Samy Yildirim
Antwort an meine Kritiker. Teil 3 und Schluss
5) Bedingungen für den Sozialismus.
– Station Nr. 1: Alter Orient.
Hier müssen wir sehr weit zurückgehen, bis in die Zeit des Alten Orients, der Wiege des westlichen Zivilisation. Die Fragen, mit denen wir es hier zu tun haben, treiben die Menschen schon seit längerer Zeit um. Es wäre in der Tat idealistisch anzunehmen, eine Erkenntnis käme fix und fertig auf die Welt, genauso wie der frommen Legende zufolge die Pallas Athene, die Schutzgöttin Athens, komplett mit Eule und Rüstung dem Haupte ihres Vaters, Götterkönig Zeus, entsprungen sein soll.
Zeitlich umfasst der Alte Orient die letzten drei Jahrtausende v. Chr.; räumlich umfasst er die Gebiete der heutigen Staaten Ägypten, Israel, besetzte Palästinensergebiete, Jordanien, Libanon, Syrien, Türkei, Irak, Kuwait, Iran und der arabischen Halbinsel, wenn wir großzügig rechnen.
Zu den Ältesten sozialkritischen Schriften der westlichen Zivilisation zählen die in den alttestamentlichen Kanon aufgenommenen Schriften der sozialkritischen Propheten Amos, Hosea und Micha, welche alle aus dem alten südlichen Königreich Judäa stammten. Während Amos und Hosea in das benachbarte und deutlich wohlhabendere alte nördliche Königreich Israel auswanderten, blieb Micha in Judäa. Amos und Hosea erlitten in Israel das typische “Gastarbeiterschicksal”; die bürgerliche Soziologie spricht hier von der “marginal man’s position”, also von der “Position des Mannes am Rande (der Gesellschaft)”; ihre Wirkung entfalteten sie in Zirkeln von anderen Judäern, die ähnliches erlitten hatten. Micha hingegen predigte im öffentlichen Raum in Judäa und geißelte die Verantwortungslosigkeit der Herrschenden gegenüber den werktätigen Massen, wozu eine ordentliche Portion an Zivilcourage gehörte.
Nach dem durch die Assyrer gegen Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. herbeigeführten gewaltsamen Ende des alten nördlichen Königreiches Israel ergoss sich ein Strom von Flüchtlingen nach Judäa, wodurch dort eine Gruppe religiöser Fanatiker ans Ruder kam, die Deuteronomisten. Diese initiierten eine sehr interessante Entwicklung, welche rund 200 Jahre währte, und die schließlich die Bekehrung der Judäer zum JHWH-Monotheismus bedeutete, und als “hiskianisch-josianische Reform” oder auch als “JHWH-monotheistische Revolution im westjordanischen Bergland” bezeichnet wird. Dabei nahmen die Deuteronomisten auch die in den Schriften von Amos, Hosea und Micha enthaltenen Ideen in ihr Programm auf. Ihr Programm gossen die Deuteronomisten nicht zuletzt in die Form der insgesamt 248 Gebote und 365 Verbote, zusammen also 613 mitzwot (= religiöse Pflichten), an welche orthodoxe Juden sich bis heute zu halten haben, wollen sie ihren Glauben streng praktizieren. Viele heutige Linke wundern sich über die Heterogenität des Programms sog. “Rechtspopulisten”, welche “linke” Forderungen genauso wie “rechte” Forderungen gleichermaßen zu erfüllen versprechen; im westjordanischen Bergland gingen solche Sache schon vor über zweieinhalb Jahrtausenden zusammen.
Nun wurde aber auch Judäa in die politischen Auseinandersetzungen hineingezogen, welche während des 7. Jahrhunderts v. Chr. im Alten Orient tobten. Zu den Opfern gehörte auch der judäische König Josia (regierte von 639 bis 609 v. Chr.), der vom ägyptischen Pharao Necho II. nach Unterweltmanier (was damals dort allerdings üblich war) beseitigt wurde. Da Josia aber ein Promotor der JHWH-monotheistischen Revolution war und der Liebling der Deuteronomisten, welche ihn als “besten judäischen König seit David bewerteten, erschütterte seine Ermordung die Position der Deuteronomisten. Es kam wieder zum Aufleben der alten polytheistischen und synkretistischen Kulte in Judäa.
– Station Nr. 2: Antikes Attika.
Aus deuteronomistischer Sicht aber war am schlimmsten, dass Josias Nachfolger sich Ausländer ins Land holten, um die Schlagkraft der Armee zu verbessern. Der historische Zufall wollte es, da alle diese Söldner aus Attika kamen. In Judäa selbst blieben sie nur rund 12 Jahre, denn nach dem Ersten babylonisch-judäischen Krieg (597 v. Chr.) bestand das siegreiche Babylon auf ihrem Abzug. Aber zurück in Attika sollten diese Söldner noch für Veränderung sorgen.
Aus den uns erhalten gebliebenen Briefen, die die attischen Söldner an ihre Verwandten zu Hause schickten, wissen wir, da sie sehr beeindruckt waren von den Errungenschaften der Judäer auf den Gebieten des Rechts- und des Sozialstaates. Zurück in Attika begannen sie, das in Judäa Gelernte in die Praxis umzusetzen. Wenn also Adolf Hitler erklärte, dass Demokratie, Rechtsstaat und Kommunismus “jüdische Sachen” seien, dann gibt es für diese Auffassung ein fundamentum in re. Wäre es Adolf Hitler um Aufklärung gegangen, so würde er erklärt haben, dass sie zumindest judäisch inspiriert seien, da seinerzeit die attischen Söldner während ihres Aufenthaltes in Judäa auf diese Gedanken gebracht wurden. Aber um Aufklärung ging es Adolf Hitler ja nie.
Zwei Namen sind besonders wichtig: Drakon und Solon. Sie stammten aus dem attischen Adel und bekleideten entsprechend hohe militärische Ränge. Sie gehörten zu diesen Söldnern und begründeten eine europäische Tradition: die des kämpferischen Sozialreformismus. Sie gingen mit der sprichwörtlich gewordenen “drakonischen Härte” vor, sowohl gegen die reformunwilligen Teile ihrer Klasse als auch gegen jene, welche weitergehende Vorstellungen im Hinblick auf gesellschaftlichen Fortschritt hatten: die beiden ersten Sozialdemokraten Europas.
– Station Nr. 3: Aristoteles.
Von Berthold Brecht (1898 bis 1956) stammt der Vorschlag, zwischen der kommunistischen Sehnsucht nach der herrschaftsfreien Gesellschaft (also der Gesellschaft ohne Herren und also auch ohne Knechte) und der sozialdemokratischen Sehnsucht nach dem guten Herren. Im westjordanischen Bergland wurde die letztere formuliert; auf den Gedanken, weiterzugehen, kamen erst die Griechen.
Aristoteles fragte sich, welche Bedingungen notwendig seien, um eine solche Gesellschaft ohne Herren und also auch ohne Knechte zu realisieren. Er zählte dann mehrere Bedingungen auf, die er aber allesamt für unerfüllbar hielt. Diese Bedingungen decken das ganze Spektrum ab von “ganz Überbau” bis “ganz Basis”. Ich habe Konsens mit Aristoteles: ich halte ebenfalls alle diese Bedingungen für notwendig. Ich habe aber auch Dissens mit Aristoteles: ich halte alle diese Bedingungen für erfüllbar.
Die Mentalitätsbedingung verlangt eine geistig-moralische Wende in den Beziehungen der Menschen untereinander; sie müssen den jeweils Anderen um seiner selbst willen lieben, was er in seiner “Nicomachischen Ethik” ausführlicher darlegte. Kant machte daraus den “Praktischen Imperativ”, keinen Menschen nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen, sondern ihn stets in seiner Selbstzweckhaftigkeit zu akzeptieren. Bei Marx wurde daraus der “Revolutionäre Imperativ”, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes Wesen sei.
Die Planungsbedingung verlangt, dass die Gesellschaft alle sie in ihrer Gesamtheit anbelangenden Probleme nach einem im Vorhinein verabredeten Plan regele. In praxi verlangt dies nach Vergesellschaftung der Produktion und zentraler Planung ebenso wie nach entsprechenden Institutionen und Mentalitäten.
Die Arbeitsproduktivitätsbedingung verlangt, dass die Arbeitsproduktivität hinreichend hoch entwickelt sei; “hinreichend” bedeutet hier, Aristoteles zufolge, dass die Arbeitsinstrumente gleichsam von selbst sich sinnvoll hin und her bewegen.
Der erste, der die Arbeitsproduktivitätsbedingung als erfüllbar ansah, war Antipater, der um 100 v. Chr. in Alexandrien in Ägypten lebte. Den Bau von Windmühlen, mit denen eine im Besitz der königlichen Familie befindliche Manufaktur betrieben wurde, nahm er zum Anlass für ein Gedicht, das den ersten jemals verfassten Lobgesang auf den technischen Fortschritt darstellt. Antipater war der erste Mensch, der dies jemals erkannte: der Weg zur Erfüllung der Aristoteles’schen Arbeitsproduktivitätsbedingung führt über die Ersetzung leicht erschöpflicher Lebewesen (üblicherweise: Menschen, Rinder, Pferde) durch prinzipiell unerschöpfliche Naturvorgänge (hier: der Wind) als industrieller Kraftquelle.
– Station Nr. 4: Der sog. “real existierende Sozialismus”.
Das Scheitern des sog. “real existierende Sozialismus” ist der zu erklärende Sachverhalt. Wenn wir davon ausgehen, da es keine wesentlichen Fehler gab, die vom sog. “real existierenden Sozialismus” begangen wurden, dann heißt das, dass der Westen seine Überlegenheit bewiesen habe. Dann aber verbietet sich die Propagierung sozialistischer Lösungsansätze für die weltweit zu beobachtenden Probleme. Wenn wir also ausgehen, dass es wesentliche Fehler gab, die vom sog. “real existierenden Sozialismus” begangen wurden, dann müssen wir fragen, welcher Art diese waren.
Die von Aristoteles entwickelte “Methode der Aufzählung aller notwendigen Bedingungen” (Wodurch wohl wurde Aristoteles auf den Gedanken gebracht, diese Methode zu entwickeln?) legt den Schluss nahe, da es mindestens eine notwendige Bedingung gab, die nicht erfüllt war. Bloß welche?
Wer die entscheidende Ursache für den Sieg des Westens in der Systemauseinandersetzung im Überbau erblickt, der wird gerne als “Idealist” bezeichnet. Wer die entscheidende Ursache für den Sieg des Westens in der Systemauseinandersetzung in der Basis erblickt, der wird gern als “Trotzkist” bezeichnet. Wie aber ist der zu bezeichnen, der, wie Gerald Hoffmann, keine entscheidenden Fehler des sog. “real existierenden Sozialismus” als Ursache für den Sieg des Westens in der Systemauseinandersetzung auszumachen weiß?
Die Basis kennt Produktivkräfte und Produktivverhältnisse. Von Leuten wie Trotzki und Bucharin stammt die These, dass die Produktivkräfte in der UdSSR nicht weit genug entwickelt gewesen wären für sozialistische Produktivverhältnisse. Von Extremrechten wie etwa Hagen Fritz Thorgesson oder Friedrich August von Hayek stammt die dazu antisymmetrische These, dass in der UdSSR die Produktivkräfte den sozialistischen Produktivverhältnissen über den Kopf gewachsen wären.
Ich gehe hierin mit Kurt Gossweiler konform, dass die entscheidende Ursache für den Sieg des Westens in der Systemauseinandersetzung im Überbau der UdSSR und ihrer Verbündeten zu suchen ist, und zwar aufgrund einer zunehmenden revisionistischen Entartung von KPdSU und UdSSR, und da diese Entartung nicht bedingt war durch etwaige wirtschaftliche Probleme, sondern diese erst seinerseits verursacht hat. Folglich war es konsequent von mir, Fragen des Überbaus zu thematisieren.
Hätten Hansi Oehme und Gerald Hoffmann die Absicht gehabt, ernsthaft zu diskutieren, so würden sie mich gefragt haben, welche Bedeutung ich Fragen des Überbaus bzw. der Basis jeweils beimesse. Ich empfehle ihnen daher, sich fortan ein Beispiel an der “Sesamstraße” zu nehmen. Das “Sesamstraße”-Lied geht so: “Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum. / Wer nicht fragt, bleibt dumm. / Tausend schöne Sachen gibt es überall zu sehen. / Manchmal muss man fragen, um sie zu verstehen.”
Anhand der Methode der Aufzählung aller notwendigen Bedingungen können wir unterscheiden: jemand mit einer Frage gibt nicht die Bedeutung einer notwendigen Bedingung zu – jemand mit dieser Frage gibt diese Bedeutung zu, hält sie aber für unerfüllbar – jemand sieht diese Beding als notwendig und als bereits erfüllt an. In jedem Falle spricht er dann wenig darüber. Da ich der Auffassung war und bin, dass die Produktivkräfte sehr wohl weit genug entwickelt waren im Rußland des Jahres 1917, und ich alle wirtschaftlichen Probleme für lösbar halte mittels Gesellschaftseigentum und zentraler Planung, kann ich die entscheidende Ursache für den Sieg des Westens in der Systemauseinandersetzung nicht in der Basis erblicken. Dann muss diese wohl im Überbau zu suchen sein.
6) Definition und Herkunft des Revisionismus.
Unter Revisionismus verstehe ich ein (durchaus systematisierbares) Konglomerat von gegen den Marxismus-Leninismus gerichteten Ansichten (samt daraus sich mit gewisser Notwendigkeit ergebender Handlungen), welche sich aber des Vokabulars und zumindest einiger Argumentationsmuster des Marxismus-Leninismus bedienen und vorgeben, Ausdruck bzw. Variante des Marxismus-Leninismus, ggf. sogar eine Weiterentwicklung desselben, zu sein. Dieser Widerspruch von Form und Inhalt kann vorsätzlicher Täuschung geschuldet sein, kann aber auch auf ungenügender Kenntnis des Marxismus-Leninismus seitens des Revisionisten beruhen. Im ersten Fall weiß der Betreffende, was er tut, ist also als Agent des Klassenfeindes anzusehen; im zweiten Fall ist er sich dessen nicht bewusst und daher als Irregeführter anzusehen.
Bei dieser Definition gehe ich von den Gedanken aus, die ich im Abschnitt “Denken und Handeln” dargelegt habe. Wem das zu subjektivistisch ist, der möge bedenken, dass in der Gesellschaft und in der Geschichte nichts von alleine geschieht, sondern dass Menschen sich bereit finden müssen, es zu tun, also zu handeln, und diese Menschen haben Ansichten und Absichten. Da das Denken und Handeln sich nicht irgendwo abspielt, sondern im Hier und Jetzt einer Klassengesellschaft, sind Denken und Handeln immer auf die Klassenstruktur der Gesellschaft zu beziehen, gleichsam zu “erden”. In einer dialektisch-materialistischen Psychologie (= Lehre vom Bewusstsein) wir diese “Erdung” auch vorgenommen; in einer bürgerlich-idealistischen Psychologie eben darum nicht.
Gerald Hoffmann gibt seinerseits eine bemerkenswerte Erklärung für die Herkunft des Revisionismus; in der Fußnote 102 auf Seite 77 der “offen-siv” Nr. 02/2004 schreibt er: “Aphoristisch gesprochen: aller Revisionismus basiert auf dem Unverständnis von 13 Seiten Kapital, nämlich des Abschnittes ”Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis”. Dessen Verständnis setzt voraus, den Unterschied von a) qualitativer / quantitativer Wertbestimmung (abstrakte Arbeit ist Wertsubstanz / notwendige Arbeitszeit ist Wertmaß) und b) Wertform (Tauschverhältnis von Privatproduzenten) andererseits zu begreifen.”
Demnach wird man Revisionist, wenn man diesen Abschnitt des Ersten Bandes des Kapital von Marx, “Der Produktionsprozess des Kapitals” nicht begreift. Da Begreifen eine Sache des Bewusstseins ist, macht also auch Gerald Hoffmann Gebrauch von den Überlegungen, die ich explizite im Abschnitt “Denken und Handeln” dargelegt habe.
In seiner Kritik an meiner Kritik an seinem Revisionismus-Beitrag erwähnt Gerald Hoffmann den Begriff der “aufrechten Reformkommunisten”, welche ehrlich davon überzeugt waren, den Marxismus-Leninismus weiterzuentwickeln, indem sie sich vom sog. “Stalinismus” entfernten, und dann überrascht waren, als es zur sog. “Wende” kam, und auch heute noch so denken wie vor rund 20 Jahren.
Solche “aufrechten Reformkommunisten” gab es allerdings, was ich aus persönlicher Erfahrung bezeugen kann; sie fallen unter den zweiten Fall meiner Definition des Begriffs Revisionismus und können als von Gorbatschow und Konsorten Irregeführte bezeichnet werden – ganz so, wie Robert Steigerwald und Klaus Steiniger als von Chrustschow (wenngleich auch nachträglich) Irregeführte bezeichnet werden können. Wie kommt Gerald Hoffmann auf den Gedanken, mit dem Verweis auf solche Menschen mich widerlegt zu haben?
Die Spitzenrevisionisten allerdings fallen unter den ersten Fall meiner Definition des Begriffs Revisionismus. Oder glaubt Gerald Hoffmann etwa, Chrustschow und später Gorbatschow wären
ebenfalls “aufrechte Reformkommunisten” gewesen? Ich hoffe doch nicht, dass er dies glaubt. Allenfalls wäre ich bereit, etwa Manfred Behrend und die anderen Autoren des “Hintergrund” als “aufrechte Reformkommunisten” zu bezeichnen.
Nun müssen wir uns aber fragen, wie es zu solchen Überlegungen und Handlungen kommen kann. Dabei ist zwischen den Spitzenrevisionisten und den “aufrechten Reformkommunisten” zu unterscheiden.
Es kann sein, dass jemand aus einer Ausbeuterfamilie kommt, und sich den Revolutionären anschließt; sei es aus Opportunismus, aus gewandelter Überzeugung oder aus der Absicht heraus, die Revolutionäre zu unterwandern und von innen heraus zu bekämpfen. Solche Menschen werden ganz bestimmt keine “aufrechten Reformkommunisten” werden. Ludo Martens diskutiert mehrere solcher Fälle.
Es kann sein, dass jemand aus einer Familie von Ausgebeuteten kommt und durch die Revolution auf einen hohen Posten gesetzt wird. Dort könnte er charakterlich verdorben werden, etwa indem er sich an autoritäres Auftreten und hohes Einkommen (im Vergleich zu früher und zu seinen nicht beförderten Bekannten von früher) gewöhnt und/oder indem er von in seiner neuen Umgebung befindlichen Menschen aus Ausbeuterfamilien entsprechend ihren Vorstellungen “umerzogen” und so zu einem der ihren wird. Je nach dem Grad, in welche ihm dies bewusst wird, wird aus so einem Menschen eher ein Revisionist im ersten oder im zweiten Fall meiner Definition.
Es kann sein, dass jemand angesichts der Schwierigkeiten resigniert und dann für Defätismus empfänglich wird. Dies trifft sicher auf viele der Rechten im Fraktionskampf der Zwanziger zu, deren Gedanken Bucharin artikulierte.
Es kann sein, dass jemand angesichts der Schwierigkeiten “sein Heil in der Flucht” (nach vorne) sieht und für überstürztes Vorgehen optiert. Dies trifft sicher auf viele der Linken im Fraktionskampf der Zwanziger zu, deren Gedanken Trotzki artikulierte.
Es kann sein, dass jemand aus den Erfolgen beim sozialistischen Aufbau zu der Überzeugung kommt, dass dem Menschen nichts unmöglich sei, und dass es insbesondere die Sowjetmacht vermöge, “die Gesetze der Wissenschaft umzustoßen und durch eigene Gesetze zu ersetzen”, wie Stalin es “über die Mängel der Parteiarbeit” schrieb (Domenico Losurdo machte daraus dann den “Daniel-Düsentrieb-Optimismus”, den er bei Chrustschow am Werke sah), und was Kurt Gossweiler als “Neigung jüngerer Kader” bezeichnete, zu glauben, “selber ein besseres und reiferes Urteil” zu haben als praxiserfahrene ältere Kader.
Es kann sein, dass jemand … . Hier bitte ich die Liste selber weiterzuschreiben; sie ist nämlich bei weitem nicht vollständig.
Ich hoffe doch sehr, dass nun alle einsehen, dass wir uns ansehen müssen, was die Revisionisten denken und tun, denn auch die Revisionisten sind Menschen und keine Außerirdischen. Es sollte klar geworden sein, dass es eben nicht “idealistisch” oder “trotzkistisch” oder “freudianistisch” ist, sich mit Frage des Bewusstseins zu beschäftigen. Schließlich ist bei dem hier dargelegten Gedankengang die geforderte “Erdung” gegeben: ich nehme Bezug auf die Herkunft und die nunmehrige Umgebung eines Menschen sowie auf wirtschaftliche und sonstige Gegebenheiten, die einem Menschen zum Denken und Handeln Anlass geben können.
Wir müssen uns fragen, wie die Revisionisten in leitende Positionen kommen, ob sie als Revisionisten Karriere machen, oder ob sie während ihrer Karriere zu Revisionisten werden. Anzunehmender Weise werden bewusste Revisionisten einander erkennen und fördern, während “aufrechte Reformkommunisten” üblicherweise nicht in Spitzenpositionen gelangen, da ihnen andernfalls ein Licht aufgehen könnte und sie bemerken würden, von den bewussten Revisionisten als “nützliche Idioten” benutzt worden zu sein. Es ist allerdings auch möglich, dass aus einem “aufrechten Reformkommunisten” ein bewusster Revisionist wird aufgrund seiner Karriere. Selbstverständlich müssen dabei auch Fragen des Umganges miteinander und der Zivilcourage erörtert werden. Wo wird es Revisionisten leichter gemacht: wo man sich aussprechen kann oder wo man sich rechtfertigen muss für seine Lektüre?
7) Die Politik der UdSSR von 1953 bis 1991.
Gerald Hoffmann sieht in der Politik der UdSSR nach 1953 “revisionistische Tendenzen”; mir wirft er vor, ich betrachtete die UdSSR als eine im Wesentlichen revisionistische Macht seit 1956. Das wirft die Frage auf, seit wann denn Gerald Hoffmann die UdSSR als eine im Wesentlichen revisionistische Macht sieht: etwa erst seit 1985?
Wenn an der Einstellung zu Stalin entschieden werden kann, ob wir es mit Revisionisten zu tun haben, dann sind die Parteitage 1956 und 1961 zumindest als Meilensteine der revisionistischen Entartung von KPdSU und UdSSR anzusehen.
Wir wollen uns ein wenig die Politik der UdSSR nach 1953 anschauen und nach weiteren “Meilensteinen” Ausschau halten; vielleicht können wir dann die Frage beantworten, wann der sprichwörtliche Rubikon überschritten wurde.
1953: Stalin stirbt. Machtkampf im Politbüro. Berija wird entmachtet und erschossen, später als “Revisionist” bezeichnet. Chrustschows Politik führt zu den Unruhen in der DDR. Fortan wird die Frage der Deutschen Einheit zu einer Waffe des Westens gegen den Osten.
1954: Auf Betreiben Chrustschows wird die Krim von Ruland an die Ukraine übertragen. Damit wird ein Präzedenzfall geschaffen, der zur Infragestellung aller Grenzen innerhalb der UdSSR führen kann.
1955: Adenauer erreicht die Freilassung von als Kriegsverbrecher verurteilten ehemaligen Angehörigen der NS-Wehrmacht aus der Haft in der UdSSR. Chrustschow in Belgrad; noch auf dem Flugplatz spricht er Tito von den Beschuldigungen von 1948 frei.
1956: XX. Parteitag der KPdSU. Beginn der sog. “Entstalinisierung”. Antikommunistische Umtriebe in Polen und Ungarn. Auflösung der Kominform. Beginn des Auseinanderdriftens der diversen kommunistischen und Arbeiterparteien.
1957: Ausschluss der Gruppe um Molotow und Malenkow als “parteifeindlich”.
1958: Chrustschow provoziert eine Krise um West-Berlin und treibt die Zahl der Republikflüchtlinge aus der DDR in die Höhe, was zu einer weiteren Destabilisierung und Delegitimierung der DDR führt.
1959: Camp-David-Gespräche. Chrustschow beschwört den “Geist von Camp David” und macht damit deutlich, dass er eine Beteiligung der Massen nicht wünscht; stattdessen sollen diese auf die Führer – auch des Westens ! – vertrauen. Im Antarktis-Vertrag trifft die UdSSR mit den anderen Unterzeichnerstaaten (allesamt imperialistische Großmächte) eine Absprache, den südlichsten Kontinent “gütlich” untereinander aufzuteilen. Botschaft: die Erde gehört unter die “Großen der Welt” aufgeteilt, und die UdSSR ist mit dabei.
1960: Abbruch der Unterstützung der VR China durch die UdSSR. Trotz der fortgesetzten Verletzung der Souveränität der UdSSR durch US-amerikanische Spionageflugzeuge (“Gary-Powers-Zwischenfall”) besteht Chrustschow darauf, den USA sei “guter Wille” zu attestieren. Peinlicher Auftritt von Chrustschow vor der UNO-Vollversammlung in New York.
1961: XXII. Parteitag der KPdSU. Annahme des hirnrissigen Chrustschow’schen Parteiprogramms, das Unerfüllbares verspricht. Erste ernste Störungen der wirtschaftlichen Entwicklung der UdSSR. Entfernen der Leiche Stalins aus dem Mausoleum und Umbenennung Stalingrads in Wolgograd: deutlichstes Zeichen der sog. “Entstalinisierung”.
1962: Professor Liebermann in der UdSSR und Ota Sik in der CSSR erklären öffentlich, dass nur der Übergang zur Marktwirtschaft eine sinnvolle Reform sei. Die Planwirtschaft wird als “überholt” bezeichnet. “Kuba-Krise”, bei der Chrustschow und Kennedy praktisch die ganze Welt in atomare Geiselhaft nehmen und sich anschließend als Beschützer aufspielen.
1963: Auseinandersetzung der KP Chinas mit der KPdSU über die Generallinie der kommunistischen Bewegung. Darinnen werden auch wirtschaftliche Fragen behandelt. Die KPdSU reagiert mit Ablehnung und verweigert die Diskussion.
1964: Chrustschow wird gestürzt, bevor er die KP Chinas als “Trotzkisten” verurteilen lassen kann. Breschnew wird Nachfolger und setzt diese falsche Politik auf weniger spektakuläre Weise fort. Ich bringe einige “Meilensteine”.
1968: “Prager Frühling” in der CSSR. Anstatt auf berechtigte Kritik der Werktätigen einzugehen und dadurch bis dahin verspieltes Vertrauen zurück zu gewinnen und die reaktionären Kräfte zu isolieren, wird auf Gewalt gesetzt. Dadurch weiterer Vertrauensverlust und Isolierung der fortschrittlichen Kräfte, da nunmehr als “Panzerkommunisten” verschrien. Breschnew verkündet die Doktrin von der begrenzten Souveränität der mit der UdSSR verbündeter Staaten. Auf Initiative von Breschnew schließen UdSSR, USA und UK den Atomwaffensperrvertrag in der Absicht, ein atomares Direktorium über die Erde zu errichten.
1969/70: Breschnew provoziert militärische Zusammenstöße zwischen UdSSR und VR China entlang der Amur-Ussuri-Grenze.
1971: Breschnew widersetzt sich der Ersetzung Taiwans durch die VR China als ständiges Mitglied im Sicherheitsausschuss der UNO.
1972: Höhepunkt der sog. “Entspannungspolitik”: UdSSR und USA unterzeichnen den ABM-Vertrag und versichern einander schriftlich, fortan “auf der Grundlage der Gleichberechtigung” die Weltpolitik in ihrem Sinne zu regeln.
1975: Höhepunkt der Kollaboration von UdSSR und USA in der Weltraumfahrt. In den folgenden Jahren profitiert auch die UdSSR von der Ausbeutung indischer und pakistanischer Billigarbeitskräfte bei der Verschrottung außer Dienst gestellter Schiffe. Auch dies öffnet vielen Menschen in der sog. “Dritten Welt” die Augen über den wahren Charakter der Nach-Stalin-UdSSR.
1985: Gorbatschow wird Generalsekretär der KPdSU und beginnt die letzte Phase der Konterrevolution.
1986: XXVII. Parteitag der KPdSU beschließt die sog. “Perestroika”.
1987: Die Wirtschaftsbeschlüsse des Sommers bedeuten den Abschied von der Planwirtschaft zum Beginn des folgenden Jahres.
1988: Beginn der ernsten Wirtschaftskrise der UdSSR. Beginn der sog. “Aufarbeitung der Geschichte”. Offen antikommunistische Behauptungen westlicher Autoren werden zu neuen Forschungsergebnissen der UdSSR-Wissenschaft erklärt.
1989: Jelzin wird neuer “starker Mann” in der Russischen SSR und kündigt an, UdSSR auflösen zu lassen. “Wende” in Osteuropa.
1990: Zerfall der UdSSR beschleunigt sich. Der XXVIII. Parteitag der KPdSU erklärt den Sozialismus für gescheitert. Gorbatschow bittet USA-Präsident Bush um Ausleihung des White-House-Beamten Sununu, um die Probleme der UdSSR lösen zu helfen. Jelzin nennt sich “Präsident Rußlands”. Austritt der baltischen SSRen. “Pullover-Gespräche” von Gorbatschow und Kohl im Kaukasus. Gorbatschow erscheint als Mann, der seine letzten Habseligkeiten ins Pfandhaus bringt. Kohl erscheint als der zukünftige “Iron Chancelor of Europe”, wie ihn das US-amerikanische “TIME”-Magazin denn auch einmal nennen wird.
1991: Ende der UdSSR. Gorbatschow erklärt seine Lebensaufgabe für erfüllt, und hierin stimme ich ihm zu. Die kulakische Herkunft von Gorbatschow und Jelzin wird enthüllt.
Frage: wann wurde der Rubikon überschritten?
Abschließende Bemerkungen.
Dass die Linke im weitesten Sinne dieses Wortes 1989/90/91 so sehr besiegt wurde, ist rational zu erklären. Diese Erklärung umfasst notwendiger Weise das Verhältnis, das viele Linke zur Wirklichkeit haben und das nur dem Namen nach dialektisch und materialistisch ist.
Zu vieles wird aus der unter Linken verbreiteten Weltsicht ausgeklammert, und wer sich an die Erforschung des Ausgeblendeten macht, der wird diffamiert. Jedweder “index librorum prohibitorum” aber ist prinzipiell unvereinbar mit demokratisch-rechtsstaatlichen Verhältnissen, und über diese ist hinauszugehen, nicht aber hinter diese zurückzufallen, wie Marx und Engels nicht müde wurden zu betonen.
Wer Aufklärung verspricht und dann nur Bekanntes wiederkäut, und schlechter noch als anderswo üblich, der schadet der Sache, die er zu vertreten meint (oder auch nur zu vertreten vorgibt und glauben machen will). Da meine Kritiker zwar Motiv, nicht aber Mittel und Möglichkeiten haben, den mit ihren Worten verbundenen Gedanken in die Tat umzusetzen, den bösen Worten also noch bösere Taten folgen zu lassen, verstehe ich die Gehässigkeiten der drei abgedruckten Zuschriften.
Samy Yildirim, Zaandam, Niederlande