Rolf Vellay:
Das Ende des “glücklichen Amerika”: Kollateralschäden des Imperialismus. Betrachtungen zum historischen Datum des 11. September 2001
Der wahrscheinlich letzte Artikel von Rolf Vellay, geschrieben Ende September 2001, also etwa zwei Monate vor seinem Tod.
Bekanntlich soll man ja mit den großen Worten vorsichtig sein – aber vielleicht werden künftige Historiker doch die Bedeutung des 11. September 2001 so einschätzen, wie J. W. Goethe den 20. September 1792, den Tag der „Kannonade von Valmy”. Damals schlugen die im Gefolge der Revolution von 1789 aufgestellten republikanischen französischen Freiwilligenheere die Truppen der monarchisch-reaktionären Mächte Preussen und Österreich, was Goethe mit seinem genialischen historischen Gespür für historische Veränderungen den zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch tun ließ: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und Ihr könnt sagen. Ihr seid dabei gewesen!”
Mit Goethe als „Schlachtenbummler” war sicher nur noch eine Handvoll Beobachter des Epochenwechsels dabei im Zeitalter der Globalisierung wurde an diesem 11. September 2001 gewissermaßen die ganze Menschheit in Echtzeit über Fernsehen und Radio Augen- und Ohrenzeuge eines Geschehens, das, wenn vielleicht keinen weltgeschichtlichen Epochenwechsel, so doch auf jeden Fall eine liefe, tiefe Zäsur in der Geschichte der USA darstellt.
„Heute hat das glückliche Amerika aufgehört zu bestehen”, wurde sicherlich zutreffend ein US-Bürger im DLF zitiert. In der Tat, auf dem Gipfel ihrer Macht als der Staat mit dem weit überlegenen, stärksten wissenschaftlichen, militärischen und ökonomischen Potential erfahren die Bürger in „Gottes eigenem Land” zum ersten Mal, was Krieg konkret auf heimischem Boden bedeutet. Das muss das gern und oft, teils naiv, teils provozierend zur Schau getragene Selbstbewusstsein der übergroßen Mehrzahl der US-Amerikaner im Kern treffen. Es ist eben ein Unterschied, ob man „chirurgische Schläge“ ohne eigene Opfer im Krieg gegen den Irak oder gegen Jugoslawien patriotisch interessiert im Fernsehsessel bei Chips und Cola verfolgt, oder ob man selbst wehrlos Kriegshandlungen ausgeliefert ist. Es ist ein Unterschied, ob man weit vom Schuss nebenbei zur Kenntnis nimmt, „aus Versehen“ sei die chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert worden, gezielt die lebenswichtige Donaubrücke in Novy Sad versenkt worden und man versucht, den Staatspräsidenten Milosevic „ferngelenkt“ zu ermorden, oder ob ein nationales Wahrzeichen wie das „World-Trade-Center“ in Trümmer sinkt, tausende Mitbürger unter sich begräbt und das Pentagon als Zentrum der militärischen Macht des Landes schutzlos teilweiser Zerstörung ausgeliefert ist. Ungewollt enthüllend und entlarvend lieferte der ARD-Korrespondent Siegried Buschschlüter quasi geradezu eine moralische Rechtfertigung des Angriffs gerade auf das Pentagon, als er am 11. September aus Washington über die hektischen Aktivitäten der Regierungsspitzen berichtete: „Natürlich wird im `Situationsroom´ des Weißen Hauses beraten, das ist der Raum, in dem normalerweise Kriege geplant werden“. Ja, so ist das wohl, und umgesetzt werden die im Weißen Haus beschlossenen Kriegspläne dann im „Pentagon“.
Das Ausmaß des Geschehens übertrifft bei weitem die Dimension dessen, was man bisher unter „Terror“ verstand. Kanzler Schröder hat recht, wenn er von einer „Kriegserklärung“ spricht. Mit dieser Aktion ist dem US-amerikanischen Imperialismus der Krieg erklärt worden an einer Front, an der er offenbar verwundbar ist. Die Opfer der zivilen Bevölkerung New Yorks bezahlen mit ihrem Leiden jetzt die Blutrechnung für die jahrzehntelangen internationalen Verbrechen des Schurkenregimes, das im Weißen Haus, im Pentagon und im CIA-Hauptquartier seine finsteren Pläne schmiedete. Unsere Oberen von Rau bis Schröder wie auch all die anderen in- und ausländischen Repräsentanten der so genannten „freien Welt“ mögen sich ihre Trauertiraden und tränenumflorten Bekundungen der Anteilnahme mit den Opfern sparen – alles reine, pure Heuchelei!
Wo war denn, um nur diese Beispiele des seitens der USA ausgeübten Staatsterrorismus zu nennen – ihre Anteilnahme, als die US-Marines 1990 Panama überfielen, die Armenviertel bombardierten, nur um den einstigen CIA-Agenten Noriega zu fangen! 3.000 – 4.000 Panamesen bezahlten diese Aktion mit ihrem Leben!
Gerade jetzt ist das Buch des US-Journalisten Christopher Hitchins erschienen, in dem der einstmalige US-Außenminister Kissinger zum Kriegsverbrecher gestempelt wird. In der Rezension der FAZ von „Die Akte Kissinger“ am 28. August 2001 heißt es: „Schließlich der Vietnam-Krieg: Hier besteht ein schwerwiegender Anfangsverdacht, dass Kissinger durch die vorsätzlich in Kauf genommene Tötung von Hunderttausenden von Zivilpersonen in Indochina – besonders durch das Bombardement der neutralen Staaten Laos und Kambodscha – zum Kriegsverbrecher geworden ist. Kissinger hat bei den – von ihm mit zu verantwortenden – Einsätzen für militärische Zwecke „Kollateralschäden“ in einer Größenordnung hingenommen, die durch kein Völkerrecht (jus in bello) gedeckt ist.“ Wo war denn da die Anteilnahme der „freien Welt“ am Schicksal dieser Menschen? Aber das war die Zeit, als der Kampf gegen den Kommunismus, gegen das „Reich des Bösen“, jede Untat rechtfertigte!
In dem genannten Buch wird auch belegt, in welchem Maße Kissinger verantwortlich war für den Sturz Allendes und die Installierung des Pinochet-Regimes in Chile, dessen Terror über 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Der mutmaßliche Kriegsverbrecher und Staatsterrorist Kissinger aber ist nach wie vor ein international hoch angesehener Mann, der sich gerade wieder in der BRD aufhielt zur Eröffnung der Ausstellung im „Liebeskind-Museum“. Wer die Verbrechen des Herrn Kissinger nicht anklagt, braucht um die Opfer in New York nicht zu trauern!
Wer hat denn hier offiziell protestiert, als die serienweisen Mordanschläge des CIA gegen ein Staatsoberhaupt wie Fidel Castro bekannt wurden? Wer hat sich denn hier empört angesichts des durch die USA praktizierten Staatsterrorismus durch Bombardierung Libyens und des Sudan? Schließlich: Dem Bombardement der in der NATO vereinigten Staatsterroristen „des Westens“ fielen in Jugoslawien 1999 etwa 1.500 Frauen und Männer aus der Zivilbevölkerung, Kinder und alte Menschen zum Opfer – kalt lächelnd und achselzuckend nannte das der berüchtigte Pressesprecher der NATO, Shea, „Kollateralschäden“! Das war es dann, von wegen „Anteilnahme“ und „Trauer“!
Wäre man eines gleichen Zynismus fähig wie Herr Shea, könnte man versucht sein, die Opfer in New York und Washington als „kollaterale Folgeschäden“ der jahrzehntelangen staatsterroristischen Politik des US-Imperialismus im Dienste des großen Kapitals der USA zu sehen. Wer auch immer die Organisatoren dieser als „logistische Meisterleistung“ (DLF, 11.9.’01) bezeichneten Aktion sind, der durchschlagende Erfolg beweist, dass die USA in ihrem Weltbeherrschungswahn auf einem verderblichen Irrweg sind. Tausende Atomwaffen und Raketen, ausreichend als Vernichtungspotential für das Auslöschen der Menschheit, eine für Friedenszeiten weit überdimensionierte Armee, Flotte und Luftwaffe mit Stützpunkten rund um den Erdball, den man durch Satelliten lückenlos bis in den letzten Winkel permanent überwachen kann, ein Netz von Geheimdiensten, das sich die USA 30 Mrd. Dollar im Jahr kosten lassen – all das schützt die USA nicht davor, mit Reaktionen auf ihre zutiefst kriminelle Politik im eigenen Land konfrontiert zu werden. Warum? Weil diese Art der Kriegführung, gestützt auf „logistische Meisterleistungen“ in der Vorbereitung der Aktion und als entscheidende Voraussetzung beruht auf der Bereitschaft der Menschen, bewusst das Opfer des eigenen Lebens darzubringen, um den Feind zu treffen. Ohne das gesamte öffentliche Leben stillzulegen, gibt es dagegen keinen Schutz.
Aber diese in höchstem Maße verzweifelte Form des Widerstandes erwächst nur da, wo Unterdrückung unerträglich wird. Die Geschichte kennt ja andere Beispiele des bewussten Opfertodes. Etwa das des Schweizer Freiheitshelden Wilkenried, der sich 1396 in der Schlacht bei Sempach in die Lanzen der Österreicher stürzte und damit den Weg frei machte für den eigenen Sieg. Unter den vielen Partisanengeschichten, die man mir bei meinen Aufenthalten in Sarajewo in den 80er Jahren berichtete, war auch diese: Ein Bosnier bekam den Auftrag, einen voll mit deutschen Soldaten besetzten LKW durch’s Gebirge zu fahren. In einer scharfen Serpentine steuerte er den LKW mit Vollgas in den Abgrund in der Gewissheit, dass keiner überleben werde – auch er nicht!
Die bedingungslose Bereitschaft zur Selbstaufgabe aber zeigt auch: So überwältigen übermächtig in der modernen Welt die Technik uns auch zu beherrschen scheint – letztlich entscheidet der Mensch, wenn er zu allem entschlossen ist! Für die USA – und ganz allgemein für die imperialistischen Staaten – gibt es angesichts dessen nur einen Schutz: Zu brechen mit der bisherigen imperialistischen Politik der rücksichtslosen Durchsetzung von Profit- und Machtinteressen mit staatsterroristischen Mitteln und Methoden, siehe Panama, siehe Chile, siehe Indochina, siehe Kuba, siehe Irak und siehe Jugoslawien. In weniger direkter Form – aber es könnte sein, dass er aus seiner Perspektive das Gleiche meint wie ich – brachte es der Chefredakteur des Deutschlandfunks, Prof. Dr. Rainer Burchardt, in einem Kommentar zu später Stunde am 11. September mit den Worten zum Ausdruck, angesichts des weltweiten Schocks über die Ereignisse „könne dieser Tag vielleicht auch eine Wende zu größerer globaler Gerechtigkeit werden.
Rolf Vellay, im September 2001