Gespräch mit Kurt Gossweiler
(Dieses Gespräch wurde am 25. Februar 2005 in Berlin-Grünau von den türkischen Genossinnen und Genossen der Zeitung „Özgürlük Dünyasi“ geführt und aufgezeichnet. Sie brachten die türkische Übersetzung in der Nr. 161 ihrer Zeitung. Wir freuen uns, das Gespräch nachdrucken zu dürfen. In dieser Ausgabe erscheint der erste Teil, die Fortsetzung folgt in der Ausgabe Januar-Februar 2006.) Redaktion Offensiv
Özgürlük Dünyasi (in der Folge: ÖD): Fangen wir doch mit einer allgemeinen Feststellung an. Das letzte Jahrhundert war ein Jahrhundert der großen Siege der Arbeiterklasse. Das letzte Jahrhundert war aber auch das Jahrhundert der größten Niederlage der Arbeiterklasse; der Sozialismus ist zusammengebrochen; die Weltreaktion hat die Oberhand gewonnen; alle historischen Errungenschaften der Arbeiterklasse wurden und werden weiterhin eine nach der anderen liquidiert. Wie Sie auch in Ihrem Buch („Die Taubenfuß-Chronik“) schreiben, sind wir nun durch diese Niederlage mit einer „Menschheitskatastrophe“ konfrontiert. Bevor wir auf die Hintergründe zu sprechen kommen, würde ich Doch gern zuerst von Ihnen als einem Mensch, der seit seinem 14. Lebensjahr für den Sozialismus kämpft, erfahren, wieso Sie immer noch daran festhalten, dass der Sozialismus keine Utopie ist? Woher schöpfen Sie Ihre Zuversicht bezüglich einer sozialistischen Zukunft?
Kurt Gossweiler: Es ist ja nicht so, dass ich als Kommunist zum erstenmal eine schwere Niederlage erlebe. Zum ersten Mal musste ich 1933, mit dem Machtantritt der Nazis in Deutschland, mit einer lange nicht für möglich gehaltenen Niederlage fertig werden. Damals war ich gerade 15 Jahre alt, also von Festhalten an meiner kommunistischen Überzeugung aus „Altersstarrsinn“ konnte damals keine Rede sein. Aber für uns Jungkommunisten kam eine Kapitulation vor dem Faschismus ebenso wenig in Frage, wie ich heute, 70 Jahre älter als damals, mich denen anschließen könnte, die aus dem zeitweiligen Sieg der Konterrevolution die Schlußfolgerung ziehen, wir hätten für die falsche Sache gekämpft. Was uns damals weiter-kämpfen ließ, hatte den gleichen Grund wie heute. Wir hatten im Jugendverband – vor 1933 und nachher, in der Illegalität -, gründlich Marx, Engels und Lenin studiert- wie das Kommunistischen Manifest, Engels‘ Ursprung der Familie und des Privateigentums“, Lenins Imperialismusanalyse, „Staat und Revolution“ und „Der Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“, und wir hatten das begeisternde Vorbild der Sowjetunion vor uns. Wenn man begriffen hat, dass der Marxismus-Leninismus wirklich eine Wissenschaft ist, die die Geschichte nicht als eine Anhäufung von Zufälligkeiten betrachtet, sondern als einen Prozess, dem Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung zugrunde liegen, und wenn man um die Widersprüche weiß, die den Kapitalismus in immer tiefere Krisen und schließlich seinem Ende entgegentreiben, dann können einen auch Rückschläge nicht umwerfen. 1916 schrieb Lenin in seiner Arbeit über die Junius-Broschüre – und das immer im Kopfe zu haben, ist gerade für Revolutionäre ganz wichtig -: „Zu glauben, die Weltgeschichte ginge glatt und gleichmäßig vorwärts, ohne manchmal Riesensprünge rückwärts zu machen, ist undialektisch, unwissenschaftlich, theoretisch unrichtig.”“ (Lenin, Werke, Bd. 21,Berlin 1960, S. 315). Aber solch ein Riesensprung rückwärts, wie wir ihn 1989/90 erlebten, führt letzten Endes dazu, – wie wir es gerade jetzt sehen – daß sich die Widersprüche gewaltig verstärken und der Kapitalismus seine Menschenfeindlichkeit noch brutaler offenbart, bis es schließlich keinen anderen Ausweg, keine Überlebenschance für die große Mehrheit der Gesellschaft gibt, als mit diesem kapitalistischen System Schluß zu machen.
ÖD: Gibt es im heutigen Alltag Ereignisse, die Sie zuversichtlich stimmen?
Kurt Gossweiler: Ja, durchaus. Die Schröder-Regierung vertritt doch so offensichtlich die Interessen der „Reichen“, des Großkapitals, dass selbst in Schröders eigener Partei, der SPD, nicht nur die Unzufriedenheit und der Widerspruch wachsen, sondern Teile der Mitgliedschaft schon die Partei verlassen, um eine eigene Partei links von der SPD zu gründen. Sicherlich, von einer revolutionären Stimmung ist das alles noch weit entfernt, aber die Meinung: „So kann es nicht weitergehen!“ ist schon eine Mehrheitsmeinung. Und in Ostdeutschland antwortet bereits eine Mehrheit der Menschen in Umfragen, welche Ordnung sozial gerechter sei- die jetzige in der BRD oder die vergangene der DDR ohne Zögern: Die der DDR. Das ist ein deutlicher Fortschritt im Denken der Menschen. Allerdings ein Fortschritt, der viel zu langsam ist. Ich würde sehr gerne zu meinen Lebzeiten noch eine neue revolutionäre Situation erleben, aber bei meinem Alter kann ich realistischerweise nur darauf hoffen, noch zu erleben, wie die Ent-wicklung in diese Richtung beginnt und sich verstärkt. Das aber werde ich sicher noch. Wir Kommunisten sind unserer Natur nach Optimisten.
ÖD: Nun, Tatsache bleibt aber, dass der Sozialismus eine große Niederlage erlitten hat. Wie kam es dazu? Gab es dafür objektive Gründe, die eine Niederlage unausweichlich machten? Oder haben da unfähige Führer am falschen Ort und zur falschen Zeit unglückliche Entscheidungen getroffen? Oder spielten da objektive und subjektive Gründe zusammen eine Rolle?
Kurt Gossweiler: Diese Fragen sind mit einem Wort nicht zu beantworten und die Niederlage ist nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Aber eins ist sicher: sie war keineswegs unausweichlich.
Viele Leute meinen, die Niederlage sei wegen der ökonomischen Rückständigkeit der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder unvermeidlich gewesen. Aber die Sowjet-union ging nicht zu dem Zeitpunkt unter, da sie ökonomisch gegenüber dem Kapitalismus am rückständigsten war, sondern zu einem Zeitpunkt, da sie zur ökonomisch zweitstärksten Macht in der Welt herangewachsen war. Diese Ursachenerklärung geht deshalb fehl.
Stalin hat nach dem Sieg über den Faschismus zu recht gesagt: Die sowjetische Gesellschafts-ordnung hat sich als lebensfähiger und stabiler erwiesen, als die nichtsowjetische Gesellschaftsordnung, als eine bessere Organisationsform der Gesellschaft als jegliche andere. Diese Tatsache lag nach dem Sieg über das faschistische Deutschland so offenkundig jedermann vor Augen, dass, wer damals eine These von der Unvermeidlichkeit des Unterganges der Sowjetunion vertreten hätte, sich der Lächerlichkeit preisgegeben hätte. Hatte doch die Sowjetunion eine Härteprüfung triumphal bestanden, wie sie kein anderer Staat in der Geschichte jemals zu bestehen hatte.
Aber wenige Jahre später erlebte das Sowjetland und das Sowjetvolk einen Bruch in seiner Entwicklung, nämlich statt weiterem Aufstieg einen Umbruch der Kurve zum Abstieg, zum Niedergang. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass nach dem Tode von Stalin etwas passiert sein muss, das die Ursachen und die Triebkräfte des bisherigen Wachstums beschädigt wenn nicht gar beseitigt hat.
Bei genauer Betrachtung der Politik der neuen Führung ist nicht zu übersehen, was da passiert ist: Der neue Generalsekretär der Partei, Chruschtschow, setzte durch, dass von der bisherigen wissenschaftlich begründeten leninistischen Generallinie der Partei abgewichen wurde. Das war zwar zunächst kaum zu erkennen, und ich selbst habe lange, bis zu den Ungarn-Ereignissen im Herbst 1956, gebraucht, um mir darüber klar zu werden. Den schweren Weg zu dieser Erkenntnis habe ich im ersten Teil meines politischen Tagebuchs, das unter dem Titel „Die Taubenfußchronik oder die Chruschtschowiade“ veröffentlicht ist, geschildert. Der Kernsatz dieser Erkenntnis, niedergeschrieben am 19. Januar 1957, lautete: „Kein Zweifel: an der Spitze der Partei Lenins und Stalins steht zur Zeit ein Feind, ein Vertrauensmann der imperialistischen Geheimdienste, allen voran des us-amerikanischen, ein Komplize des seit langem zum Agenten des Secret Service und des CIA gewordenen Tito.“ (S.209 der Taubenfußchronik)
Wie konnte das passieren? Chruschtschow und sein engster Komplize Mikojan waren doch keine neuen, unbekannten Leute, sie gehörten doch seit Jahren dem Zentralkomitee und dem Stalinschen Politbüro an?
Eines muß man Chruschtschow offensichtlich zugestehen – er hatte es geschafft, das Vertrauen Stalins zu erringen. Sonst wäre er nicht in die höchste Position in der Ukraine und in Moskau gekommen. Wie aber konnte ein Mann, der nach Stalins Tod eine solch üble Rolle spielte, überhaupt zu solchen Positionen aufsteigen?
Gewiß, er war bauernschlau und verschlagen, aber das reichte nicht für einen Aufstieg in solche Positionen. Er hat eine solide marxistisch-leninistische Schulung erfahren, kannte den Parteiapparat von Grund auf, und er verfügte offensichtlich auch über die Fähigkeit, ihm übertragene Aufgaben erfolgreich zu erfüllen.
Wann wurde er zum Gegner Stalins, wann begann seine Feindarbeit? Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, aus Mangel an dokumentarischen Unterlagen. Die wahrscheinlichste Erklärung ist für mich, dass Chruschtschow – wie auch Mikojan – schon seit längerem zu einer oder auch mehreren der parteifeindlichen Gruppierungen gehört hatten, aber – wie auch Mikojan – bewußt in Reserve gehalten wurden, damit bei einem Fehlschlag sie als „Unbelastete“ weiterhin im „Apparat“ verbleiben und die „Arbeit“ weiterführen konnten, um in einer günstigen Situation die Macht zu übernehmen. Auf diese Weise haben sie als “„Schläfer“ die Moskauer Prozesse nicht nur überlebt, sondern konnten ihre Positionen halten und ausbauen.
ÖD: Chruschtschow und seine Clique mussten nicht unbedingt Agenten sein, damit sie das machen konnten, was sie auch gemacht haben. Meinen Sie nicht, dass Deine These, Chruschtschow sei ein ferngelenkter Langzeitagent des Imperialismus, eine zu kurz gegriffene Feststellung ist? Enver Hoxha macht z.B. in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass zu Lebzeiten Stalins schon eine schädliche Denkweise innerhalb der Kader der Partei – selbst bei alten Kadern mit guter Vergangenheit und proletarischer Herkunft – Fuß fasste, selbst bei den Mitgliedern des Präsidiums des Zentralkomitees, die sich bewährt haben. Hoxha spricht auch davon, dass sich in diesem Prozess in der „KPdSU eine Arbeiteraristokratie aus bürgerlichen Kadern herausbildete“.
Kurt Gossweiler: Mir reicht das nicht aus, um Chruschtschows und Mikojans Handlungen zu erklären Was Hoxha ausführt, mag für andere zutreffen, aber nicht für diese beiden, denn die haben eine zielstrebige Schädlingsarbeit geleistet.
ÖD: Auf die beiden macht ja auch Enver Hoxha aufmerksam.
Kurt Gossweiler: Ja, dass diese beiden mit besonderer Feindseligkeit gegen Stalin auftraten, das zeigte sich schon auf dem XX.Parteitag.
Im übrigen: es ist auffällig, wie hoffnungsfroh man auf imperialistischer Seite auf die neue Führung nach Stalins Tod (5. März 1953) reagierte. Ich zitiere als zwei Beispiele Eisenhower und Churchill. Schon am 16. April 1953 führte der neue USA-Präsident Eisenhower aus: „Die Welt weiß, daß mit dem Tode Stalins eine Epoche zu Ende ging. … Jetzt ist eine neue Führergeneration in der Sowjetunion an die Macht gekommen. Die sie mit der Vergangenheit verknüpfenden Bande mögen auch noch so stark sein, sie bedeuten keine feste Bindung für sie. … Die Gestaltung der Zukunft hängt weitgehend von ihrem Willen ab … Die neuen sowjetischen Führer haben somit eine einmalige Gelegenheit, sich … darüber klar zu werden, welchen Grad der allgemeinen Gefährdung wir erreicht haben, und daß sie das ihre tun müssen, den Lauf der Geschichte zu wenden.“
Keinen Monat später, am 11. Mai 1953 wurde Premierminister Churchill im Unterhaus noch deutlicher; er führte aus: „Das wichtigste Ereignis ist natürlich die Änderung der Haltung und, wie wir alle hoffen, des Geistes, die im Sowjetbereich und insbesondere im Kreml seit dem Tode Stalins stattgefunden hat. … Es ist die Politik der (britischen) Regierung, es durch jedes Mittel in ihrer Macht zu vermeiden, etwas zu tun oder zu sagen, das irgendeine günstige Reaktion hemmen könnte, die sich ergeben könnte, sowie jedes Zeichen einer Verbesserung in unseren Beziehungen zu Rußland zu begrüßen.“[16]
Diese beiden Äußerungen machen deutlich, daß man in Washington wie in London zumindest Signale – wenn nicht mehr, z. B. über ihren V-Mann Tito -, – erhalten hatte, dass in Moskau nicht nur ein Personenwechsel stattgefunden hatte, sondern daß damit verbunden auch auf einen Kurswechsel gehofft werden konnte. Und sie hatten dazu allen Grund, was sich schon in der ersten Hälfte des Jahres 1953 zeigte, als nämlich die neue Führung, d.h. vor allem Chruschtschow, sogleich eine Vorstoß unternahmen, um die erprobten Parteiführer Ulbricht in der DDR und Rakosi in Ungarn zu stürzen und an ihre Stelle ihre Vertrauensleute zu setzen – Herrnstadt und Zaisser in der DDR, Imre Nagy in Ungarn. (Näheres dazu habe ich in der „Taubenfußchronik ausgeführt).
ÖD: Aber was die Informationen zum Zustand des Landes betrifft, da kann man ja auch auf dem von Malenkow vorgetragenen Bericht des 19. Parteitages, auf die verschiedenen Artikel Stalins aufmerksam machen; also, dass in der Sowjetunion einiges nicht gut lief, dass der Schaden des Krieges – wirtschaftlich, aber auch von Parteikadern her – zu groß war, dass in der Gesellschaft sich allmählich eine Tendenz zur Erschöpfung zu bilden begann. Das alles war ja auch den Imperialisten nicht unbekannt. Zumal: Reflexe dieser Art nach großen Kriegen waren ja auch nichts Unerwartetes. Erinnern wir uns doch nur an die so genannten „wilden 20er Jahre“ in den westeuropäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg. In dieser Hinsicht war es mehr als normal, dass auch die sowjetische Gesellschaft ähnliche Reflexe zeigte, vor allen Dingen jenes Volk, das seit der Oktoberrevolution von der Weltreaktion nicht in Ruhe gelassen und immer wieder unter Druck gesetzt wurde. Das alles wussten die Imperialisten, aber auch Stalin und die sowjetische Parteiführung. Und jeder zog für sich die notwendigen Schlussfolgerungen aus dieser einmaligen und besonderen Situation. Der Imperialismus sah die Lösung in der Organisierung des Kalten Krieges; Stalin und die Partei in der Erneuerung der ideologisch-politischen und moralischen Plattform usw. Ist es unter diesen Verhältnissen nicht möglich, dass nach dem Tod einer so großen Persönlichkeit wie Stalin die übrig gebliebene Führung nicht die Weitsicht besaß, aber auch nicht den Mut aufbrachte, den weiter notwendigen Kampf fortzuführen, sondern statt dessen den vorhandenen und auch sie umgebenden Tendenzen nachgaben und den Weg der Konzessionen dem Weg des Kampfes vorzogen, weil es einfacher war und auch von den Imperialisten besonders gefördert wurde?
Kurt Gossweiler: Sie schneiden damit mehrere Fragen an: erstens – wie war die innere Situation und die Stimmung der Massen im Lande nach den erschöpfenden Kriegsjahren?
Zweitens, wie reagierte die Stalinsche Führung darauf?
Und drittens: Ist der Kurs der Chruschtschow-Führung nicht einfach dadurch zu erklären, dass es ihr an Weitsicht und Mut fehlte und sie deshalb „den sie umgebenden Tendenzen nachgab“?
Über die Stimmung in den Massen spreche ich noch. Aber zuerst möchte ich doch mit allem Nachdruck der Ansicht widersprechen, dass Chruschtschows Handeln aus fehlender Weitsicht und fehlendem Mut, der allgemeinen Stimmung zu widerstehen, zu erklären sei.
Ich muß mich immer wieder erneut darüber wundern, wenn mir gesagt wird: Ja, daß Gorbatschow ein Agent des Imperialismus war und ist, – damit hast Du ja recht. Aber bei Chruschtschow – da verhält es sich doch anders, bei dem handelt es sich nur um Fehler aus Dummheit oder opportunistische Anpassung an die Massenstimmung.
Um die Unhaltbarkeit dieser Chruschtschow-Exkulpation im Rahmen dieses Interviews nachzuweisen, führe ich nur einen einzigen Punkt an: Chruschtschows Verhalten und Verhältnis zu Tito. Dass der ein Agent des Imperialismus war, darüber dürfte es doch wohl keine Meinungsverschiedenheiten geben. Also:
Erstens: Wie bekannt, fand in der zweiten Junihälfte 1948 eine Beratung des Informationsbüros der Kommunistischen Parteien statt zur Erörterung der Lage in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Im Ergebnis dieser Beratung nahmen die teilnehmenden Parteien – die KPdSU war durch Shdanow, Malenkow und Suslow vertreten – eine Resolution an, deren Grundgedanken natürlich vorher schon in Moskau vom gesamten Politbüro der KPdSU, also auch von Chruschtschow, beraten und gebilligt worden waren
In dieser Resolution wird gesagt: „Das Informbüro kommt einmütig zu der Schlußfolgerung, daß die Führer der KPJ durch ihre parteifeindlichen und antisowjetischen Ansichten, die mit Marxismus-Leninismus unvereinbar sind, durch ihr ganzes Verhalten und durch die Weigerung, auf der Sitzung des Informbüros zu erscheinen, sich den dem Informbüro angehörenden kommunistischen Parteien entgegengestellt und den Weg der Abspaltung von der sozialistischen Einheitsfront gegen den Imperialismus, den Weg des Verrats an der internationalen Solidarität der Werktätigen und des Übergangs zu den Positionen des Nationalismus eingeschlagen haben… Das Informbüro stellt fest, daß das ZK der KPJ sich und die jugoslawische Kommunistische Partei dadurch außerhalb der Familie der brüderlichen kommunistischen Parteien, außerhalb der kommunistischen Einheitsfront und folglich auch außerhalb der Reihen des Informbüros stellt.“
Unterschrieben wurde diese Resolution von allen Vertretern der Mitgliederparteien des Informbüros, also der bulgarischen, rumänischen, ungarischen, polnischen, sowjetischen, französischen, tschechoslowakischen und italienischen Partei. Das war eine sehr wichtige Information für die gesamte kommunistische Bewegung, gewissermaßen eine notwendige Schutzimpfung gegen einen gefährlichen Virus.
Zweitens: Was aber tat Chruschtschow? Er hob die heilsame Wirkung dieser Schutzimpfung auf mit einer durch und durch verlogenen Erklärung. Im Mai 1955 reiste eine sowjetische Delegation unter Chruschtschows Führung nach Belgrad mit dem Auftrag, zwischen beiden Ländern wieder normale Beziehungen wiederherzustellen. Chruschtschow benutzte aber diese Gelegenheit, um schon gleich bei der Ankunft auf dem Flugplatz selbstherrlich eine Erklärung abzugeben, die vorher nicht abgesprochen war und die, wie sich später zeigte, niemals gebilligt worden wäre. Er sagte nämlich unter anderem – was Sie ja ganz gewiß auch kennen:
„Teurer Genosse Tito! … Wir bedauern aufrichtig, was geschehen ist und fegen entschlossen alles beiseite, was sich in dieser Periode abgelagert hat. Unsererseits rechnen wir zu diesen Ablagerungen ohne Zweifel die provokatorische Rolle, die die nunmehr entlarvten Volksfeinde Berija , Abakumow und andere in den Beziehungen zwischen Jugoslawien und der UdSSR gespielt haben. Wir haben eingehend die Materialien überprüft , auf denen die schweren Anschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugoslawiens erhoben wurden. Die Tatsachen zeigen, daß diese Materialien von Volksfeinden, niederträchtigen Agenten des Imperialismus, fabriziert waren, die sich durch Betrug in die Reihen unserer Partei eingeschlichen hatten.“
Drittens: Während der Konterrevolution in Ungarn im Oktober 1956 war Titos Rolle als Inspirator der konterrevolutionären Kräfte offen zutage getreten. Dadurch war natürlich auch Chruschtschows Stellung – gerade wegen seiner Totalrehabilitierung Titos – höchst gefährdet. Was macht ein Agent in einer solchen Situation? Nun eben das, was Chruschtschow jetzt machte: Er wechselte flugs von der Position des Verteidigers Titos auf die des Kämpfers gegen den Tito-Revisionismus.
Er widersprach nicht, sondern unterschrieb die Erklärung der Moskauer Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien von 1957, in der es u.a. hieß: „Der moderne Revisionismus ist bemüht, die große Lehre des Marxismus-Leninismus in Verruf zu bringen, er erklärt sie für ‚veraltet‘, behauptet, sie habe heute ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung verloren. Die Revisionisten sind bestrebt, die revolutionäre Seele des Marxismus auszumerzen und den Glauben der Arbeiterklasse und des schaffenden Volkes an den Sozialismus zu erschüttern. Sie wenden sich gegen die historische Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, sie leugnen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei, sie lehnen die Prinzipien des proletarischen Internationalismus ab, sie fordern den Verzicht auf die grundlegenden Leninschen Prinzipien des Parteiaufbaus und vor allem auf den demokratischen Zentralismus, sie fordern, dass die kommunistischen Partei aus einer revolutionären Kampforganisation in eine Art Diskutierklub verwandelt wird.“
Auf dem VII. Parteitag der Bulgarischen Kommunistischen Partei im Juni 1958 trat Chruschtschow sogar mit einer Rede auf, in der er unter anderem auch das Folgende ausführte:
„Der zeitgenössische Revisionismus ist eine Art trojanisches Pferd. Die Revisionisten versuchen, die revolutionären Parteien von innen zu zersetzen, die Einheit zu unterminieren und Verwirrung und Durcheinander in die marxistisch-leninistische Ideologie zu tragen. … Im Jahre 1948 nahm die Konferenz des Informationsbüros eine Resolution über die Lage in der KP Jugoslawiens an, die eine berechtigte Kritik an der Tätigkeit der KP Jugoslawiens in einer Reihe von Frage enthielt. Diese Resolution war im Wesentlichen richtig und entsprach den Interessen der revolutionären Bewegung. (Unterstreichung von mir, K.G.)
Einen besonders großen Schaden fügten die jugoslawischen Führer der Sache des Sozialismus durch ihre öffentlichen Reden und ihre Handlungen in der Zeit der Ereignisse in Ungarn zu. Während des konterrevolutionären Aufstandes in Budapest wurde die jugoslawische Botschaft im Grunde genommen ein Zentrum für diejenigen, die den Kampf gegen die volksdemokratische Ordnung in Ungarn aufnahmen, und ein Zufluchtsort für die verräterische Kapitulationsgruppe Nagy-Losonczy.“[17]
Das sagt der gleiche Chruschtschow, der wenige Wochen zuvor mit Tito in Brioni und auf der Krim beraten, beschlossen und danach durchgesetzt hat, Rakosis Nachfolger Gerö in Ungarn von der Führung zu beseitigen und Imre Nagy an seine Stelle zu setzen – zur großen Freude der Freunde der beiden in Washington und London! Aber Chruschtschow ging noch viel weiter. Er stimmte auf der Moskauer Beratung der Kommunistischen und Arbeiterparteien im November 1960 der Resolution zu, in welcher der Tito-Revisionismus beim Namen genannt und aufs Schärfste verurteilt wurde:
„Die kommunistischen und Arbeiterparteien haben die jugoslawische Spielart des internationalen Opportunismus, die einen konzentrierten Ausdruck der ‚Theorien‘ der modernen Revisionisten darstellt, einmütig verurteilt. Die Führer des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, die den Marxismus-Leninismus verrieten, indem sie ihn für veraltet erklärten, haben der Erklärung von 1957 ihr antileninistisches, revisionistisches Programm (das Programm des Ljubljanaer Parteitages von 1958, K.G.) entgegengestellt.
Sie haben den BdKJ der gesamten kommunistischen Weltbewegung entgegengestellt, ihr Land vom sozialistischen Lager losgerissen, es von der sogenannten Hilfe der amerikanischen und anderen Imperialisten abhängig gemacht und damit die Gefahr heraufbeschworen, daß das jugoslawische Volk seiner im heroischen Kampf erzielten revolutionären Errungenschaften verlustig geht. Die jugoslawischen Revisionisten betreiben eine Wühlarbeit gegen das sozialistische Lager und die kommunistische Weltbewegung. Unter dem Vorwand einer blockfreien Politik entfalten sie eine Tätigkeit, die der Einheit aller friedliebenden Kräfte und Staaten Abbruch tut. Die weitere Entlarvung der Führer der jugoslawischen Revisionisten und der aktive Kampf dafür, die kommunistische Bewegung wie auch die Arbeiterbewegung gegen die antileninistischen Ideen der jugoslawischen Revisionisten abzuschirmen, ist nach wie vor eine unerläßliche Aufgabe der marxistischen Parteien.“
Was aber tat Chruschtschow? Er wiederholte, was er schon 1955 getan hatte: Hatte er damals – statt die von den Parteien des Informationsbüro 1948 ausgesprochene Warnung der kommu-nistischen Bewegung vor dem Revisionismus der Tito-Partei tiefer in das Bewußtsein aller Kommunisten zu senken -, diese Warnung mit seiner Flugplatzerklärung ihrer Wirkung beraubt, so tat er jetzt alles, um die wiederholte und verstärkte Aufforderung, die Entlarvung der jugoslawischen Revisionisten und den Kampf gegen sie fortzuführen, schleunigst vergessen zu machen.
In seinem politischen Tagebuch, veröffentlicht unter dem Titel: „Die Supermächte“ (Tirana 1986), notierte Enver Hoxha unter dem13. Dezember 1962:
„Auf der gestrigen Sitzung des Obersten Sowjets der Sowjetunion hielt Chruschtschow eine Rede über die internationale Lage und die Außenpolitik der Sowjetunion. Auf dem Präsidium der Versammlung saß ihm zur Seite sein Bruder und enger Genosse, der Verräter Tito. …
Die zweite Absicht seiner Rede war, offiziell und in einer auf öffentliches Aufsehen berechneten Weise die titoistischen Renegaten in staatlicher, besonders jedoch in ideologischer Hinsicht zu rehabilitieren. … Die Voraussagen der Partei der Arbeit Albaniens haben sich bestätigt. … Jeden Tag kommt das verräterische Ziel der revisionistischen Chruschtschowgruppe klarer ans Licht: die Spaltung des Lagers, die Formierung eines internationalen revisionistischen Blocks, die fieberhafte, offensichtliche Annäherung an den amerikanischen Imperialismus.“
Wer so zielstrebig trotz gegenteiliger Beschlüsse der eigenen Partei und aller anderen kommunistischen Parteien das trojanische Pferd des Imperialismus Tito als einen „teuren Genossen“ immer wieder in die eigene Festung hereinholt – der soll nicht selber ein bewußter Helfer des Imperialismus, sondern nur ein „Fehlender aus Irrtum“ sein? Nein, allein diese hartnäckige Einschleusung eines imperialistischen Agenten in die eigene Festung ist Beweis genug: Chruschtschow hat ganz bewusst das begonnen, was in seinem Geiste Gorbatschow zum bösen, von beiden gewollten Ende gebracht hat. Er hat offenbar auf seine Art die Schluß-folgerung aus Stalins Warnung vor feindlichen Umtrieben gezogen: „Unzugängliche Festungen werden am leichtesten von innen eingenommen.“[18]
ÖD: Sie wollten noch zur Haltung und Stimmung der Massen etwas sagen?
Kurt Gossweiler: Da möchte ich zuerst von persönlichen Eindrücken erzählen. Als ich mit anderen im Sommer 1947 von der Antifa-Schule entlassen und auf Transport in die Heimat kam, hatte ich unterwegs auch Gespräche mit den unseren Transport begleitenden Rotarmisten. Das war gerade in der Zeit, als die Engländer und Amerikaner begannen, auf den „kalten Krieg“ umzuschalten. Die Rotarmisten, mit denen ich über die feindseligen Töne aus den USA sprach, meinten dazu: „Wenn die Amis mit uns Streit suchen, sollen sie nur, wir sind bereit!“
Bei ihnen war nichts von einer Stimmung wie etwa: „Dazu darf es nicht kommen, wir wollen endlich Frieden haben!“, sondern sie waren erfüllt von der Gewißheit, dass sie jeden, der es mit der Sowjetunion aufnehmen würde, genau so schlagen würden, wie die Deutschen.
Aber das bedeutete nicht, dass man nicht endlich Frieden haben wollte.
Das Sowjetvolk hatte schon vor dem Kriege wie in einer vom Imperialismus bedrohten und belagerten Festung gelebt und unter Anspannung aller Kräfte das Land zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut. Und dann kam der faschistische Überfall mit den fünfundzwanzig Millionen Menschenopfern und der Verwüstung der zeitweilig okkupierten Gebiete.
Kein Wunder, dass der Wunsch, jetzt in Frieden die Früchte des Aufbaus und des Sieges über den Faschismus ernten zu können, stark und allgemein war.
Der Krieg hatte für die Führung auch ein ganz neues Problem im Gefolge.
Millionen Sowjetbürger waren als Angehörige der Roten Armee bis nach Deutschland gekommen. Sie waren erfüllt vom Stolz auf die Kraft ihres Landes und seine Überlegenheit über den deutsch-faschistischen Feind. Aber zugleich erlitt ihr bisheriges Bild über den kapitalistischen Westen, in dem die arbeitenden Menschen schlechter lebten als im Sozialismus, einen empfindlichen Stoß. Denn sie hatten mit dieser prinzipiell richtigen Feststellung auch die Vorstellung von materiellem Elend, schlechten Wohnverhältnissen und kultureller Rück-ständigkeit verbunden. Jetzt aber mußten sie, als sie die Städte und Dörfer kennen lernten, durch die sie auf ihrem Weg nach Deutschland kamen, besonders aber in Deutschland selbst, zu ihrer großen Verwunderung feststellen, dass im kapitalistischen Deutschland offenbar auch die Arbeiter in besseren Wohnungen und in größerem Wohlstand lebten als sie bei sich zu Hause. Das hat sicherlich auch an der Gewißheit, Bürger des in jeder Hinsicht fortgeschrittensten Landes des zu sein, genagt.
Ich erinnere mich, dass ich als Zwangssoldat der Wehrmacht nach dem Überfall auf die Sowjet-union eine ähnliche Überraschung erlebte, aber mit umgekehrtem Vorzeichen.
Mein Bild der Sowjetunion war in den Jahren der Weimarer Republik geprägt worden vor allem von den Berichten in Wort und Bild, die in der „AIZ“, der „Arbeiter illustrierten Zeitung“ über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion in jeder Nummer gebracht wurden. Verständ-licherweise wurde in diesen Berichten das neue Rußland gezeigt, die ungeheuren Aufbauleistungen, die neuen Wohnviertel, die neuen, großen, modernen Betriebe, der Massen-enthusiasmus, mit dem das Wunder des ersten Fünfjahrplanes geschafft wurde.
Was in der AIZ nicht oder wenn, dann nur als Randerscheinung gezeigt wurde, war das, was im äußeren Bild Rußlands noch weit überwog, also das, was vom alten Rußland noch an Rückständigkeit, an materiellen Mangelerscheinungen, an Erbschaft einer barbarischen Vergan-genheit hinterlassen war, und wovon wir Kommunisten „im Westen“ trotz Kenntnis der Romane von Tolstoi, Dostojewski und Maxim Gorki keine rechte Vorstellung hatten, obwohl uns darauf ja sogar Stalin mit der Nase gestoßen hatte, als er 1931 gesagt hatte, dass die Sowjetunion hinter den entwickelten kapitalistische Ländern noch 50 bis 100 Jahre zurück sei.
Jetzt lernte ich nicht in der Theorie, sondern in der Praxis kennen, was der Satz bedeutet, dass nach einer Revolution noch für lange Zeit das Alte sich neben dem zunächst noch schwächeren Neuen behauptet. Das Alte – das traf ich z. B. in der im Vergleich zum Westen primitiven Bauweise der Häuser in den meisten Dörfern an, in vernachlässigtem Gerät in mancher Maschinen-Traktoren-Station und ähnlichem. Das Neue, das traf ich in den gleichen „primi-tiven“ Dörfern in Schulbüchern der Kinder an, die davon zeugten, dass die Sowjetmacht ihre Jugend selbst in den kleinsten Dörfern mit einem Wissen einschließlich Fremdsprachen – wovon Deutsch-Lehrbücher zeugten – versorgt, wovon die Kinder im deutschen Ostelbien nicht einmal träumen konnten.
Für die Sowjetführung ergab sich die Aufgabe, den negativen Auswirkungen des Kennenlernens des kapitalistischen Westens auf das sozialistische Selbstbewußtsein mancher Sowjetbürger entgegenzuwirken. Sie tat das, indem sie erstens über eine längere Zeit hinweg die wissenschaftlichen und technischen Erst-Leistungen russischer Wissenschaftler und Erfinder breit popularisierte, zweitens einen Damm gegen die Ausbreitung von Bewunderung und Übernahme vom Westen propagierter und infiltrierter bürgerlich-imperalistischer Ideologie und Modeströmungen zu errichten suchte mit einer Kampagne des Kampfes gegen den „Kosmo-politismus“.
Nach Stalins Tod tat die Chruschtschow-Führung das Gegenteil dessen: sie nutzte den Friedenswunsch und den berechtigten Wunsch der Sowjetmenschen dazu aus, das Vertrauen in die antiimperialistische Politik unter der Führung Stalins, die angeblich künstlich zu gefähr-lichen Zuspitzungen und Konflikten geführt habe, zu unterminieren, und statt dessen unter der Losung einer „Politik der Entspannung“ überzugehen zu einer Politik der Propagierung von Vertrauen in die Zusammenarbeit mit den imperialistischen Mächten, besonders mit den USA, weil nur gemeinsam mit ihnen die Gefahr eines Atomkrieges gebannt werden könne.
Mit dieser demagogischen Argumentation erschlich sich Chruschtschow das Vertrauen, der Mann zu sein, der die Wünsche und Sehnsüchte des Volkes kennt und sie zur Leitlinie seiner Politik gemacht habe.
ÖD: Das ist ja das Bezeichnende! Chruschtschow und Co haben ja genau auf diese in der Bevölkerung bestehenden Tendenzen angespielt und haben sie auch ausgenutzt.
Kurt Gossweiler: Ja, genau. Es war eben nicht so, dass Chruschtschow durch „Druck von unten“ auf einen revisionistischen Kurs gedrängt worden wäre: sondern er betrog bewußt die Massen, indem er ihnen vorlog, dieser neue Kurs sei nötig zur raschesten Erfüllung ihrer Wünsche. Dabei ging er sehr geschickt vor. Bis zum XX. Parteitag gab er sich- die im Volke noch unerhört große, ungebrochene Verehrung Stalins in Rechnung stellend – als treuer Gefolgsmann Stalins aus; und selbst nach dem XX. Parteitag trug er in seinen Reden zu 90 bis 99 Prozent solche Thesen und Grundgedanken vor, die dem Volk bekannt und vertraut waren. Die abweichenden, revisionistischen, feindlichen Gedanken machten zumeist nur einen Bruchteil seiner Ausführungen aus, und waren zudem mit einleuchtend erscheinenden Argu-menten begründet, wie etwa auf dem XX. Parteitag die sozialdemokratische These vom parlamentarischen, „friedlichen“ Weg zum Sozialismus mit der These, dieser früher nicht mögliche Weg sei jetzt dank der ungeheuer angewachsenen Stärke der Sowjetunion und der kommunistischen Weltbewegung möglich geworden.
Oder er begründete die Wendung in der Wirtschaftspolitik von der vorrangigen Entwicklung der Abteilung I, der Produktionsgüter-Industrie zur vorrangigen Entwicklung der Abteilung II, der Konsumgüter-Industrie, – in Wahrheit eine Wendung zum Weg in eine wirtschaftliche Katastrophe, – ebenfalls mit der erreichten wirtschaftlichen Stärke, die es erlaube, nunmehr vorrangig die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.
ÖD: Das Werk von Stalin über die ökonomischen Probleme des Sozialismus behandelt ja diese Frage der Vorrangigkeitsverhältnisse zwischen der Produktionsgüterindustrie und Konsumgüterindustrie. Und er warnt ja auch dort, dass eine Änderung dieses Verhältnisses zur Restaurierung des Kapitalismus führen würde. D.h. diese These, die Chruschtschow später ausgesprochen und umgesetzt hat, war ja bekannt und ausdiskutiert.
Kurt Gossweiler: Ja, es war ausdiskutiert, und gerade das ist ein weiterer Beweis dafür, dass Chruschtschows Kursänderung zur vorrangigen Entwicklung der Konsumgüterindustrie eine bewusste Schädlingstätigkeit war. Denn er hatte ja eine gründliche Schulung in Marxismus-Leninismus durchlaufen und wußte sehr gut, dass die vorrangige Entwicklung der Produktions-güterindustrie eine bereits von Marx im Kapital festgestellte und von Lenin mit Nachdruck unterstrichene ökonomische Gesetzmäßigkeit für die Sicherung der erweiterten Reproduktion und damit für den erfolgreichen Aufbau der sozialistischen Wirtschaft ist.
ÖD: Nun gut, was die Agentenargumentation betrifft, so scheint es, dass wir da nicht zu einer übereinstimmenden Meinung kommen werden. Belassen wir es dabei. Ich möchte zu einer weiteren Frage kommen: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der opportunistischen Umdeutung der Koexistenzpolitik und der Umkehrung des Vorrangigkeitsverhältnisses zwischen der Produktionsgüter- und Konsumgüterindustrie?
Kurt Gossweiler: Ja, natürlich. Beides sind Bestandteile ein und der gleichen Strategie der Unterminierung der ökonomischen und politischen Grundlagen der Sowjetmacht. Das Wesent-liche dieser Strategie habe ich vor etwa 15 Jahren in einem Brief an einen Redakteur der MLPD-Zeitung „Rote Fahne“ so beschrieben:
Rund vier Jahrzehnte Verteidigung der Sowjetmacht und sozialistischer Aufbau seit 1917 durch die Volksmassen hatten dazu geführt, dass der Sozialismus und die sozialistische Lebensweise fest und tief im Sowjetvolk verwurzelt waren. Wer sich offen als Feind dieser Ordnung und als Befürworter einer Rückkehr zum Kapitalismus zu erkennen gegeben hätte, den hätten die einfachen Menschen sofort den Sicherheitsorganen übergeben.
Vor allem durfte die Rückkehr zum Kapitalismus in keiner Phase als Weg zurück zum Kapitalismus erkennbar werden, sondern musste bis zum Schluss als Weg zur notwendigen Verbesserung des Sozialismus hingestellt werden. Zweitens war es nötig, die Verbundenheit der Massen mit ihrer Sowjetordnung zu untergraben und ihre Bereitschaft, diese Ordnung zu ver-teidigen, allmählich zum Erlöschen zu bringen. Drittens musste das Volk und mussten die Parteimitglieder dazu gebracht werden, im Imperialismus nicht mehr die Grundursache des Krieges, sondern einen Partner bei der Erhaltung des Friedens zu sehen, um auf diese Weise in der Ersetzung der Ideologie des Klassenkampfes durch die Ideologie der Klassenversöhnung nicht den grundsätzlichen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus zu erkennen.
Um das Erste zu erreichen, wurde die Illusion erzeugt, alles, was in der Gegenwart geschehe, diene der raschen Herbeiführung des Kommunismus. Dabei waren sich die Demagogen vom Schlage Chruschtschow nicht nur darüber klar, dass die anfänglichen euphorischen Hoffnungen, die ihre Verheißungen von den bald erreichten „lichten Höhen des Kommunismus“ bei den Menschen erweckten, unvermeidlich in ihr Gegenteil, in tiefe Enttäuschung, in Hoffnungs-losigkeit, Gleichgültigkeit und sogar Feindschaft gegen die Partei und die Sowjetmacht umschlagen mussten, sondern sie arbeiteten nach Kräften darauf hin, dass dieser Umschlag möglichst früh und möglichst radikal eintrat; denn dies war der Weg, um das Zweite zu erreichen: Die Abtötung der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Sowjetmacht. Die Chruschtschowschen „Reformen“ auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik erweisen sich bei genauem Hinsehen als eine gezielt gewählte Serie von Schädlingsmaßnahmen, deren Ergebnis nur die Desorganisation, die Produktion von Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung und die wachsende Abhängigkeit der sowjetischen Wirtschaft vom imperialistischen Ausland sein konnte und tatsächlich auch war.
Das ist also meiner Meinung nach der Zusammenhang, nach dem Sie fragen.
ÖD: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bleiben Sie Ihrer These treu und erklären diesen Zusammenhang aus dem Ziel der Agenten Chruschtschow und Co, die Mängel des Systems weiter zu verschärfen und somit die Bedingungen für einen offenen Übergang zum Kapitalismus zu schaffen. Wie erklären Sie aber, dass diese Diskussion über das Vorrangigkeitsverhältnis in fast allen ehemals sozialistischen Staaten stattgefunden hat? Warum immer diese Diskussion?
Kurt Gossweiler: Wie wir alle wissen, brach die Kette des Imperialismus nicht zuerst in den entwickelten kapitalistischen Ländern, sondern dort, wo sich ihr schwächsten Glieder befanden, und das war 1917 aus den bekannten Gründen Rußland, und das waren danach und sind bis zum heutigen Tage nicht die ökonomisch am weitesten entwickelten kapitalistischen Länder, sondern Länder der 3. Welt – China, Kuba, Vietnam, Korea. Und in der Gegenwart sind es vor allem lateinamerikanische Länder – wir brauchen nur an Venezuela denken.
Wie jeder weiß, ist das der Grund dafür, dass die Produktivität in Rußland und später in den anderen sozialistischen Ländern hinter der der entwickelten kapitalistischen weit zurück war, und damit auch die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern chronisch hinter den Bedürfnissen zurückblieb. Deshalb stand immer die Frage auf der Tagesordnung, wie man rasch und dauerhaft die Versorgung mit Konsumgütern verbessern und sie in Übereinstimmung mit dem Bedarf der Bevölkerung bringen könnte. Und das natürlich auch in der DDR, deren Bevölkerung den Mangel besonders krass empfand, war doch alles, was bei uns begehrt, aber knapp war, auf der anderen Seite, der kapitalistischen Bundesrepublik, im Überfluss vorhanden, dank deren Reichtum an Bodenschätzen – wie Steinkohle – und hochentwickelten Industrie-regionen im Rhein- und Ruhrgebiet, an der Saar, in Hessen, in Württemberg-Baden usw.
Es ist unter diesen Bedingungen nur natürlich, dass die Frage, wie man schnell aus der Mangel-wirtschaft herauskommen und zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Konsum-gütern kommen kann, die Führung ebenso wie die ganze Bevölkerung in den sozialistischen Ländern ständig beschäftigte. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass dabei auch immer das Argument vorgebracht wurde, wenn man das Angebot an Konsumgütern rasch vergrößern wolle, dann müsse man eben vor allem die Kapazität der Konsumgüterindustrie erweitern. Wer eine solche Forderung aufstellt, braucht deshalb noch lange kein Feind zu sein, sondern nur einer, dem es an der ausreichenden Kenntnis der ökonomischen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten fehlt, und dem deshalb eine solche Forderung als ganz folgerichtig erscheint.
Aber gerade das macht es Feinden wie Chruschtschow so leicht, diese Forderung aufzugreifen und ihre Befolgung, von der sie genau wissen, dass sie die Wirtschaft des sozialistischen Staates untergräbt, den Massen glaubwürdig als Ausdruck ihrer ständigen und unermüdliche Sorge um die Hebung des Lebensstandard des Volkes, ja, als Schritt zum schnelleren Erreichen des großen Zieles des Kommunismus darzustellen.
Eben deswegen wurde eine solche Politik nicht nur von Chruschtschow, sondern auch von Gomulka in Polen und von Kadar in Ungarn – wofür sie im Westen Lob und Wohlwollen ernteten – praktiziert. Nicht aber bei uns – so lange Walter Ulbricht an der Spitze der Partei stand.
(Den zweiten Teil des Gespräches, in dem es u.a. um die Geschichte der DDR geht, bringen wir in der Januar-Februar-Ausgabe 2006.)
Redaktion Offensiv
[16]Beide Zitate aus: Keesings Archiv der Gegenwart 1953, unter den angegebenen Daten.
[17]Neues Deutschland v. 5. Juni 1958, S. 4 f.
[18]Zit. aus: Saul Livshiz,Über das Buch Robert Steigerwalds „Kommuistische Stand- und Streitpunkte“, in Heft 213 der Schriftenreihe für marxistisch-leninistische Bildung der KPD, Berlin Januar 2005, S.48.
Özgürlük Dünyasi:
Gespräch mit Kurt Gossweiler, Teil 2
(Dieses Gespräch wurde am 25. Februar 2005 in Berlin-Grünau von den türkischen Genossinnen und Genossen der Zeitung „Özgürlük Dünyasi“ geführt und aufgezeichnet. Sie brachten die türkische Übersetzung in der Nr. 161 ihrer Zeitung. Wir freuen uns, das Gespräch nachdrucken zu dürfen. In dieser Ausgabe erscheint der zweite Teil, der erste Teil erschien in der Ausgabe November-Dezember 2005.) Um besser in die Lektüre dieses zweiten Teil einsteigen zu können, wiederholen wir hier die letzten Ausführungen Kurt Gossweilers aus dem ersten Teil, weil sich die folgende Frage darauf bezieht.
Redaktion Offensiv
Es ist unter diesen Bedingungen (der relativen ökonomischen Rückständigkeit Russlands und später auch der DDR gegenüber den USA und Westeuropa, also den führenden imperialistischen Staaten; d. Red.) nur natürlich, dass die Frage, wie man schnell aus der Mangelwirtschaft herauskommen und zu einer besseren Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern kommen kann, die Führung ebenso wie die ganze Bevölkerung in den sozialistischen Ländern ständig beschäftigte. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass dabei auch immer das Argument vorgebracht wurde, wenn man das Angebot an Konsumgütern rasch vergrößern wolle, dann müsse man eben vor allem die Kapazität der Konsumgüterindustrie erweitern. Wer eine solche Forderung aufstellt, braucht deshalb noch lange kein Feind zu sein, sondern nur einer, dem es an der ausreichenden Kenntnis der ökonomischen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten fehlt, und dem deshalb eine solche Forderung als ganz folgerichtig erscheint.
Aber gerade das macht es Feinden wie Chruschtschow so leicht, diese Forderung aufzugreifen und ihre Befolgung, von der sie genau wissen, dass sie die Wirtschaft des sozialistischen Staates untergräbt, den Massen glaubwürdig als Ausdruck ihrer ständigen und unermüdliche Sorge um die Hebung des Lebensstandard des Volkes, ja, als Schritt zum schnelleren Erreichen des großen Zieles des Kommunismus darzustellen.
Eben deswegen wurde eine solche Politik nicht nur von Chruschtschow, sondern auch von Gomulka in Polen und von Kadar in Ungarn – wofür sie im Westen Lob und Wohlwollen ernteten – praktiziert. Nicht aber bei uns –so lange Walter Ulbricht an der Spitze der Partei stand.
Özgürlük Dünyasi (in der Folge: ÖD): Es gibt auch die These, dass die mit der Zeit immer gravierender werdenden Einkommensunterschiede dabei eine Rolle gespielt haben.
Kurt Gossweiler: Diese These höre ich zum ersten Mal. Ich habe leider keine Zahlen darüber zur Verfügung, aber nach meinen eigenen Erfahrungen spielte das in der DDR bei der Diskussion darüber, ob der Vorrang bei der Abteilung I oder der Abteilung II liegen soll, keine Rolle. Vielleicht war das in Polen und Ungarn und auch in der Sowjetunion anders.
Wir hatten aber in der DDR einen gewissen Kaufkraft-Überhang; er wurde bei uns in sogenannten Exquisit-Läden abgeschöpft, in denen besonders wertvolle Waren, die nicht in genügender Menge auf dem Inlandsmarkt angeboten wurden, zu erhöhten Preisen verkauft wurden. Für Ausländer und für DDR-Bürger, die durch ihren Beruf Entgelt in Westmark oder in anderen ausländischen Währungen erhielten – Seeleute, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Diplomaten u.a. -, gab es die sogenannten „Intershop“-Läden, in denen auch Westwaren für „Westgeld“gekauft werden konnten.
ÖD: Zur DDR: Gab es hier einen bestimmten Entartungsprozeß oder war die DDR nur ein Opfer der „gorbatschowschen Zugeständnispolitik“?
Kurt Gossweiler: Ich würde nicht von einem Entartungsprozess sprechen. Ich war immer und bin auch heute noch davon überzeugt, Walter Ulbricht hat das, was in der SU geschah, spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU richtig eingeschätzt. Er selber war wirklich ein Kämpfer gegen den Revisionismus, kein Revisionist.
Aber wir waren zwischen der feindlichen Bundesrepublik und einer nun auch feindlich gewordenen Sowjetunion gewissermaßen in der Zange. Unter Stalins Führung war die Sowjetunion für uns unsere Hauptstütze, unser zuverlässiger Verbündeter. Aber nachdem dort die Chruschtschow-Clique an die Macht gekommen war, befanden wir uns zwischen einer uns offen feindlichen Macht – der Bundesrepublik, und einer formell zwar mit uns verbündeten Macht, deren Spitzenmann aber in Wahrheit insgeheim mit dem Imperialismus gegen uns im Bunde war, – was allerdings erst unter Gorbatschow, – der für mich der Chruschtschow der achtziger und neunziger Jahre ist – ganz offenkundig wurde. Aber was Gorbatschow 1989/90 tat, nämlich die DDR an die Bundesrepublik zu verkaufen – das war in den fünfziger und sechziger Jahren schlechthin noch nicht möglich. Noch befanden sich in der Führung der KPdSU und der Regierung der Sowjetunion und ihrer Armee Kräfte, die einen Chruschtschow davongejagt hätten, hätten sie seine wahren Absichten gekannt.
Und was die DDR und ihre Führung betraf: Wir waren von der Sowjetunion ökonomisch, politisch und militärisch völlig abhängig. Ohne den Schutz durch die Rote Armee hätte es nicht lange gedauert, dass der Westen uns überrollt hätte. Gomulkas Polen und Kadars Ungarn hatten sich ohnehin schon auf den Weg Tito-Jugoslawiens begeben. Die anderen, die dem Weg des Revisionismus widerstehen wollten – dazu zähle ich außer der DDR vor allem die Tschechoslowakei, aber auch, wenngleich mit Abstrichen, Bulgarien und Rumänien – für sie hätte es nur die Möglichkeiten gegeben: man macht es wie Albanien und Volkschina und erklärt offen: In der Sowjetunion ist ein Revisionist an der Macht und gegen den müssen wir jetzt kämpfen! Das hätte für die DDR aber das Ende bedeutet.
ÖD: Warum? Die DDR stand ja wirtschaftlich besser da als Albanien!
Kurt Gossweiler: Die Chruschtschow-Leute brauchten nur aufzuhören, uns mit Rohstoffen zu beliefern. Was dann? Wir hatten ohnehin schon eine Mangelwirtschaft. Ohne die Lieferungen aus der SU wären wir völlig vom Westen abhängig geworden, und die hätten uns ihre Bedingungen diktiert.
ÖD: Andersherum gefragt: hat man denn das gesamte ZK, die gesamte Partei zusammengerufen und sie darüber informiert, dass in der Sowjetunion eine revisionistische Clique an die Macht gekommen ist, dass sie jetzt die DDR an die Wand drückt und dass sich die Partei der neuen Situation bewusst sein muß?
Kurt Gossweiler: Überlegen Sie doch selber: was wäre die Folge gewesen, wie hätte darauf die Chruschtschow-Bande reagiert?
ÖD: Sie sagen ja selber: Walter Ulbricht war sich der Situation und den Entwicklungen in der Sowjetunion bewusst. So: wenn ein erfahrener Mann wie Ulbricht sich dieser neuen Situation bewusst wird, dann muß doch dieses Wissen Folgen für seine Politik haben. Man kann aber doch keine der neuen Situation entsprechende Politik betreiben, indem man ein Geheimnis für sich behält und die Partei darüber nicht informiert und sie nicht vorbereitet.
Kurt Gossweiler: Was sollte er nach Ihrer Ansicht konkret machen?
ÖD: Er hätte doch wie Enver Hoxha handeln können. Wir wissen ja, daß Enver Hoxha – nachdem man sich der neuen Situation sicher war und die Gefahr erkannte – die Partei zusammenruft, über die neue Situation informiert, gemeinsam diskutiert und zu Schlussfolgerungen kommt…
Kurt Gossweiler: Eigentlich müssten Sie sagen, wir hätten das in die Zeitung bringen sollen…
ÖD: Nicht als ersten Schritt! Vorher müsste man natürlich politisch-ideologische Vorarbeit geleistet haben. Schauen Sie: Es findet ein Parteitag in der Sowjetunion statt. Dort legt man einen Bericht vor, in dem vieles revidiert wird. Die Delegation der SED hat an diesem Parteitag teilgenommen. Man kommt zurück ins Land. Und selbstverständlich muß man doch Bericht erstatten, was dort vorgefallen ist. Und Ihre Partei musste doch aufgrund dieser neuen Entwicklung Position beziehen, Einschätzungen vornehmen und zu Entschlüssen kommen, wie man all das zu bewerten hat etc. Ihre Partei hat bis dahin eine bestimmte Linie vertreten und jetzt kommt die KPdSU mit einer neuen These und einer neuen Linie. Die Frage stellt sich doch von selbst: Wie wird sich die SED dazu stellen? Z.B. wissen wir, dass die französische Partei angesichts dieser Entwicklungen in der Sowjetunion eine bestimmte Kritik ausspricht…
Kurt Gossweiler: Die französische Partei war keine regierende Partei. Sie musste nicht die gleichen Befürchtungen haben wie wir. In einem Aufsatz über den 17. Juni, (veröffentlicht in meinem Buch „Wider den Revisionismus“) habe ich geschildert, dass bereits im Frühjahr 1953 Chruschtschow – damals noch im Einvernehmen mit Beria – Walter Ulbricht stürzen wollte.
Übrigens mußte in Ungarn Matyas Rakosi um die gleiche Zeit auf Verlangen Chruschtschows sein Amt des Ministerpräsidenten an Imre Nagy, – den Wegbereiter der Konterrevolution im Oktober 1956! – abgeben. Und Sie wissen ja auch, wie Chruschtschow gemeinsam mit Tito im Sommer und Herbst 1956 mit Rakosi und Gerö umgesprungen ist.
ÖD: Rakosi hat nachgegeben. Enver Hoxha sagt, er war zwar ein aufrichtiger Mann, aber er war einfach müde geworden.
Kurt Gossweiler: Was ich sagen will, ist: wenn wir, unsere Partei und Regierung, offen gesagt hätten: „Dort in Moskau stehen jetzt an der Spitze von Partei und Staat Revisionisten. Wir machen deren Kurs nicht mit!“, dann hätten die das gleiche mit uns gemacht, was sie gegenüber Volkschina gemacht haben: Bruch des Bündnisvertrages und Einstellung jeglicher Hilfe und Unterstützung gegen die ökonomischen, politischen und militärischen Angriffe des BRD-Imperialismus. Nun, Taiwan kann Volkschina nicht kaputt machen, aber die Bundesrepublik konnte uns ohne den Rückhalt der Sowjetunion sehr wohl kaputtmachen.
Chruschtschow wartete doch nur darauf, einen Anlass, besser gesagt, einen Vorwand zu finden, Walter Ulbricht abzusägen. Dafür hätte eine Äußerung Ulbrichts selbst in kleinem Kreise völlig genügt, mit der man ihn als „Stalinisten“ der Öffentlichkeit vorstellen konnte. Solche Äußerungen sofort auf direktem oder indirektem Wege nach Moskau zu melden – dafür hatte Chruschtschow ja seine Leute im Apparat der SED, z.B. den Herrn Schirdewan, der sich – allerdings erst nach dem Sieg der Konterrevolution! – damit brüstete, „Ein Widersacher des mächtigen Walter Ulbricht“gewesen zu sein. (So in der Berliner Zeitung v. 10./11. Februar 1990).
Ich will Ihnen damit nur sagen: Was Sie vorschlagen und meinen, was wir, also die Partei- und Staatsführung, hätte machen können und sollen – das hätte nur dazu geführt, dass die DDR nur noch sehr kurz zu leben gehabt hätte.
ÖD: Was hat denn Walter Ulbricht nach dem XX Parteitag der KPdSU seiner Partei gesagt?
Kurt Gossweiler: Ulbricht kam zurück und hat – im Gegensatz etwa zu Gomulka und Kadar – den Parteitag nicht bejubelt, aber natürlich, das war nicht zu umgehen, positiv beurteilt. Die Stalin-Kritik hat er in einen Satz zusammengefasst, indem er sagte: „Stalin war kein Klassiker“. Das haben ihm aber sehr viele furchtbar übelgenommen, denn er, der Stalin wirklich gut gekannt hatte und sehr schätzte, hatte bisher mehr als jeder andere aus der Parteiführung von Stalin als dem vierten Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus gesprochen. Und das spätere „IML“, das „Institut für Marxismus-Leninismus“ hatte lange Zeit den Namen „Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut“getragen.
Bei uns in der DDR wurde – anders als in manchen sozialistischen Ländern – Chruschtschows sogenannte Geheimrede nirgends veröffentlicht. Aber in allen Parteigrundorganisationen wurden auf einer Sonder-Parteiversammlung Auszüge aus dieser Rede verlesen
ÖD: Die Geheimrede von Chruschtschow wurde ja auch in der Sowjetunion bis Gorbatschow nicht veröffentlicht.
Kurt Gossweiler: Eben.
ÖD: Chruschtschow hat später sogar geleugnet, dass er so eine Rede gehalten hat.
Kurt Gossweiler: Er hat, als er am 20. Juni 1957 in einem Interview mit einem us-amerikanischen Journalisten gefragt wurde, ob in dem Text seiner Rede, der in den westlichen Ländern veröffentlicht wurde, „irgendwelche wesentlichen Auslassungen oder gar Entstellungen unterlaufen“seien, ausweichend, aber vielleicht doch auf den Mitautor der Rede hinweisend geantwortet: „Ich weiß nicht, von welchem Text die Rede ist. Ich hörte davon, dass in den USA irgendein Text veröffentlicht wurde, der vom amerikanische Geheimdienst fabriziert worden ist, und dieser Text als Text meines Vortrages auf dem XX. Parteitag ausgegeben wurde. Aber die Veröffentlichungen von Allan Dulles erfreuen sich keiner Autorität in der SU. Ich habe keinerlei Wunsch, Literatur zu lesen, die von Allan Dulles fabriziert wird.“(Zitiert in meinem Buch „Taubenfußchronik“, Bd. I, S.299 f.)
ÖD: Warum hat man in der SED Auszüge aus dieser Rede verlesen?
Kurt Gossweiler: Ganz sicher nicht aus eigenem Antrieb, sondern weil es von Moskau „gewünscht“ wurde. Ich denke, wir sind uns darüber einig, dass Chruschtschow diese im Programm des Parteitages gar nicht vorgesehene, dem Parteitag überfallartig aufgedrängte Rede in der Absicht gehalten hat, nicht nur die eigene Partei, sondern die ganze kommunistische Bewegung vom Leninschen auf den revisionistischen Kurs umzulenken. Dazu mußte die Rede aber in allen kommunistischen Parteien bekannt gemacht werden.
Für die Parteien in den kapitalistischen Ländern besorgte das schon die bürgerliche Presse; weil aber nicht alle Parteien in den sozialistischen Ländern bereit waren, den dort veröffentlichten Text der Rede ebenfalls zu veröffentlichen, benutzte Chruschtschow die Autorität der KPdSU, um von den Bruderparteien zu verlangen, dass sie ihren Mitgliedern die Rede in ihren Hauptzügen bekannt geben.
ÖD: Warum hat die SED-Führung den Chruschtschowianern nicht gesagt: „Du veröffentlichst diese Rede nicht einmal in Deinem eigenen Land, verlangst aber von uns, dass wir daraus Auszüge in unserer Partei verlesen sollen! Warum sollten wir das tun?“
Kurt Gossweiler: Ich weiß nicht, welche Gespräche Ulbricht mit der KPdSU-Führung geführt hat. Aber klar ist für mich, dass er als Gegner des nun von Moskau ausgehenden revisionistischen Kurses nur die Wahl hatte zwischen zwei Möglichkeiten; die erste:
Um das Schlimmste in der DDR – nämlich die Führung der SED durch einen Parteigänger Chruschtschows – zu verhindern und der Chruschtschow-Clique keinen Vorwand zu liefern, ihn, Ulbricht, abzusetzen, damit er immerhin die Möglichkeit behielt, den von Moskau ausgehenden Schaden so gering wie möglich zu halten, musste er für die Dauer der Chruschtschow-Periode in der SU nach außen hin das Image eines loyalen Gefolgsmannes der Moskauer Führung erhalten.
So widerwärtig das auch war – die andere Möglichkeit, nämlich der Chruschtschow-Führung offen den Kampf anzusagen, schien die schlimmere, weil sie die Lebenszeit der DDR auf wenige Monate verkürzt hätte. Denn wir hatten nicht die Möglichkeit, den Kampf so aufzunehmen wie das Albanien getan hat.
ÖD: Welche Möglichkeiten hatte Albanien gehabt, die die DDR nicht gehabt hätte? Das ärmste Land Europas!
Kurt Gossweiler: Die Existenz von Albanien war nicht bedroht. Die Jugoslawen konnten nicht einmarschieren, die Sowjets konnten es auch nicht …
ÖD: Ich bitte Sie! Dieses Land stand mehrmals vor dem Dilemma, über das Enver Hoxha sich geäußert hat, dass nämlich die Albaner lieber Gras essen würden, als sich der Bedrohung und den Repressalien zu beugen. Und die Geschichte hat bewiesen, dass der Kampf dieser kleinen Partei und dieses kleinen Landes gegen die Chruschtschowianer richtig und berechtigt war.
Sie haben als Kommunist, weil Sie aufrichtig waren, all diese Ihrer Grundeinstellung widersprechenden Entwicklungen bemerkt und für sich selbst notiert. Was wäre in der DDR passiert, wenn auch andere aufrichtige Kommunisten wie Sie für sich Stellung bezogen hätten und das nicht als ein Geheimnis bei der jeweiligen Person geblieben wäre, sondern wenn man gemeinsam als Kommunisten und Teil der Partei gefragt hätte: „Wohin werden wir geführt? Was läuft denn da ab?“
Kurt Gossweiler: Sie vergessen: Wir waren ein geteiltes Land. Albanien war nicht in einen sozialistischen und einen kapitalistischen Teil geteilt, sein Volk hat sich selbst befreit und eine sozialistische Revolution durchgeführt.
Die DDR-Bürger sind aus dem Faschismus gekommen, und es war eine unerhört harte Arbeit, sie erstens von der faschistischen Ideologie loszulösen, und zweitens von der Einstellung: „wir sind doch alle Deutsche, wir gehören doch alle zusammen“, oder gar von der Meinung: „drüben leben sie besser, sind sie reicher, also ist das auch der bessere Teil Deutschlands“.
Ohne Massenbasis ist ein sozialistischer Staat nicht aufrechtzuerhalten. Wenn die SU uns damals aufgegeben und der Westen mit seiner Wohlstandspropaganda gelockt hätte – leider hätte die Bevölkerung der DDR damals nicht gesagt: „wir müssen wie die Albaner handeln und notfalls Gras essen“, nein, sie hätten gesagt: „warum schließen wir uns nicht einfach mit der BRD zusammen?“ Wir haben das doch 1989 erlebt! Das wäre doch damals genauso gelaufen.
ÖD: Wenn ein Land wie die DDR, die viel größere Bedeutung hatte als Albanien, wenn dieses Land das gemacht hätte, was ich eben angesprochen habe, wäre sicherlich auch die Entwicklung möglich gewesen, die Sie gerade angesprochen haben – der Untergang. Aber auch eine andere Option wäre möglich gewesen: Wenn in der DDR eine Führung an der Macht gewesen wäre, die wirklich eine bolschewistische Politik betrieben hätte, nämlich alles mit der Partei, alles mit dem Volk zu teilen, und offen, ohne ihr und ihm etwas zu verheimlichen, diesen gemeinsamen Kampf geführt hätte, wenn es dadurch zwangsläufig zu einem offenen Bruch mit dem sich in der Sowjetunion immer weiter verbreitenden Revisionismus gekommen wäre, wenn man aber dabei ideologisch standfest geblieben wäre, dann wäre ein geschichtlicher Prozeß in Gang gebracht worden, der die sowjetischen Revisionisten gezwungen hätte, offen Position zu beziehen – natürlich hätte die Auseinandersetzung auch auf diesem Wege zu einer Niederlage führen können. Aber ob man dabei untergeht oder nicht, das ist eine Machtfrage. Diese nicht gestellt zu haben führte aber unweigerlich in die Niederlage –und zwar des Sozialismus in ganz Europa.
Die SED war eine Partei an der Macht – das ist in der Tat, was sie von der französischen Partei unterschied. Die DDR war ein Staat, und seine moralisch-ideologischen Ansätze wären legitim und richtig gewesen. Die SED hatte also ein vielfach größeres Gewicht. Angenommen, der Ulbricht kommt nach dem XX. Parteitag von Moskau zurück und sagt seiner Partei: „Sie sagen, Stalin sei kein Klassiker mehr; aber das ist eine offen revisionistische Linie! (Und all die anderen Sachen, die ich jetzt nicht nochmals ausführen will.) Genossen, wir sind mit dieser Linie nicht einverstanden, diese Linie wird uns ins Verderben führen, dagegen müssen wir ankämpfen!“ – was wäre dann passiert?
Angesichts der Tatsache, dass diese Kräfte an der Macht waren, musste man auch taktisch klug handeln, das ist selbstverständlich. Aber die Grundbedingung war, daß man ideologische Standfestigkeit zeigte und die Partei zu diesem Kampf gewinnen musste, evtl. für die Einheit innerhalb der Partei kämpfen musste, die Partei zum Teil neu positionieren musste etc. Wäre das nicht möglich gewesen? Zumal die DDR ideologisch und intellektuell eine viel entwickeltere Basis und namhaftere Theoretiker besaß als Albanien. Sie war das Land von Marx und Engels!
Eine solche Standfestigkeit hätte voraussichtlich den Ablauf der Geschichte beeinflussen können. Sicherlich aber hätte sie die latente, schleichende, heimliche Einflusszunahme des Revisionismus eingedämmt und die Revisionisten zum offenen Kampf gezwungen. Sie hätten sich demaskieren müssen. Das hätte dann wiederum auch die Entwicklung der chinesischen Partei beeinflusst. Es ist ohne Zweifel: Wenn die kommunistischen Parteien in den entwickelten sozialistischen Ländern wie der DDR, der CSSR etc., und in den entwickelten kapitalistischen Ländern wie in Frankreich, in Italien etc. offen Position gegen den Revisionismus bezogen hätten und gekämpft hätten, hätte das den Gang der Geschichte beeinflusst und hätte das eventuell sogar zum Sieg der leninistischen Linie in der Sowjetunion geführt.
Aber man hat aus einem praktischen Opportunismus heraus nicht gehandelt.
Kurt Gossweiler: Wenn wir gewusst hätten, wie das in der Sowjetunion und folglich auch bei uns endet, nämlich mit dem Sieg der Konterrevolution, dann hätte sich unsere Parteiführung natürlich anders entschieden, und ich mit ihr. Aber ich war fest davon überzeugt – und Walter Ulbricht ganz gewiss auch -: dieser Einbruch des Revisionismus, der da mit Chruschtschow erfolgt ist, der kann sich nicht halten. Es kann nicht lange dauern, dann werden sich die gesunden Kräfte gegen die Chruschtschow-Bande durchsetzen. Als 1964 Chruschtschow abgesetzt wurde, da sah ich mich in dieser Ansicht bestätigt und meinte: jetzt ist das geschafft, worauf ich so lange gewartet habe! Und ich war – und bin auch heute noch – fest der Meinung: „der Walter, der sieht das genau so: das ist eine vorübergehende Geschichte und wir müssen versuchen, diese Zeit zu überstehen!“ Ich hatte mit großer Freude festgestellt, dass unsere Partei gegenüber dem Tito-Revisionismus eine klare und scharf verurteilende Haltung einnahm, die selbst nach Titos Totalrehabilitierung noch kritisch blieb …
ÖD: Aber das war keine besondere Tat. Denn damals erkannte Jugoslawien die DDR nicht an, die Kominform hatte schon vorher die jugoslawische Partei verurteilt etc., also: die antimarxistische Position der Jugoslawen war mehr als offensichtlich.
Doch ich möchte hier prinzipiell etwas unterstreichen: Wir wollen hier nicht – mit dem Resultat dieser geschichtlichen Prozesse in der Hand – besserwisserisch daherkommen. Das wäre sehr falsch und ist auch nicht der Grund meiner Einwände.
Das geklärt, möchte ich zu dem, was Sie eben gesagt haben, folgenden Einwand bringen: Es besteht sicherlich zwischen Ihnen und Walter Ulbricht in der von uns diskutierten Frage ein großer Unterschied. Sie sagen, Sie hätten noch Hoffnung gehabt, was die Umkehrung dieses revisionistischen Einbruchs betraf. Sicherlich ist diese Hoffnung, jedenfalls für die Zeit der 50er und den Anfang der 60er Jahre, nicht ohne jegliche materielle Grundlage gewesen; in der Tat, theoretisch ist diese Umkehr schon eine reale Möglichkeit gewesen. Doch das ist nicht das Entscheidende. Denn die Grundbedingung für das Hegen solcher Art Hoffnung muss doch sein, daß man seine eigenen revolutionären Grundpositionen nicht aufgibt. Wenn ich Ihr Buch lese, sehe ich, daß sie diese Grundpositionen bewahrt haben. Sie sind auf Linie geblieben. Aber wenn Walter Ulbricht aus Moskau kommt und sagt: „Stalin war kein Klassiker!“, was nützt es dann, daß man sagt, Ulbricht wartete in revolutionärer Hoffnung? Wie hätte er sich, nachdem er – unter Druck, notgedrungen oder wie auch immer – marxistische Positionen verlassen hat, überhaupt noch rechtfertigen können, wenn wirklich – z.B. nach fünf Jahren – marxistische Kräfte in der Sowjetunion wieder an die Macht gekommen wären und den Chruschtschow-Revisionismus verurteilt und liquidiert hätten? Was hätte er dann noch zu sagen gehabt und sagen können, wenn diese gesunden Kräfte auf Positionen zurückgekehrt wären, die er inzwischen aufgegeben hatte?
Kurt Gossweiler: Ich war mir ganz sicher, dass früher oder später eine solche Situation eintreten würde, und dass dann Viele genau diese Frage an Walter (und überhaupt an die Parteiführung) stellen würden: wieso hast Du das mitgemacht, statt uns die Wahrheit zu sagen? In den „Einleitenden Bemerkungen“ zu meinem Politischen Tagebuch, der „Taubenfußchronik“, habe ich auch das geschrieben: „Unerschütterlich davon überzeugt, dass dieser Kampf nur einen Ausgang haben konnte – den Sieg der Marxisten-Leninisten über die Demagogen des modernen Revisionismus… hielt ich es für sehr notwendig, den Verlauf des Kampfes festzuhalten. Denn nach soviel Täuschung über den wahren inneren Zustand der kommunistischen Bewegung würden unvermeidlich viele Fragen an die Parteiführer gestellt werden: Wie konnte es überhaupt geschehen, dass dem Feind ein solcher Einbruch gelang? Warum – wenn Ihr, die Führer, das schon früher gesehen und gewußt habt – habt Ihr geschwiegen, statt uns die Wahrheit zu sagen? In einer solchen Situation schien es mir dann wichtiger zu sein, mit handfesten Fakten zu antworten, als mit theoretischen Erklärungen.. Zu den Fakten, die dann zur Hand sein mussten, gehörten nach meiner Ansicht vor allem auch solche, die zeigten, wie von den Chruschtschow-Leuten versucht wurde, aus der SED-Führung die standfestesten Marxisten-Leninisten, vor allem Walter Ulbricht und Hermann Matern, herauszuschießen, und wie umgekehrt die Ulbricht‘sche Führung sich bemühte, die Auswirkungen der Chruschtschowschen Schädlingspolitik von der DDR fernzuhalten oder sie wenigstens so stark als möglich zu begrenzen;… Die Weiterführung der Chronik diente also … auch der Materialsammlung für die notwendige Aufklärungsarbeit in der Zeit „danach“, für die Zeit nach dem erhofften und für sicher gehaltenen Sieg über die revisionistischen Usurpatoren.“ (Bd.I der Taubenfußchronik, S.23 f.).
ÖD: Die Zukunft bedenkend so zu handeln, das zeugt doch von dem Unterschied zwischen Ihrem Handeln und dem von Walter Ulbricht.
Kurt Gossweiler: Nein. Wenn ich an der Spitze gewesen wäre, – ich weiß nicht, ob ich mich so standhaft wie Walter verhalten hätte. Meine Stellungnahme war eine im Tagebuch stehende, geheime Haltung. Walter Ulbricht aber hatte die Verantwortung für das Land.
ÖD: Um so schwerwiegender waren seine Fehler…
Kurt Gossweiler: Ich sagte schon: wenn man gewußt hätte, das die Periode des Revisionismus in der Sowjetunion nicht eine Episode ist, die man überstehen muß, sondern dass eine solche Haltung zur Dominanz gelangt und zur Ursache dafür wird, dass es zum Ende kommt – wenn man das gewußt und dann dennoch so gehandelt hätte – dann wäre eine solche Haltung unverzeihlich gewesen. Ja.
Aber wir lernten das erst durch unsere Niederlage.
Und darin haben Sie Recht: wir müssen aus dieser Niederlage die Lehre ziehen: es war ein Fehler, nicht von Anfang an offen gegen den Revisionismus und die Revisionisten zu kämpfen.
Aber zu dieser Einsicht bin ich erst durch die Niederlage und durch Diskussionen mit Genossen wie Ihnen gekommen. Vorher schien mir die Politik, die meine Partei unter der Führung Walter Ulbrichts betrieb, die für uns Marxisten-Leninisten der DDR einzig mögliche zu sein. Heute sehe ich das anders. Diese Politik hat nicht verhindert, dass die Entartung immer weiter ging bis zur Katastrophe.
ÖD: Könnten Sie uns die Etappen schildern, die nach dem XX. Parteitag der KPdSU zu Widersprüchen in der DDR geführt haben, und die Punkte nennen, von denen Sie meinen, dass es da Ansätze eines Kampfes gegen den Revisionismus gab, aber auch Fortführung der revisionistischen Linie?
Kurt Gossweiler: Eine heftige Auseinandersetzung gab es in unserer Partei im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen auf und nach dem 8.Plenum der PVAP und mit der Wahl Gomulkas zum 1. Sekretär. In der Führung der SED kam es darüber zu einer Auseinandersetzung mit Kurt Hager, Mitglied des Politbüros und Sekretär für den Ideologiebereich. Er war um diese Zeit in Polen und als er von dort zurückkam, erzählte er voller Begeisterung, wie doch die Partei unter Gomulka auf einmal die Massen für sich gewonnen hätte. Er war drauf und dran, den „polnischen Weg“ als Vorbild für die DDR zu propagieren. Dafür haben ihn die Genossen des Politbüros heftig kritisiert. (S. Taubenfußchronik Bd.I, S. 372 f.)
Von Seiten der Gomulka-Führung wurde über die polnische Botschaft in Berlin und über Westberlin Gomulkas zersetzende Rede auf dem 8. ZK-Plenum der PVAP und die Forderung unter die Leute gebracht, diese Rede müsste auch in der DDR veröffentlicht werden. Aber wir hatten da eine sehr klare Position und unsere Führung erklärte eindeutig, dass wir den sogenannten „polnischen Weg“ ablehnten und Gomulkas Rede nicht veröffentlichen.
Das Vorbild für Gomulka war Titos Jugoslawien. Einer, der den „polnischen Weg“ am aggressivsten propagierte und hartnäckig die Veröffentlichung der Gomulka-Rede verlangte, war Robert Havemann, Professor an der Humboldt-Universität. Er wurde in der DDR zum Hauptvertreter der revisionistischen Dauerattacke gegen die SED und dafür aus der Partei ausgeschlossen und aus allen seine Funktionen entlassen, im Westen aber zu einem Helden des „Widerstandes gegen die „SED-Diktatur“erhoben.
ÖD: Wie reagierte Kurt Hager auf die Kritik an seiner Haltung?
Kurt Gossweiler: Er akzeptierte sie als alter, parteibewußter Genosse, der in der englischen Emigration bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland eine gute Rolle in der Verteidigung einer klaren marxistisch-leninistischen Linie der KPD-Parteiorganisation gespielt hatte.
Durch seine Funktion als Ideologiesekretär der SED hatte er aber vor allem mit Intellektuellen, mit Wissenschaftlern, Künstlern und Schriftstellern zu tun. Und nicht wenige von ihnen reagierten auf die „Liberalisierung“ in anderen sozialistischen Ländern, wie SU, Polen und Ungarn, mit Sympathie und dem Verlangen oder auch der Forderung nach solcher „Liberalisierung“ auch in der DDR. Davon blieb Kurt Hager nicht unbeeinflußt. Um in diesem Milieu die Positionen und die Forderungen der Partei zu vertreten und zugleich ein festes Vertrauensverhältnis herzustellen und zu bewahren, war ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Elastizität vonnöten. Das besaß Hager, vielleicht sogar etwas im Übermaß. Er war jedenfalls – soweit ich das sehe – der Einzige, der von seiner Berufung ins Politbüro unter Ulbricht Mitglied des Politbüros bis zum Ende unter Honecker blieb.
ÖD: Kann man Ihre vorherigen Äußerungen jetzt so fassen, daß die DDR-Führung damals gegenüber revisionistischen Tendenzen, die zwar nicht die Sowjetunion, aber andere sozialistische Länder betrafen wie Polen, Ungarn und Jugoslawien, eine offen kritische Position einnahm?
Kurt Gossweiler: Im Großen und Ganzen ja, aber nicht nur. In Einzelfällen wurden – auf Umwegen und indirekt – auch Maßnahmen kritisiert, die in der SU durchgeführt wurden. Beispiel: als im Januar 1958 die Nachricht durch die Presse verbreitet wurde, dass Chruschtschow am 22. Januar in Minsk die Auflösung der MTS, der Maschinen-Traktoren-Stationen in der SU und den Verkauf der Landwirtschaftsmaschinen an die LPG-Bauern verkündet hatte, veröffentlichte das „Neue Deutschland am 18. März einen Leitartikel, überschrieben: „Über Traktoren und Ideologie“, in dem ein damals sehr bekannter Parteitheoretiker und führender Wirtschaftswissenschaftler, Fred Oelßner, scharf dafür kritisiert wurde, dass er vorgeschlagen hatte, „in unserer Republik den Einzelbauern Traktoren zu verkaufen und die tausendfach als richtig erwiesene Agrarpolitik unserer Partei“ – nämlich die Vereinigung der Bauern in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und deren Unterstützung durch staatliche Maschinen-Ausleihstationen, (die den MTS in der Sowjetunion entsprachen), – „zu ändern. … Politisch und ökonomisch richtig ist es, die auf den sozialistischen Großbetrieb orientierte Agrarpolitik unserer Partei fortzusetzen.“
Das sah zwar so aus, als handele es sich dabei nur um eine DDR-interne Auseinandersetzung, aber die Nähe zu den Nachrichten über die Auflösung der MTS in der Sowjetunion musste aufmerksamen Lesern schon einen Denkanstoß geben.
(Da ich Fred Oelßner persönlich kannte und als einen unserer besten Theoretiker schätzte und ihm folglich nicht zutraute, einen solch unmarxistischen, revisionistischen Unfug wie die Auflösung der MAS im Ernst aus eigenem Antrieb zu fordern, nahm ich an und habe das auch in mein politisches Tagebuch geschrieben, dass er mit dieser Forderung im Einvernehmen mit Walter Ulbricht nur deshalb in die Öffentlichkeit gegangen sei, damit wir mit der Kritik an ihm unserer Öffentlichkeit unsere Kritik an Chruschtschow zur Kenntnis bringen konnten, nach dem Prinzip: Den Sack schlägt man, den Esel meint man. Leider war das eine Fehlinterpretation. Oelßner hatte seinen Vorschlag ernst gemeint, und ernst gemeint war deshalb auch die scharfe Kritik an ihm.)
Übrigen wurden später – wohl auf Druck aus Moskau – die MAS auch in der DDR aufgelöst und die Maschinen an die LPG’n verkauft.
ÖD: Können Sie noch weitere Beispiele solcher Kritik an Maßnahmen in der Sowjetunion nennen?
Kurt Gossweiler: Ja, da gäbe es noch manches anzuführen, aber das würde den Rahmen dieses Interviews sprengen, deshalb darf ich vielleicht auf den Abschnitt „Einige Bemerkungen zum Platz der SED/DDR im Kampf zwischen Marxismus-Leninismus und Revisionismus in der kommunistischen Weltbewegung“ meines Referates über „Stärken und Schwächen im Kampf der SED gegen den Revisionismus“ hinweisen, (Wider den Revisionismus, S. 369 ff), und hier nur eine Frage herausgreifen, die Aufgabe der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution. Das wurde nach dem zweiten Weltkrieg eine Schlüsselfrage für die Lösung der Aufgabe, mit den führenden kapitalistischen Ländern in der Frage der Produktivität der Arbeit nicht nur gleichzuziehen, sondern sie noch zu überholen. In den Vorkriegs- und Kriegsjahren hat die Sowjetunion den riesigen Rückstand des alten Rußland auf diesem Gebiet in gewaltigen Sprüngen so weit verringert, dass sie auf bestimmten Gebieten – vor allem in der Rüstungs-industrie – den Gleichstand erreicht hatte.
Nach dem Kriege war eine der dringendsten Aufgaben, in der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den führenden imperialistischen Staaten nicht nur auf dem Gebiet der Rüstungsindustrie, sondern in allen Bereichen der Volkswirtschaft Schritt zu halten. Auf Initiative von Walter Ulbricht wurden in dieser Richtung nicht nur große Anstrengungen in der DDR unternommen, sondern mit Nachdruck darauf gedrängt, dass dies koordiniert in allen Staaten des RGW, des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe, mit der Sowjetunion an der Spitze, geschieht. Aber nach dem Wechsel von Stalin zu Chruschtschow und seinem Nachfolger Breshnew stießen diese Versuche auf Ablehnung. Die Sowjetführung beschränkte ihre Bemühungen, mit den imperialistischen Staaten mitzuhalten, auf das eigene Land und hier wiederum auf den militärischen Bereich.
Daraufhin unternahm die Partei- und Staatsführung der DDR große Anstrengungen, um auf dem Gebiet der wissenschaftlich-technischen Revolution, vor allem auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung, aus eigener Kraft die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen und die erforderlichen Produktionszweige zu schaffen. Im Zuge dieser Anstrengungen wurde 1963 das „neue ökonomische System der Planung und Leitung“, das „NÖSPL“, verkündet, mit dem erreicht werden sollte, „die ökonomischen Gesetze im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozess einheitlich mit dem Ziel anzuwenden, den wissenschaftlich-technischen Höchststand und die Mobilisierung der Triebkräfte des Sozialismus zu erreichen, die Arbeitsproduktivität maximal zu steigern und den höchsten volkswirtschaftlichen Nutzeffekt zu sichern“. (Wörterbuch der Ökonomie des Sozialismus, Dietz Verlag Berlin, 1969, S.566).
Und weil auch der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit im RGW von der sowjetischen Führung seit Chruschtschow mehr und mehr Hindernisse in den Weg gelegt wurden, rief Walter Ulbricht im November 1966 einen „Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei auf dem Gebiet der Politik, der Wirtschaft und der Kultur“ins Leben.
ÖD: Es gab ja diese berühmte Diskussion über das Wertgesetz; ob seine Rolle begrenzt werden sollte oder ob ihm eine viel stärker regulierende Rolle übertragen werden sollte etc. Die Diskussionen in der Sowjetunion dazu und die späteren Chruschtschow-Interpretationen sind uns ja im allgemeinen bekannt. Gab es in der DDR ähnliche Diskussionen?
Kurt Gossweiler: Ja, die gab es, aber ich habe sie damals nicht aufmerksam verfolgt, weil meine ganze Aufmerksamkeit auf das gerichtet war, was politisch in der Sowjetunion geschah. Aber ich hatte schon mitbekommen, dass in der Sowjetunion eine Diskussion über Wirtschaftsreformen lief, bei der vor allem der Ökonom Liberman mit Forderungen nach Liberalisierung der Wirtschaftsführung auftrat. Aber ich habe dem nicht die gebührende Beachtung geschenkt.
Erst durch die seit einiger Zeit laufende Diskussion in der Zeitschrift „Offensiv“ über die Politische Ökonomie des Sozialismus habe ich mich mit diesen Fragen in den letzten Wochen gründlicher beschäftigt und dabei auch in meinen alten Unterlagen gekramt. Daher kann ich Ihnen darauf jetzt etwas ausführlicher antworten.
Bei uns in der DDR hat ein Referat Walter Ulbrichts auf einer wissenschaftlichen Tagung im September 1967 zum 100. Jahrestag des Erscheinens des „Kapital“ große Diskussionen ausgelöst, weil er darin formuliert hatte, der Sozialismus sei eine „relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Etappe des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“.
Ich habe damals in der Diskussion, die wir in unserem Institut für deutsche Geschichte an der Humboldt-Universität führten, die Aussage Walter Ulbrichts, dass der Sozialismus keine kurze Phase, die sehr bald vom Übergang zum Kommunismus abgelöst würde, sei – (wie das von Chruschtschow und seinen Nachfolgern in der Sowjetunion propagiert wurde) -, sondern einen langen Zeitraum umfassen werde, sehr begrüßt, aber zugleich gesagt, dass man deshalb den Sozialismus nicht in den Rang einer eigenen – wenn auch nur „relativ eigenen“ sozialökonomischen Formation erheben sollte – man sollte bei der Marx’schen Feststellung von den zwei Phasen des Kommunismus bleiben; es genüge zu sagen, dass die erste Phase des Kommunismus, der Sozialismus, einen langen, viel längeren Zeitraum einnehmen werde, als wir uns das bisher vorstellten. Aber ich habe es damals – und sehe es auch heute noch so – als ein großes Verdienst und eine mutige Haltung Ulbrichts angesehen, sich damit offen gegen das prahlerische Gerede in der Sowjetunion vom kurzfristig zu erreichenden Kommunismus zu wenden.
Übersehen habe ich aber damals, dass in einer anderen Frage – nämlich in der Frage der „sozialistischen Marktwirtschaft“ – die von sowjetischen Ökonomen vertretene revisionistische Theorie von Ökonomen der DDR übernommen und in einem von Walter Ulbricht angeregten und mit seinem Vorwort versehenen Buch[18] mit Nachdruck vertreten wurde. Sie folgten damit dem in der Sowjetunion ausdrücklich vollzogenen Bruch mit den Ausführungen Stalins in seiner Arbeit „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“zu den Fragen der Warenproduktion und des Wertgesetzes im Sozialismus.[19] In diesem Buch sind beispielsweise folgende Feststellungen getroffen worden:
S. 260: „Die historischen Erfahrungen beim sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion, in den sozialistischen Bruderländern und in der DDR haben bestätigt, dass sich die sozialistische Produktion aus ihren inneren Bedingungen heraus gesetzmäßig als hochentwickelte, planmäßig organisierte Warenproduktion vollzieht. Die Warenproduktion ist Bestandteil der sozialistischen Planwirtschaft. Die sozialistische Einheitspartei Deutschlands ging und geht in ihrer Tätigkeit stets von diesem dialektischen Zusammenhang aus. Sie wandte sich gegen Auffassungen und Praktiken, die die Warenproduktion im Sozialismus als Überbleibsel, als ‚Rudiment‘ der kapitalistischen Gesellschaft charakterisierten. Zugleich trat und tritt sie gegen Ansichten und Vorschläge auf, die von einem anonymen Ware-Wert-Mechanismus, von einer Warenproduktion ‚an sich‘ ausgehen. Entscheidend ist das soziale Wesen der Warenproduktion. Bereits in den Beschlüssen des VI. Parteitages (Januar 1963, K.G.) wurde herausgearbeitet, dass zur sozialistischen Planwirtschaft, wie sie der voll ausgebildeten sozialistischen Ökonomik entspricht, sowohl die regulierend wirksame gesellschaftliche Planung und Organisation der Volkswirtschaft im gesamtstaatlichen Maßstab als auch die konsequente Entfaltung der sozialistischen Warenwirtschaft gehört. Beides bildet eine organische Einheit.“
S. 262: „Die sozialistische Produktion, die ihre materiellen Güter und Leistungen als Waren produziert und austauscht, ist somit eine geplante Warenproduktion, eine Planwirtschaft sozialistischer Warenproduzenten. …Ultralinke Ideologen gar behaupten, der Sozialismus soll damit beginnen, die Warenproduktion abzuschaffen, wenn er wirklich den Kapitalismus überwinden will.“ Mit dieser Feststellung wird – von den Verfassern gewollt oder ungewollt – Stalin, ohne ihn zu nennen, in die Schublade „ultralinke Ideologen“abgelegt.
S.263: „Die sozialistische Warenproduktion, die auf gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln beruht und durch die sozialistische Produktionsweise sowie die in ihr wirkenden Gesetze bestimmt wird, ist eine spezifische, nur dem Sozialismus eigene Warenproduktion. … Die Warenproduktion bildet somit einen untrennbaren Bestandteil der sozialistischen Ökonomik.“
Völlig verschwunden ist also auch in diesem DDR-Lehrbuch die viele Jahre unangefochtene Stalinsche Feststellung, dass im Sozialismus erstens nur jene Produkte Warencharakter annehmen, also „als Waren erzeugt und realisiert werden“, die zwischen den Betrieben der beiden unterschiedlichen Formen der sozialistischen Produktion, der staatlichen und der kollektivwirtschaftlichen bzw. genossenschaftlichen, ausgetauscht werden, und zweitens „die Konsumgüter, die für die Deckung des Aufwands an Arbeitskraft im Produktionsprozess notwendig sind.“ (Stalin, Ökonomische Probleme, S.20) Von der Revision dieser Feststellung in der Sowjetunion wurde also übernommen, dass im Sozialismus prinzipiell alle Produkte Warencharakter tragen. Folgerichtig wird die gesellschaftlich notwendige Arbeit auch im Sozialismus als generell wertbildend, der Wert generell als anderer Ausdruck für ‚gesellschaftlich notwendige Arbeit‘bezeichnet:
S. 275: „Die wertbildende oder gesellschaftlich notwendige Arbeit und ihr Resultat, der Wert, ist die entscheidende Kategorie der sozialistischen Warenproduktion. …. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit, der Wert, … erklärt die Austauschfähigkeit der von den sozialistischen Warenproduzenten … produzierten materiellen Güter.“ Und weiter auf S. 277: „Die qualitative und quantitative Bestimmung des Wertes als eine wesentliche gesellschaftliche Beziehung ist ein grundlegendes Gesetz der sozialistischen Produktionsweise. In der Einheit der qualitativen und quantitativen Seiten existiert das Wertgesetz. … Das Wertgesetz ist die Grundlage zur Bestimmung der Austauschgröße, das heißt, die ökonomische Quantität der Waren. Die für sie aufgewandte Arbeit wird im Maße der gesellschaftlich notwendigen Arbeit äquivalent ersetzt.“
Immerhin gingen die Verfasser nicht so weit, das Wertgesetz zum Regulator der Produktion im Sozialismus zu erklären, sondern sie sagten richtig: (S.279): „Allein die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung und damit direkt die Ökonomie der Zeit entscheiden über die proportionale Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit, über den optimalen Einsatz und die Ausnutzung der volkswirtschaftlichen Ressourcen.“
Den Einbruch des Revisionismus in die politökonomische Theorie bei uns habe ich damals nicht bemerkt. Warum nicht? Wohl vor allem deshalb, weil ich im „NÖSPL“ und in Walter Ulbrichts erwähnter Feststellung von der langdauernden Phase des Sozialismus Reaktionen begrüßte, mit denen Walter Ulbricht die DDR gegen die Auswirkungen des Chruschtschow-Revisionismus abschirmen wollte. Einen Hinweis darauf, dass von Mitgliedern des von Ulbricht geschaffenen „Arbeitskreis zur Planung der Strategie der Partei“ doch auch merkwürdige Theorien vertreten wurden, erhielt ich erst Jahre nach der „Rückwende“. In einem Gespräch mit einem Genossen, der damals Mitarbeiter dieses Arbeitskreises war, – er ist inzwischen verstorben, den Namen habe ich leider vergessen, – erzählte dieser, zu ihren Aufgaben hätte gehört, „ein sich selbst regulierendes System“ der DDR-Wirtschaft auszuarbeiten. Als ich ihm sagte, das könne nicht stimmen, denn niemals könne sozialistische Planwirtschaft ein „sich selbst regulierendes System“ sein, und deshalb habe Walter Ulbricht unmöglich eine solche Aufgabe gestellt, hatte ich für ihn damit den Beweis meiner völligen Inkompetenz in ökonomischen Fragen erbracht. Tatsächlich ist in dem zitierten Buch über die „Politische Ökonomie des Sozialismus und ihre Anwendung in der DDR“von einer solchen Aufgabenstellung nirgendwo die Rede.
Aber in diesem Arbeitskreis war sie doch zumindest Gesprächsgegenstand. In einem als „Geheime Verschlußsache“ gekennzeichneten Band von Dokumenten aus der Ulbricht-Ära, den Erich Honecker im Februar 1989 an die Mitglieder und Kandidaten zur Kenntnisnahme und Rückgabe verteilt hatte, gibt es darauf einen Hinweis. In einem Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 29./30. August 1992, überschrieben: „Die Geschichte des braunen Kalbslederbandes“, heißt es: „Weiter wird behauptet, dass die Thesen über die Wirtschaftspolitik für das Referat zum VII. Parteitag (April 1967,K.G.) – erarbeitet von der Gruppe „Ökonomie“ des bereits erwähnten strategischen Arbeitskreises unter Leitung von Prof. Herbert Wolf – „gröbste Entstellungen“ enthalten hätten: „Das betrifft z. B. die vorgeschlagene Linie, die zentrale Planung weiter abzubauen und durch ein sich selbst regulierendes System ökonomischer Hebel zu ersetzen.“
So, ich glaube, ich bin jetzt zu dieser Frage schon zu ausführlich geworden, also genug davon.
ÖD: Wie beurteilen Sie die heutige Arbeiterbewegung in Deutschland? Welche Chancen sehen Sie für die Gründung einer kämpferischen kommunistischen Partei in Deutschland?
Kurt Gossweiler: Für mich steht nicht die Frage nach den Chancen für die Gründung einer kämpferischen kommunistischen Partei in Deutschland. Aber ich bin sicher, dass es früher oder später auch in Deutschland wieder eine wirklich marxistisch-leninistische, in den Massen fest verankerte Kommunistische Partei geben wird. Warum? Aus dem gleichen Grunde, aus dem die Kommunistischen Parteien entstanden: weil der imperialistische Kapitalismus früher oder später die von ihm Ausgebeuteten dahin bringt, dass sie seine Herrschaft nicht länger dulden wollen und nach Wegen suchen, wie sie sich von ihm befreien können. Diesen Weg zeigen und die Massen auf diesem Weg zum Sieg über das Kapital führen – das kann nur eine marxistisch-leninistische, eine kommunistische Partei. Ohne sie gibt es keine Zukunft für den Sozialismus, weder in Deutschland noch sonstwo. Früher oder später werden das auch größere Teile der nach einem Ausweg suchenden und von ihren bisherigen Hoffnungsträgern enttäuschten und verratenen Werktätigen begreifen und danach handeln.
Aber die Rolle als Führer der Massen im Kampf gegen den räuberischen Kapitalismus und für eine sozialistische Zukunft können die meisten kommunistischen Parteien – nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Ländern Europas – Griechenland und Portugal bilden da eine ermutigende Ausnahme -, gegenwärtig noch nicht spielen, sind sie doch infolge der betäubenden Niederlage und der fast ein halbes Jahrhundert währenden revisionistischen Verseuchung weitgehend von den Massen isoliert, außerdem zersplittert, und haben doch viele von ihnen noch damit zu kämpfen, sich von dem revisionistischen (oder auch sektiererischen) Ballast zu befreien. Dabei erfolgreich zu sein, wird erst gelingen, wenn sie ihre Isolierung von den unabhängig von ihnen vor sich gehenden Bewegungen der Massen überwinden und selbst wieder ein untrennbarer Teil dieser Massenbewegung werden und Vertrauen und Autorität erringen. Das kann noch sehr lange dauern – aber der Anfang zu einem Lernprozesses der Massen – der Verlust des Vertrauens zu den bürgerlichen Politikern von der CSU bis zur Sozialdemokratie in ihren beiden Spielarten – SPD und PDS, – gewöhnlich „Politikverdrossenheit“ genannt –, ist schon seit Längerem gemacht. Wir dürfen aber an keinen Selbstlauf glauben: die Gefahr ist groß, dass größere Teile der enttäuschten Massen – wie schon einmal – nach ganz rechts abdriften, weil sie links keine Kraft sehen, die imstande wäre, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden.
ÖD: Gibt es für Sie eine kommunistische Partei in Deutschland?
Kurt Gossweiler: Wie Sie wissen, gibt es in der Bundesrepublik mehrere Parteien, die sich als kommunistische Partei bezeichnen, von denen aber nach meiner Ansicht nur die 1968 gegründete Deutsche Kommunistische Partei – DKP -, und die 1990 nach dem Sieg der Konterrevolution auf dem Gebiet der DDR gegründeten KPD ernst genommen werden können;
– die DKP, weil sie – obwohl an Mitgliedern nur einige Tausend zählend – diejenige ist, die ihrer Geschichte und ihrem Bestand an Führungskadern und Mitgliedern nach die direkte Nachfolgerin der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands darstellt;
– die KPD, – obwohl an Mitgliedern nur einige Hundert zählend -, weil sie als einzige ein Programm hat, das als marxistisch-leninistisch anerkannt werden kann.
Beide – auch die DKP – sind aber weit davon entfernt, Parteien zu sein, die in ihrem gegenwärtigen Zustand über genügend Masseneinfluß verfügen, um wirksamen Einfluß auf den Lauf der Dinge ausüben zu können. Die Partei, in der noch die meisten der organisierten Kommunisten Mitglied sind, dürfte noch immer die inzwischen schon sozialdemokratisch, – und das heißt auch, antikommunistisch -, gewordene PDS, sein. Und schließlich ist ein sehr großer und ständig wachsender Teil der Kommunisten in Deutschland – wie auch ich – aus der PDS ausgetreten, ohne sich einer der beiden kommunistischen Parteien anzuschließen, sind also „parteilose Kommunisten“.
Sie alle sind sich aber in einem einig: darin nämlich, daß Deutschland wieder eine kämpferische, marxistisch-leninistische und fest in den Massen verankerte kommunistische Partei braucht. Wie ich schon sagte, bin ich mir sicher, dass eine solche Partei wieder kommen wird. Auf welchem Wege – ob dadurch, dass die vorhandenen kommunistischen Parteien und Gruppierungen ihre Differenzen beilegen und sich vereinigen, oder dadurch, dass sich eine von ihnen zu dem kommunistischen Gravitationszentrum entwickelt, dem sich alle oder die meisten Kommunisten anschließen, oder schließlich durch eine Neugründung, weil keine der vorhandenen Parteien und Gruppen Bestand hat – das muß der geschichtlichen Entwicklung überlassen bleiben. Sicher ist für mich nur, dass sie kommen wird, weil sie gebraucht wird.
ÖD: Und die Revisionismusdiskussion? Glauben Sie, daß diese Diskussion einen besonderen Stellenwert für diesen Prozeß hat, der jetzt vonstatten geht in den verschiedenen Parteien?
Kurt Gossweiler: Ja, natürlich. Ohne die Überwindung des Revisionismus und des Anti-Stalinismus, – der in Wirklichkeit Anti-Leninismus ist! – wird es keine wirklich revolutionäre kommunistische Partei als Führerin der Massen geben.
ÖD: Herr Gossweiler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Özgürlük Dünyasi, Kurt Gossweiler, Berlin-Grünau, 25. Februar 2005