Wolfgang Herrmann:
Brief aus Dreesch
Einige Genossinnen und Genossen hatten mich gebeten, meinen Diskussionsbeitrag auf der Wochenendschulung am 7. Mai 2006 in Helenenau zur Auswertung der 2. Sitzung des 17. Parteitages der DKP in Duisburg niederzuschreiben. Ich will das gern in der Form des Briefes aus Dreesch tun.
Wie gehen wir mit dem neuen Programm der DKP um?
Das neue Programm ist nun da. Viele von uns haben daran konkret mitgearbeitet. Mit unterschiedlichem Erfolg. Egal, was wir jetzt noch sagen, es ist so, wie es vorliegt und es so zustande gekommen, wie es zustande kam. Kein Wort der weiteren Kritik ändert etwas daran.
In der Programmdebatte habe ich viel gelernt. Ich habe erfahren, wie die DKP beschaffen ist, politisch, ideologisch und organisatorisch. Ihre Verfaßtheit widerspiegelt sich im Programm. Wer also ein besseres Programm will, der muß für eine bessere DKP kämpfen. Ansonsten ist seine Kritik am Programm keinen Pfifferling wert.
Ich habe auch erfahren, wer in der Debatte Linie wahrt und wer umkippt.
Die DKP hat sich während der Programmdebatte vorwärts entwickelt. In der gesamten Partei wurde in den vergangenen Jahren intensiv über programmatische Fragen diskutiert. Es wurde viel geklärt, jedoch nicht alles und nicht das Wesentliche. Es ist gelungen, Positionen festzuschreiben, an die weder im ersten Entwurf, noch in der Diskussionsgrundlage zu denken war. Hans Heinz Holz hat in seinem Artikel „Aufbau von Gegenmacht“ darüber geschrieben. Worüber er nicht schrieb, was mir aber notwendig erscheint, darüber will ich einige Worte sagen.
Der Hauptmangel des Programms ist die unzureichende Reflexion auf den Marxismus-Leninismus, vor allem aber auf die marxistisch-leninistische Dialektik.
Im November 1977 nahm ich in Moskau an einer wissenschaftlichen Konferenz der KPdSU anläßlich des 60. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution teil. Dort sprach unter anderem der legendäre Vorsitzende der KP Uruguays, Rodney Arismendi, über die Anwendung der marxistisch-leninistischen Dialektik im aktuellen Klassenkampf.
Er meinte: „Je weiter der weltweite Kampf der Arbeiterklasse voranschreitet, desto gründlicher und exakter muß der Marxismus-Leninismus als Wissenschaft gehandhabt werden:“
Das sagte er auch an die Adresse der KPdSU, die mit Ponomarjow und Suslow vertreten war.
Aus der oberflächlichen Anwendung der marxistisch-leninistischen Dialektik auf das neue Programm der DKP folgen alle anderen Unzulänglichkeiten. Eine davon ist die mangelhafte Beachtung der Dialektik des Grundwiderspruchs, des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Wie oft hören wir heute, daß es keine Arbeiterklasse und demzufolge keinen Klassenkampf mehr gäbe. Wer den Klassenkampf leugnet, leugnet den Grundwiderspruch des Kapitalismus. Kapital und Arbeit haben Subjekte, die als Klassen auftreten, als antagonistische Klassen. Und ihr Kampf ist antagonistischer Klassenkampf. Wer also das Kapital zu transnationalem Kapital umfunktioniert, der verlagert den Klassenkampf in transnationale Ebenen. Er rückt ihn damit außerhalb der Ebenen, in denen er stattfindet und wo die DKP die Arbeiterklasse organisieren und mobilisieren muß.
Eine zweite Unzulänglichkeit ist die Nichtbeachtung der marxistisch-leninistischen Dialektik von Klassenkampf und Sozialismus. Der Sozialismus ist das nächste Ziel der Arbeiterklasse im Kampf für ihre Befreiung. Wenn sie den antagonistischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aufheben will, dann muß sie für ihre Machtergreifung, für den Sozialismus kämpfen. Das unterscheidet ja gerade unsere Sozialismusvorstellungen von denen anderer. Sie sind wissenschaftlich begründet – wissenschaftlicher Sozialismus eben – und nicht utopisch, bürgerlich oder demokratisch verwässert.
Wer also in einem Programm seine Sozialismusvorstellungen dem realen Sozialismus – dem Sozialismus, der in Europa eine Niederlage erlitt – gegenüberstellt, der leugnet, daß der reale Sozialismus Sozialismus war. Damit wird verkündet, daß der eine Sozialismus beendet ist und der Kampf um den anderen Sozialismus – dem nach den Vorstellungen der DKP – neu beginnt. Das wiederum würde bedeuten, der Klassenkampf ist beendet und er beginnt neu. Auch die Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus wäre beendet und es begänne eine neue Epoche.
So ist das aber nicht. Die weltweiten Klassenauseinandersetzungen zeigen in der Praxis etwas anderes. Wer also die marxistisch-leninistische Dialektik beachtet, der kommt zu dem Schluß, daß sich Sozialismusvorstellungen einer kommunistischen Partei auch auf die Erfahrungen des realen Sozialismus gründen müssen.
Das undialektische Herangehen führt dann auch folgerichtig zu eklatanten Fehlleistungen im neuen Programm. Auf zwei will ich eingehen.
Zum einem werden dem realen Sozialismus Verbrechen angelastet. Wir verhehlen nicht, daß es Abweichungen gab.
Und dann folgt der Hammer: Diese sogenannten Verbrechen werden damit begründet, daß die erste sozialistische Revolution in einem rückständigen Land stattfand. Diese Rückständigkeit wird auf die Länder Osteuropas übertragen. Das würde im Umkehrschluß bedeuten, daß nur entwickelte kapitalistische Länder die sozialistische Revolution durchführen dürfen. Sie hätten so zu sagen das Privileg, den Sozialismus ordentlich aufzubauen. Es wäre also gesetzmäßig, daß jede sozialistische Revolution in einem rückständigen Land zu Deformationen, Fehlern und Verbrechen führte.
Wer so herangeht, der leugnet, daß Revolutionen revolutionäre Situationen vorangehen, daß die Kette zuerst an ihrem schwächsten Glied bricht, wie Lenin das begründete. Sollen die Länder Lateinamerikas erst auf die Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern warten? Sie müßten länger warten, als sie wollen.
Eine dritte Unzulänglichkeit ist das Fehlen der Analyse der Klassenkräfte. Bei aller Notwendigkeit der Bündnisse. Der DKP muß es zuallererst um die Arbeiterklasse gehen. Kommunisten gehen in Bündnisse, um andere Kräfte für ihr Ziel und ihren Weg zu gewinnen. Sie tragen ihre Positionen in die Bündnisse. Sie holen nicht die Positionen anderer in ihre Partei. Und nun setzt wieder die Dialektik ein. Je stärker die DKP in der Arbeiterklasse verankert ist, je besser sie die Arbeiterklasse organisiert und mobilisiert, desto überzeugender werden ihre Positionen in Bündnissen.
Damit sind wir bei einer vierten Unzulänglichkeit. Es geht um die Dialektik zwischen Arbeiterklasse und Partei. Der kommunistischen Partei kommt nicht die führende Rolle zu, weil sie das gerade so will. Die führende Rolle der KP hängt mit der historischen Mission der Arbeiterklasse zusammen. Die führende Rolle der Partei ist kein Anspruch, sondern Leistung.
Die führende Rolle der KP ergibt sich aus ihrer Stellung zur Arbeiterklasse. Sie führt, weil die Arbeiterklasse die Klasse ist, die als soziale Kraft auf der einen Seite des Grundwiderspruchs des Kapitalismus – der Arbeit – auftritt. Sie führt, weil nur die Arbeiterklasse in der Lage ist, diesen Grundwiderspruch aufzulösen. Dazu muß sie die Macht der Kapitalistenklasse stürzen und ihre eigene errichten. Die Partei ist also für ihre Klasse da, nicht umgekehrt.
Was müssen wir nun tun?
Erstens können wir das Programm handhaben. Seine Schwächen müssen uns nicht hindern, politisch-ideologische Arbeit zu leisten.
Zweitens müssen wir gute politische Arbeit leisten und die Grundorganisationen stärken. Wenn wir das Programm ändern wollen, dann müssen wir die Partei ändern.
Drittens muß sich unser Landesverband weiter formieren. Vor allem muß an der Verbesserung des theoretischen Niveaus gearbeitet werden. Nach der Programmdebatte sollten wir unseren Beitrag zum Beheben der genannten Schwächen des Programms leisten, vor allem beim Aufdecken der Ursachen für die Niederlage des Sozialismus in Europa.
Wolfgang Herrmann,
Grünow