Thomas Waldeck:
Kriminelle und nichtkriminelle Energie
Dreh- und andere Türen
Man sollte sich von der Vorstellung irgendeines speziellen “Lobbyismus” lösen. Gesetze werden von Ministerialbeamten und Ausschüssen entworfen – auf Initiative von Kapitalvertretern, oder sie werden von diesen bestätigt. Natürlich muss ein Gesetz nicht Kapital-Interessen berühren. Es darf allerdings diesen Interessen nicht im Wege stehen. Die Beamten oder externen Berater haben daran das eigene Interesse, ihren Sold in Aufsichtsräten oder Vorständen nicht zu verlieren, oder die feste Aussicht, nach Ausscheiden aus der politischen Laufbahn versorgt zu werden.
Hier einige Splitter der sogenannten “Drehtür”-Ordnung (zitiert nach LobbyControl): Helmut Bauer, Bankenaufseher der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, wechselt zur Deutschen Bank, Abteilung „Aufsichtsangelegenheiten”. Ex-Bundeskanzler Schröder ist unter anderem als Rechtsberater des Vorsitzenden des RAG-Vorstands und als Mitglied im Beirat der Rothschild-Investmentbank tätig. Otto Schily, vormaliger Innenminister (nach wie vor Abgeordneter im Bundestag) wurde später Aufsichtsratsmitglied bei Byometric Systems AG, und ebenfalls bei SAFE ID solutions AG – beides Unternehmen, die biometrische Anwendungen herstellen. In seiner Zeit als Minister hatte Schily biometrische Merkmale in Ausweispapieren eingeführt. Zuweilen wird in den Medien über “Nebeneinkünfte” und notwendige “Transparenz”-Gesetze spekuliert. Das alles ist der Wirklichkeit so fern, dass die Kapitaldiener nicht daran denken müssen, ihre Verbindungen mitzuteilen. Aus den Medien wurde Schilys Beratungstätigkeit für die Siemens AG bekannt. Schily weigert sich, diese Nebentätigkeit anzuzeigen und schon gar, wie diese aussieht.
Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hatte als Arbeitsminister tief greifende Arbeitsmarkt”reformen” vorgenommen und wechselte dann in den Aufsichtsrat der Zeitarbeitsfirma “Deutsche Industrie Service Ag” (DIS AG). Außerdem ist er Aufsichtsratsmitglied beim Dienstleistungskonzern Dussmann, der Landau Media AG, bei RWE-Power und dem DuMont Verlag, sowie Vorsitzender im Beirat des Wissens- und Informationsdienstleisters Wolters Kluwer und Beiratsmitglied der US-Bank Citigroup. Nachfragen zu seinen Tätigkeiten beantwortete Clement nicht. Der ehemalige grüne Staatssekretär Matthias Berninger hatte im Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unter anderen mit der “Übergewichtsepidemie” zu tun. Seit Februar 2007 arbeitet er beim US-Nahrungsmittel- und Süßwarenkonzern Mars. Bahn-Konzernchef Mehdorn hat in den letzten Jahren mindestens ein Dutzend Ex-Politiker in sein Lobbynetzwerk integriert. Hierzu gehören der Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt, die Landesverkehrsminister Franz-Josef Kniola, Otto Wiesheu, Hartmut Meyer, Jürgen Heyer und der bayrische Finanzminister Georg von Waldenfels.
Otto Wiesheus Geschichte: Während der Verhandlungen des Koalitionsvertrags der großen Koalition war er CSU-Verhandlungsführer zum Thema Verkehr. Wie Frontal21 berichtete, soll er maßgeblich dafür verantwortlich sein, dass aus der ursprünglichen Empfehlung zur Thematik Bahnprivatisierung das Wort „ob“ gestrichen wurde, so dass in der Endversion nur noch die Frage nach dem „wie“ auftauchte. Unmittelbar nach Beendigung der Koalitionsverhandlungen trat Wiesheu als Minister zurück und wurde in den Bahnvorstand berufen.
Joseph Fischer gründete mit anderen das European Council on Foreign Relations (ECFR). Dies ist eine Denkfabrik zum Thema Europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Sie entstand auf Initiative und unter dem Dach der „Open Society Foundation“, die zum Stiftungsnetzwerk des Milliardärs und bekannten Spekulanten George Soros gehört. Inzwischen hat Fischer außerdem eine eigene Beraterfirma, die “Joschka Fischer Consulting”, gegründet. Wen er dort wozu berät, hat er auf Nachfragen nie verraten.
Rezzo Schlauch, vormals parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Fraktionsvorsitzender der Grünen, sitzt seit Oktober 2005 im Beirat des Energieriesen Energie Baden-Württemberg (EnBW). EnBW gehört zur Hälfte dem französischen Atomstromkonzern EDF und betreibt in Deutschland zwei Atomkraftwerke. – Soweit gekürzt aus der Studie von LobbyControl. Man kann sich denken, wie die Politik dieser Leute demnach wirklich aussah, aber auch wie die der jetzigen Politiker aussieht.
Weiter wird darauf verwiesen, dass der Drehtüreffekt “keine Einbahnstraße” sei (zitiert nach LobbyControl): Fliegende Wechsel gibt es auch von Unternehmen in die Politik. Es zeige sich, “wie gezielt diese Wechsel vorbereitet und für das Unternehmen nutzbar gemacht werden”. Im Mai 1999 wechselte Prof. Dr. Heribert Zitzelsberger, langjähriger Chef der Steuerabteilung des Chemie-Riesen Bayer AG, als Staatssekretär ins Finanzministerium. Der damalige Bayer-Chef Manfred Schneider verkündete daraufhin den Aktionären auf der Hauptversammlung im April 1999: „Wir haben unseren besten Steuer-Mann nach Bonn abgegeben. Ich hoffe, dass er […] die richtigen Wege einleiten wird“.
Wie die Orientierungen und Ratschläge der Institute oder Wissenschaftler aussehen, die direkt von der “Wirtschaft” unterhalten werden, ist leicht denkbar.
D a b e i haben wir es aber nicht vordergründig mit Kriminalität zu tun. Trotz Forderungen im Jahr 2006, zumindest einen “Ehrenkodex” einzuführen, gibt es dafür keine Vorlagen, auch nicht die geringsten.
Tatsächliche Kriminalität ohne Gewicht
Die solcherart zustande gekommenen Gesetze zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Eigentümer der Produktionsmittel eher begünstigen als diejenigen, die diesen ökonomischen Hebel nicht haben. Somit herrschen die Kapitalisten politisch.
Was “Beratern”, Beamten und Parlamentarien schlaflose Nächte bereitet, sind nicht Abwägungen gesellschaftlicher Widersprüche, sondern ganz konkret das Abwägen der Interessen von Konzerngruppe X und Konzerngruppe Y. (Außerdem muss erfunden werden, wie man diese am besten “darstellt”.) Im Ergebnis sieht sich Kapitalgruppe X ungünstiger behandelt und fordert Nachbesserungen. Oder Kapitalgruppe Z meldet ebenfalls Ansprüche an. Da aber Gruppe Y nicht ergrimmt werden soll und der Politiker-Kollege die Gruppe X vertritt, muss ein anderer herhalten: Das Volk – ohne Eigentum an Produktionsmitteln.
Die Gesetze des Kapitalismus wachsen auf seinem eigenen Mist. Dennoch sollte man den Kapitalismus kriminologisch hinterfragen. Warum sind seine Gesetze unbeständig und nur wenig wert? Warum werden sie tendenziell wertloser? Weil diese Gesetze nur Ausdruck der Unbeständigkeit des Systems sind. Völlig ungeeignet, “Ordnung” zu schaffen, spiegeln sie nur die stets zunehmende Unordnung des Systems wieder. Die für die herrschenden Kräfte geschaffenen Gesetze sind nicht geeignet, deren Interesse langfristig zu bedienen. Erstens ändert sich deren Bedürfnislage genau so rasch wie sich die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse überschlagen. Das ist das Bein, das sich der Kapitalismus selbst stellt; er kann nicht geplant werden, sondern fault ungleichmäßig auf der Basis unkoordinierter ökonomischer Einzelinteressen. Zweitens befinden sich die Monopole in ständiger Konkurrenz: Die Gesetzgeber sind gezwungen, das Volk immer rascher und gründlicher auszupressen. Drittens sind sowohl X wie auch Y und Z der übereinstimmenden Auffassung, das Volk sei ohnehin nicht ausgepresst genug. Sie fordern vereint einen höheren Pressdruck und werden mit jedem Geschenk maßloser. Deshalb haben Gesetze im Kapitalismus eine kurze Lebensdauer, und müssen immer rascher durch Änderungen und Ergänzungen aktualisiert werden.
In der 9. Wahlperiode des Bundestages (1980 – 1983) gab es 269 eingebrachte Gesetzesvorhaben, in der 11. Wahlperiode (1987 – 1990) schon 687 und in der 13. (1994 – 1998) bereits 1013 (Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages).
Die Gesetze waren gestern Wunschtraum, sind heute nicht mehr hilfreich und morgen hinderlich. Für all die Minister, Staatssekretäre, Ausschüsse, gibt es einen unendlich hohen Ereignisdruck. Die persönliche Maxime ist, soviel wie möglich für sich herauszuholen (was bedeutet, für die Auftraggeber) und dann den unmittelbar warmen Schoß der Kapitalisten suchen – bis die nächste Riege genau das selbe tut. Aber weder Beamte noch Parlamentarier oder Berater sind den launischen Wendungen der ungleichmäßigen Entwicklung gewachsen! Auf diese Weise sind die ebenso rasch wechselnden und wachsenden Bedürfnisse der Kapitalkräfte nicht erfüllbar und suchen nach anderen Wegen. Im Ergebnis werden die Gesetze gebrochen. Das hat kaum juristische Folgen, da justizielle und polizeiliche Orientierungen derselben Steuerung unterliegen.
Zudem entschuldigt das verbrechensfreundliche Klima nahezu alles Derartige, soweit es sichtbar wird. Sichtbar werden allerdings höchstens die getreuen Diener des Kapitals, die Politiker, während deren Immunität zugleich universell wird. Man denke an den Alt-Bundeskanzler Kohl, der der Korruption fast vollständig überführt, ohne Verfahren davon kam. Ihm wurde sogar erlassen, die eigentlichen Vorgänge offen zu legen. Denn er hatte gegenüber den Dunkelleuten Schweigen gelobt. Man denke an Max Strauß, der illegale Waffengeschäfte besorgte und freigesprochen wurde oder an die Berliner Bankenskandal -Politiker oder auch Steuerbetrüger Otto Graf Lambsdorf, der sogar nach einer (dafür akzeptierten) Verurteilung Ehrenvorsitzender der FDP war. Viele weitere Beispiele sind bekannt.
In Den Haag agiert ein außerreguläres Sondergericht einer Gruppe von NATO-Staaten unter der Bezeichnung “Internationaler Strafgerichtshof”. Dieses Sondergericht betrachtet Subjekte innerstaatlichen Rechtes, Individuen, als Völkerrechtssubjekte. Dieser Status wird ihnen aber in keiner völkerrechtlichen Konvention eingeräumt. Auch die Internationalen Militärgerichtshöfe von Nürnberg und Tokio betrachteten Verbrechen gegen Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als internationale Verbrechen. Die Völkerrechtssubjekte sind in diesem Falle die Staaten. Das Ziel, das mit dem Sondergericht in Den Haag verfolgt wird, ist, das Völkerrechtsverbrechen der NATO-Aggression gegen Jugoslawien in Weihrauch zu hüllen und die Rechtshoheit von Staaten willkürlich einzuschränken.
Das Sondergericht besteht de jure überhaupt nicht. Denn nach dem in die UN-Charta integrierten Statut des Internationalen Gerichtshofes müssen die Richter von der UN-Vollversammlung bestätigt sein.
Das auf lange Sicht angelegte Grundgesetz der BRD hat keine Generation gehalten. Bei der Entstehung des Grundgesetzes waren sich X, Y und Z einig, dass akute Gefahr der Enteignung und Vergesellschaftung ihrer Produktionsmittel und Profite bestand. Der reale Sozialismus befand sich im Aufwind. In der Bilanz des faschistischen Hitler-Imperialismus ging von antikapitalistischen Werten eine große Anziehungskraft auf das Volk aus. Das Grundgesetz sollte schlicht den Sozialismus durch weitgehende Zugeständnisse verhindern. Es wurde später in einer Vielzahl von Fällen gebrochen (wie beim Wiedervereinigungsgebot, das in seiner Präambel ersetzt wurde durch die Feststellung, “die Deutschen hätten in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet” – eine reine Fälschung, da die Westdeutschen überhaupt nicht gefragt wurden und die DDR-Bürger bei der einzigen Wahlmöglichkeit (der Wahl zur Volkskammer 1990) sich mehrheitlich gegen den Anschluss nach Artikel 23 GG ausgesprochen hatten. Aber: Die Verfassungsbeschwerde einzelner Bundestagsabgeordneter wurde vom Bundesverfassungsgericht als “offensichtlich unbegründet zurückgewiesen”. Gleich zweifach gebrochen wurde das Grundgesetz beim Verbot deutscher Angriffshandlungen und dem Gebot, deutsche Soldaten nur auf NATO-Territorium einzusetzen, wie im Falle des Jugoslawien-Bombardements und der weiteren Auslandseinsätze der Bundeswehr, die ständig ausgebaut werden.
Genauso problemlos werden die Grundrechte der Bürger durch die Geheimdienste gebrochen (bevor sie gesetzlich eingeschränkt werden). Das Grundgesetz ist aus Sicht der Bourgeoisie überlebt. Und die Justiz pariert. Beispielsweise wurden sämtliche Klagen gegen den Grundgesetzbrecher Schröder abgewiesen.
Zwischen 1949 und 2002 gab es 112 gesetzliche Änderungen in Grundgesetzartikeln. Um wieviel schneller altern die kleineren, gestern als “großer Wurf” gefeierten Gesetze über “Gesundheitsreform” oder die als einmalig dargestellte Aussetzung der Rentenanpassung! Das war ein illegitimer Raubzug bei den Rentnern, denn nach Art. 3 GG darf niemand wegen seines Alters benachteiligt werden. Dieser wurde dann legitimiert: Die am Preisindex ausgerichtete Rentenanpassung sowie die Aussetzung der Rentenanpassung zum 01. 07. 2004 wären verfassungsgemäß – so hat das Bundesverfassungsgericht befunden und die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen. Ein besonders offenkundiger Fall ist die Revision der sprachlich eindeutigen Festlegung “Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.” (Art. 12a GG) Das Bundesverfassungsgericht hat indes für zulässig erklärt, dass der Ersatzdienst fünf Monate länger als der Wehrdienst dauert.
Die Justiz fungiert als Arm der herrschenden Klasse. Sie muss aber zunehmend vor Leuten geschützt werden, die ihr Vertrauen in “Rechtsstaat” und Justiz erproben und auf ihr Recht hoffen. Darum werden die Gesetze immer weiter und auslegbarer gefasst, wie der “Kompromiss” zum Mindestlohn. Dieser Gesetzestext definiert weder einen Mindestlohn, noch sichert er einen zu definierenden Mindestlohn. Tarife (von unternehmernahen Gewerkschaften) dürfen diesen unterschreiten. Das heißt, die Kriminalität wird bereits durch die Gesetzesschöpfer im Gesetzestext vorweg genommen.
Das Klima des Verbrechens
Da dies alles nicht verborgen bleibt, übt es Vorbildwirkung auf die gesamte Gesellschaft aus. Zuerst natürlich auf die, die davon zuerst berührt werden, die Politiker. Der einzig geltende Ehrenkodex ist: Da jeder befangen ist, hat jeder zu schweigen. Öffentlich wird nichts kommentiert. Wie der Schmutz beschaffen ist, darin sie sich bewegen, wurde unter anderem deutlich, als vor einigen Monaten in Sachsen eine direkte Verbindung zwischen sächsischer Landespolitik und Justiz mit Organisierter Kriminalität und Kinderprostitution herauskam. Die Sache wurde öffentlich als “Korruptionsaffäre” herunter gekocht. (Bei sichtbaren und schwerwiegenden Defiziten im System ist nicht von “Skandalen” sondern nur von “Affären” die Rede.) Tatsache ist, dass nicht die sächsische Landespolitik allein involviert ist, sondern auch Bundespolitiker, dass die Sache seit Anfang der neunziger Jahre lief, aber auch, dass die Zeitungen bald “Konsequenzen in Korruptionsaffäre” meldeten. Welche? Der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo hat Verfassungsschutzpräsident Rainer Stock abberufen und ins Innenministerium versetzt. Keine überaus harte Strafe, sollte man denken – und so fällt nicht weiter auf, dass Stock wahrscheinlich abberufen wurde, weil die Sache ruchbar wurde: Das Material stammte aus Verfassungsschutzakten. Der VS “hatte 2003 bis 2006 gegen die Organisierte Kriminalität ermittelt” – so die Pressemeldung. Und danach nicht mehr? Diese Akten verschwanden später auf mysteriöse Weise. Der Öffentlichkeit brauchte allerdings nicht einmal ein Bauernopfer präsentiert zu werden. Die Unbekannten gehen mutmaßlich in Ruhe weiter ihren mafiösen Trieben nach.
Die allgemein wachsende Auffassung von der Beliebigkeit geltenden Rechts ist die Konsequenz aus der rechtlichen Beliebigkeit der Spitze der Gesellschaft. Gewalt zur Aneignung fremden Eigentums muss in gewisser Hinsicht als legitim gelten. Amerikanische Finanziers und Politiker konnten ein fremdes Volk (zur Eroberung von Erdölquellen) überfallen, ohne geächtet zu werden. Ebenfalls faktisch legitimiert ist der Massenmord. Legitimiert wird der Massenmörder unter anderem durch Bundeskanzlerin Merkel, die ihn als Freund einstuft. Wenn Nachbar Lehmann Nachbarn Schulze überfällt und ermordet, um an dessen Besitz zu gelangen, muss er sich unter diesen Bedingungen nur die Frage stellen, was ihn vor der (für ihn allerdings zu erwartenden) Strafe schützen kann.
Dies gilt umso mehr für andere Delikte. “Rund die Hälfte der deutschen Lebensmittelbetriebe beachten die geltenden Hygienebestimmungen nicht.” (Bericht des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, Juli 2008) So entspricht auch der Umstand, dass Schnittkäse aus dem Jahre 1980, Abfall mit Würmern, Tinte, Plastik und Metallstückchen zermahlen, verpackt, bunt etikettiert und als Scheibenkäse neu verkauft wird, der herrschenden kapitalistischen Moral. Dem Kapital war es schon immer gleich, ob das Volk Dreck frisst. Die “Lebensmittelskandale” (scheinbar ohne beteiligte Politiker) heißen nunmehr so, weil sie keine besonderen Skandale repräsentieren, sondern den Normalzustand.
Soziale Widersprüche erhöhen die Kriminalität. “Die erste, roheste und unfruchtbarste Form dieser Empörung war das Verbrechen” – so Friedrich Engels in “Die Lage der arbeitenden Klasse in England”. “Der Arbeiter lebte in Not und Elend und sah, daß andere Leute es besser hatten als er. Seinem Verstande leuchtete nicht ein, weshalb er grade, der doch mehr für die Gesellschaft tat als der reiche Faulenzer, unter diesen Umständen leiden sollte.” Der “soziale Krieg”, für das England des 19. Jahrhunderts beschrieben, ersteht als breites soziales Geplänkel auf. Dies soziale Geplänkel fällt in dem Augenblick wieder in seine Urform zurück, da die Klassenverbindung der Arbeiter geschwächt ist – sowohl delegitimiert, als auch für den unmittelbaren Lebenserhalt noch nicht zwingend nötig.
Durch das noch deutliche Beispiel des Sozialismus tritt auch zunehmend bewusstere Empörung der Arbeiter (und Arbeitslosen – die ihrer Stellung gegenüber den Produktionsmitteln nach Arbeiter sind) über die bürgerliche Moral auf. Die Kirche beispielsweise erhält öffentliche Millionenzuwendungen. Sie ist damit an der Macht beteiligt, segnet oder ignoriert den Massenmord und Massenbetrug der Spitze und kann nicht halb soviel Glaubwürdigkeit aufbauen wie notwendig wäre, um das reale Beispiel außer Kraft zu setzen.
Unter diesen Umständen verhält sich Legalität zunächst wie ein Ideal. Für ein solches Ideal fehlt aber die Orientierungskraft, weil es weder der Psychologie noch der Ideologie der herrschenden Kapitalisten entspricht. Es gilt folglich in der Trivialliteratur (inklusive der Filmindustrie) als ehrbar, erfolgreicher Verbrecher zu sein; ein gut geplanter und durchgeführter “Coup” verschafft seinem Schöpfer Anerkennung. Auch “der perfekte Mord” ist des Rühmens wert. Damit entsteht das entgegengesetzte Ideal der geschickten Umgehung geltenden Rechts. Aufgrund der Rahmenbedingungen müssen sich die unmittelbaren Vertreter geltenden Rechts, wie Staats- und Rechtsanwälte und auch Richter, darin beweisen.
Dieser Realität untergeordnet ist die Gedanken- und Gefühlswelt jedes Heranwachsenden. Schließlich bildet die kapitalistische Gesellschaft für den Einzelnen ein scheinbar eindimensionales Verdrängungsgefüge. Das Kind lernt von klein auf, es muss seinen Platz behaupten. Denn auch bei den Eltern gilt: Bei Bewerbung, Beförderung, Entlassungsdrohung – stets ist der andere der Gegner. Ein ostdeutscher Arbeiter erklärte auf die Frage, was ihm beim Vergleich seines Arbeitslebens vor 1989 und heute zuerst einfällt: “Damals waren wir ein Kollektiv. Heute ist man Einzelkämpfer.”
Dieser Kampf spiegelt sich in der allgemeinen Kriminalität wieder: In der DDR wurden für das Jahr 1987; 690 Straftaten je hunderttausend Einwohner erfasst, in der BRD über 6000. Tötungsverbrechen lagen im Vergleichszeitraum in der BRD fünfmal höher als in der DDR (obgleich die sozialistische Moral aufgrund revisionistischer Fehlorientierungen unterentwickelt blieb).
Der kriminologische Widerspruch des Kapitalismus verschärft sich ständig. Natürlich ist die Menschenverachtung des Kapitalismus – unabhängig von Einhaltung oder Bruch bestehender Gesetze – überall sichtbar. Die bürgerliche Moral-Fassade begleitet und sichert jedoch die kapitalistische Herrschaftsform. Diese wird zunehmend destabilisiert, da alle Moral in zunehmendem Tempo verwischt erscheint.
Der kriminologische Widerspruch des Kapitalismus ist teilweise auflösbar im Faschismus, zu dem der Imperialismus zwangsläufig tendiert. Die Endkonsequenz ist das brutalstmögliche Auspressen des Volkes – von dem wir derzeit noch ein Stück entfernt sind. Doch bewegen wir uns darauf zu, und das Tempo wächst. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus wichtig, wie weit Italien als Bündnispartner der BRD auf diesem Weg fortgeschritten ist. Im Juli 2008 verabschiedete der Senat in Rom ein Gesetz, das die vier höchsten Repräsentanten des Staates mit General-Immunität ausstattet. Für kein Verbrechen können sie mehr verfolgt werden.
Thomas Waldeck