Horst Schneider
Zum historischen Platz des Volksentscheids in Sachsen am 30. Juni 1946 über die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher in der Erinnerungsschlacht unserer Tage
Das Jahr 1946 war für viele Deutsche ein Jahr voller Chancen und Hoffnungen. Im Nürnberger Urteil wurden die Kriegsverbrecher verurteilt und die Staaten auf einen Weg des Friedens verpflichtet, zu allererst in Deutschland. In ganz Deutschland wuchs die Bewegung, die in der Arbeitereinheit mündete. Die Idee der sozialistischen Perspektive gewann an Kraft, und selbst Kurt Schumacher hielt den Sozialismus für geschichtlich notwendig.
Um den Kriegsverbrechern das ökonomische Rückgrat zu brechen, wurden – u. a. in Hessen, Sachsen und Berlin – Volksentscheide zur Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher erfolgreich durchgeführt.[9]
Die SED stellte einen Verfassungsentwurf für ein friedliches Gesamtdeutschland vor. Was schien alles möglich zu sein, ehe die politische Eiszeit des kalten Krieges insbesondere auf die deutsche Entwicklung einwirkte?
Am 30. Juni 1946 fand in Sachsen der Volksentscheid zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher statt, zu dem Tilo Fischer und ich vor zehn Jahren mehrere Studien vorgelegt haben.[10]
Die Quellen haben sich nicht geändert, unsere Wertungen müssen nicht korrigiert werden, und dennoch sind Ergänzungen notwendig.
Dafür gibt es vor allem zwei Gründe:
Erstens: Die „Erinnerungsschlacht“ hat eine Schärfe angenommen, wie ich sie mir vor zehn Jahren noch nicht vorstellen konnte.[11] Aber diese Schärfe ist offensichtlich Bestandteil und Triebkraft der allgemeinen Rechtsentwicklung in Deutschland, die die „politische Klasse“ (Biedenkopf) betreibt und in der „bezahlte Klopffechter des Kapitals“, insbesondere Totalitarismusforscher, ihren „Kampfplatz“ einnehmen.[12]
Zweitens: Eben solche Totalitarismusforscher, in unserem Fall Reiner Behring, Stefan Donth, Michael Richter und Mike Schmeitzner, haben im Auftrag des Hannah-Arendt-Instituts Arbeiten geschrieben, die die „Diktaturdurchsetzung“ in Sachsen nach 1945 zum Thema haben.[13]
Für sie und andere scheint diese Erinnerung an den Volksentscheid – wie die an jedes andere wichtige Ereignis in der DDR-Geschichte – Teil einer „Erinnerungsschlacht“ zu sein, in deren Ergebnis die DDR als „Höllengeburt“ erscheint. Eine Methode ist längst – auch von Goebbels – erprobt und entspricht den Erkenntnissen der Massenpsychologie: „Aber da die Menschen bislang offensichtlich stets die Neigung haben, allgemein Richtiges mit dem oft Gehörten gleichzusetzen, reicht es offensichtlich aus, wenn man eine falsche Behauptung nur oft genug wiederholt, um sie in den Rang einer allgemein anerkannten Wahrheit zu erheben.“[14]
Der konservative Geschichtsrevisionismus, das zeigt sich besonders deutlich in Arbeiten der Konrad-Adenauer-Stiftung und des Deutschland Archivs, unternimmt gegenwärtig große Anstrengungen, um ein „kollektives Gedächtnis“ und ein „europäisches Geschichtsbild“ zu erzeugen. „…das Gedächtnis erinnert, macht Vergangenheit gegenwärtig, trennt Liebstes vom Unliebsamen, Wichtiges vom Unwichtigen, systematisiert und ordnet neu, ja konstruiert Geschichte auf gegenwärtig bedeutsame Weise, stellt Plausibilität her und täuscht bei allen Brüchen noch Kongruenz vor. Wenn sich die Identität einer Gesellschaft aus der Vorstellung gemeinsam erfahrener Vergangenheit speist, dann kann von einem kollektiven Gedächtnis die Rede sein.“[15]
Die „gemeinsam erfahrene Vergangenheit“ besteht für diese Kräfte gegenwärtig vor allem darin, dass die Deutschen ein Volk der (Bomben- und Vertreibungs) Opfer sind. Rolle der UdSSR 1945 und danach hat dabei einen zentralen Platz, natürlich auch bei der Wertung des Volksentscheides von 1946.
60 Jahre nach dem sächsischen Volksentscheid, mehr als fünfzehn Jahre nach dem Sieg der imperialistischen deutschen Konterrevolution über die antiimperialistische DDR wird die Frage lauter: Musste die (deutsche) Geschichte diesen Verlauf nehmen, in dessen Ergebnis das imperialistische Deutschland mit Ausbeutung und Krieg wieder zur „Normalität“ erklärt wird?
Das Fazit Cordt Schnibbens lautet, „dass wir ein Wirtschaftssystem (haben), das so dynamisiert, so rücksichtslos, so effektiv, so zerstörerisch wie kein anderes vorher in der Geschichte ist.“[16]
Die Soldschreiber des Kapitels erklären unverfroren: Ja, das musste so sein, als ob das Gott der Allmächtige so bestimmt hat.
Das Verdikt des „Spiegel“[17] lautet: „Die DDR ist ein Betriebsunfall der Geschichte, ein Produkt aus Faschismus und Kalten Krieg; immer um seine Daseinsberechtigung bangend, wirklich gewollt eigentlich nur von einer Handvoll deutscher Kommunisten. Dabei hatten unmittelbar nach dem verlorenen Weltkrieg zunächst viele von einem „sozialistischen“ Deutschland geträumt.
Nach dem Höllensturz unter den Nazis muss sich das zerstörte und zutiefst kompromittierte Land von Grund auf neu erfinden, und das Weltbild der Marxisten bedient die doppelte Sehnsucht nach Erklärungen für das Unfassbare und nach einem Wegweiser aus dem Nichts. ‚Wie ein trockener Schwamm saugten wir ihre einfachen und schlüssigen Wahrheiten auf’, erinnert sich Günter Schabowski.“
Dass „Der Spiegel“ für seine „Bilanz“ neben den Historikern Ilko-Sascha Kowalczuk und Heinrich August Winkler – welcher DDR-Bürger kennt sie? – Günter Schabowski als Kronzeugen für sein Urteil über die DDR anbietet, dürfte DDR-Bürger von vornherein misstrauisch machen. Judasse und Renegaten genießen keinen guten Ruf. Wenn das Urteil des „Spiegel“ stimmen würde, wären 1946 auch nur eine „Handvoll von Kommunisten“ für die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher gewesen. Und die beherrschten scheinbar das Nürnberger Tribunal, das u. a. die Entmachtung der Flick und Krupp, der Deutschen und Dresdner Bank beschloss.
Die Fakten beweisen indessen, dass in der CDU (Ahlener Programm) und in der SPD (Hannover) wie in der KPD programmatisch die Überwindung des Kapitalismus gefordert wurde, wie wir noch nachweisen werden und in Programmen geprüft werden kann.[18]
Die zentrale verleumderische Behauptung in der bürgerlichen Geschichtsschreibung lautet: Der Volksentscheid in Sachsen sei undemokratisch gewesen und sei lediglich eine Scheinlegitimation für die Festigung der Diktatur der Kommunisten gewesen.[19]
Nichts davon wird durch die Tatsachen bestätigt, wie natürlich (nicht nur) Historiker wissen dürfen.
1. Totalitarismusforscher, die die Enteignung von Ausbeutern verketzern, wissen scheinbar nichts von jenen Utopien, die eine gerechte und friedliche Welt erträumten (ohne den Weg dahin zu kennen), in der alle Menschen gleiche Pflichten und Rechte haben. Thomas Morus’ „Utopia“ ist solch ein Beispiel. Von Friedrich Engels[20] bis Friedrich Schorlemmer[21] fanden solche Vorkämpfer der Menschenrechte (Morus wurde gevierteilt, sein Kopf auf der Tower-Bridge aufgestellt) ihre verdiente Würdigung.
2. Der Kampf um die „Expropriation der Expropriateure“ wurde schon von Marx und Engels im „Manifest der Kommunistischen Partei“ theoretisch begründet und 1891 im Erfurter Programm der SPD als Ziel der Arbeiterbewegung proklamiert.[22]
3. Nachdem sich am Ende der Weimarer Republik erwiesen hatte, dass die Bourgeoisie mit den Mitteln des bürgerlichen Parlamentarismus ihre Interessen nicht optimal durchsetzen konnte und Teile der Monopolbourgeoisie auf die faschistische Diktatur setzten, erhielt die Brechung der Macht der Bourgeoisie eine neue Dimension. Der Exilvorstand der SPD formulierte das im Prager Manifest, das am 28. Januar 1934 veröffentlicht wurde. Der Aufruf begründete, warum Frieden und Demokratie den revolutionären Sturz des Faschismus und die Entmachtung des Monopolkapitals erfordern. Der SPD-Vorstand bekannte sich auch zur „Einheit des revolutionären Sozialismus“: „Die Einigung der Arbeiterklasse wird zum Zwang, den die Geschichte selbst auferlegt.“[23]
Ich möchte hervorheben: Zwischen der Herstellung der Einheit der Arbeiterbewegung und einem erfolgreichen Kampf gegen das Monopolkapital gibt es einen Zusammenhang: Die Arbeitereinheit in Sachsen war 1946 die wichtigste Bedingung für den Erfolg des Volksentscheides in Sachsen. Das ist von Hans-Joachim Krusch dokumentiert worden.[24]
4. Nicht nur in der KPD/SED, sondern auch in anderen Parteien wie der SPD und der CDU, auch in den Zonen, die von den Westalliierten besetzt waren, forderten Schritte zur Beschränkung oder Überwindung der Macht des Monopolkapitals, die CDU u. a. im Ahlener Programm, die SPD in Erklärungen Kurt Schumachers, Konrad Adenauer sogar in einem Brief an das „Neue Deutschland“.[25]
In der „Spiegel“-Serie über die deutsche Nachkriegsentwicklung, die Ende 2005 veröffentlicht wurde, findet der Leser bemerkenswerte Feststellungen: „Kurt Schumachers SPD sicherte sich die Arbeiterklasse mit dem Versprechen, dass die Konsequenz aus der dunklen Vergangenheit nichts anderes sein könne als ein demokratischer Sozialismus.“[26] Dieses Ziel steht immer noch im gültigen Berliner Programm der SPD vom Dezember 1989. Und an anderer Stelle stellte der „Spiegel“ fest: „Besonders populär sind planwirtschaftliche Erwägungen mit einer Vorliebe für die Enteignung von Industriebetrieben und Banken.“ Auch in den Westzonen waren es also nicht nur (eine Handvoll) Kommunisten, die Sozialismus und Planwirtschaft anstrebten.
5. Neu und einmalig war, dass die alliierten Sieger auch Industrielle und Finanzkapitalisten wie Krupp und Flick auf die Nürnberger Anklagebank setzten, die der Mitschuld und der Mitverantwortlichkeit für die faschistischen Kriegsverbrechen angeklagt waren. Die „schwarze Liste“ des Kilgore-Ausschusses des USA-Senats veröffentlichte eine ganze Liste von Kriegsverbrechen aus der Industrie.[27]
6. Die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher entsprach dem Willen und Interessen der Völker der Antihitlerkoalition und den völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Flicks, die in Sachsen enteignet wurden, sind identisch mit den in Nürnberg als Kriegsverbrecher Verurteilten.
Aber auch die angewandte Methode, der Volksentscheid, war demokratisch. Das Verfahren entsprach den Regeln, die in der Weimarer Republik entwickelt worden waren, und u. a. bei der Abstimmung über die Fürstenabfindung 1926 angewandt worden war. Bei einer Beteiligung von 93,71 % der Stimmberechtigten stimmten 77,62 % für die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher. War das eine ausreichende demokratische Legitimation?
Im Unterschied zu Totalitarismusforschern wie Mike Schmeitzner, die von „Diktaturdurchsetzung in Sachsen“ reden, aber nicht einmal erklären, welche und wessen Diktatur da entstand und worin sie sich von der faschistisch-imperialistischen Diktatur unterscheidet wie Nacht und Tag, gibt es auch seriöse Forscher, die den demokratischen Charakter des sächsischen Volksentscheides nachweisen – so denn die Weimarer Republik eine (bürgerliche) Demokratie gewesen ist. Einer der seriösen Forscher ist Johannes Frackowiak, er veröffentlichte 2005 ein Buch „über die Verfassungsdiskussion in Sachsen nach 1918 und 1945“.[28]
Das Buch ging aus einer Dissertation hervor, die Professor Dr. Werner Bremke umsichtig betreute und die am 3. Juni 2003 an der Leipziger Universität angenommen wurde. Das Erscheinen des Buches ist aus vielen Gründen zu begrüßen:
- Es verarbeitet die Literatur, die es zur Verfassungsdiskussion in Sachsen gibt, in hervorragender Weise.
- Es erschließt – erstmalig in diesem Umfang und in dieser Qualität – den Aktenbestand, der die Diskussion nach 1945 widerspiegelt.
- Es folgt nicht dem Totalitarismus-Schema, sondern hält sich an die Fakten.
Frackowiak widerlegt jene, aus deren Perspektive „die sächsische Verfassung von 1947 als bloßes Durchgangsstadium in die nächste Diktatur“ erscheint und die „Verfassungen der SBZ als nicht ernst zu nehmendes Täuschungsmanöver von Sowjets und SED“ diffamieren.
Zu denen, die sich des Totalitarismus-Schemas bedienen – wie schon erwähnt -, gehören Rainer Behring und Mike Schmeitzner mit ihrem Buch „Diktaturdurchsetzung in Sachsen“, das 2003 im Auftrag des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung erschien. Die Autoren hielten eine Begriffsbestimmung von „Diktaturdurchsetzung“ für nötig, die an den Kern des Problems führt: „Dieser von Klaus-Dieter Henke (zeitweilig Direktor des Instituts, H.S.) in die Diskussion eingebrachte und deshalb nicht von ungefähr in den Forschungsprojekten und Publikationen des Hannah-Arendt-Instituts zentrale Terminus (!) unterscheidet sich nicht unerheblich von konkurrierenden Vorschlägen für die Benennung der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone wie ‚Sowjetisierung’, ‚Stalinisierung’, ‚Machtsicherung’, ‚Transformation’ oder gar ‚antifaschistisch-demokratische Umwälzung’.“ Zwar stoße der Begriff „antifaschistisch-demokratische Umwälzung“ bei Ostdeutschen „unverändert auf Akzeptanz“, aber er führe in die Irre, gehöre zum früheren „System der Indoktrination“ und sei wissenschaftlich ausgeschieden.
Totalitarismusforscher wollen bestimmen, wie das Geschehen nach 1945 (nicht nur in Sachsen) zu werten ist: Nur der Begriff kommunistische „Diktaturdurchsetzung“ ist politisch „korrekt“. Auf dem Hintergrund dieser Diskussion erhält die Studie Frackowiaks ihre besondere Bedeutung. Sie bedient den verordneten Zeitgeist nicht, sondern bleibt der klassischen Arbeitsmethode des Historikers treu: Er hält sich an die Fakten und vergleicht. Seine Methode ist originell und ertragreich. Er vergleicht die Verfassungsdiskussion in Sachsen nach 1918 mit der nach 1945 nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Beachtenswert ist die Ähnlichkeit und Kontinuität vieler Fragestellungen (z. B. Bildung, Verhältnis Staat – Kirche), obwohl nach 1918 keine sowjetische Besatzungsmacht „diktierte“.
Ebenso informativ ist der Vergleich der Verfassungsdiskussion in Sachsen mit der in Hessen. Die „Vergleichsfolie“ Hessen ist für den Verfasser geradezu prädestiniert, „zumal die Verfassungsdebatte dort in einer freieren Atmosphäre als in der SBZ stattfinden konnte.“ Auch die „freiere Atmosphäre“ änderte nichts daran, dass in Sachsen und Hessen Ähnliches und Gleiches erörtert wurde, wobei Hessen stärker Ideenspender war als Sachsen. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die „Sozialisierungs“debatte.
(Erstaunlicherweise gibt es in „Diktaturdurchsetzung in Sachsen“ keine Studie zur Bodenreform und zur Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher, obwohl das entscheidende Schritte zur „Diktaturdurchsetzung“ waren.)
Frackowiak wählt zwei Vergleichsebenen, die nach 1918 und nach 1945 und die zeitgleiche Diskussion in Sachsen und Hessen nach 1945. Was ergibt sich? Nach 1945 knüpfte die „Sozialisierungs“debatte an die Erfahrungen von 1919/1920 und der Weimarer Republik an, insbesondere an deren Verfassung. Und im Westen? „Vielmehr wurde auch in den westlichen Besatzungszonen über die Sozialisierung von Schlüsselindustrien und eine Bodenreform diskutiert, wobei diese Pläne am weitesten in Hessen gediehen, wo SPD und KPD eine Mehrheitsposition inne hatten.“ Zwar gelangten entsprechende Artikel (bis heute) in die hessische Verfassung, aber die Besatzungsmacht verhinderte deren Umsetzung.
Der entscheidende Akt der „Sozialisierung“ war in Sachsen der Volksentscheid vom 30. Juni 1946 über die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher. Er hat, wie Frackowiak urteilt, die strengen Anforderungen der Weimarer Verfassung erfüllt. Dass er gültigem Völkerrecht (Potsdam) entsprach, darf wohl hinzugefügt werden.
Im Hinblick auf die „Sozialisierung“ ist anzumerken, dass Ulrich Schneider für Hessen, ich für Sachsen, Günther Judick für das Ruhrgebiet, Kurt Laser für Berlin und andere Autoren für andere Gebiete vergleichende Studien im Band 28 der Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung 1997 bei Pahl – Rugenstein unter dem Titel „Volksentscheide in Sachsen und Hessen 1946 und die weitere Auseinandersetzung um die Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum“ herausgegeben haben. Mit Blick auf den Artikel 14 des Grundgesetzes wird die Brisanz und Bedeutung der Studie Frackowiaks auch für die gegenwärtige Politik aller Parteien sichtbar. Es liegt auf der Hand, dass Totalitarismusforscher, die den „Diktaturvergleich“ betreiben, den Blick nach Hessen nicht wagen. Hessen lag nicht in der sowjetischen Besatzungszone. Der Sozialisierungsartikel in der hessischen Verfassung existiert noch.
7. Mit der Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher entstanden Bedingungen für den Aufbau des Volkseigentums und die sozialistische Planwirtschaft. Vierzig Jahre lang waren die Bürger der DDR frei von imperialistischer Ausbeutung und Knechtung.
Im Artikel 9 der DDR-Verfassung von 1968, die durch einen Volksentscheid von den Bürgern bestätigt worden war, konnte deshalb festgestellt werden: „Durch die Entmachtung der Monopole und Groß-grundbesitzer, durch die Abschaffung der kapitalistischen Profitwirtschaft wurde die Quelle der Kriegspolitik und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt. Das sozialistische Eigentum hat sich bewährt.“[29]
Das gehört zu den Errungenschaften der DDR und zum positiven Erfahrungsschatz der deutschen Geschichte.
8. Für den deutschen Imperialismus war die Existenz der DDR vom ersten Tag an eine Herausforderung und Bedrohung. Die DDR wurde „befehdet seit dem ersten Tag“. Nicht die höhere Moral, sondern das internationale Kräfteverhältnis führte 1989/90 dazu, dass die Konterrevolution siegte.
Darf verallgemeinert werden, was Gräfin Dönhoff damals schrieb: „Die Niederlage des Marxismus bedeutet nicht den Triumph des Kapitalismus! Nicht gescheitert ist er „als Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale: soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit für die Unterdrückten, Hilfe für die Schwachen. Damit ist er unvergänglich.“
Nebenbei: Hatte nicht Kurt Tucholsky gewusst: „Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diese Fehler ausnutzen.“[30] (23) Wie der Volksentscheid in Sachsen eingebettet war in Sozialisierungs und Verstaatlichungsbestrebungen in vielen europäischen Ländern („Labour-Sozialismus“ in Großbritannien), so ist heute der Kampf um den Besitz der wichtigsten Produktionsmittel und ihrer menschenfreundlichen oder menschenfeindlichen Verwendung – von Bolivien und Venezuela bis nach Südafrika und China – zu einer existentiellen Frage der Menschheit geworden.
9. Inzwischen ist nicht übersehbar und nicht zu bestreiten, dass das Weiterbestehen des Imperialismus eine existentielle Gefahr für die Menschheit ist. Heißt es nicht sogar im gültigen SPD-Programm: „Es ist eine historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.“[31]
Erneut und zwingender denn je stellt sich die Frage: Dient das Eigentum primär der Profitmaximierung einzelner, oder ist es – als gesellschaftliches Eigentum – Quelle des Friedens und des Wohlstandes für alle?
Horst Schneider,
Dresden
- [9]Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung 28, Bonn 1997
- [10]Tilo Fischer und Horst Schneider: Mehrheit gegen Krupp und Flick, Neues Deutschland 29./30. Juni 1996
Tilo Fischer und Horst Schneider: Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes eigen sein, Dresden 1996 - [11]Horst Schneider: „Erinnerungsschlacht“ ohne Ende, Berlin 2005
- [12]Horst Schneider: Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung im Widerstreit der Meinungen, Berlin 2005
- [13]Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studium zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945 – 1952. Hrsg. von Rainer Behring und Mike Schmeitzner, Köln, Weimar, Wien 2003
Mike Schmeitzner / Stefan Donth: Die Partei der Diktaturdurchsetzung KPD/SED in Sachsen 1945 – 1952, Köln, Weimar, Wien 2002
Matthias Judt gab in Schriftenreihe der Bundeszentrale politische Bildung als Band 350, Bonn 1998 heraus. Auf den 639 Seiten war kein Platz für ein Dokument zum Volksentscheid, war lediglich Platz (S. 107/108 f.) für einige Sätze aus der Erklärung von Dr. Rudolf Friedrichs vom 25. Juni 1946.
In der Deutschland-Chronik, die Hans-Georg Lehmann in der gleichen Schriftenreihe als Band 332, Bonn 1996 herausgegeben hatte, findet der Leser (S. 43) knapp zehn Zeilen zum Volksentscheid in Sachsen. - [14]Reinhard Jelten: Die Frage der sozialen Gerechtigkeit in der BRD, Marxistische Blätter 6/05, Seite 75
- [15]Michael Schubert: Das kollektive Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft, Deutschland Archiv 6/2005, Seite 1121
- [16]Der Spiegel 2006/1, S. 55
- [17]Der Spiegel 2006/1, S. 43
- [18]Literatur zu den Nachkriegsprogrammen (Auswahl):Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, Berlin 1967;
Programme der deutschen Sozialdemokratie mit einem Vorwort von Rudolf Scharping, Bonn 1995;Hans Joachim Krusch: Irrweg oder Alternative? Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 und gesellschaftspolitische Forderungen, Bonn 1996;
Reinhold Billstein: Neubeginn ohne Neuordnung. Dokumente und Materialien zur politischen Weichenstellung in den Westzonen nach 1945, Köln 1984;
Reinhard Kühnl/Eckart Spoo (Hrsg.): Was aus Deutschland werden sollte, Heilbronn 1995;
Georg Fülberth: Der große Versuch, Köln 1994;
Rainer Behring und Mike Schmeitzner (Hrsg.): Diktaturdurchsetzung in Sachsen.Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945 – 1952, Köln 2003;
Friedrich Wolff: Einigkeit und Recht und Freiheit. Die DDR und die deutsche Justiz, Berlin 2005.Wolfgang Benz: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München, 4. aktualisierte Ausgabe April 2005
- [19]Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung 28, Bonn 1997 S. 100 f.
- [20]Die Klassiker des Marxismus würdigten den utopischen Sozialismus. Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882). In: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke Band 19, Berlin 1973
- [21]Das Buch der Werte. Wider die Orientierungslosigkeit in unserer Zeit, Hrsg. von Friedrich Schorlemmer, Stuttgart 1995
- [22]Programme der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1995, S. 65 f.
- [23]Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie Berlin/Bonn 1984, S. 326/327
- [24]Hans-Joachim Krusch: Irrweg oder Alternative? Vereinigungsbestrebungen der Arbeiterparteien 1945/46 und gesellschaftspolitische Anforderungen, Bonn 1996
- [25]Der Brief Adenauers im „Neuen Deutschland“ vom 18. Mai 1946 und 115./16. Juni 1995
- [26]Der Spiegel 50/2005, S. 64
- [27]Schriftenreihe … 28, a. a. O. S. 26
- [28]Johannes Frackowiak: Verfassungsdiskussion in Sachsen nach 1918 und 1945, Köln 2005
- [29]Verfassungen deutscher Länder und Staaten, Von 1816 bis zur Gegenwart, Berlin 1989, S. 499
- [30]Justus von Denkmann: Das große Buch der DDR-Fehler, Berlin 2005
- [31]Programme der deutschen Sozialdemokratie a. a. O. S. 172