heraus. „Wie Pecorelli muss Ambrosoli auf Andreottis Rolle in der P2 gestoßen sein. Es kann sich nicht nur um Bestechungsgelder gehandelt haben. Deswegen bringt man bei uns keinen um.”
Andreotti, einflussreichster Mann in der Democrazia Cristiana, bleibt zwar juristisch weiter ungeschoren, aber in den Medien wird der Ton gegenüber seiner zwielichtigen Rolle im Treiben der Mafia schärfer.
Im Herbst 1986 werden er und seine Parteigänger auf Sizilien, Mario D’Aquisto und Nello Martellucci, letzterer Bürgermeister von Palermo, beide mafioser Verstrickungen verdächtigt und zum Attentat auf Dalla Chiesa vernommen. Die Einschätzung des Generals, dass „die Andreottianer tief bis zum Hals drinstecken”, kommt zur Sprache. Der derzeitige Außenminister der Craxi-Regierung wird nach dem Inhalt des Gesprächs befragt, das der Mafia-Fahnder kurz vor seinem Tod mit ihm hatte, darunter welche Rolle Sindona dabei spielte.
Andreotti streitet wie immer alles ab, leugnet jede Schuld am Tod des Anti-Mafia-Präfekten. Die „Repùbblica” kontert am 13. November jedoch scharf und schreibt schon in der Überschrift: „Andreotti sagt nicht die Wahrheit, er sollte angeklagt werden.”
„Da steckt auch Deine Arbeit drin”, kommentiert Antonella nicht ohne Stolz den aufsehenerregenden Artikel.
Und tatsächlich hat Pallotta ein Gefühl, das er bisher nicht kannte, etwas zu den Enthüllungen über den Ex-Premier und Moro-Feind beigetragen zu haben. Es keimt die Hoffnung, dass damit vielleicht doch noch etwas bewirkt werden könnte.
Zunächst wird wenig oder nichts bewirkt. Die Brigate Rosse gehen ihrem Ende entgegen. Alberto Franceschini, einer ihrer historischen Gründer, wendet sich 1987 von der „Gewalt als Methode des politischen Kampfes” ab und erklärt öffentlich, „jeder Organisation oder Bewegung terroristischen oder gewalttätigen Charakters abgeschworen zu haben.”
Die in Hülle und Fülle vorliegenden Beweise und Indizien für ein politisches Komplott, dem der Vorsitzende der Democrazia Cristiana zum Opfer gefallen ist, werden weiter bewusst ignoriert.
Zwei der maßgeblichen Verantwortlichen für die „Intransigenza”, mit der Moro im Frühjahr 1978 seinem Schicksal überlassen wurde, steigen erneut in die höchsten politischen Ämter auf: Francesco Cossiga wird 1985 Staatspräsident, Guilio Andreotti im März 1989 zum siebten Mal Ministerpräsident.
Beide Politiker steuern bzw. verschärfen den Rechtskurs, für den mit Moros Tod der Weg freigemacht wurde. Cossiga wird unrühmlich bekannt dafür, dass er wie kein anderer Politiker vor ihm in diesem Amt die neofaschistische Partei salonfähig macht und für ihre Regierungsbeteiligung plädiert. Aktiv unterstützt wird er von Sozialistenführer Craxi, der 1987 seinen Premier-Sessel wieder an einen DC-Mann abtreten musste.
Andreotti ebnet dem rechten Richter Corrado Carnevale den Weg zum Vorsitzenden der Ersten Kammer des Obersten Gerichts. Der Richter hat in unzähligen Prozessen neofaschistische Terroristen freigesprochen oder die Urteile annulliert. Gleiches geschah in Hunderten von Verfahren gegen die Mafia, was ihm den Beinamen „Urteilskiller“ einbrachte. Gegen Gelli und die P2 verhinderte er eine Anklage wegen umstürzlerischer Tätigkeit, Putschvorbereitung und Mitgliedschaft in einer bewaffneten kriminellen Vereinigung.
Der Freundschaftsbeweis für den Richter wird für Andreotti allerdings zum ersten Bumerang. 1988 beschuldigt ein geständiger Mafioso Carnevale, Millionen Dollar Bestechungsgelder kassiert zu haben dafür, dass er für angeklagte Mafiosi die Prozesse „regelte”.
Die weltpolitischen Veränderungen, die im Herbst 1989 beginnen, drängen die italienischen Ereignisse in der Öffentlichkeit für kurze Zeit in den Hintergrund. Was der Chef der sowjetischen KP, Gorbatschow, im März 1989 auf dem IKP-Parteitag als Reform des Sozialismus ankündigt, geht in rassantem Tempo in einen völligen Zusammenbruch des von Moskau geführten Ostblocks über. Mit dem Fall der Berliner Mauer, die de facto immer die Trennlinie zwischen NATO und Warschauer Pakt bildete, ist dieser Untergang nicht mehr aufzuhalten. Ein riesiger Machtblock, der sich von Kamtschatka bis zur Elbe ausdehnte, von Murmansk bis an die Grenzen Chinas und Afghanistans, Irans und der Türkei reichte und seinem Einfluss auf Asien, Afrika und Lateinamerika nach ein Weltreich der Neuzeit war, hört binnen zwei bis drei Jahren auf zu existieren.
Die italienische KP steuerte seit Berlinguers Zeiten einen von Moskau unabhängigen Kurs, der im 1982 offiziell verkündeten Bruch zum Ausdruck kam. Obwohl dazu eigentlich kein Anlass besteht, leitet sie als einzige westeuropäische KP eine radikale Wende ein. Eine Zweidrittelmehrheit beschließt im Januar 1991, die IKP nach 70jähriger Existenz in eine sozialdemokratische „Partei der demokratischen Linken” umzuwandeln. Ein zweites Livorno in der Geschichte, denn das restliche Drittel der Delegierten gründet danach eine neue KP, die „Partei der kommunistischen Neugründung”.
In Italien ruft die Niederlage der sozialistischen Regimes in Europa unerwartete Reaktionen hervor. Nachdem gewissermaßen über Nacht die kommunistische Gefahr verschwunden ist und der daraus resultierende Feind nicht mehr existiert, verschärft sich die kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Einmischung, werden die Forderungen lauter, diesbezüglich die eigene Geschichte kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Korrupte Regierungspolitiker, Komplizenschaft mit der Mafia, die Rolle der Putschistenloge P2, verfassungsfeindliches Verhalten der Geheimdienste bestimmen die Schlagzeilen in den Medien. Und plötzlich erhält auch das Komplott gegen Aldo Moro neue Dimensionen.
Obwohl nun freischaffend arbeitend unterhält Antonella einen heißen Draht zu ihrer Redaktion. So ist sie auch an diesem Oktobertag 1990, noch ehe der ANSA-Schreiber tickt, auf dem Laufenden. Der Chef vom Dienst schickt ihr ein Fax mit kurzem Text: „Abendnachrichten hören, Andreotti musste Existenz einer geheimen NATO-Truppe, genannt Gladio, zugeben.”
Der Komplize
Die ersten ANSA-Meldungen über Andreottis „Enthüllungen” sind lakonisch kurz: „Gladio, in anderen NATO-Staaten “Stay behind” genannt, sei eine Geheimstruktur des Paktes, ein Einsatz nur für den Fall eines kommunistischen Angriffs vorgesehen, schon 1972 aufgelöst worden, da im Rahmen der NATO bestehend eine völlig legitime Struktur, übrigens nie eingesetzt.“ Und so geht es zunächst weiter. Andreottis Enthüllungen stellen sich aber schon bald als Halbwahrheiten heraus. Der „Fuchs” versucht abzustreiten, wo es nur geht. Aber bald geht vieles nicht mehr wie früher. Angesichts erdrückender Beweise, die mutige Richter, Journalisten und Politologen herbeischaffen, treten eine Anzahl Militärs und auch Geheimdienstler die Flucht nach vorn an und sagen aus.
Im TV-Programm “RAI due” wird General Edgardo Sogno, langjähriges Mitglied des Gladio-Stabes, vor laufenden TV-Kameras gefragt:
„Was hätten Sie getan, wenn die kommunistische Partei mit legalen Mitteln an die Macht gekommen wäre?”
„Dann hätten wir den Bürgerkrieg entfesselt”, antworte Sogno.
General Gherardo Sérravalle, von 1971 bis 1974 Gladio-Chef, erklärt, dass in der geheimen NATO-Truppe immer die Meinung vorherrschte: „Wenn die Russen kommen, erhalten die bestimmt Hilfe von unseren Kommunisten. Warum sollen wir warten, bis die Invasion da ist, bringen wir die Sache doch gleich hier in Ordnung.”
Der General gibt zu, dass bei einem Gladio-Manöver die Teilnehmer allen Ernstes vorschlugen, übungshalber „gleich mal alle auffindbaren Kommunisten umzubringen.”
Die Enthüllungen, die am 24. Oktober in den Medien beginnen, belegen, dass Serravalle, der als einer der wenigen Militärs mit der Justiz und der Parlamentskommission zur Untersuchung von Gladio zusammenarbeitet, von nichts anderem als dem „Geist der Truppe“ spricht.
„Warum wurde diese Stay behind, also diese hinter den Linien operierende Truppe, in Italien Gladio genannt?”, fragt Antonella, als sie sich an die Arbeit machen, um den Caso Moro, wie sie hoffen, mit Gladio abzuschließen.
Pallotta freut sich, seine Geschichtskenntnisse einbringen zu können:
„Mit Gladio, dem Kurzschwert, kämpften die römischen Legionäre, wenn der Feind ihre Phalanx durchbrochen hatte, es um den Sieg in der Schlacht ging. Die Experten der CIA, welche die Geheimtruppe aufstellten, wussten um unsere Schwäche für historische Legenden.”
Bald stellt sich heraus, dass Andreotti wieder einmal lügt, was das Zeug hält, wenn er behauptet, Gladio sei „nie zum Einsatz gekommen” und habe außerdem aus „ausgewählten, verfassungstreuen Männern“ bestanden, „politisch nicht gebunden” und „in keinerlei Verfahren involviert”.
Das Gegenteil war der Fall.
Gladio zog im kalten Krieg in Italien blank, noch ehe es jemals zum heißen kam. Seit dem Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand kamen bei der Spannungsstrategie bis Anfang der 80er Jahre 350 Menschen ums Leben, gab es Tausende Verletzte. Die Initiatoren dieser Strategie waren Spezialisten der CIA, einen Großteil der Anschläge führten, wie die Untersuchungen nun zu Tage bringen, Gladio-Einheiten aus.
Vorgeblich als Organ der NATO und ihrer nationalen Armeen geschaffen, behielt die CIA, von der die Idee 1951 ausging, die Stay-behind-Truppe stets unter ihrem Kommando. Die anlaufenden Untersuchungen, die Andreotti und andere der Lüge und Falschaussage überführen, ergeben, dass Gladio in verfassungswidriger Weise entstand und handelte. Den staatlichen Institutionen, das Parlament eingeschlossen, war jede Kontrolle entzogen. Der Leiter des Zentralen Sicherheitsbüros sagt aus, er habe „keine Kontrolle über Gladio” besessen.
Es wird bekannt, dass bereits der Geheimdienst SIFAR, unter dem der Aufbau der Gladio-Truppe begann, „als ein absolut von der amerikanischen CIA abhängiges Regime” entstand und seine Nachfolger es blieben. Das hinderte jedoch neofaschistische Geheimdienstler wie De Lorenzo und Miceli oder rechte Spitzenpolitiker wie Andreotti und Cossiga nicht, mit der Company gegen die Interessen des eigenen Staates gemeinsame Sache zu machen.
Andreotti versucht die Zahl der Gladiatoren und damit ihren Einsatzwert herunterzuspielen. Es stellt sich indessen heraus, dass die von ihm vorgelegte Liste des SID, die nur 662 Angehörige aufführt, gefälscht ist. Nachdem danach von 1.500 Aktiven und 3.000 Reservisten die Rede ist, wird schließlich bekannt, dass die in einer VII. Division zusammengefassten aktiven Gladiatoren 12.000 Mann zählten.
Angeblich geschaffen, um im Falle einer sowjetischen Invasion „hinter den Linien” zu operieren, wurde Gladio in Italien bereits „gegen potentielle Komplizen” aktiv.
General Serravalle sagt aus, dass Gladio „hauptsächlich zur Verdeckung unbekennbarer Operationen“ eingesetzt wurde, „die das Ziel hatten, die italienischen Kommunisten um jeden Preis von der Regierung fernzuhalten.”
Dabei gehörten, wie Maurizio kommentiert, Operationen wie die unter dem Decknamen „Delfin” durchgeführte, die in einem Gerichtsverfahren bekannt wird, noch zu den „harmlosen”. Im Rahmen von „Delfin” verübten Kommandos der Gladio-Division nach Direktiven der CIA Überfälle auf Büros der Kommunistischen Partei. Nachgewiesen werden in einem Fall acht Bombenanschläge gegen IKP-Sitze in Triest.
Bei ihren Recherchen stoßen Pallotta und Antonella, unterstützt von Maurizio, auf viele Namen, die sie bereits im Komplott gegen Moro ausfindig gemacht haben.
Da ist der CIA-Agent Oberst Rocca, der im Rahmen des Piano Solo De Lorenzos eine der Company unterstellte „Sicherheitstruppe” aufstellte, bei der es sich exakt um Gladio-Einheiten handelte.
William Harvey, damals Chief of Station der CIA in Rom, stellte Rocca aus seinem Archiv eine Liste von etwa 2.000 Mann aus paramilitärischen Formationen der Neofaschisten zur Verfügung, mit denen der Oberst den Aufbau „seiner Division” begann.
Die 2.000 Mann kamen aus neofaschisten Banden, die sich ihrerseits aus Angehörigen der Mussolini-Armee einschließlich der Brigate nére, der italienischen SS der Salò-Republik, rekrutierten.
Antonella holt eine Studie hervor, die sie nach Moros Tod bei der Untersuchung der Spannungsstrategie ausgearbeitet haben. Viele Organisationsnamen tauchen jetzt bei Gladio wieder auf: Borgheses Fronte Nazionale, Rautis Ordine Nuòvo, die Avanguardia Nazionale.
Besonderes Aufsehen erregt ein Verfahren, das der Vorsitzende des Gerichts von Venedig, Felice Casson, gegen die beiden Gladio-Kommandeure, den früheren Chef des SISMI, Admiral Fulvio Martini, und seinen Vize, General Paolo Inzerilli eröffnet. Der schon in früheren Verfahren gegen neofaschistische Attentäter als mutiger Jurist bekannt gewordene Casson setzt zum ersten Mal durch, dass ihm für das Verfahren wichtige Geheimdokumente aus dem SISMI-Archiv zur Verfügung gestellt werden müssen. Er enthüllt, dass die Gladio-Chefs zusammen mit drei venezianischen Richtern neofaschistische Attentäter, die Gladio-Mitglieder waren, gedeckt und ihre Strafverfolgung verhindert haben.
Einer der Attentäter, ein Gianfranco Bertoli, organisierte im Mai 1973 in Mailand jenen Bombenanschlag, mit dem sich die Freunde bereits im Rahmen der Spannungsstrategie befassten.
Pallotta erinnert sich, dass sich Bertoli als Anarchist ausgab. Jetzt wird bekannt, dass er Gladio-Angehöriger war und die bei dem Anschlag verwendete Bombe aus einem Depot der Geheim-Truppe stammte. Die Ermittlungen ergeben, dass Bertoli auch an dem Attentat auf der Piazza Fontana beteiligt war. Unter anderem unterhielt er Kontakte zu einem Aldo Bonomi, der später als Rotbrigadist bekannt wurde.
Cassons Anklage gegen Martini und Inzerilli lautet auf Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation, politischer Konspiration, Unterschlagung geheimer Dokumente, Behinderung der Ermittlungen und Verstoß gegen die Waffengesetze.
Gegen Casson, der keiner Partei angehört oder nahe steht, wird eine infame antikommunistische Hetze entfacht und er als IKP-Mitglied ausgegeben.
Schließlich kommt es zu dem ungeheuerlichen Skandal, dass Staatspräsident Cossiga persönlich in das Verfahren eingreift, um den „Störenfried” mundtot zu machen. Er fordert den Obersten Richterrat auf, Casson zu versetzen und ihm so das Verfahren zu entziehen.
Die Enthüllungen über Gladio haben jedoch in der Öffentlichkeit eine derartige Resonanz gefunden, dass Cossiga mit seinem Ansinnen scheitert.
Cassons Urteil hat eigentlich Präzedenzcharakter, was jedoch rechtsorientierte und weiterhin in Treue zur NATO stehende Juristen bewusst missachten.
Pallotta hat sich durch die komplizierte Materie hindurchgearbeitet, in der es darum geht, ob Gladio eine geheime NATO-Struktur war – oder eine direkt von der CIA geführte Geheimdiensttruppe.
Im ersten Fall könnten sich die Gladio-Verantwortlichen auf die Bündnisverpflichtungen und die daraus resultierenden Geheimhaltungsbestimmungen berufen. Eine Legi-timierung begangener Verbrechen könnte daraus zwar nicht abgeleitet, aber vieles vertuscht werden. Im zweiten Fall entfiele eine Bündnisverpflichtung und es handele sich um die Einmischung eines ausländischen Geheimdienstes in italienische Angelegenheiten und die Mitwirkung nationaler Dienste wäre verfassungswidrig.
Casson hat den zweiten Fall, Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation, nachgewiesen und dazu das entsprechende Urteil durchgesetzt. Den Beweis hat er mit der SACEUR-Direktive des Paktes vom Juni 1968 geführt, die Gladio ausschließlich der Leitung der CIA unterstellte.
„Es dürfte kaum ein Zufall gewesen sein”, analysiert Antonella, „dass die Gladio-Truppe der CIA zu diesem Zeitpunkt unterstellt wurde. 1968 beginnt die Spannungsstrategie. 1969 erfolgt auf der Piazza Fontana der erste unter Leitung der Company mittels Einsatzes von Gladio ausgeführte Anschlag, 1970 wird das Feldhandbuch herausgebracht.”
„Dazu brauchte man eine klare Unterstellung, die ein in den USA-Streitkräften übliches Kompetenzgerangel gänzlich ausschloss”, pflichtet Pallotta bei.
Ungeheuerliches kommt auch in einem anderen Fall zur Sprache:
Der Gladio-Angehörige Mario Morin, früherer Luftwaffenoffizier, versorgte neofaschistische Attentäter mit Waffen und Sprengstoff aus Gladio-Depots.
Zugleich trat er vor Gericht als Experte in diesen Fragen auf, um die Herkunft zu vertuschen.
Es hat sich bei dem Dreierteam eingebürgert, von Zeit zu Zeit neue Erkenntnisse gemeinsam zu erörtern. Nach einem Essen im Bivaco genießen sie auf der Terasse am Prato einen Montepulciano d’Abruzzo, leicht gekühlt, wie er im Sommer am besten schmeckt.
Nachdem Maurizio sich mit dem, was Pallotta und Antonella zusammengestellt haben, bekannt gemacht hat, steuert er einige Neuigkeiten bei. Beiläufig erwähnt er seinen Onkel, der auch mit dem Stillhalten gebrochen hat und mit der Justiz und der Parlamentskommission zusammenarbeitet.
„Ich fange mit unserer Arbeit am ‘Fall Moro’ an”, beginnt er. „Die Gladio-Enthüllungen bestätigen alle unsere Ergebnisse.”
Maurizio nennt die wichtigsten Fakten: Die Druckmaschine der BR, bisher ihrer Herkunft nach vom SISMI stammend, kam aus einem Gladio-Büro. Bei den am Tatort gefundenen Patronenhülsen von NATO-Spezialmunition handelt es sich um solche von Gladio-Einheiten.
Es gibt zwei Möglichkeiten.
Erstens könnten den Brigate Rosse über V-Leute entsprechende Waffen geliefert worden sein. Ermittlungen zufolge haben CIA- und SISMI-Agenten einen diesbezüglichen Waffenhandel organisiert. Es dürfte kein Problem gewesen sein, solchen Lieferungen auch Gladiowaffen unterzumischen. Maurizio nennt einen ihnen bereits hinreichen bekannten Namen. Den SISMI-Chef General Santovito, P2-Mitglied, der die Waffenlieferungen höchstpersönlich dirigierte.
„Und nun”, Maurizio wendet sich Antonella zu, „kommt ein dich besonders interessierendes Detail. Diesen Waffenlieferungen war höchstwahrscheinlich dein Kollege Passalaqua auf der Spur und bezahlte das mit seinem Leben.”
„Zweitens bleibt die hinreichend belegte Tatsache, dass außer dem BR-Kommando und wahrscheinlich unabhängig von ihm noch ein oder zwei Militärspezialisten auf Moros Leibwächter schossen, welche die Spezialmunition abfeuerten”, fügt Pallotta hinzu.
Damit ist man wieder beim Thema Infiltration und Steuerung. Der Gladio-Offizier Pierluigi Ravasio hat ausgesagt, dass der SISMI-General Pietro Musumeci einen V-Mann in den Brigate hatte, der ihn bereits vor der Entführung „über alles, was geschehen sollte” informierte. „Ferner ist zu ergänzen, dass Musumeci P2-Mitglied war”, fügt Maurizio hinzu. Mit Moretti und Morucci an der Spitze leugnen die Hardliner, die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre nach der Ausschaltung Curcios und Francheschinis die Führung der Roten Brigaden an sich rissen, eine solche Einflussnahme seitens der Geheimdienste.
„Es ist so gut wie sicher, dass sie aussagen, was man von ihnen verlangt”, meint Pallotta und gibt wieder, was der Geheimdienstgeneral Romeo, der von 1966 bis 69 Gladio-Chef war und in den 70er Jahren die Abteilung Innere Sicherheit des SID leitete, vor der Parlamentskommission dazu sagte.
Es habe von Anfang an vom SID gesteuerte V-Leute gegeben, durch die man über die Bewegungen und Absichten der Roten Brigaden informiert gewesen sei. Namen würden dazu keine genannt.
„Sie müssten es teuer bezahlen, wenn sie welche bekannt machten”, erklärte Romeo.
Alberto Francheschini hat unter anderem in der „Repùbblica” am 31. Dezember 1990 inzwischen eingestanden, dass „andere Kräfte mitmischten“ und erklärt: „Für mich gibt es heute keinen Zweifel mehr: Die Roten Brigaden wurden instrumentalisiert, nur ein Teil ‘unserer Aktionen’ waren wirklich unsere.”
An anderer Stelle meint der BR-Mitbegründer, dass „wir uns damals haben verschaukeln lassen” und geht davon aus, dass ein geheimes Leitungszentrum zur Steuerung des Linksextremismus existierte, das er mit der Hyperion-Schule in Paris identifiziert, wo die CIA ihre Hände im Spiel hatte. Der Ex-Brigadist Roberto Ognibene, ebenfall aus der „Gründergeneration”, äußert sich ähnlich. Eine „Machtgruppe innerhalb der staatlichen Institutionen” habe die Roten Brigaden benutzt, um „eine Verschiebung der politischen Verhältnisse zu erreichen” und um „ihre Interessen durchzusetzen, wie das die P2 zeigt.”
Dazu passt, was im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Gladio zur Rolle der P2 und ihrer Führung durch die CIA bekannt wurde.
Maurizio schildert, was der frühere Chef-Agent für Italien, Richard Brennecke, aussagte. Den Hintergrund bildeten wahrscheinlich Auseinandersetzungen mit Colby, der inzwischen seine Memoiren herausbrachte. Laut Brennecke sind 1969, im Jahr des Beginns der Spannungsstrategie, über die Sindona-Banken aus Langley an die P2 monatlich bis zu zehn Millionen Dollar geflossen.
Pallotta fällt dem Freund ins Wort. „Habe ich richtig gehört, es handelte sich um monatliche Zahlungen?”
„Genau so war es”, bestätigt Maurizio.
„Sie wurden in den folgenden Jahren fortgesetzt. Ob in gleicher Höhe, ist nicht bekannt, wahrscheinlich eher höher.”
Brennecke habe unter anderem auch den Verdacht zur „führenden Rolle” Andreottis in der P2, wenn auch nicht namentlich, bestätigt. Er sagte, dass Gelli „jemanden hatte, der über ihm stand”.
Brenneckes Aussagen wurden von italienischen Insidern bestätigt. So durch den Chef der Gegenspionage des SID in den 70er Jahren, Ambrogio Viviani, der ferner angab, dass Gladio bei den 1976 beginnenden Studentenunruhen mitmischte.
Maurizio geht schließlich auf – angebliche oder tatsächliche – neue Funde von Moro-Briefen ein. In der Via Monte Nevoso in Mailand, wo Dalla Chiesa im Oktober 1978 maschinenschriftliche Abschriften bis dahin nicht bekannter Moro-Briefe und der sogenannten Verhöre mit ihm fand, sind bei Renovierungsarbeiten in der einstigen BR-Wohnung, hinter einer Mauer versteckt, angeblich zufällig neue Moro-Briefe gefunden worden. Wenn auch vieles mysteriös bleibt, gibt es doch einige neue Aufschlüsse. Die Funde wurden nach Aufdeckung von Gladio gemacht.
Möglicherweise gibt es Geheimdienstler, die Andreotti nunmehr opfern wollen. Zumal dieser zu den nächsten Präsidentenwahlen kandidieren will, was diesen Leuten vielleicht zu riskant erscheint. Denkbar ist auch, dass es sich um Leute von den Diensten handelt, die einen Schlussstrich ziehen wollen, aber nicht den Mut haben, vor der Parlamentskommission offen auszusagen.
„Man darf wohl auch nicht außer acht lassen, dass sich viele dieser Personen von den in Weltbeherrschermanier auftretenden Amerikanern jahrzehntelang national gedemütigt fühlten und jetzt eine Gelegenheit sehen, es ihnen heimzuzahlen.”
Maurizio führt zwei seiner Meinung nach wichtige Aspekte an. Nach wie vor ist zu bezweifeln, ob die Moro-Dokumente jetzt vollständig und ob alle authentisch sind, da es sich bei den „Verhören” um maschinenschriftliche Abschriften handelte. Des Weiteren kommt hinzu, dass Andreotti aus den Dossiers zu Gladio, bevor er sie der Parlamentskommission aushändigte, einige Seiten entfernte. Es wird vermutet, dass es sich einmal um seinen Anteil als Verteidigungsminister beim Aufbau der Gladio-Truppe, der in die Zeit der Vorbereitung des Putsches De Lorenzos und später Borgheses fiel, zum anderen um seine Rolle im Komplott gegen Moro und in der P2 handelt.
Der zweite Aspekt betrifft wieder das Agieren der Brigate im Kontext des Komplotts gegen Moro. Moro, soviel ist bekannt, äußerte sich, wie allgemein eingeschätzt wird, in verhüllten Formulierungen zur massiven Einmischung der Amerikaner in die italienische Politik, zur Rolle der CIA und zur Spannungsstrategie sowie zu der ihm als mehrmaligen Ministerpräsidenten bekannten Gladio-Struktur. Sehr kritisch ging er mit Cossiga und Andreotti ins Gericht, machte Bemerkungen zu den Beziehungen des Ministerpräsidenten zur Mafia sowie zum P2-Bankier Sindona und fragte, ob hinter der Intransigenza ihm gegenüber die Amerikaner und damit auch die CIA und Gladio stünden. Maurizio liest aus einem Moro-Brief vor: „Es ist gewiss eine schwierige Intrige, die es hier zu entwirren gilt und deren Schlüssel vermutlich in einer spezialisierten Organisation, wahrscheinlich jenseits der Grenzen liegt. Es handelt sich dann auch darum, zu sehen, welchen Anteil unsere Politiker daran haben.”
„Damit dürfte klar sein, dass diejenigen, welche die Fäden des Komplotts gegen Moro zogen, ihn gar nicht lebend aus der Hand der Brigate zurückhaben wollten”, meint Antonella.
„Das führt uns aber auch zurück zur zwielichtigen Rolle der Roten Brigaden”, ergreift Pallotta das Wort.
„Das wäre doch ein extraordinäres Mittel der Entlarvung des von Ihnen immer unerbittlich attackierten imperialistischen Systems gewesen, oder ein Faustpfand, um dafür tatsächlich inhaftierte Gesinnungsgenossen freizupressen. Dass sie es nicht genutzt haben, bestätigt einmal mehr, es gab V-Männer in ihren Reihen, die das verhindert haben.”
Die Enthüllungen über Gladio und seine eigene Rolle scheinen Il Volpone zunächst kaum etwas anhaben zu können. 24mal ist Andreotti in den vergangenen drei Jahrzehnten von ermittelnden Staatsanwälten und wenigstens fünf parlamentarischen Untersuchungs-kommissionen der Verwicklung in Attentate, Putschvorbereitungen, Kontakte zur Mafia und gar der heimlichen Führung der P2 verdächtigt worden. Immer ist er unbeschadet daraus hervorgegangen, nie war ihm im exakten juristischen Sinne etwas nachzuweisen. Mit der Ernennung zum Senator auf Lebenszeit hat er eine der höchsten und sehr selten, nur an einen ausgewählten kleinen Kreis hochrangiger Politiker vergebenen parlamentarischen Würden errungen.
In der „Repùbblica” registriert man indessen, auch wenn vorerst kaum darüber geschrieben wird, einige Veränderungen. Nach den Parlamentswahlen 1992 wird Andreotti, der seit Juli 1989 erneut im Palazzo residierte, nicht wieder zum Ministerpräsidenten berufen. Für die Wahl des Staatspräsidenten, mit der er sein politisches Lebenswerk krönen wollte, ist er nicht aufgestellt worden. Für den starken rechten Mann, Beherrscher der Democrazia Cristiana, der immer gewohnt war, seine Vorhaben durchzusetzen, eine schwere politische Niederlage.
Am 27. März 1993 werden die Hintergründe dieser Niederlage publik. Sie kommen in der an Enthüllungen der schlimmsten Art gewöhnten italienischen Öffentlichkeit einem politischen Erdbeben gleich.
Der Staatsanwalt von Palermo, Giancarlo Caselli, übermittelt dem Senator einen Ermittlungsbescheid. Der siebenmalige Ministerpräsident wird, wie es dann auch die Anklageschrift formuliert, „der Beteiligung an einer mafiosen Vereinigung” beschuldigt. Es bestand, wie es weiter heißt, „ein Geflecht zwischen dem Senator Andreotti und Cosa nostra, das in einer keineswegs nur beiläufigen oder nur gelegentlichen Weise mindestens schon 1978 eingerichtet wurde und mit Sicherheit bis 1992 weiterbestand.” Andreotti habe „einen Beitrag zum Schutz der Interessen und zum Erreichen der Ziele der Organisation geleistet”, insbesondere “hinsichtlich gerichtlicher Strafverfahren gegen Exponenten der Organisation”. Die Anklage enthält die Aussage eines Mafioso, es sei in der Mafia bekannt gewesen, dass “einer der Kanäle, um an Andreotti heranzukommen, der Weg über die Geheimloge” gewesen sei. Dadurch werden zum ersten Mal die Anschuldigungen, der Senator sei ein führender P2-Mann, wenn nicht überhaupt ihre wahre Nummer Eins gewesen, gerichtsoffiziell zur Sprache gebracht.
Die Anklage gegen den Ex-Premier gewinnt noch an Brisanz, als er in einem zweiten Verfahren der Anstiftung zum Mord an Mino Pecorelli beschuldigt wird.
Die Dreierrunde saß mit verhaltenem Optimismus zusammen und versuchte, ihr Triumphgefühl zu dämpfen. Sollte es nach 15 Jahren zu einem Abschluss des Caso Moro kommen?
Über den Mord an Pecorelli musste der Prozess zwangsläufig auf die Rolle Andreottis im Komplott gegen seinen Parteichef stoßen. Den Chef von Langley als maßgeblichen Rädelsführer würde man vor kein Gericht bringen können. Die italienischen Geheimdienstchefs würden sich, trotz Cassons Grundsatzurteil, weiter hinter ihren “Bündnisverpflichtungen” verschanzen.
Aber den Hauptverantwortlichen in Italien, den damaligen Ministerpräsidenten, würde ihn ein Gericht verurteilen?
Am Pranger steht Il Volpone bereits, auch wenn er wie gewohnt alles abstreitet, als üble Verleumdung, böswillige Diffamierung bezeichnet. Seine Position ist erschüttert. In mehreren Fällen werden ihm von geständigen Mafiosi, aber auch anderen Zeugen Begegnungen mit den Clan-Chefs der “ehrenwerten Gesellschaft” nachgewiesen.
Mit dem mächtigsten Mafia-Boss Siziliens, Salvatore Riina, soll er den traditionellen, die unverbrüchlichen Beziehungen innerhalb der Mafia besiegelnden Bruderkuss getauscht haben.
Der Mord an Mattarella kommt zur Sprache. Das war jener Parlamentspräsident und Anhänger Moros, der auf Sizilien den Compromesso stòrico fortsetzen wollte, und deshalb von einem Neofaschisten im Dienste der Mafia umgebracht wurde. Andreotti ging das zu weit, und er wollte das bei einem Treffen mit dem Mafia-Chef Stefano Bontate vorbringen. Dieser habe Andreotti wie folgt abgekanzelt: “Wenn ihr die DC nicht völlig auslöschen wollt, müsst Ihr machen, was wir sagen. Anderenfalls ziehen wir euch nicht nur alle Stimmen aus Sizilien ab, sondern auch die aus Reggio Calabria und ganz Süditalien.” Außerdem habe sich Bontate ungehalten darüber geäußert, dass einige Mafiosi nicht freigesprochen, sondern in laufenden Verfahren verurteilt wurden.
Der Pakt wurde fortgesetzt. Die Mafia besorgte weiter Stimmen für die Christdemokraten, wofür Andreotti gegen Mafiosi laufende Prozesse vor dem Kassationsgericht “in Ordnung” gebracht habe, was bedeutete, dass die Angeklagten freigesprochen oder die Verfahren zu Fall gebracht wurden. Der Name des “Urteilskillers” Carnevale macht Schlagzeilen in den Medien. Der für Mafiaverfahren zuständige Vorsitzende der Ersten Kammer des Obersten Gerichts habe für Andreotti Hunderte Prozesse “geregelt“. Und es gab viele Carnevales. Nicht zu vergessen: 22 hohe Juristen wurden als Mitglieder der P2 bekannt.
Nando Dalla Chiesa meldet sich zu Wort, der Sohn des Carabinieri-Generals, der als Antimafia-Präfekt in Palermo ermordet wurde. Erst jetzt wird bekannt, dass der Sohn als Linksradikaler auf der anderen Seite der Barrikade stand. Gleichwohl zollt er dem Vater Respekt, der es als verfassungstreuer Mann ablehnte, mit den P2-Putschisten gemeinsame Sache zu machen und sich gegen Andreottis Komplizenschaft mit der Mafia wandte.
Wie einst Moro, so teilt Nando Dalla Chiesa mit, sei sein Vater dafür mit dem Tode bedroht worden. Er habe den Weg des Kampfes gegen das Moro-Komplott und die Mafia fortgesetzt, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass das seinen Tod bedeuten konnte.
Gravierend ist, was der Mafia-Boss Tommasso Buscetta vor den Ermittlungsrichtern aussagt. Bereits 1979 habe es Pläne gegeben, Dalla Chiesa umzubringen. Seine Ermordung sollte als Werk der Brigate Rosse ausgegeben werden. Dazu seien im Gefängnis von Cuneo Brigadisten angesprochen worden, darunter ein an der Entführung Moros beteiligter. Die Brigadisten seien jedoch nur unter der Bedingung bereit gewesen, die Urheberschaft eines Anschlages zu übernehmen, wenn einer von ihnen auch daran teilnähme. Daran sei die Sache dann vorerst gescheitert.
“Aber schließlich fanden meine Herrschaften dann ja später das passende Mittel”, heißt es in der Aussage, die in der Anklageschrift angeführt wird.
Die Macht der Mafia aber war noch längst nicht gebrochen. Im März 1992 wird Salvo Lima, einer der Clan-Chefs, die bereit sind, mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten, in Palermo erschossen. Er war eine der Schlüsselfiguren im Verbindungsnetz zu Andreotti.
“Nach Auffassung der Anklage ist das darauf zurückzuführen, dass Lima Andreotti bezüglich der Morde an Pecorelli und Dalla Chiesa besonders belastet hätte”, kommentiert Maurizio.
Weitere Mordanschläge folgen. Mit ihnen versucht die Mafia, das Vorgehen gegen sich und ihre Komplizen im Staatsapparat zu stoppen. Am 23. Mai 1992 wird der die Anti-Mafia-Ermittlungen von Rom aus leitende Richter Giovanni Falcone mit seiner Frau und drei Leibwächtern auf der Autobahn vor Palermo durch eine gigantische Explosion getötet. Falcone hatte, wie es in einem Untersuchungsbericht heißt, “deutlich das Zusammenspiel der Mafia mit den Machtzentren des Staates bei den Mordfällen zwischen 1979 und 1982 aufgedeckt”, In Zeitungsberichten ist auch vom “Schatten Gladios über Sizilien” die Rede. Zwei Monate nach Falcone wird dessen engster Mitarbeiter, der Staatsanwalt Paolo Borsellino mit seiner Frau und fünf Leibwächtern auf fast die gleiche Weise wie sein Vorgesetzter umgebracht.
Die Ermittlungen gegen Andreotti schleppen sich noch über zwei Jahre hin, ehe der Prozess im September 1995 eröffnet wird.
Im Verfahren in Perugia wird Andreotti zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, 1999 in der Revision freigesprochen, was der Kassationshof von Rom 2003 bestätigt.
In Palermo gibt es einen Freispruch „zweiter Klasse“ wegen Mangels an Beweisen. Der Einspruch der Staatsanwaltschaft wird letztinstanzlich 2003 vom Kassationsgericht in Rom ebenfalls zurückgewiesen.
Trotzdem bedeuteten die Prozesse den politischen Bankrott Andreottis, nicht zuletzt deshalb, weil selbst bei der Aufhebung des Urteils von Palermo festgehalten werden musste, dass der Ex-Premier der Mafia lange Zeit „freundschaftlich gesonnen“ gewesen sei, was bedeutete, dass der Angeklagte nicht von jedem Verdacht freigesprochen wurde.
In dieser Zeit wartet Maurizio mit einer Nachricht auf, welche kaum glaubhaft erscheint. Aber sie stammt aus seiner bekannten immer gut informierten Quelle.
Im November 1992 empfing der polnische Papst Johannes Paul II. den bekannten CIA-Agenten Corrado Simioni zur Privataudienz. Er wurde begleitet von einem gewissen Abbé Pierre. Das ist, wie Maurizio erläutert, ein führender Mann von Pro Deo, dem vatikanischen Geheimdienst. Nachdem der Spitzenagent erfolgreich an der Liquidierung des Kommunistenfreundes Moro mitgewirkt hatte, schickte ihn der Papst persönlich, dessen ist sich Maurizio sicher, in sein Heimatland, um dort der Gewerkschaft Solidarnosce eines Lech Walesa im Kampf gegen die Kommunisten zu helfen.
Karol Wojtyla, wie der Papst mit bürgerlichen Namen einst hieß, lenkte den klerikalfaschistischen Orden Opus Dei in dieser Zeit nach Polen, wo er mit Leuten wie Simioni einen gewichtigen Beitrag zum Sturz des kommunistischen Regimes leistete. „Die finanzielle Hilfe Wojtylas für die Solidarnosce wird auf weit über 100 Millionen Dollar geschätzt“, informiert Maurizio.
Ein paar Monate später, am 14. März 1993 bestätigt der „Corriere della Séra, und danach am 28. März noch der „ Espresso“ die Privataudienz.
Inzwischen ist es auf der politischen Bühne des Landes zu einer für Westeuropa einmaligen Zäsur gekommen, die den Boden offen legt, auf dem Politiker wie Andreotti agieren konnten.
War von dem Ex-Premier oft von der Spitze eines Eisberges die Rede, so kommt nun einiges mehr an die Oberfläche. Anfang 1994 wird gegen über 6.000 Politiker der Regierungsparteien, vor allem Christdemokraten und Sozialisten, wegen Bestechung, Unterschlagung, illegaler Parteifinanzierung, Bereicherung im Amt und anderer Vergehen ermittelt. Unter den Beschuldigten befinden sich ein Drittel der 945 Senatoren und Abgeordneten, ehemalige und im Amt befindliche Minister, in den Abruzzen die ganze Landesregierung, unzählige Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte.
Das Turiner Einaudi-Institut errechnet, dass jährlich zehn Milliarden Dollar an Schmiergeldern flossen. Mit von der Partie waren die Geheimdienste, von denen im November 1993 bekannt wird, dass sie Milliarden Lire an staatlichen Geldern veruntreut haben.
Den schwersten Schlag erhält das herrschende System, als die Rolle des sozialistischen Parteichefs und Ex-Premiers Bettino Craxi bekannt wird. Beginnend im Dezember 1992 eröffnet die Staatsanwaltschaft gegen ihn insgesamt sechs Verfahren, unter anderem wegen Korruption, Hehlerei und illegaler Parteifinanzierung. Erneut kommen seine Beziehungen zur P2 zur Sprache, die ihm in der Schweiz ein Geheimkonto eingerichtet hatte, dessen Existenz er immer leugnete.
Doch nun sagt sein Parteifreund Silvano Larini aus, dass er das Konto für den Parteichef verwaltete.
Ab 1994 wird Craxi in 41 Korruptionsfällen zu insgesamt 26 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Vor der Urteilsverkündung flieht er nach Tunesien, das seine Auslieferung verweigert.
Im Korruptionssumpf gehen sowohl die Democrazia Cristiana als auch die sozialistische Partei unter.
Vor den für April 1994 angesetzten vorgezogenen Parlamentswahlen entstehen neue Parteien:
Der als P2-Mitglied unrühmlich bekannte gewordene Großunternehmer und Medienbeherrscher Silvio Berlusconi gründet eine aus Clubs bestehende Partei, die er nach dem ihm gehörenden Mailänder Fußballverein “Forza Italia” nennt. Der Medienzar führt eine antikommunistische Wahlkampagne im Stile von Hitlers Propagandaminister Goebbels, die selbst den rechten Starjournalisten Indro Montanelli veranlasst, zu warnen, er könnte “der neue Mussolini” sein, zumindest aber “der nationalistische Einpeitscher”, eine “Art lächelnder Diktator”, mit “Reden vom Balkon, wo er vom unsterblichen Italien schwadronieren würde, dass wir nach dem Sieg streben, kurz und gut, mit diesen nationalistischen Phrasen, welche die Italiener wenigstens kurzzeitig trunken machen können.”
Zu Wort melden sich die Faschisten, die ihre Sozialbewegung in “Alleanza Nazionale” umgetauft haben. Viele nennen sie “Nazi-onale Allianz“. Seit 1987 steht Gianfranco Fini, Jahrgang 1952, an der Spitze der Bewegung, der sich gern als “junger `Duce´” feiern lässt.
Alte und neue Faschisten pochen darauf, nach der Niederlage des Sozialismus in Europa zu den “Siegern der Geschichte” zu gehören. In Rom marschieren im Oktober 1992, zum 70. Jahrestag der Machtergreifung Mussolinis, Zehntausend Faschisten in Schwarz-hemden durch die Straßen, erheben die Arme zum Führergruß und grölen: ’’Duce“, ’’Duce“ und “viva il fascismo”. Fini bringt Lobeshymnen auf den Faschismus aus und sagt, es sei “notwendig es auszusprechen: nur dank Mussolini ist Italien 1922 nicht kommunistisch geworden.” Zwei Jahre später, zum 50. Jahrestag der Befreiung Roms durch alliierte Truppen am 4. Juni 1944, feiert derselbe Fini in Anwesenheit Präsident Clintons Mussolini als “den größten Staatsmann dieses Jahrhunderts”. Der Vize der Bewegung, Pino Rauti, legt nach: “Wir sollten uns daran erinnern, dass hinter uns der Marsch auf Rom liegt, der Korporativismus, der zweite Weltkrieg gegen die Plutokratien, die Reùbblica Sociale”, erklärt der Salòfaschist und bezeichnet diese Etappen als “bleibende Werte”, als ein “programmatisches Vorratslager, aus dem wir schöpfen”.
Berlusconi und Fini schließen mit einer dritten rechtsextremen Bewegung, der “Lega Nord”, ein Wahlbündnis. Von einem Dialektpoeten aus der Lombardei und ehemaligen Gelegenheitsarbeiter namens Umberto Bossi angeführt, propagiert diese rassistische Partei eine Abspaltung des reichen industrialisierten Nordens vom Nationalstaat. Berüchtigt bekannt wird sie, als ihre Anhänger in Mailand den Fußballklub von Neapel mit Spruchbändern empfangen, auf denen steht: “Was Hitler mit den Juden gemacht hat, wäre auch das richtige für Napoli”, und “Keine Tierversuche, nehmen wir Neapolitaner”.
Die Linke, besonders die neuen Sozialdemokraten der Linkspartei und die Kommunisten, bringen im Gegensatz zu den Rechten kein Wahlbündnis zustande.
So kommt es im April 1994 zu dem schockierenden Wahlsieg der von Berlusconi angeführten profaschistischen und prorassistischen Parteien, die sich “Pol der Freiheit” nennen. Sie erreichen mit fast 43 Prozent die Mehrheit. Alarmierend für die Italiener, die sich zum Antifaschismus bekennen, dass die Faschisten mit 13,4 Prozent ihre Stimmen fast verdreifachen und drittstärkste Parlamentspartei werden. Die Mitgliederzahl der Alleanza wächst auf über eine halbe Million an.
Die Faschisten stellen sechs Minister in der von Berlusconi gebildeten Regierung, darunter den stellvertretenden Premier. Weitere drei Kabinettsmitglieder sind, wie der Regierungschef selbst, als Mitglieder der P2 bekannt, die kompetente Historiker und Politologen noch immer als existent ansehen. Logenchef Gelli, der sich weiter in Freiheit tummeln kann, frohlockt unverfroren, dass jetzt Inhalte des P2-Planes “der demokratischen Wiedergeburt” verwirklicht und das Land durch Berlusconi “unter dem Banner von Verdienst und Hierarchie” geführt wird. Die Zeitung “Liberazione” der neuen KP nimmt das zum Anlass, das Kabinett des Medienzaren als “die Regierung der P2” zu charakterisieren.
Die von Montanelli erwähnte Trunkenheit der Italiener währt zunächst nur 226 Tage, dann scheitert die P2-Regierung.
Ausschlaggebend dafür sind ein Generalstreik von fünf Millionen Beschäftigten und Massendemonstrationen im ganzen Land, davon rund eine Million in der Hauptstadt. Nachdem auch eine Übergangsregierung unter Lamberto Dini, vorher bei Berlusconi Schatzminister, am Ende ist, schreibt der Staatspräsident 1996 für April vorgezogene Neuwahlen aus.
Linksdemokraten, Kommunisten und Grüne, ziehen Lehren und schließen mit den Zentrumsparteien ein Wahlbündnis, das mit 41,2 Prozent die profaschistische Rechte schlägt, die auf 37,3 Prozent zurückfällt. Beunruhigend bleiben die faschistischen Stimmen, die auf fast 17 Prozent angewachsen sind. Der Wirtschaftsprofessor Roman Prodi, ein früherer Christdemokrat, bildet eine linke Zentrumsregierung. Ihr gehören die katholische Volkspartei und die Erneuerungspartei, beide Nachfolger der untergegan-genen Democrazia Cristiana, sowie die sozialdemokratische Linkspartei und die Grünen an. Da das Kabinett in der Abgeordnetenkammer über keine Mehrheit verfügt, unterstützen die Kommunisten es parlamentarisch, ohne selbst einzutreten.
Viele Zeitungen feiern die neue Centro Sinistra als Erfüllung des Vermächtnisses Aldo Moros.
Nach einem Essen in ihrer Trattoria an der Piazza Vescovio genießen die Freunde am Prato einen Digestivo.
Maurizio hat ihnen ein paar Neuigkeiten angekündigt. Er beginnt mit dem Tod Matteis, Moros Freund.
Der geständige Mafioso Buscetta, der gegen Guilio Andreotti aussagte, erwähnte den 1962 mit seinem Flugzeug abgestürzten ENI-Präsidenten. Daraufhin hat der Untersuchungsrichter Giacomo Conte in Palermo die Ermittlungen in dem über drei Jahrzehnte zurückliegendem Fall wieder aufgenommen und ist fündig geworden. Zunächst stellte der Richter fest, dass das Dossier zum Fall Mattei damals vom SID angefordert wurde und seitdem alle wesentlichen Unterlagen verschwunden sind. Zuständiger Minister war zu dieser Zeit wieder einmal Andreotti.
Buscetta sagte aus, dass von der Standard Oil über die CIA und mit ihr liierte amerikanische Mafia-Kreise an die sizilianischen Brüder die Bitte erging, Mattei umzubringen.
Nächster Fakt: Ein Mann der Leibwache Matteis und ein Capitano, der die letzte Inspektion des Flugzeuges durchführte, waren Gladio-Angehörige.
Angelo Mattei, ein Neffe des abgestürzten ENI-Chefs, beantragte eine Exhumierung der Leiche zur Obduktion. Es fanden sich Spuren von Sprengstoff und so der Beweis, dass die Maschine nach einer Bombenexplosion abstürzte, was seinerzeit immer geleugnet wurde.
Conte bekam weiter heraus, dass die CIA-Station in Rom über Matteis Tod einen Bericht verfasste, der aus “nationalen Sicherheitsgründen” als Staatsgeheimnis behandelt und nicht heraus gegeben wird.
“For eyes only” wird für lange Zeit auch bleiben, was das eigentliche Ziel der Politik Moros gewesen sein dürfte.
Denn offensichtlich hatte Moro das Ziel seines Freundes Mattei weiterverfolgt, Italien aus der Auseinandersetzung der beiden Machtblöcke herauszulösen,
“Erinnert Ihr Euch an den Artikel Picollis im ‘Alto Adige’, der einige Zeit nach Moros Tod erschien?” fragt Maurizio. Er verweist darauf, dass Picolli von Gesprächen schrieb, die Moro in den Monaten vor seinem Tod mit Amerikanern und Russen dazu führte:
“In Polen bahnte sich eine Entwicklung an, die man unter entgegengesetzten Vorzeichen in gewisser Weise mit der in Italien vergleichen konnte. Moro schwebte ein Ausgleich dergestalt vor, gegen eine Beteiligung der kommunistischen Opposition an der Regierung in Rom, eine solche der Solidarnosc im Warschau auszuhandeln. Das ganze zunächst mit einer Lockerung der Beziehungen zur NATO bzw. zum Warschauer Pakt, etwa nach dem französischem Modell der militärischen Nichtintegration verbunden.”
Für Washington war das der letzte Anlass, mit Moros Eskapaden Schluss zu machen. Das Komplott ging in seine Endphase.
Maurizio wartet bereits mit einer weiteren explosiven Information auf.
Vor der Parlamentskommission ist gerade der Geheimdienstoberst Camillo Gugliemo befragt worden. Er befand sich zum Zeitpunkt des Überfalls auf Moro am Tatort. Dieser Gugliemo war Gladio-Offizier und Verantwortlicher für die Ausbildung der Stay-behind-Einheiten in Capo Marrargiu auf Sardinien. Sein Spezialfach war die Technik des Überfalls durch Kommandos.
“Darüber hat doch 1976 der Januzzi gesprochen, der ‘Tempo’-Chefredakteur”, erinnert sich Antonella,
“Da war zwar Gladio noch nicht bekannt, aber er sprach von einem geheimen NATO-Stützpunkt auf Sardinien.”
“Der Oberst wollte dann wohl vor Ort kontrollieren, ob das Kommando-Unternehmen auch planmäßig abläuft”, wirft Pallotta ein.
Eigentlich sind die wesentlichen Hintergründe des Mordes an Moro ans Licht der Öffentlichkeit gebracht worden bis auf den Fakt, dass bis zur Stunde nicht bekannt ist, wo der DC-Führer während der 55 Tage nach seiner Entführung versteckt gehalten wurde und wer davon wusste.
Werden diese letzten Geheimnisse eines Tages doch noch offiziell ans Licht der Öffentlichkeit kommen?
Die drei Freunde hoffen es und sie werden weiter dazu beitragen.
Inspektor Pallotta und “sein Team” werden weiter ermitteln, der Caso Moro wird nicht “zu den Akten” gelegt.
Die vorerst letzte Nachricht zum Caso Moro findet Pallotta in der “Liberazione“ vom 23. Oktober 2007:
“Die Vereinigten Staaten wussten, wo Aldo Moro gefangen gehalten wurde. Und Francesco Cossiga wusste darüber viel mehr, als er in diesen Jahren berichtete.“
Mit dieser Erklärung ist der achtzigjährige Giovanni Galloni, zur Zeit der Affäre Moro Vizesekretär der Democrazia Cristiana und Freund Moros, nach fast 30 Jahren an die Öffentlichkeit getreten.
Er bestätigt, die Infiltration der Brigate Rosse, von denen fünf, mehr oder weniger verantwortlich, die Kulisse der geheimdienstlichen Operation gebildet hätten.
Gerhard Feldbauer, Poppenhausen
Fremdsprachliche bzw. Fachausdrücke |
Abbàcchio – Lammbraten
Aktionist – Mitglied der zur Resistenza gehörenden Aktionspartei
Allied Military Government of Occupied Territory – Alliierte Militärregierung für die besetzten Gebiete
ANSA – Nachrichtenagentur, hier Fernschreibempfänger/Schreiber
Apertura a sinistra – Öffnung nach links
Bacchisches Gebiet – Weinregion
Confindustria – Industriellenverband
Compromesso stòrico – historischer Kompromiss
Cosa nostra – Unsere Sache, Mafia-Name in den USA, auch heute noch auf Sizilien gebräuchlich
Cucina- a la Casalinga – Küche nach Hausfrauenart
Democrazia Cristiana – Christliche Demokratie, Christdemokratische Partei
Duchessa – Herzogin
ENI – Ente Nationale Idrocarburi, Gesellschaft für Kohlenwasserstoffe
Fermezza – Festigkeit
Giallo-Serie – Krimi-Reihe
Guardia di Finanza – Finanzaufsicht
Intransigenza – Unnachgiebigkeit
Investigativo – forschend, ermittelnd
Lacrime del Re – Tränen des Königs
Montecitorio – Sitz der Abgeordnetenkammer
Omerta – Gesetz des Schweigens, wer nicht schweigt muss sterben, Mafia-Regel
Opus Dei – Werk Gottes
Ora – Stunde
Per lámor di Dio – Um Gottes Willen
Pentiti – Reuige, für Kronzeugen
Personaggi – Personen
Piano solo – Einziger Plan, Einzelplan
Prato – Wiese
Questura – Polizeipräsidium
Quirinal – Sitz des Präsidenten, früher Palast des Königs
Rai due – Rundfunk- und Fernsehanstalt, zweites Programm (due)
Rèplica – Erwiderung
Resistenza – Widerstand, bewaffneter Kampf gegen die Hitlerokkupation 1943-45
Riposo – Pause, Erholung
Salò-Republik – Unter der Hitlerokkupation im Herbst 1943 in Salò am Gardasee von Mussolini proklamierte Repùbblica Sociale Italiana (RSI)
Salòtto – Salòn
Sécondo – In der Speisenfolge zweiter Gang
SID, SIFAR, SISMI – Militärischer Geheimdienst
Signoril – herrschaftlich
Sóle – Sonne
Sorelle – Schwestern
Specchio – Spiegel
Stravecchia Bocchino – Grappa superiore
Tartufo néro – schwarze Trüffel
Tavolino – Tischlein, Tischchen
Ufficio – Büro, Amt
Vecchia Romana – Alter Römischer, hier Weinbrand
Volpone – schlauer Fuchs
Zuständige Dienste – Geheimdienste
Ausgewählte Quellen |
Bellu, Giovanni Mario; D’Avanzo, Giuseppe: I Giorni di Gladio (Die Tage von Gladio), Rom 1991.
Berichte der Untersuchungskommissionen des italienischen Parlaments zu folgenden Vorfällen: zum Terrorismus in Italien, zum Fall Moro, zur Geheimloge P2, zur Mafia, zur NATO-Geheimtruppe Gladio.
Biscione, Fransesco M. (Hg.): Il Memoriale di Aldo Moro rinvenuto in Via Monte nevoso a Milano (Die in der Monte nevoso-Straße in Mailand gefundenen Aufzeichnungen Aldo Moros). Rom 1993.
Braghetti, Laura: Il Prigionéro (Der Gefangene). Mailand 1998.
Carmin, E. R.: Das schwarze Reich. Geheimgesellschaften und Politik im 20. Jahrhundert. München 2000.
Cipriano, Antonio e Gianni: Sovranita limitata (Beschränkte Souveränität), Rom 1991.
Curcio, Renato: Mit offenem Blick, Berlin 1997.
Ders. mit Rostagno, Mauro: Fuori die Denti (Offen gesagt). Mailand 1980 (Neuauflage).
Dalla Chiesa, Nando: Delitto imperfetto. ll Generale, la Mafia, La Società italiana (Das unvollkommene Verbrechen. Der General, die Mafia, die italienische Gesellschaft). Mailand 1984.
De Lutiis, Giuseppe: I Servici segreti in Italia (Die Geheimdienste in Italien. Rom 1991.
Ders.: Il Colpo di Via Fani (Der Überfall in der Via Fani). Mailand 2007.
Doni, Gino: Mein Blut komme über euch. Moro oder die Staatsräson. München 1978.
Faenza, Roberto; Fini, Mario: Gli Americani in Italia (Die Amerikaner in Italien), Mailand 1976.
Faenza Roberto: Il Malafare (Die verrufenen Geschäfte), Mailand 1978.
Feldbauer, Gerhard: Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, Rote Brigaden und CIA. Köln 2000.
Ders.: Aldo Moro und das Bündnis von Christdemokraten und Kommunisten im Italien der 70er Jahre. Essen 2003.
Flamigni, Sergio: La Tela del Ragno (Das Spinnennetz), Mailand 1993.
Ders.: Trame atlantice. Storia della Loggia massonica segreta P2 (Atlantische Dramen. Die Geschichte der geheimen Freimaurereloge P2). Mailand 1996.
Ders.: Il mio Sangue ricadrà su di loro (Mein Blut komme über Euch), Mailand 1997.
Ders.: Il Covo di Stato. Via Gradoli 96 und das Verbrechen an Moro (Das Staatsversteck. Die Gradoli-Strasse 96 und das Verbrechen an Moro). Mailand1999.
Fo, Dario: Zufälliger Tod eines Anarchisten.
Franceschini, Alberto: Das Herz des Staates treffen, Wien 1990.
Franco, Massimo: Andreotti. Visto da vicino (Andreotti. Aus der Nähe gesehen). Mailand 1989.
Galli, Giorgio: Il Partito armato. Gli anni di piombe in Italia, 1968-1986 (Die bewaffnete Partei. Die bleiernen Jahre in Italien, 1968-1886) Mailand 1993.
Ders.: Staatsgeschäfte, Affären, Skandale, Verschwörungen, Hamburg 1994.
Giannettini, Guido: Techniche della Guerra rivoluzionario (Techniken des revolutionären Krieges). Rom 1965.
Igel, Regine: Andreotti, Politik zwischen Geheimdienst und Mafia, München 1997.
Irnberger, Harald: Die Terrormultis, Wien/München 1976.
Lanza, Luciano: Bomben und Geheimnisse. Geschichte des Massakers auf der Piazza Fontana. Hamburg 1998.
Moretti, Mario: Brigate Rosse, Hamburg 1996.
Moroni, Primo, Balestrino, Nanni: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien. Berlin 1994.
Mosca, Carla: Catanzaro. Processo al SID. La Strage di Piazza Fontana nelle Disposizione di Ministri, Generali e Informatori di Servici segreti. (Der Prozess gegen den SID. Das Blutbad auf der Piazza Fontana in den Plänen der Minister, Generäle und Informanten der Geheimdienste). Rom 1978.
Panerai, Paolo; De Luca, Maurizio: Il Crack. Sindona, la DC, il Vaticano e gli altri Amici (Der Bankrott. Sindona, die DC, der Vatikan und die übrigen Freunde). Mailand 1977.
Pecorelli, Francesco; Sommella, Roberto: I Veleni di “OP”.Le “notizie risersavate” di Mino Pecorelli (Die Gifte des “OP”. Die diskreten Nachrichten von Mino Pecorelli). Mailand 1995.
Raith, Werner: In höherem Auftrag. Der kalkulierte Mord an Aldo Moro. Berlin 1984.
Sanguinetti, Gianfranco: Über den Terrorismus und den Staat. Hamburg 1981.
Scascia, Leonardo: Die Affäre Moro. Frankfurt/M. 1989.
Seifert, Stefan: Lòtta armata. Bewaffneter Kampf in Italien. Die Geschichte der Roten Brigaden. Amsterdamm 1991.
Serravalle, Gherardo: Gladio. Rom 1991.
Sossi, Mario: Nella Prigione de Pòpolo (Im Volksgefängnis). Mailand 1979.
Wenzel, Gisela: Klassenkämpfe und Repression in Italien. Am beispiel Valpreda. Hamburg 1973.
Westdeutsches Solidaritätskomitee: Folter in Italien. Oberursel 1982.