Klaus Müller:
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Innerhalb der deutschen Linken ist eine Diskussion über die Entwicklung Chinas entstanden, die sich auch mit der Frage auseinandersetzt, ob China noch als sozialistisches Land zu betrachten ist. Die Autorin Paula Panther des Artikels über China in „offen-siv“ Juli-August 2007 setzt sich mit Positionen und Interpretationen von Befürwortern und Kritikern der politischen und ökonomischen Entwicklung in China auseinander.
Zunächst nennt sie Argumente jeder der beiden Gruppen, die sie für richtig hält:
Befürworter | Kritiker |
? hoher Anteil staatlichen Eigentums
? nachholende Produktivkraftentwick-lung im Produktionsmittelsektor |
? unüberschaubare Menge kapitalisti-scher Elemente in Staat und Gesellschaft
? wachsende soziale Ungleichheit ? wachsende Zahl von Millionären ? Kapitalisten in der KPC ? miese Arbeitsbedingungen ?Kapitalexport Chinas |
Jeder der beiden Argumentelisten folgt eine Interpretation. | |
…die ökonomische Basis für eine sozialistische Entwicklung wird verbes-sert | …und was der ungemütlichen Phäno-mene mehr sein mögen, die nicht eben sozialistisch anmuten. |
Die Interpretation wird nicht belegt, nachgewiesen oder begründet, sondern enthält in Wortwahl und Satzkonstruktion bereits eine Wertung. Zu den Interpretationen stelle ich fest: | |
Der hohe Anteil staatlichen Eigentums und die Entwicklung der Produktionskraft im Produktionsmittelsektor wird inter-pretiert als Verbesserung der ökonomi-schen Basis für eine sozialistische Ent-wicklung. | Aus den aufgezählten Merkmalen werden ungemütliche Phänomene (Erscheinun-gen). Es ist die Frage zu stellen: zu wel-cher Sache, zu welchem Wesen gehören die Erscheinungen? |
Während Argumente der Kritiker als ungemütliche Phänomene, die nur anmuten, nicht sozialistisch zu sein, bewertet sind, werden Argumente der Befürworter als der sozialistischen Entwicklung dienende Tatsachen dargestellt. Das Wort „anmuten“ verstärkt das Abtun der Argumente.
Bis auf die miesen Arbeitsbedingungen sind alle aufgezählten Merkmale der Kritiker eindeutig Merkmale, die ausschließlich kapitalistischen Systemen zuzuordnen sind. Die Formulierung „wachsende soziale Ungleichheit“ ist nach meiner Einschätzung eher eine verniedlichende und sehr beschönigende Umschreibung der tatsächlichen Vorgänge. In verschiedenen Meldungen war von Millionen Wanderarbeitern, Obdachlosen, und Arbeitslosen zu lesen, die am Rande des Verhungerns existieren.
Für ein sozialistisches System ist eine „unüberschaubare Menge kapitalistischer Elemente“ nicht nachvollziehbar. Die kapitalistischen Elemente müssen überschaubar und beherrschbar sein. Alles andere bedeutet, dass das Proletariat nicht mehr die Führung besitzt und die Entwicklung bestimmt. Korruption bis in höchste Regierungskreise passt ebenso wenig zu einem sozialis-tischen System wie Kapitalisten in der Partei des Proletariats.
Jedes der unvereinbaren eindeutig kapitalistischen Merkmale entfaltet seine Wirkung auf das ökonomische, politische und gesellschaftliche System Chinas und verändert es. Sind das nur „ungemütliche Phänomene“ in einem ansonsten intakten sozialistischen Land, oder sind es harte Fakten?
Ohne qualitative Aussagen über Wirkung, Nutzung oder Funktion des staatlichen Eigentums kann dies nicht von vornherein als sozialistisch bewertet werden. Die BRD war nie ein sozia-listisches Land, obwohl bedeutende Konzerne wie VW, Post oder Bahn staatlich waren oder noch sind. Auch die rasante Entwicklung der Produktivkräfte besagt noch nicht, dass dies einer sozialistischen Entwicklung dient. Sie kann ebenso gut der kapitalistischen Entwicklung dienen und die Ausbeutungsbedingungen für Kapitalisten verbessern. Rasante, man könnte auch sagen chaotische Entwicklung der Produktivkräfte ist übrigens eher ein kapitalistisches Merkmal.
Ein Punkt in der Entwicklung der KPC, den ich für einen entscheidenden Eck- und Prüfstein halte, wird in dem Artikel nicht behandelt. Ich meine die bereits erfolgte Aufweichung der Ideologie. Die chinesische Führung verkündet eine „harmonische sozialistische Gesellschaft“ als Ziel. Da ist weder von Klassen und Klassenkämpfen die Rede, noch vom Führungsanspruch des Proletariats. Mich erinnert das sehr an die Chruschtschowschen Phrasen von der Partei des ganzen Volkes und der Überwindung der Klassen. Was daraus geworden ist, kann heute in der Realität bestaunt werden.
Der historische Ablauf der Zerstörung der Sowjetunion bietet m. E. eine Hilfestellung für die Beurteilung der Vorgänge in China.
Die Sowjetunion wurde nicht von außen besiegt und nicht durch innere Unruhen. Die Zer-störung fand aus dem Innersten der KPdSU selbst statt. Revisionisten und Verräter hatten sich seit Chruschtschow in der Führung der Partei festgesetzt. Schritt für Schritt veränderten sie die ideologischen Inhalte der Partei. Die Inhalte der Ökonomie folgten mit Verzögerung.[22] Danach wurde auch die noch bestehende sozialistische Hülle abgelegt. Sie passte nicht mehr für die kapitalistischen Inhalte.
In China scheint der Ablauf ähnlich zu sein. Die sozialistische Ökonomie wandelt sich derzeit rasant zu einer Ökonomie, die „unüberschaubar“ viele kapitalistische Elemente enthält. In der Ideologie gibt es seit langem Wellenbewegungen. Mal mit mehr, mal mit weniger Auf-weichungen, was weiter oben schon angesprochen ist. Der Begriff „harmonische Gesellschaft“ beispielsweise entspricht konfuzianischer Philosophie, nicht marxistisch-leninistischer.[23]
Auf diesem Hintergrund muss die Frage gestellt werden, welchen konkreten und harten Inhalt haben die Erklärungen der Führung der chinesischen KP?[24] Besteht der Sozialismus in China nur noch aus einer äußeren Hülle, die bereits einen anderen Inhalt verbirgt?[25]
Derzeit kann niemand mit Bestimmtheit sagen, was in China tatsächlich ist und wie es sich in den nächsten Jahren entwickelt.
Für Kommunisten sollte gelten, eine korrekte Analyse vorzunehmen und daraus Schluss-folgerungen zu ziehen, die nicht von hoffen und wünschen gefärbt oder verfälscht sind. Kommunisten müssen zur Kenntnis nehmen, dass es durch Tatsachen begründete Zweifel an der sozialistischen Verfasstheit Chinas gibt. Darum halte ich es für angebracht, zum ersten Teil des Artikels von Paula Panther die oben stehenden Argumente und Gedanken beizutragen.
Den Inhalten und der Darstellung des zweiten Artikelteils stimme ich in vielen Teilen zu. Hier stellt die Autorin die internationalen Aktivitäten Chinas dar. Sie hebt hervor, dass diese sich von den Raubmethoden der imperialistischen Länder mit den USA an der Spitze unterscheiden.
Das ist hinreichend, um China gegen imperialistischen Chauvinismus[26] zu verteidigen und der kapitalistischen Hetze entgegen zu treten.
Im Kampf gegen den imperialistischen Hauptaggressor USA mit seinem Anhang kann China ein wichtiger und wirksamer Verbündeter von Kommunisten sein – unabhängig davon, ob es sozialistisch oder auf dem Weg zum Kapitalismus ist oder diesen Weg bereits vollendet hat.
Das gilt auch für Russland!
Die Autorin begründete schlüssig, dass Kommunisten China verteidigen sollten, was den antiimperialistischen Gesichtspunkt betrifft. Im ersten Teil ihres Artikels sollten die Fakten härter benannt und bewertet werden und nicht Wunsch und Hoffnung die Feder führen.
Klaus Müller, Karl-Marx-Stadt
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[22}Interessant scheint mir zu sein, dass selbst noch unter Gorbatschow praktisch kein Privateigentum an Produktionsmitteln in der SU vorhanden war. Erst nach der vollständigen Zersetzung der ideologischen Prinzipien wagte der Säufer Jelzin mit seinen Spießgesellen die umfassende Beraubung des Volkes.
- [23}Der zentrale Wert seiner Lehren war die Ordnung, die seiner Meinung nach durch Achtung vor anderen Menschen und Ahnenverehrung erreichbar sei. Im Mittelpunkt seines Denkens stand der „Edle“ (junzi), ein moralisch einwandfreier Mensch. Der Gedanke der Harmonie spielt eine bedeutende Rolle in seiner Weltanschauung: „Den Angelpunkt zu finden, der unser sittliches Wesen mit der allumfassenden Ordnung, der zentralen Harmonie vereint“, sah Konfuzius als das höchste menschliche Ziel an. „Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ seien das Ziel.
- [24}Von Befürwortern wird gern die Tatsache genannt, dass in China eine Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels erarbeitet wird. Sie werten das als wichtigen Beleg dafür, dass China ein sozialistisches Land ist. Ob das reicht? Einzelne, bereits in der DDR begonnene wissenschaftliche Projekte zur Marx-Engels Forschung, werden auch in der BRD weiter geführt. Es gibt sogar staatliche Gelder dafür. Dürfen wir deswegen hoffen, dass sich die BRD auf dem Weg zu einem sozialistischen Land befindet? Ich denke die Antwort kann sich jeder Kommunist selbst geben.
- ]25}Alle Revisionisten in der Führung der KPdSU von Chruschtschow bis Gorbatschow verkündeten für die Öffentlichkeit, den Leninismus zu verteidigen und zu entwickeln, ihn vom angeblichen Personenkult Stalins zu reinigen. Tatsächlich höhlten sie ihn aus und zerstörten ihn. Noch 1989 bejubelten nicht wenige Kommunisten den Verräter Gorbatschow, um wenig später wieder nüchtern zu werden. Ähnlich unangenehmes Erwachen muss nicht schon wieder sein.
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[26]Chauvinismus = Nationalismus, übersteigerte Vaterlandsbegeisterung, Kriegshetze