Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam

Ralf Georg Reuth/Andreas Bönte:
Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam

Kapitel 2: „Die Perestroikisten demontieren Honecker“, Auszüge

… Parallel zu dem, was unter den Kirchendächern geschah, begann sich seit Gorbatschows Machtübernahme zunächst abseits jeder Öffentlichkeit eine ganz andere Opposition herauszubilden. Sie wurde getragen von den prosowjetischen, atheistischen Eliten des Apparates. Einer ihrer frühen Protagonisten im Lande war Manfred von Ardenne, der Leiter des kernphysikalischen Instituts in Dresden. … Wie Ardenne später selbst offen legte, war er am 18. Juni 1987 in seinem Dresdener Haus mit dem stellvertretenden KGB-Chef und Andropow-Zögling General Wladimir A. Krjutschkow – einem der „nächsten Mitstreiter“[1] Gorbatschows – zusammengetroffen.[2] Thema des Gespräches war die dringend erforderliche Umgestaltung in der DDR. Der Hochbetagte hatte seinem einflussreichen sowjetischen Gast unter anderem über einen Schriftwechsel mit Krenz vom Herbst 1985 berichtet. Fast drei Jahre, bevor Schürer im Politbüro mit seinem Vorstoß für eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik gescheitert war, hatte der Dresdener dem potentiellen Honecker-Nachfolger Krenz radikale Reformen vorgeschlagen, die sich auf die Effizienzerhöhung der DDR-Volkswirtschaft bezogen. Im Mittelpunkt der Reformen sollte die Abkehr vom „hochbürokratischen Zentralismus“ und der Übergang zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ stehen. …

Ob der Dresdener SED-Bezirksvorsitzende Hans Modrow damals anwesend war, erwähnte Ardenne nicht. Jedoch ist es unwahrscheinlich, dass Krjutschkow, der 1988 als erster Chef der Auslandsaufklärung zum Vorsitzenden des KGB avancieren sollte[3], sich in Dresden aufhielt, ohne mit dem Bezirksvorsitzenden zusammengetroffen zu sein. Die Partei-Etikette hätte solches verlangt. Im selben Jahr, in dem Krjutschkow in Dresden weilte, besagten Gerüchte, Modrow sei der von den Sowjets favorisierte Nachfolgekandidat Honeckers.[4] Bekräftigt wurden diese Gerüchte durch den Modrow nachgesagten „guten Draht“ zu Gorbatschow. …

Honecker erschien es später opportun, den als Außenseiter und Günstling der Vormacht geltenden Modrow als Bezirkssekretär in die sächsische Provinz zu schicken. Dort kochte er manches eigene Süppchen. So rückte er zum Beispiel 1988 in den Mittelpunkt von Spekulationen, als er in der SED-Gazette „Sächsische Zeitung“ einen wohlwollenden Bericht über das Reformexperiment in den von ihm besuchten chinesischen Sonderwirtschaftszonen mit ihren marktwirtschaftlichen Strukturen lieferte, die den Mechanismen der zentralen Planwirtschaft widersprachen.[5]

Fast zur gleichen Zeit trat ein „guter Freund“ Modrows[6] als lautstärkster Verfechter von Glasnost und Perestroika, aber auch für ein „europäisches Haus“ an die Öffentlichkeit: Markus Wolf, der einstige Chef der Hauptabteilung Aufklärung, der Spionageabteilung in Mielkes Staatssicherheitsministerium. In einem vielbeachteten Moskauer Spiegel-Interview vom 2. Januar  1989 bekannte er sich vorbehaltlos zu den Reformen. „Ich beurteile sie – wie viele Menschen in der Welt und, ich bin sicher, auch die meisten Menschen in unserem Lande, in der DDR – sehr positiv, und ich wünsche mir und ich wünsche vor allem den Menschen hier in der Sowjetunion , dass diese Veränderungen zum Guten und Erfolgreichen führen. Glasnost und Perestroika sind keine Losungen. Das sind sehr wohl auch wissenschaftliche begründete Orientierungen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die anknüpfen an die Ideen der Oktoberrevolution getragen von den Ideen des Begründers dieses Staates, von Lenin…“

Ralf Georg Reuth/Andreas Bönte:
Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam,
München und Zürich 1993

FUSSNOTEN

  1. Albaz, KGB, S. 168
  2. Tonband-Mitschnitt der Rede von Ardennes während der 11. Sitzung der DDR-Volkskammer vom 13. November 1989, TV DDR 1
  3. Albaz, KGD, S. 168
  4. Gloeckner, Eduard: Honeckers DDR – Ein „Vorposten des Sozialismus“ zwischen Gorbatschows Reformpolitik und Einigungspolitik Westeuropas, in: Beharrung und Wandel. Die DDR und die Reformen Michail Gorbatschows, hrsg. V. Konrad Löw, Berlin 1990, S. 82
  5. ebenda
  6. Markus Wolf im Spiegel-Gespräch am 20. 11. 1989