So siegte Vietnam

Irene und Gerhard Feldbauer

So siegte Vietnam[10]

Panikartig flohen die Amerikaner vor 30 Jahren aus Saigon

Die Bilder sind um die Welt gegangen: Ein T-54 rammt das schmiedeeiserne Tor des Doc Lap-Palastes in Saigon auf. Soldaten der Befreiungsstreitkräfte beziehen mit aufgepflanztem Bajonett Posten. Während General Minh, Washingtons letzter Marionettenpräsident, vor einem Panzerobersten bedingungslos kapituliert, starten vom Dach der US-Botschaft die letzten „Avican“-Helicopter, mit denen ranghohe Offiziere und Beamte der Besatzungsmacht auf die Kriegsschiffe der 7. US-Flotte flüchten.

Botschafter Martin Graham, der letzte amerikanische Statthalter in Saigon, hatte bereits Stunden vorher das Weite gesucht.

Es ist der 30. April 1975. Saigon ist gefallen, Südvietnam nach zwei Jahrzehnten amerikanischer Besatzungsherrschaft befreit; die Ketten eines fast ein Jahrhundert währenden Kolonialjochs, das einst Frankreich errichtete, sind zerbrochen. Mit Saigon, mit Vietnam feiern am nächsten Tag Millionen in aller Welt, die an der Seite Vietnams standen, den 1. Mai als Tag des Sieges. Aus Saigon wird Ho Chi Minh-Stadt.

Von 1967 bis 1970 berichteten wir als Auslandskorrespondenten der Deutschen Demokratischen Republik für die Nachrichtenagentur ADN und Neues Deutschland in Wort und Bild aus Nordvietnam, das damals Demokratische Republik Vietnam hieß, sowie aus Laos und Kambodscha. Wir erlebten Nordvietnam unter dem Hagel amerikanischer Bomben, sahen unsägliches Leid, aber auch den unbeugsamen Willen von Menschen, die ihre unter unsagbaren Opfern errungene Freiheit und Unabhängigkeit verteidigten. Wir erlebten das Scheitern der barbarischen US-Luftaggression und während des Tetfestes im Frühjahr 1968 die strategische Wende im Befreiungskampf in Südvietnam.

Die Grundlagen des Sieges

Das vietnamesische Volk siegte über die Militärmacht der USA, die stärkste der westlichen Welt. Die Vereinigten Staaten hatten 1954 die Genfer Indochina-Abkommen gebrochen und seit 1955 Vietnam mit einem barbarischen Vernichtungskrieg überzogen. 540.000 US-Soldaten und über eine halbe Million Saigoner Söldner standen der Befreiungsarmee der Republik Südvietnam (RSV)[11] gegenüber. Die große Hilfe des damals existierenden sozialistischen Lagers, darunter modernste konventionelle Waffen aus der UdSSR und Lieferungen aus der VR China, die weltweite Solidarität der Völker und ihrer Friedenskräfte, eingeschlossen die in den USA, waren entscheidende Grundlagen dieses Sieges. Aber die letztlich ausschlaggebende Bedingung, dass diese Faktoren zur Geltung kommen konnten, war der nicht zu brechende Widerstandswille des Volkes, der in den Traditionen nationalen und antikolonialen Widerstandes wurzelte, die zu mobilisieren eine kommunistische Partei verstand, die der legendäre Führer Ho Chi Minh gegründet hatte.

Wir hatten das große Glück, dreimal persönlich mit Ho Chi Minh zusammen zu treffen. Es sind bis heute unvergessliche Erlebnisse. Seine Anwesenheit spürten wir aber auch bei den vielen Gesprächen mit den Menschen Vietnams, in deren Herzen er nach seinem Tod weiter lebte. Ho Chi Minh war ein legendärer Führer, wie die kommunistische Weltbewegung nur wenige hervorbrachte.

Als er während des erbitterten Kampf gegen die USA-Aggressoren im September 1969 starb, spekulierten seine Feinde, ohne ihn könnten sie das Land nunmehr in die Knie zwingen. Es war ein Trugschluss. Ho hinterließ kein Vakuum, sondern eine im Kampf gestählte Vorhut mit einem starken Führungskollektiv, die sein Werk fortsetzte und zum Sieg führte. Er blieb die Seele des Widerstandes.

Ho Chi Minh, der Gründer der Partei

Unter Ho Chi Minhs Führung bewies die KPV von Anfang an, dass man die Mehrheit des Volkes in der revolutionären Aktion gewinnt und dass diese nicht erst begonnen werden kann, wenn die Massen zum Kampf bereit sind. Sein erster Zirkel zur Vorbereitung der Parteigründung erfasste 1925 ganze 20 Genossen. Nach ihrer Gründung am 3. Februar 1930 zählte die Partei dann etwa 1.800 Mitglieder. Im Herbst stellte sie sich an die Spitze eines spontan ausgebrochenen Bauernaufstandes in Zentralvietnam, in dessen Verlauf in zwei Provinzen Sowjets entstanden. Sie formierten 40.000 Kämpfer zählende Rote Garden, die sich über ein Jahr gegen eine erdrückende Übermacht von 100.000 Mann der Kolonialtruppen verteidigen. Die Lehren dieser Massenbewegung wurden zu einer entscheidenden Grundlage für den Sieg des bewaffneten Aufstandes der Augustrevolution von 1945, aus der die Demokratische Republik Vietnam hervorging. Diese Revolution, mit welcher der französische Kolonialismus und der zu dieser Zeit mit 200.000 Mann Besatzungstruppen in Vietnam stehende japanische Militarismus geschlagen wurden, leitete auf internationaler Ebene den Zerfall des Kolonialsystems ein. Sie war weltweit die erste nationale Befreiungsrevolution, die unter Führung der Arbeiterklasse mit einer kommunistischen Partei an der Spitze siegte.

Die furchtbaren Verbrechen der USA-Aggressoren

Unter der 20jährigen Okkupationsherrschaft des USA-Imperialismus erlitt das vietnamesische Volk ungeheuere Opfer an Leben, Hab und Gut: Zwei Millionen Kriegstote, davon allein 1,5 Millionen in Südvietnam. Über eine Million Kriegswaisen. In Nordvietnam lagen die meisten Städte in Trümmern, Hunderttausende Hektar Reisfelder waren vernichtet, über 1000 Deichabschnitte aufgerissen, 2.923 Schulen, 495 Pagoden und Tempel, 484 Kirchen, 250 Krankenhäuser, 1.500 Pflege- und Entbindungsstationen zerstört. Im Süden waren über zehn Millionen Bauern, die Hälfte der Bevölkerung, durch Bomben oder Gewalt aus ihren Dörfern vertriebenen worden. Eine Million Hektar Boden waren dioxinverseucht, über die Hälfte des Waldes schwer geschädigt, 40 Prozent der Gummiplantagen völlig zerstört. Zum Erbe der USA-Besatzungsmacht gehörten im Süden drei Millionen Arbeitslose, 500.000 Prostituierte, davon 50.000 in Saigon, 500.000 Drogenabhängige, 300.000 Geschlechtskranke, eine Million Tbc- und 10.000 Leprakranke, eine Million Orange-Agent-Opfer, vier Millionen Analphabeten, 400.000 Soldaten der Saigoner Armee, die kapituliert hatten, 120.000 Polizisten, Zehntausende Politiker, Beamte und Angehörige reaktionärer Organisationen, Unternehmer, Kaufleute und Wucherer, die sich an der Unterdrückung des Volkes beteiligt hatten. Die von der RSV und der DRV betriebene Politik der nationalen Versöhnung wirkte sich nur sehr allmählich auf diese Schichten und auch nicht auf alle Menschen aus.

Die USA verhängten sofort einen totalen Wirtschaftsboykott über Südvietnam und versuchten, gestützt auf die einheimische Reaktion jeden möglichen Widerstand gegen die Volksmacht zu organisieren. Etwa 200.000 unerkannt zurück gebliebene einheimische Agenten der CIA, darunter rund 30.000 für Mordkommandos ausgebildete Spezialisten, bildeten konterrevolutionäre Banden, terrorisierten die Bevölkerung und planten Putsche. Die USA verweigerten die im Pariser Abkommen von 1973 festgelegte Wiedergutmachung für die angerichteten Kriegsschäden. Ihr erklärtes Ziel war, Vietnam „in den ökonomischen Bankrott zu treiben“. Sie haben es genauso verfehlt wie von 1955 bis 1975 das militärische.

Dem Sozialismus die Treue gehalten

Schier unüberwindliche Schwierigkeiten existierten in der Wirtschaft. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war lahm gelegt. Die Großhändler horteten ihre Waren und weigerten sich, an der lebensnotwendigen Versorgung der Bevölkerung teilzunehmen. Diese musste zunächst beträchtlich aus dem Norden übernommen werden. Früher als vorgesehen beschlossen die DRV und die RSV unter diesen Bedingungen bereits im Frühjahr 1976 über die Wahl einer Nationalversammlung beide Landesteile zur Sozialistischen Republik Vietnam (SRV) zu vereinigen. Angesichts der sozial-ökonomischen aber auch politisch-moralischen Zerrüttung des Südens konnte nur das nordvietnamesische Entwicklungsmodell eine Perspektive bieten.

Mit der Wiedervereinigung wurde der Konterrevolution im Süden die staatliche Basis entzogen, was über ein Jahrzehnt später zu einer wichtigen Grundlage wurde, dass die SRV die Niederlage des Sozialismus in Europa überstand. Hoffnungen ihrer Gegner, die KPV werde den Weg osteuropäischer „kommunistischer und Arbeiter-parteien“ gehen und den Pfad der Sozialdemokratie einschlagen, erwiesen sich als Trugschluss. Die Partei Ho Chi Minhs und seiner Nachfolger hat sich nicht „gewendet“ oder den von Reformisten gepredigten „Zeitgeist“ angepasst. Während in Osteuropa die KPs zerfielen, stieg die Mitgliederzahl der vietnamesischen in dieser Zeit um rund 500.000 auf 2,5 Millionen an.

Die KPV-Führung verschweigt nicht die ungeheueren Schwierigkeiten, die nicht im sozialistischen Entwicklungsmodell wurzeln, sondern sich aus den Kriegsfolgen, aus der Langzeitwirkung der kapitalistischen Überreste des Südens ergeben, aus dem Verlust der internationalen sozialistischen Kooperation, dem daraus resultierenden Zwang zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der kapitalistischen Welt.

Mehrheit des Volkes hinter der Partei

Der 9. Kongress der KPV im April 2001 veranschlagte etwa zwei Jahrzehnte, um die sozialistische Entwicklung auf eine solide wirtschaftliche Basis zu stellen, welche die Bedürfnisse der Menschen besser befriedigen kann. Grundlage bleibt die Sicherung des gesellschaftlichen Eigentums an den entscheidenden Produktionsmitteln. Wirtschaftliche Reformen dienen nicht einer Öffnung gegenüber dem kapitalistischen System, sondern der sozialistischen Zukunft. Die KPV konnte ein weiteres Mal feststellen, dass die Mehrheit des Volkes ihr folgt, was nicht ausschließt, dass es Abseitsstehende und auch noch Gegner ihres sozialistischen Weges gibt.

Es gibt beachtenswerte Leistungen: Die öffentlichen Investitionen stiegen 2003 auf 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Industrieproduktion wuchs um 24,3 und das Bruttoinlandsprodukt um 10,37 Prozent. Es entstehen neue Industriebetriebe, das Straßennetz wird ausgedehnt und modernisiert, die Erdölförderung ausgebaut. Sie beträgt derzeit etwa 18 Millionen Tonnen pro Jahr. Es werden fünf Millionen Hektar Wald aufgeforstet.

Während in vielen Ländern der Dritten Welt unzählige Menschen Hunger leiden, sind die Vietnamesen zufriedenstellend mit Grundnahrungsmitteln versorgt. 2003 wurden 35,6 Millionen Tonnen Reis geerntet und das unter Bedingungen, wo auf einem Hektar Anbaufläche im Durchschnitt noch 300 Blindgänger liegen. Das Analphabetentum, das nach der Befreiung vom Kolonialjoch in Nordvietnam schon überwunden war, ist im ganzen Land so gut wie beseitigt. 2002/3 wurden 168.000 Studenten gezählt, 5 Prozent mehr als ein Jahr vorher.

Erfahrungen für den irakischen Widerstandskampf

Mit dem Überfall auf Afghanistan und der Aggression gegen Irak hat der USA-Imperialismus einen neuen Anlauf genommen, seine alten Weltherrschaftspläne durchzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt vermitteln Kampf und Sieg Vietnams wertvolle Lehren und Erfahrungen. Darunter vor allem die, dass die USA-Aggressoren scheitern werden: am Widerstandswillen, am unbändigen Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang des Volkes.

Irene und Gerhard Feldbauer

[10] Der Beitrag erschien in der Zeitung der Partei der Arbeit Belgiens Solidaire, Ausgabe Nr. 18 vom 11. Mai 2005. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung von Solidaire und der Autoren; d. Red.

[11]

Nachdem die Front National de Liberation zwei Drittel Südvietnams befreit hatte, proklamierte sie im Juni 1969 die RSV und bildete eine provisorische revolutionäre Regierung.

Wir empfehlen unseren deutschsprachigen Lesern das Buch von Irene und Gerhard Feldbauer „Erinnerungen an Vietnam“, das gerade im Verlag Pahl Rugenstein Nachf. Köln erschien.