Die chinesische Option

Hermann Jacobs:
Die chinesische Option

In seiner Juli-Ausgabe von 2007 veröffentlicht der „RotFuchs“ ein Extra, das ganz dem Thema gewidmet ist, wie die KP Chinas die jüngeren Entwicklungen in der Geschichte der kommunistischen Bewegung seit ungefähr 1989/90 einschätzt – also sagen wir seit der „Sowjetischen Wende“ -, mit einem Bezug allerdings auf die Gesamtgeschichte der Sowjetunion, soweit er der Erklärung der Ursachen dieser jüngeren Ereignisse dienen soll. Endlich, könnte man sagen, haben wir den Einblick in die chinesische Antwort auf die so genannte Krise des Sozialismus/Kommunismus. Eine Einschätzung des eigenen Weges Chinas wird nicht ausgespart, im Gegenteil: sie ist Gegenstand jener Antwort, auf die die KP Chinas offensichtlich Wert legt, dass sie Allgemeingut in der internationalen Bewegung zum Sozialismus/Kommunismus würde.

Die Veröffentlichung im „RotFuchs“ ist keine der KP Chinas selbst, sie fußt aber auf Veröffentlichungen dieser Partei, darunter des ZK der KP Chinas bzw. einzelner Wissenschaftler wie Politiker dieser Partei. D.h. diese chinesischen Dokumentationen sind referierend wiedergegeben, in der Regel ohne Titel- und Autorangabe – bis auf eine Sammelarbeit, die namentlich erwähnt ist: Das vom „Verlag für die Herausgabe von Dokumenten des Zentralkomitees 2004 veröffentlichte Buch ‚Theorie und Praxis des Sozialismus – Nachdenken aus heutiger Sicht’“. Ein anderer Hinweis bezieht sich auf solche Beiträge in „Renmin Ribao“, Zentralorgan der KP Chinas.

Autor der Veröffentlichung im „RotFuchs“ ist Rolf Berthold, Vorsitzender des RotFuchs-Fördervereins, bekannt auch/noch als langjähriger Botschafter der DDR in der Volksrepublik China; Autor zahlreicher Veröffentlichungen über China seit dieser Zeit. Als Titel seines Beitrages ist der Titel des genannten chinesischen Sammelwerkes übernommen: „Zur Theorie und Praxis der KP Chinas auf dem sozialistischen Weg / Nachdenken aus heutiger Sicht“.

Da nun die chinesische Sicht den Weg nach Europa, mindestens aber nach Deutschland gefunden (ich weiß von keiner anderen bisherigen fundierten Wiedergabe der chinesischen Auffassung), scheint mir eine Reaktion unumgänglich.

Zunächst eine komplexere Wiedergabe der chinesischen Positionen im Einzelnen, die, wie schon gesagt, nur referierend wiedergegeben sind, wir verfügen also über keine wörtlichen Zitate der chinesischen Quellen; alle Zitate in Parenthese sind also Zitate aus Berthold, wir unterstellen aber, dass sie den Quellen entsprechen.

1. Zu einigen Grundpositionen

Die KP Chinas … ist der Auffassung, dass die sozialistische Weltbewegung nach dem schweren Rückschlag 1989/1991 nicht … vollständig zusammengebrochen ist. Noch weniger könne man davon ausgehen, dass die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert entschieden worden sei.

Hier zeigt sich auch die Unhaltbarkeit der Trennung zwischen Sozialismus des 20. und des 21. Jahrhunderts. Es gab keinen Jahrhundertbruch des Sozialismus. Die Entwicklung in China, Kuba und Vietnam zeugt davon, dass der Sozialismus nicht wieder von „0“ beginnen muss. …

Die Politik der KP Chinas sei auf die Vervollkommnung der wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Sozialismus ausgerichtet und nicht auf seine Beseitigung. Darin bestehe der prinzipielle Unterschied zwischen den Reformen in China und denen in Russland und den anderen sozialistischen Ländern. …

Nach der Errichtung der neuen Ordnung in China stand, so sehen es die chinesischen Marxisten, vor der KP die komplizierte Frage, wie der Sozialismus aufgebaut werden kann. Vorbild konnte nur die UdSSR sein. Deshalb wurden in der ersten Zeit die sowjetischen Methoden angewandt. Zentrale Planwirtschaft, die Entwicklung der Leitung der Wirtschaft mit administrativen Mitteln spielten in der Zeit der gesellschaftlichen Umgestaltung die entscheidende Rolle. …

Es folgte aber, so urteilt die Führung der KP Chinas, eine Periode linker Fehler und sich daraus ergebender gesellschaftlicher Zerrüttung: Großer Sprung, Volkskommunen, Kulturrevolution. … Die verhängnisvolle Entwicklung wurde mit der Tagung des ZK der KP Chinas im Dezember 1978 gestoppt. … Eine Politik der Reformen und der Öffnung nach außen wurde eingeleitet, die wirtschaftliche Entwicklung in den Mittelpunkt gestellt. Die ökonomischen Positionen Deng Xiaopings, die ab 1978 realisiert wurden, sind auf die Neue Ökonomische Politik (NÖP) Lenins zurückzuführen“.

Ich unterbreche im Auszug, um drei Bemerkungen machen zu können: 1. sollten wir den Optimismus der KP Chinas hinsichtlich der Lage in der sozialistischen Bewegung wie der Zukunft des Sozialismus, seiner Untrennbarkeit Jahrhunderten nach, teilen. 2. sollte darauf verwiesen werden, dass die Schwierigkeiten, an die die KP Chinas ab 1956 geraten, auch nichts mit den Methoden zu tun hatten, die sie von der UdSSR zuerst übernommen – also Großer Sprung usw. ist rein innerchinesisches Problem und führt nicht auf Planwirtschaft zurück (dass diese administrativ geleitet, scheint mir etwas überzeichnet (hat aber einen Grund, wie wir noch sehen werden)). 3. dass in den Reformen (des Deng Xiaoping) auf die NÖP, also Lenin, zurückgegriffen worden, ist neu und verdient der Beachtung/Bewertung. China ab 1978 wäre also nach Einschätzung der KP Chinas ein Land der Neuen Ökonomischen Politik Lenins? Einer Periode des Sozialismus vor der Planwirtschaft? Damit hätte sich China in seiner Entwicklung anders als noch an seinem Beginn von 1949 zur inneren Geschichte der Sowjetunion bestimmt. Und womit sich eine Einschätzung Stalins, der KPdSU unter Stalin, wie sie nun folgt, von selbst ergibt.

Weiter bei Berthold:

„Die Analysen der chinesischen Marxisten besagen, dass die Leninsche NÖP nur in Anfängen umgesetzt wurde. Nach dem Tode Lenins habe es grundsätzliche Auseinandersetzungen gegeben, in denen sich Stalins Position durchsetzte. Die NÖP wurde abgebrochen. In den 29 Jahren, in denen Stalin den sozialistischen Aufbau in der UdSSR führte, entwickelte sich die UdSSR aus einem wirtschaftlich und kulturell relativ rückständigen Agrarland zur zweitstärksten Industrie- und Militärmacht der Welt. Sie errang den entscheidenden Sieg im Zweiten Weltkrieg gegen die Aggression des deutschen Faschismus, brachte die internationale kommunistische Bewegung voran, schuf das sozialistische Lager, das sich mit dem kapitalistischen Weltlager messen konnte. Über lange Zeit habe Stalin am sozialistischen Weg, am Gemeineigentum, der Verteilung nach der Leistung und weiteren sozialistischen Grundprinzipien festgehalten und damit bestimmte historische Verdienste erworben.“

Ich unterbreche: Wohltuende Worte, wo liest man sie heute noch? Doch weiter:

„Doch das unter seiner Führung geschaffene ‚Stalinsche Modell’ der sozialistischen Entwicklung habe sich als ernsthafte Verletzung der sozialistischen Prinzipien, als eine ‚linke’ Abweichung erwiesen.“

Berthold schaltet hier den Hinweis ein, dass aber „in den Materialien der KP Chinas der Begriff ‚Stalinismus’ nicht vorkommt“.

Es reicht, denke ich mal, auch so.

Wir haben begriffen: Der Wechsel Chinas in der Wahl seines Wirtschaftssystems (1978) bedeutet seinen Wechsel im Verhältnis zur inneren Geschichte der Sowjetunion. Aus einem Verhältnis zu deren Entwicklung oder höheren Stufen wurde ein Verhältnis zu deren Anfang oder ersten Stufe – mit Rückwirkung, Überprüfung oder was auch immer des bisherigen durch das neue Verhältnis.

Es folgt jetzt bei Berthold der Abschnitt

2: Einschätzung der Bedingungen und Ursachen der konterrevolutionären Umbrüche 1989/1991,

aus dem ich nur die Ausführungen zitieren möchte, die sich auf den Vorwurf der „linken Fehler der KPdSU/Stalins“ beziehen; sie drücken ja den Wechsel aus; zunächst ein allgemeiner Satz:

„Die KP Chinas geht davon aus, dass sowohl innere als auch äußere Bedingungen und Ursachen zu den gesellschaftsverändernden Ereignissen in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern führten. Doch die inneren Ursachen werden als die entscheidenden betrachtet, ohne die die äußeren nicht hätten zur Wirkung kommen können.“

Es werden dann im Einzelnen Punkte genannt, darunter solche der Einschätzung des Kapitalismus durch die sowjetischen Kommunisten, zu schnelles Tempo bei der Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktivkräften, politische Fehler im Verhältnis Partei und Staat („keine klare Trennung“ der Kompetenzen) usw., uns interessiert der Punkt 6:

„Es sei negiert worden (durch die Sowjetunion/Stalin, J.), dass es nicht nur ein Modell des Sozialismus gibt. Die Entwicklung habe gezeigt, dass die drastischen gesellschaftlichen Veränderungen in der UdSSR und in den osteuropäischen Staaten das Ergebnis langfristiger dogmatischer und ‚linker’ Fehler sind. Als Gorbatschow und Führer der kommunistischen Parteien Osteuropas diese Fehler zu korrigieren vorgaben, begingen sie fast ausnahmslos rechtsopportunistische Fehler. Sie ließen den Marxismus, die führende Rolle der Partei und die Prinzipien des Sozialismus fallen. Aus dieser Sicht gesehen sei die Niederlage des Sozialismus in Europa nicht das Ergebnis ‚linker’, sondern rechter Politik.“

Dieser Gedanke wird weiter unten noch einmal bekräftigt:

„Von ultralinks sei man nach ultrarechts gewechselt“.

Und was die Ursachen der Niederlage betrifft, werden erneut aufgeführt:

„ – die langfristige ideologische Erstarrung der Führungen der KPdSU und der Parteien der osteuropäischen sozialistischen Staaten, ihr Festhalten am ‚linken Weg’, ihr Beharren auf dem unter spezifischen historischen Bedingungen entstandenen ‚Stalinschen Modell’“.

Zur Einschätzung der chinesischen Position

Wir sehen jetzt, dass uns die KP Chinas etwas verständlich machen will: Die Logik und Notwendigkeit ihrer Reform von 1978. Sie bemüht eine Kontinuität zur KP der Sowjetunion, sieht diese aber gegeben in der NÖP Lenins, denn ihre Reform steht der NÖP näher als der Planwirtschaft Stalins – obwohl sie dieser die vielen (ersten) Erfolge verdankt, und eine insgesamt viel bessere geschichtliche Lage der sozialistischen Bewegung als wir sie seither hatten. China hat ja daran partizipiert. Aber nun ist China „übriggeblieben“ – erfolgreich, und das Sowjetreich am Boden. Wie erklärt sich das? Dadurch, dass China viel früher das Haar in der Suppe der sowjetischen (stalinschen) Küche (sprich Planwirtschaft) gefunden hat und vor allen Dingen: Viel besser, als einzige Partei richtig auf den Widerspruch des sowjetischen Systems reagiert hat?

China signalisiert uns etwas. China will nicht einfach die sowjetische Entwicklung erklären, es will sich, China erklären – und im Kontext zur sowjetischen resp. allgemeinen bisherigen Geschichte des Sozialismus/Kommunismus.

Soweit es darum ginge, haben wir dagegen nichts. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass man – als Kommunist – nichts gegen die Erfolge Chinas haben kann, und wenn sie diese einem besonderen System in der Ökonomie zu verdanken hat – und wenn es sich tausendmal vom sowjetischen, „stalinschen“ unterscheidet -, werden wir auch das der Beachtung wert befinden. Aber: Das sowjetische ökonomische System war auch erfolgreich – wie durch die KP Chinas ja bestätigt. Zwei Systeme können doch erfolgreich sein. Wo ist die Notwendigkeit, den Wert des einen Systems zu bestätigen auf Kosten eines Unwertes des anderen? Man muss Stalin nicht zum Linken/Schlechten erklären, um Deng Xiaoping – oder gleich die ganze KP Chinas – zum … Rechten(Richtigen)/Guten.

Es kann sich doch bei den beiden Vorgehensweisen um historisch geprägte Vorgehensweisen handeln. Die UdSSR war einer besonderen Geschichte ausgesetzt, und China an eine besondere geraten; und dem entsprachen bedingte Verhaltensweisen, besondere Systeme im Herangehen an die Arbeit. Und dann sind beide gut und berechtigt – zu ihrer Zeit.

Es besteht sowieso keine Notwendigkeit, das chinesische ökonomische Modell dem sowjetischen ökonomischen Modell des Sozialismus entgegen zu stellen, wenn die KP Chinas ausdrücklich betont, dass sie mit dem ihren an die NÖP Lenins anknüpft. Dann sieht sie sich in der selben historischen Situation wie damals Lenin (oder Rußland). Und dann fallen beide Systeme, die NÖP wie das chinesische Modell, in eine Periode vor dem Übergang des Sozialismus zur Planwirtschaft, und dann unterscheiden sie sich nur graduell bezogen auf diese Periode, aber nicht an sich, bezogen auf den ganzen Sozialismus.

Man verstehe: Ergibt sich aus der Einschätzung der KP Chinas, dass für China ein näherer Bezug zu den Verhältnissen der NÖP-Periode Russlands legitim ist, zwingend, dass der Übergang der Sowjetunion zur Planwirtschaft, zum Stalinschen Modell des Sozialismus ein linker Lapsus ist? (Wir kennen die Bedeutung solcher Zuordnung von Begriffen wie „linker“ und „rechter“ Opportunismus in der marxistischen Arbeiterbewegung; es sind Begriffe der Abgrenzung und Aussonderung aus dem Marxismus). Nach meiner Auffassung brauchte eine Unterscheidung oder gar Wertung zum Modell der Planwirtschaft dann nicht zu erfolgen, sie wäre auch historisch nicht gemäß. Wir unterstellen, dass auch der Sozialismus bereits eine innere historische Geschichte aufweist, also nicht zu jeder Zeit über den Kamm eines einzigen ökonomischen Systems geschoren werden kann. Dies also einmal betont. Aber wir unterstellen dann auch, dass aus irgendeinem offensichtlich nun unerfindlich scheinenden Grund die Sowjetunion damals (ab 1929) einen höheren, weiterentwickelteren Sozialismus praktizierte als die NÖP je einer war – was uns sehr selbstverständlich vorkommt, aber auch einen weitergehenderen Sozialismus praktizierte als ihn China heute praktiziert, was uns nun ebenso selbstverständlich vorkommen könnte. Stalin war eben nicht „links“, sondern weiter. Die Planwirtschaft steht historisch gesehen höher als Dengs Reformen, die Sowjetunion von 1935 erhob sich historisch über China von heute. Warum denn nicht? (Steht denn – kapitalistisch gesehen – Deutschland nicht auch historisch (kapitalistisch historisch) über Indien? Genetisch höher zu stehen macht doch keinen Harm, und hebt nicht die Notwendigkeit der niederen Form auf.)

Wenn kein Vergleich zweier verschiedener Etappen notwendig ist, weil sie dem Inhalt nach auseinander fallen, dann muss man sich auch nicht an Stalin reiben. Reibt man sich aber, dann will man es auch. Dann nämlich befindet man sein Modell als – allgemeingültig, und nicht „Stalins“. Dann ist eben das Bekenntnis zu Lenin, zur NÖP, zugleich eine Kritik an Stalin, an der Planwirtschaft, dann will man sein (chinesisches) System, um das Stalinsche loszuwerden. Deshalb die gesuchte Kritik, deshalb der künstliche Gegensatz. Der ansonsten, bei Konstatierung zweier historischer Etappen (oder Bedingungen), unnötig, überflüssig wäre.

Besteht denn wirklich ein Grund dazu, die Frage zu einem Gegensatz zuzuspitzen? Wer will denn China in dieser Polarisierung sehen? Es schadet der „chinesischen sozialistischen Marktwirtschaft“, wenn sie einen Gegensatz zur „sowjetischen sozialistischen Planwirtschaft“ herauskehrt – weil, liegt beiden Systemen ein historischer Unterschied zugrunde, es keiner ist. Außer, man will ersetzen, das eine gegen das andere austauschen. D.h. wenn für beide Systeme ein gleicher historischer Raum beansprucht ist, muss ein System weichen. (Aber dann gilt natürlich auch die Umkehrung: Die Planwirtschaft ist ein Gegensatz zur Marktwirtschaft).

Doch China kann ja eine Doppelökonomie sein, zwei Systeme zur gleichen Zeit. Vielleicht definiert das die chinesische Reform viel besser, in letzter Konsequenz auch die NÖP viel besser. Wir wollen den chinesischen Historismus nicht nicht entdecken, sondern richtig entdecken, frei von einem künstlichen Gegensatz, der in der internationalen Bewegung zum Sozialismus zu Irritationen führen könnte.

Stalin, ein Linker?

Wie plötzlich.

Eben war er noch der „Demiurg“.

Wenn Stalin ein Linker ist, dann ist Marx auch ein Linker.

Bevor wir uns China ergeben, wollen wir eine Verteidigung Stalins wagen: Stalin ist nicht durch eine besondere Planwirtschaft charakterisiert, sondern durch die allgemeine, durch eine solche Planwirtschaft, wie Marx, der Marxismus sie konzipiert haben. Zu dieser ist er übergegangen, durch diesen Übergang ist Stalin geprägt, das ist … Stalinismus. Auch wenn jetzt mancher stutzt. Ein positiver Inhalt für den Begriff Stalinismus? Aber wir müssen doch nach der wesentlichen gesellschaftlichen Veränderung, die damals stattfand und die ja wohl namentlich mit deren politischen Führern verbunden ist, fragen und einordnen. Also Stalin = Planwirtschaft, = … die Produktionsweise des Kommunismus.

Man kann Stalin nicht vorwerfen, dass er die NÖP abgebrochen habe, maximal, dass er sie „zu früh“ abgebrochen hat. Aber was heißt „zu früh“ – historisch? Und was „abgebrochen“? Die NÖP wurde historisch notwendig, als der Kommunismus des Krieges, nämlich der des Bürgerkrieges, beendet werden konnte. Dann brauchte die allgemeine Abgabepflicht – gegen Private – nicht mehr zu gelten. (Was aber keine Kritik an der allgemeinen Abgabepflicht an sich war, denn das ist ja Kommunismus.) Aber jede NÖP wird nicht mehr notwendig, wird überflüssig, gar falsch (!), wenn man mit der Planwirtschaft beginnen will. Nach dem (Bürger)Krieg ist nicht vor der Planwirtschaft. Sondern das eine ist eine Historie der besonderen Art, und das andere ist eine solche. Die Sowjetunion hatte nach dem Ende des Bürgerkrieges 8-10 Jahre die Zeit, die NÖP und die Planwirtschaft aufzubauen: nebeneinander und ohne dass es um ein Verhältnis zwischen beiden Methoden zu gehen brauchte – beide waren ja objektiv notwendig, bis es aber darum ging, nur noch von einer Objektivität auszugehen: der neuen, soeben historisch geschaffenen. (Wie lange soll denn die spezifische Bauernfrage des Sozialismus noch gelten?)

Die NÖP hat also nur eine Zeit, aber zwei Bedingungen: Eine am Anfang, eine am Ende. Ab der ersten ist sie möglich, ist sie die einzige mögliche (!) notwendige Ökonomie – denn man hat es mit privaten Bauern zu tun, aber ab der Planwirtschaft – wenn sie gesellschaftlich eingeführt werden kann – hat man es mit bäuerlichen Genossenschaften zu tun, und die unterliegen einer Ablieferungspflicht, wie sie in Planwirtschaften allgemein üblich ist und die ab nun auch für die Bauern gilt. Der Wechsel im sozialen Status vom privaten zum Kollektivbauern hat es möglich gemacht. Und man sage nicht, das sei kein Wechsel.

Stalin habe die NÖP abgebrochen …, aber ist er zum Kriegskommunismus zurückgekehrt? Das ist doch die Frage. Natürlich nicht. Er ist zur Planwirtschaft übergegangen, und darin ist die Aneignung des bäuerlichen Produkts (wie des proletarischen) ein systematischer Teil der Aneignung. Hic Rhodus, hic salta.

Ansonsten ist die Planwirtschaft ein eigenes System, verschieden von der Wertökonomie, und als solches von großer Kontinuität – wie es Gesellschaftsprinzipien so an sich haben. Die Wertökonomie herrschte zwei-, dreitausend oder noch mehr Jahre. Die Gebrauchswertökonomie wird auch Tausende von Jahren herrschen. D.h., sie wird das Prinzip abgeben. Und das heißt nicht „Erstarrung“, Vergangenheit, sondern Kontinuität, Zukunft.

Wir wollen die KP Chinas von dem unseligen Gegensatz zur Planwirtschaft befreien, dass sie ein linker Fehler der KPdSU, insbesondere Stalins war. Bei allem Stolz auf die Erfolge Chinas wollen wir das nicht. Dengs Reformen sind ein Weg/Ausweg Chinas aus seiner Krise (der Großen Sprungs usw.), aber sind sie ein Weg/Ausweg auch aus einer Krise der Planwirtschaft/Stalins? Da gibt es ganz andere Erklärungen der Russischen Wende, und in denen spielt eine ökonomische Krise der Sowjetunion gar keine Rolle. (Und da ist Rechtsopportunismus als Erklärung auch ein Fax.)

Kann Planwirtschaft überhaupt erstarren? Sie kann nur reformieren im Rahmen der Methodik der Planwirtschaft. Aber gäbe es eine Erstarrung, die sie als ökonomisches System unmöglich machte, dann müßte sie aufgehoben werden, und dann müßte die Kritik an der Planwirtschaft eine viel grundsätzlichere als die der chinesischen (und anderer) Form sein; d.h. dann wäre der Kommunismusgedanke, der gesamte Kampf für ihn als eine vom Kapitalismus befreiende Gesellschaftsordnung zu beenden. Dann müßten wir, wollten wir China so sehen, China ebenfalls als ein Ende, chinesische Endform des Kommunismus betrachten und wäre der Unterschied zu Gorbatschow gar nicht mehr so groß. China wäre ihm nur vorausgegangen – 1978, weniger schnell, weniger radikal. Aber das halten auch wir für unsinnig.

China ist ein Versuch, aus der NÖP mehr zu machen als Lenin … und Stalin (!) gemacht haben. Vielleicht geht das, geschichtlich kann das gehen. Das ist nicht ganz einfach, und China ist ja noch mitten im Gestalten. (Berthold: „Die Reformen, so stellten führende chinesische Politiker fest, sind wirtschaftlich kompliziert und politische riskant“.) Die NÖP hatte ja keine internationale Dimension. In China hat sie diese Internationalität – wenn sie damit noch eine NÖP ist. China soll seine Reform nicht verwehrt sein. Was kann man nicht alles mit einer politischen kommunistischen Macht machen, die sich der ökonomischen Methodik der Warenökonomie/des Kapitals bedient. Wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach erst durch China erfahren, was wir nicht durch die Sowjetunion erfahren konnten (denn die KPdSU mußte sich auf einen zweiten Weltkrieg vorbereiten. China …? Worauf China?). Wir werden also lernen „über uns“ – durch China.

Aber: Lernen, indem wir das aufgeben, was wir durch die Sowjetunion gelernt haben? Es wäre kein guter Ratschlag und keine gute Schlussfolgerung. Die Planwirtschaft wäre durch die chinesische Reform nicht kritisierbar, denn sie ist einfach das grundlegende Verständnis des Kommunismus überhaupt; man kann Planwirtschaft „zu früh/zu schnell“ machen, aber nicht „links“ und nicht „rechts“. Das Prinzip Planung wäre immer richtig. Das wäre auch durch China zu lernen – später, ein zweites Mal. Oder der Kommunismus wäre eine Fehlaussage. Jetzt eine Entscheidung herbeizuführen, wäre nicht nur sinnlos, sondern gar nicht möglich; es gibt ja in der Realität nur die chinesische Variante. Ihr Gegenpol, die höhere Entwicklung, die über die bloße kommunistische Politik (= NÖP) hinausging, ist ja verschwunden. Historisch gesehen ist China konkurrenzlos – außer in der Erinnerung, im theoretischen Gewissen. Und an das wir hier natürlich appellieren…

Dass man in China sehr stolz auf seine Leistungen ist (obwohl wir nicht übersehen sollten, dass das Interesse an der chinesischen Option auch im kapitalistischen Westen sehr groß war wie ist – man verspricht sich einiges, und nicht für den Sozialismus), hat dazu geführt, dass so mancher Marxist, der sich als sozialistischer Reformer versteht, gerade in China den Beweis auch für den Inhalt/Gehalt seiner Reformvorstellungen vom Sozialismus sieht. Zum Beispiel: China ist der Beweis für das NÖS der DDR usw. Man konnte davon schon z.B. im „RotFuchs“ lesen. Also endlich der geschichtlich nachgereichte Nachweis für jegliche marktwirtschaftliche Reform im realen Sozialismus, der DDR, der UdSSR usw.? Damit wäre der Platz für die Theorie der Zukunft im Marxismus/des Sozialismus schon besetzt? Mit China hat die Reform überall gesiegt, auch da, wo sie versäumt wurde? Also auch: Kein Revisionismus?

Ich sehe die Lage so: Wurde bisher der Nachweis des Revisionismus (im Übergang von der Planwirtschaft zur „Marktwirtschaft“ wurde ja eine revisionistische Abweichung vom erreichten realen Sozialismus erkannt – u.a. „offen-siv“ hat das vehement zur Debatte gestellt) geführt von denen, die die Reform nicht wollten, wird er nun wohl geführt werden von demjenigen, der sie … macht. Aber es ist jener Marxist, der, wie wir meinen, auch der Planwirtschaft vorstand, er ist nicht jener Kritiker der Planwirtschaft, der der Planwirtschaft nachfolgt. Mag das ökonomische Moment das gleiche sein, die Person der Reform ist es nicht! Es ist nur unterstellt, dass China der Planwirtschaft entgegensteht, aber in einer wirklichen NÖP ist unterstellt, dass ein wirklicher Kommunist die Reform nur als Methode, als ein Mittel nutzt – eben für den Kommunismus, wie er kommen soll. Ich würde diesen Unterschied beachten, obwohl ihn in China wohl auch nicht alle noch beachten. Man kann sich auch zu früh freuen – auf „China“. Ich sehe die automatische Gleichsetzung zwischen „China“ und „NÖS“ usw. jedenfalls noch nicht.

                                            Hermann Jacobs, Berlin