Kurt Gossweiler:
Brief an Ervin Rozsnyai, Februar 2005
Lieber Genosse Ervin,
eigentlich wollte ich Dir meine Glückwünsche zum neuen Jahr rechtzeitig, wenigstens noch im Januar abschicken, aber aus den verschiedensten Gründen kam ich nicht rechtzeitig dazu, deshalb hole ich dies mit diesem Brief nach. Wie ich vom Genossen Kornagel weiß, kannst Du Glückwünsche, vor allem wirkungsvolle, sowohl im Hinblick auf die Gesundheit wie auch für den Erfolg der politischen Arbeit, dringend gebrauchen; leider verfüge ich aber nicht über die Fähigkeit, meinen Wünschen eine besondere Wirkungskraft mitzugeben.
Ja, entgegen meinen hoffnungsvollen Erwartungen sind wir noch immer nicht am Tiefpunkt der opportunistischen Versumpfung in der kommunistischen Bewegung in Europa angekommen. Ich hatte erwartet, dass der massive Kapitalsangriff und der radikale Sozialabbau dazu führen würden, dass in den Massen in den ehemals sozialistischen Ländern immer mehr die Erkenntnis um sich greifen würde, dass die Welt, in der sie lebten, die bessere Welt war, eine Welt, in der die Politik – mehr oder minder – an ihren Interessen, an den Interessen der Werktätigen, ausgerichtet war, dass sie begreifen würden, was sie preisgegeben haben bzw. was ihnen genommen wurde.
Und in der Tat ist ein solches Bewußtsein ja „unten“ durchaus im Wachsen. Vielleicht gerade deshalb aber wächst bei den versumpften Führungen der Hass auf die sozialistische Ver-gangenheit und werden ihre Angriffe auf sie und ihre Anstrengungen, ihren Hass auch in die Massen zu tragen, immer aggressiver. Sie nutzen ganz bewußt das Dilemma aus, in der sich die marxistisch-leninstischen Kräfte befinden: Angesichts der Übermacht der Kapitalseite ist die Herstellung der Einheit auf der Gegenseite die dringendste Aufgabe, aber um zu einer wirklich kämpfenden Aktionseinheit zu kommen, müssen die opportunistischen Bremser und Ver-hinderer dieser kämpfenden Aktionseinheit beim Namen genannt werden – was diese natürlich, wo es erfolgt, als sektiererisches Spaltertum denunzieren. Wir müssen aber dennoch beides tun – uns als Vorkämpfer der einheitlichen Kampffront beweisen und zugleich klug und gut überlegt aufklären, wer diese Einheitsfront be- und verhindert, und wie, mit welchen Mittel und auf welchen Wegen.
Wie schwierig das in der Praxis ist, sehen wir in Frankreich, und in der Bundesrepublik in der DKP. Ganz untauglich ist für mich der Weg, den die „Kommunistische Plattform“ in der bereits durch und durch sozialdemokratisierten PDS geht. In dieser Partei zu bleiben, um „noch Schlimmeres zu verhüten“, ist die berüchtigte „Kleinere Übel“-Politik in Reinkultur; für mich ist unbegreiflich, wie so kluge Genossinnen, wie Sahra Wagenknecht und Ellen Brombacher nicht begreifen, dass sie von der Führung ganz bewußt als Feigenblatt, d.h. dazu benutzt werden, möglichst viele Kommunisten in der PDS festzuhalten, damit es zu keiner Bildung einer zahlenmäßig gewichtigen kommunistischen Partei in der BRD kommt.
Mit großer Anteilnahme verfolge ich den hartnäckigen und keineswegs aussichtslosen Kampf der Genossen der „Kommunistischen Initiative zur Erneuerung der KPÖ“ in Österreich. Ich nehme an, Du kennst und erhältst ab und zu die „nVs“; die neue Volksstimme.
Kürzlich erhielt ich die Diskette mit Deinem Aufsatz „War es Sozialismus oder etwas anderes?“ Danach geht es dir darum, festzustellen: Was in der Sowjetunion und in den sozialistischen Staaten Europas untergegangen ist, das war noch nicht eine sozialistische Ordnung, sondern eine Gesellschaft, die sich in einem Übergangsstadium zum Sozialismus befand; das war also nicht, wie bisher gemeint, die von Karl Marx als „Erste Phase des Kommunismus“ bezeichnete, sozialistische Stufe der Entwicklung zur klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft, sondern eine von Marx und Engels nicht vorausgesehene, zum Sozialismus als der 1. Phase nach der proletarischen Revolution erst hinüberleitenden Übergangsperiode, die sich qualitativ vom Sozialismus unterscheidet.
Du führst aus, dass es falsch wäre, die Reproduktion kapitalistischer Elemente in der Übergangsperiode mit den von Marx genannten „Muttermalen der alten Gesellschaft“ zu erklären bzw. sie als solche Muttermale anzusehen. Diese von Marx und Engels nicht vorhergesehene Übergangsperiode sei deshalb historisch notwendig geworden, weil die pro-letarische Revolution nicht, wie von ihnen erwartet, zuerst in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern, sondern im kapitalistisch unterentwickelten Rußland siegte.
Ähnlichen, in der gleichen Richtung liegenden Überlegungen bin ich schon früher begegnet. Und sie haben auf den ersten Blick auch viel für sich. Bevor ich meine Einwände dagegen vorbringe, möchte ich aber sagen, dass ich zu denen gehöre, die keinen bedeutsamen Nutzen einer Diskussion darüber, ob wir das, was wir hatten, als „Übergangsperiode zur 1. Phase“ oder als „erste Phase“ betrachten, zu erkennen vermag. Warum nicht?
1. Marx spricht davon, dass die neue Gesellschaft „in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig“ noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft.
Du hast sehr eindrucksvoll herausgearbeitet, welche Gefährdungen für die Errichtung einer sozialistischen Ordnung die ökonomische Rückständigkeit Rußlands in sich barg.
Du selbst weist aber am Schluß Deines Aufsatzes auch darauf hin, dass auch in den „Zentren“ – in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern – eine – wie Du sagst – Übergangsperiode notwendig sein würde. Damit verlieren aber die Besonderheiten der Bedingungen im rückständigen Rußland ein gut Teil ihres Gewichtes, das Du ihnen im Falle Rußlands als Verursacher des Rückfalls in den Kapitalismus beigelegt hast, denn sie – Warenproduktion, Markt, Geld, Wert – sind eben keine spezifischen Besonderheiten rückständiger Länder mehr, sondern unvermeidliche Muttermale aller Länder, die zum Sozialismus übergehen. Und welche Schwierigkeiten aus den „sittlichen und geistigen Muttermalen“ für den Aufbau der neuen Gesellschaft in den Ländern hervorgehen werden, in denen das Denken und Fühlen in den Kategorien der kapitalistischen Gesellschaft viel tiefer verwurzelt ist, weil es im Gegensatz zu Rußland seit über hundert Jahren von Generation zu Generation weitergegeben wurde, – das kann jetzt noch gar nicht ermessen werden.
Damit will ich überhaupt nichts gegen die Feststellung sagen, dass es viel schwieriger ist, eine sozialistische Ökonomie in einem kapitalistisch unterentwickelten Lande zu verwirklichen, als in einem kapitalistisch hochentwickelten. Meine Einwände richten sich nur dagegen, aus solchen Schwierigkeiten abzuleiten, nicht den ganzen Abschnitt vom Sieg der sozialistischen Revolution und der Periode der NÖP an bis zum voll entwickelten Sozialismus, also bis an die Schwelle des Überganges zur zweiten Phase, als erste, sozialistische Phase zu betrachten, sondern nur den Abschnitt von – ja, von wann eigentlich, von der Verstaatlichung der entschei-denden Unternehmungen in Industrie, Handel und Verkehr und des Beginns der Kollektivierung in der Landwirtschaft an, oder erst ab der völligen Liquidierung auch des kleinsten Einzel-handels- oder Handwerksbetriebes und der Verwandlung auch des genossenschaftlichen Eigen-tums in gesamtgesellschaftliches Eigentum?
2. Die NÖP in der Sowjetunion wurde von nicht wenigen als eine spezifisch russische, durch die Rückständigkeit des Landes notwendig gewordene Wirtschaftspolitik betrachtet. Stalin war da ganz anderer Ansicht. Ich zitiere dir sicher Wohlbekanntes aus seiner Rede auf dem Juli-Plenum von 1928: „Können die kapitalistischen Länder, zumindest die entwickeltesten von ihnen, beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne die NÖP auskommen? Ich denke, sie können das nicht. In diesem oder jenem Grade ist die Neue Ökonomische Politik mit ihren Marktbeziehungen und der Ausnutzung der Marktbeziehungen in der Periode der Diktatur des Proletariats für jedes kapitalistische Land absolut unerläßlich. Bei uns gibt es Genossen, die diese These in Abrede stellen. Was bedeutet es aber, diese These in Abrede zu stellen? Das bedeutet erstens, davon auszugehen, daß wir unmittelbar nach Machtantritt des Proletariats bereits über hundertprozentig fertige, den Austausch zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Kleinproduktion vermittelnde Verteilungs- und Versorgungsapparate verfügen würden, die es ermöglichen, sofort einen direkten Produktenaustausch ohne Markt, ohne Warenumsatz, ohne Geldwirtschaft herzustellen. Man braucht diese Frage nur zu stellen, um zu begreifen, wie absurd eine solche Annahme wäre. Das bedeutet zweitens davon auszugehen, daß die proletarische Revolution nach der Machtergreifung durch das Proletariat den Weg der Expropriation der mittleren und kleinen Bourgeoisie beschreiten und sich die ungeheuerliche Last aufbürden müsse, den künstlich geschaffenen Millionen neuer Arbeitsloser Arbeit zu beschaffen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Man braucht diese Frage nur zu stellen, um zu begreifen, wie unsinnig und töricht eine solche Politik der proletarischen Diktatur wäre. … Hieraus folgt aber, daß die NÖP in allen Ländern eine unvermeidliche Phase der sozialistischen Revolution bildet.“
Für mich ist das sehr überzeugend. Das bedeutet, dass jedes Land nach der proletarischen Revolution mit den Problemen der Warenproduktion, des Marktes, des Geldes und des Wertes zu tun haben wird, und dass alles, was sich daraus als Folgen entwickelt, auch die Reproduktion kapitalistischer Beziehungen, Folgen der Muttermale der alten Gesellschaft ist. Es besteht des-halb meiner Ansicht nach kein Grund, diese Phase der Entwicklung als eine Übergangsperiode von der ersten, der sozialistischen Phase der neuen kommunistischen Gesellschaft loszutrennen.
Ich denke, wir sind uns darin einig, dass der Untergang der Sowjetunion und ihrer europäischen verbündeten seine Ursache hat in dem Sieg des Revisionismus in der KPdSU und in einigen anderen kommunistischen Parteien. Die große Frage dabei ist: Wer sind die sozialen Träger der Verwandlung der marxistisch-leninistischen Parteien in revisionistische Parteien? Als Marxisten gehen wir – wie Du es ja in Deinem Aufsatz auch tust – davon aus, dass die Überbauerscheinungen ihre Grundlage in der ökonomischen Basis haben. Wir lehnen Erklä-rungen ab, die darauf hinauslaufen, dass „Männer die Geschichte machen.“ Für uns können also nicht ein Chruschtschow und ein Mikojan, ein Andropow und ein Gorbatschow, ein Gomulka und ein Imre Nagy bzw. Kadar die Partei von einem leninistischen auf einen revisionistischen Kurs führen ohne einen bestimmten sozialen Rückhalt. Die größte Schwierigkeit für mich besteht aber darin, die sozialen Schichten zu bestimmen, die diesen Rückhalt bildeten und deren Interessenvertreter die führenden Revisionisten waren.
Beim „alten“ Revisionismus war das ziemlich einfach: Bernstein usw. waren Sprecher der im Imperialismus aufkommenden Arbeiteraristokratie.
In Analogie dazu sagst Du, dass sich in der Übergangsperiode eine neue kapitalistische Klasse zu einer selbständigen politischen Kraft herausgebildet hat, die unter der Maskierung als Kämpfer für die Erneuerung des Sozialismus den Kampf um die Macht begann. Was Ungarn und Polen betrifft, mag das so zutreffen. Allerdings hätte ich da gerne statistische Angaben über die soziale Struktur und deren Wandel im Laufe der Jahre. Aber sowohl für die Sowjetunion – wenigstens in der Chruschtschow- und der frühen Breshnew-Ära – wie auch für die DDR sehe ich die Stützen und Parteigänger der „Liberalisierung“ und „Entdogmatisierung“ des Sozia-lismus – (ich bleibe bei diesem Terminus aus den oben angeführten Gründen) – nicht in kapitalistischen Elementen, sondern in bestimmten Teilen des Partei- und Staatsapparates (eingeschlossen Wirtschaftsleiter, Außenhändler, Diplomaten u.a.), ferner in der Intelligenz, be-sonders unter den Journalisten, bei Ökonomen, Gesellschaftswissenschaftlern und im kulturellen Bereich; wobei ich den Anteil derer, die schon vor dem 20. Parteitag zu derartigen Tendenzen neigten, für sehr gering halte; nach dem 20. Parteitag aber wuchs ihre Zahl mit der Festigung der Macht Chruschtschows progressiv an. Vor allem aber wuchs nach dem 20. Parteitag eine Generation heran, die ganz und gar im Geiste des Revisionismus und des Anti-Stalinismus erzogen war. Die soziale Basis des Revisionismus war vor dem 20. Parteitag keineswegs so stark, dass sie in Partei und Staatsapparat dominierte, weder in der Sowjetunion, noch bei uns, und – nach meiner Kenntnis – nicht einmal in Polen und Ungarn.
Wenn ich mir die Chronologie und die Geographie der Ausdehnung des Revisionismus in der kommunistischen Bewegung vor Augen führe, komme ich nicht umhin, festzustellen, dass seine Verbreitung „unten“ erst dann an Gewicht gewann, als sie von oben her betrieben und die revisionistischen Thesen zur offiziellen Parteilinie erklärt wurden, und ferner, dass dem ein Führungswechsel vorausging, der in der Sowjetunion mitunter staatsstreichartig abgesichert wurde, und der in einigen Bruderländern durch indirekte (Polen) oder direkte (Ungarn) Einwirkung von außen bewirkt bzw. erzwungen wurde. Ich erspare mir in diesem Brief eine lange Liste von Belegen, weil sie in Arbeiten zu finden sind, die ich Dir schon schickte, wie etwa in dem Protokollband der Konferenz vom 20./21. November 1999: „Auferstanden aus Ruinen“ und dem Heft 10/03 von „Offensiv“, „Die Ursprünge des modernen Revisionismus“, und natürlich in der Taubenfuß-Chronik, und beschränke mich auf einige wenige aus den Jahren 1953-56. In den genannten Aufsätzen habe ich auch ausgeführt, welchen berechtigten Wünschen und Sehnsüchten in den Völkern die Revisionisten zu entsprechen vorgaben, um sich eine breite Massenbasis zu sichern: erstens den Wunsch nach Frieden, die Furcht vor dem Atomkrieg, zweitens den Wunsch nach einer Beendigung der Zeit des Mangels, nach gesicherter Versorgung und einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards. Aber weder die Friedens-demagogie noch die Phrasen vom „nahen Erreichen der lichten Höhen des Kommunismus“ waren ausreichend, die Massen und schon gar nicht die Mitglieder der KPdSU und ihres Zentralkomitees zu einer blinden, kritiklosen Gefolgschaft zu verführen oder sie einfach zu lähmen. Dazu musste ein Mittel gesucht und ge- bzw. erfunden werden, das geeignet war, die bisher unerschütterliche Überzeugung aller Sowjetmenschen, aller Kommunisten in der ganzen Welt und darüberhinaus der ehrlichsten und klügsten fortschrittlichen Bürger zu erschüttern und ins Wanken zu bringen, – die Überzeugung, die Georgi Dimitroff im Reichstagsbrandprozess dem vor Wut schäumenden Faschistenhäuptling Göring mit den Worten entgegenrief: „Diese Sowjetunion ist das größte und beste Land der Welt!“
Dieses Mittel war die Verteufelung des Führers dieses besten Landes der Welt und seiner führenden Partei, Stalins. Sie erfolgte auf dem 20. Parteitag der KPdSU, – jetzt also nicht mehr, wie bisher gewohnt, von einem Sowjetfeind aus dem Lager des Imperialismus oder anderer Feinde der Sowjetunion, sondern von Stalins Nachfolger Chruschtschow, – dem jahrzehnte-langen Mitarbeiter und eifrigsten Mitschöpfer des „Personenkults“ um Stalin.
Die Verurteilung Stalins auf dem Forum des höchsten Organs der führenden Partei der kommu-nistischen Weltbewegung durch den Führer eben dieser Partei als „blutgierigen Massenmörder aus purem Streben nach Erhalt seiner persönlichen Macht,“ als des Mannes, der „alle alten Mitkämpfer Lenins und mehr Kommunisten als sogar Hitler“ habe liquidieren lassen – diese wohlgezielten giftigen Lügen haben mehr als alles andere, entschieden mehr auch als die Auswirkungen aus der ökonomischen Basis der sozialistischen Staaten auf ihren Überbau, zur Desorientierung, Verwirrung und Lähmung der Parteimitglieder und der Massen und damit zum Sieg des Revisionismus in der Sowjetunion und in den sozialistischen Ländern Europas und in den meisten kommunistischen Parteien der Welt beigetragen. Du kannst das auch heute noch täglich daran messen, dass selbst jene, die zeitweilig in Gorbatschow den Retter des Sozialismus sahen, inzwischen aber, weil sie Kommunisten geblieben sind, diesen Gorbatschow als Zerstörer der Sowjetunion verfluchen, dennoch den XX. Parteitag und Chruschtschow bejahen – eben weil er Stalin verurteilt hat.
Wie – leider richtig vorausschauend – die andere Seite Chruschtschows Stalin-Verdammung beurteilt hat, habe ich schon oft am Beispiel der Äußerung des US-Außenministers J. F. Dulles vorgeführt, der am 11. Juli 1956 voller Zuversicht in einer Rede sagte, „die Anti-Stalin-Kampagne und ihr Liberalisierungsprogramm“ hätten eine Kettenreaktion ausgelöst, die auf lange Sicht nicht aufzuhalten sei. – Wo der Mann leider Recht behalten hat, muß man ihm recht lassen.
Lieber Ervin, der Brief hat schon längst Überlänge erreicht, aber so kurz als möglich nun noch die oben angekündigten Beispiele, die den qualitativen Unterschied des Sieges des „alten“ Revisionismus in der Sozialdemokratie zu dem des „modernen Revisionismus“ in unserer kommunistischen Bewegung deutlich machen.
Erste Beispiele: Schon wenige Wochen nach Stalins Tod wird von der Moskauer neuen Führung unternommen, in der DDR und in Ungarn einen Führungs- und Kurswechsel durchzusetzen.
Die neue Moskauer Führung, – treibende Kraft ist zunächst Beria -, will mit der Adenauer-Regierung einen Deal auf Kosten der DDR abschließen. Dem steht aber die SED-Führung mit Walter Ulbricht an der Spitze im Wege. Beria möchte deshalb seine Leute – den damaligen Chef der DDR-Staatssicherheit Zaisser und Rudolf Herrnstatt, der während seiner Emigration in der Sowjetunion ebenfalls eng mit dem sowjetischen Sicherheitsdienst zusammengearbeitet und zu diesem noch immer gute Verbindungen hat – an die Spitze von Partei und Staat in der DDR befördern. Dazu wird die DDR-Führung nach Moskau befohlen, um dort eine Anweisung zu einer schroffen Kursänderung entgegenzunehmen. Es wurde der Führung nicht gestattet, die Einführung dieses „neuen Kurses“ mit einer eigenen Begründung der Öffentlichkeit bekannt zu geben, sondern sie wurde gezwungen, dies mit einer vom sowjetischen Hochkommissar Sem-jonow aufgezwungenen Erklärung zu verkünden, die so abgefasst war, dass sie die Partei-führung als unfähig blamierte und diskreditierte und dadurch wesentlich zum Ausbruch der Partei- und Staatskrise und dem bekannten 17. Juni 1953 beitrug. Der wurde ganz im Sinne Berias von Zaisser und Herrnstadt zu Angriffen auf Walter Ulbricht und zu dem Versuch benutzt, sich an seiner Stelle an die Spitze der Partei wählen zu lassen. Dieser von Moskau initiierte Umsturzversuch scheiterte zum einen an Walter Ulbricht und der Mehrheit der Führungsmitglieder der SED, zum anderen daran, dass im Juli 1953 der Schutzherr von Zaisser und Herrnstatt, Beria, in Moskau verhaftet und aus der Führung entfernt wurde – offenbar als Opfer im Rivalitätskampf zweier konkurrierender Führeranwärter für die revisionistisch „erneuerte“ Sowjetunion.
Über das, was in Ungarn geschah, weißt Du besser Bescheid als ich, deshalb nur dies: Im Juni 1953 versuchte die Moskauer Führung nicht nur die Führung in Berlin nach „rechts“ zu rücken, sondern auch bei euch: Auf Verlangen der neuen Führung in Moskau mußte Rakosi sich ebenfalls zu „schweren Fehlern“ bekennen, als Ministerpräsident zurücktreten und sein Amt am 2. Juli an Imre Nagy übergeben, der – ebenfalls auf Moskaus Verlangen – Ende Juni ins Polit-büro aufgenommen worden war. (SFB -„Sender Freies Berlin“- am 15.6.1983: Chruschtschow verlangte im Juni 1953 von Rakosi, Imre Nagy zum Ministerpräsidenten zu ernennen.)
Nicht anders erfolgte der Führungswechsel im Jahre 1956: Chruschtschow und Tito setzten gemeinsam die ungarische Führung mit Rakosi und danach Gerö solange unter Druck, bis sie zurücktraten und endlich dem Kandidaten Chruschtschows, Imre Nagy, den Platz an der Spitze überließen. Erst dadurch wurde der Weg frei gemacht zur Installierung eines revisionistischen Systems nach jugoslawischem Vorbild in Ungarn. In den Grundzügen ähnlich verliefen die Dinge in Polen nach dem plötzlichen Tod von Bierut. Gomulka genoss den besonderen Schutz und die besondere Sympathie Chruschtschows, ohne den er nicht an die Spitze der polnischen Partei gelangt wäre. Eine ganz wichtige Rolle für den Sieg des Revisionismus in der kommunistischen Bewegung spielte unstreitbar die „Ernennung“ Titos durch Chruschtschow zum „makellosen Kommunisten“. Wie es dazu kam – das hat nun ganz bestimmt auch nichts zu tun mit Basis-Überbau- Beziehungen. Die Vorgeschichte des Chruschtschow-Besuches in Belgrad 1955 spielt schon im Jahre 1953; zu ihr gehört auch das Verfahren gegen Beria. Zu den Vorwürfen gegen ihn gehörte auch, er habe über Rankovic (damals stellvertretender Vorsitzender des Bundesexekutivkomitees Jugoslawiens) Beziehungen zu Tito aufnehmen wollen. Du kennst das sicher, aber ich weiß nicht, ob Dir aufgefallen ist, wie unterschiedlich sich Malenkow und Molotow dazu äußerten. Zu diesem Punkt führte Malenkow folgendes aus: „In der vergangenen Woche, kurz vor dem Tag, an dem wir im Präsidium des ZK beschlossen hatten, den Fall Berija zu erörtern, (Beria wurde am 26. Juni 1953 auf der Sitzung des ZK-Präsidiums verhaftet), kam er zu mir und unterbreitete den Vorschlag, über das MWD (Ministerium für innere Angelegenheiten, von Beria geleitet), Schritte zur Normalisierung der Beziehungen zu Jugoslawien einzuleiten. Ich erklärte ihm, daß diese Frage im ZK erörtert werden müsse. Was ist das für ein Vorschlag? Unter den bei Berija aufgefundenen Materialien befand sich folgendes Dokument: ‚Ich nutze die Gelegenheit, um Ihnen, Genosse Rankovic, einen herzlichen Gruß von Genossen Berija, der sich gut an Sie erinnert, zu übermitteln. Genosse Berija beauftragte mich, Ihnen persönlich streng vertraulich mitzuteilen, daß er und seine Freunde eine gründliche Überprüfung und eine Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen zwischen beiden Staaten als erforderlich betrachten. In diesem Zusammenhang bittet Genosse Berija Sie, Genossen Tito persönlich darüber zu informieren, und falls Sie und Genosse Tito diese Auffassung teilen, so wäre es angebracht, eine vertrauliche Begegnung von besonders dafür bevollmächtigten Personen zu organisieren. Das Treffen könnte in Moskau stattfinden, doch falls Sie aus irgendeinem Grund dies nicht für annehmbar erachten, so könnte es auch in Belgrad abgehalten werden. Genosse Berija sprach die Überzeugung aus, daß außer Ihnen und Genossen Tito niemand von diesem Gespräch erfahren werde.‘
Berija konnte dieses Unternehmen nicht verwirklichen, weil wir die Ereignisse in eine andere Richtung gelenkt haben.“ (Ich habe zitiert aus: Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung. Das Plenum des ZK der KPdSU Juli 1953. Stenographischer Bericht, Berlin 1993, S. 33-35.)
Mit der von Malenkow erwähnten „anderen Richtung“ ist offenbar der im Juni/Juli 1953 erfolgte Schritt der „Normalisierung“ der Beziehungen durch den Botschafteraustausch gemeint. Mehr als das Zitierte hat Malenkow zu diesem Punkt aus der Anklageliste nicht zu sagen gehabt. Er hat nicht einmal offenbart, wer denn der Schreiber der verlesenen Zeilen war – Beria war es offenbar nicht.
Wie nahm Molotow zu der gleichen Angelegenheit Stellung? Ich zitiere aus der gleichen Quelle, S.82 f. Molotow: „Es ist bekannt, daß unser ZK kürzlich einen Beschluß gefaßt hat, der auf eine Veränderung der offiziellen Beziehungen zur Regierung Jugoslawiens abzielt.. Im Zusammenhang damit wurden die bekannten Maßnahmen eingeleitet, und es wurde beschlossen, mit Jugoslawien Botschafter auszutauschen. Das Präsidium des ZK gelangte zu der Schlußfolgerung, daß die in der letzten Zeit verfolgte Linie in den Beziehungen zu Jugoslawien auf keinen Fall weiter fortgeführt werden dürfen. Da es uns nicht gelungen war, eine bestimmte Aufgabe durch einen Frontalangriff zu lösen, mußte zu anderen Methoden gegriffen werden. Deshalb wurde beschlossen, zu Jugoslawien ebensolche Beziehungen herzustellen wie sie auch zu anderen Staaten bestehen, die dem aggressiven Nordatlantikpakt angehören – Botschafter, offizielle Telegramme, Geschäftstreffen usw. Gänzlich anders wollte Berija dieses Moment ausnutzen. Nach dem von ihm erarbeiteten Plan sollte ein entsprechender Vertreter des MWD in Jugoslawien in Belgrad einen Brief an Rankovic überreichen, in dem im Namen Berijas Ansichten dargelegt wurden, die unserer Partei und der Sowjetmacht fremd sind.“
Molotow gibt dann den Inhalt des Briefes, wie er schon von Malenkow verlesen worden war, wieder, und fügt dem hinzu: „Berija gelang es jedoch nicht, diesen Brief nach Jugoslawien abzuschicken – er wurde mit dem Briefentwurf in der Tasche als Verräter verhaftet. Ist es denn nicht offensichtlich, daß Berija sich mit Rankovic und Tito, die sich wie Feinde der Sowjetunion aufführen, verschwören wollte? Ist es denn nicht klar, daß dieser von Berija in aller Heim-lichkeit vor der Regierung verfaßte Brief noch ein weiterer Versuch ist, dem Sowjetstaat in den Rücken zu fallen und dem imperialistischen Lager einen direkten Dienst zu erweisen? Allein diese Tatsache würde ausreichen, um die Schlußfolgerung zu ziehen: Berija ist ein Agent des gegnerischen Lagers, ein Agent des Klassenfeindes.“
An dieser Stelle vermerkte das Protokoll: „Stimmen: Richtig.“ Diese Stimme kam aber bestimmt nicht von Chruschtschow; denn der hielt zwar eine sehr lange Anklagerede – aber den Anklagepunkt: Brief an Rankovic und Tito sucht man darin vergeblich. Und im abschließenden Beschluß des Plenums zu diesem Punkt heißt es in lapidarer Kürze nur: “In den allerletzten Tagen sind die verbrecherischen Pläne Berijas aufgedeckt worden, über sein Agentennetz persönlichen Kontakt zu Tito und Rankovic in Jugoslawien aufzunehmen.“ (S. 336).
Wenn schon der Brief an Rankovic ein Beweis für Agententum im Dienste des Klassenfeindes war – wie ist dann Chruschtschows Rede bei seiner Ankunft auf dem Flugplatz in Belgrad am 26. Mai 1955 zu bewerten, in der er wider besseres Wissen und ganz wider seinen Auftrag eigenmächtig Tito zu einem grundlos beschuldigten makellosen Kommunisten erklärte und die gegen ihn völlig zu recht erhobenen Vorwürfe zu bösartigen Erfindungen?
„Teurer Genosse Tito! … Wir haben eingehend die Materialien überprüft, auf denen die schweren Anschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugos-lawiens erhoben wurden. Die Tatsachen zeigen, dass diese Materialien von Volksfeinden, niederträchtigen Agenten des Imperialismus, fabriziert waren, die sich durch Betrug in unsere Reihen eingeschlichen hatten.“
Der damit gemeinte Berija aber war zwei Jahre zuvor u.a. wegen der Absicht der Kontakt-aufnahme zu Tito verhaftet und zum Tode verurteilt worden! Und der gleiche Chruschtschow, der hier bei Tito als der zu Unrecht verfolgten Unschuld Abbitte leistet, erklärte drei Jahre später auf dem VII. Parteitag der Bulgarischen Partei im Juli 1958, – was ich schon oft zitiert habe, was man aber gar nicht oft genug wiederholen kann, weil es, wie wir beide wissen, leider bislang der kommunistischen Öffentlichkeit immer noch weitgehend unbekannt ist – : „Die Revisionisten versuchen, die revolutionären Parteien von innen zu zersetzen, die Einheit zu unterminieren und Durcheinander und Verwirrung in die marxistisch-leninistische Ideologie zu tragen. Im Jahre 1948 nahm die Konferenz des Informationsbüros eine Resolution über die Lage in der KP Jugoslawiens an, die eine berechtigte Kritik an der Tätigkeit der KP Jugoslawiens in einer Reihe von Fragen enthielt. Diese Resolution war im wesentlichen richtig und entsprach den Interessen der revolutionären Bewegung.“
Warum jetzt so und 1955 anders? Weil Chruschtschow in seiner Aufstiegsphase 1953-1956 jede Gelegenheit – wie auf dem Belgrader Flugplatz – wahrnahm, die kollektiv beschlossenen Texte beiseite zu lassen und das Politbüro und die gesamte Öffentlichkeit durch einen eigenen, nicht nur nicht abgesprochenen, sondern weit über das Abgesprochene hinausgehenden, revisionis-tische Thesen postulierenden Text vor vollendet Tatsachen zu stellen und vor die Alternative, Differenzen in der Führung offenbar zu machen oder seinen Text nachträglich als vereinbart erscheinen zu lassen. Nach der Konterrevolution in Ungarn im Herbst 1956 geriet er aber für längere Zeit unter heftige Kritik und mußte fürchten, abgesetzt zu werden. Er meisterte diese kritische Situation, indem er bedenkenlos die Rolle eines scharfen Kritikers des Revisionismus übernahm.
Alle angeführten Beispiele zeigen deutlich, dass der Revisionismus kein in der kommunistischen Bewegung spontan von unten bis zur überwältigenden Stärke herangewachsenes Gewächs ist, sondern nach Stalins Tod von ein paar der neuen Führungsmitglieder von außen aufgenommen und von oben in die eigene Bewegung hineingedrückt wurde und zunächst – vor dem XX. Parteitag – bei weitem nicht die gewünschte Massenbasis fand. Dazu war die Autorität Stalins und waren seine Lehren noch viel zu sehr im Bewußtsein der Menschen lebendig. Solange gegen beides nicht ein vernichtender Schlag geführt worden war, konnten Tito und seine Freunde in der KPdSU und in anderen kommunistischen Parteien auf keinen durchschlagenden Erfolg hoffen.
Dieser mit der Methode der „Schocktherapie“ der ganzen kommunistischen Weltbewegung verpasste Keulenschlag wurde auf dem XX. Parteitag geführt. Das ging wiederum nicht ohne staatsstreichähnliche Vergewaltigung des Parteitages ab. Beschlossen war bekanntlich, die Fragen des „Personenkultes“ in einer Komission zu beraten und ihre Vorschläge zu einem späteren Zeitpunkt anzuhören und entsprechende Beschlüsse zu fassen. Wie Chruschtschow – sich über diesen Beschluss brutal hinwegsetzend – dem Parteitag nach dessen offiziellem Schluß seine „Geheimrede“ aufzwang, hat Lasar Kaganowitsch in seinen Erinnerungen beschrieben, und ich habe diese Passage in meine „Taubenfußchronik“ aufgenommen (S.18).
Aber selbst dieses in der Geschichte aller Parteien und Bewegungen beispiellose Attentat auf Hirn und Herz der Bewegung reichte noch nicht aus: es bedurfte noch der Ausschaltung der konsequentesten Kämpfer gegen den revisionistischen Kurs der Chruschtschow-Leute – Molotow, Kaganowitsch und anderer – als „Parteifeinde, und eines XXII.. Parteitages, um die personellen, ideellen und organisatorischen Voraussetzungen für einen schließlichen Sieg der revisionistischen über die gesunden, marxistisch-leninistischen Kräfte – sogar nach der Ab-setzung Chruschtschows im Oktober 1964 – zu ermöglichen.
Wobei auf keinen Fall vergessen werden darf, dass dieser Sieg nicht möglich gewesen wäre ohne das konzertierte Zusammenspiel von revisionistischen Führungen in der Sowjetunion, in Jugoslawien, Polen und Ungarn, mit ihren „Freunden“ in den imperialistischen Staaten. Wie beim alten Revisionismus in der Sozialdemokratie ist auch beim „modernen“ Revisionismus dessen stärkster Rückhalt und Kraftquell der Imperialismus.
Umgekehrt erweist sich heute mehr denn je, dass der Revisionismus in der kommunistischen Bewegung die stärkste Sicherung selbst des rabiatesten, räuberischsten Kapitalismus vor wirkungsvollem Massenwiderstand sogar in den Zeiten ist, in denen die objektiven Bedin-gungen dafür so günstig sind wie selten zuvor.
Noch nie war der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem privaten Eigentum an den Produktionsmitteln so krass und nach Überwindung durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel schreiend – und zugleich konnte die Monopolbour-geoisie noch nie so ungehindert auch die letzten öffentlichen Unternehmen privatisieren wie gerade jetzt dank der vom Revisionismus in Europa zur Quantité négligeable ruinierten kommunistischen Bewegung.
Lieber Ervin, ich bin wieder einmal viel zu ausschweifend geworden – entschuldige das bitte, aber Du siehst daran, wie anregend Deine Überlegungen für mich waren.
Ich grüße Dich und Deine Frau ganz herzlich und sende Euch die besten Wünsche für den Rest dieses noch jungen Jahres,
Dein Genosse Kurt Gossweiler,
Berlin, Ferbruar 02