Fritz Dittmar: 50 Jahre danach – zu Chruschtschows „Geheimrede“ auf dem XX. Parteitag der KPdSU
Seit der „Wende“ suchen die Linken nach den Ursachen für den ruhmlosen Untergang des Realsozialismus in Europa, aber die Diskussion ist nach meinem Eindruck nicht wirklich weit vorangekommen, geschweige abgeschlossen. Deshalb ist es vielleicht nützlich, die Auf-merksamkeit auf eine „Gelenkstelle“ in der Geschichte des Realsozialismus zu richten, den XX. Parteitag der KPdSU vor 50 Jahren, wo der neue Generalsekretär, Nikita Chruschtschow[2], in seiner „Geheimrede“ mit Stalin und seiner Zeit „abrechnete“, und der als Parteitag der „Entstalinisierung“ in die Geschichte einging.(Zitate aus http//www.stalinwerke.de/sonstiges/ geheimrede.de.vu/)
C.s Rede folgte einem klassischen Vorbild, der Grabrede des Marc Anton in Shakespeares „Julius Cäsar“, einem berühmten Beispiel für Demagogie, wie Brecht im „Arturo Ui“ schreibt. Marc Anton beginnt seine Rede so:
„Mitbürger, Freunde, Römer, hört mich an!
Begraben will ich Cäsar, nicht ihm preisen.
Was Menschen Böses tun, das überlebt sie,
das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So wollen wir es auch mit Cäsar halten…“
Im Folgenden zählt Marc Anton ohne Ende die Verdienste auf, die Cäsar um Rom hat, und hetzt die Römer gegen die Mörder Cäsars auf.
Dieses Konzept wendete C. an, indem er es umkehrte. Seine Rede begann etwa so:
„Genossen, Kommunisten, hört mich an!
Begraben will ich Stalin, nicht ihn schmähen.
Was Menschen Gutes tun, das sei erinnert,
Das Böse sei von uns gerecht gewertet.
So wollen wir es auch mit Stalin halten.“
Na gut, so hat er es nicht gesagt. Es ist auch gut möglich, dass er allein auf sein Konzept gekommen ist; vielleicht kannte er den „Julius Cäsar“ nicht einmal. Aber immerhin sagte er zu Beginn seiner Rede: „Über Stalins Verdienste wurde noch zu seinen Lebzeiten eine völlig ausreichende Anzahl von Büchern, Broschüren, Studien verfasst. Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution, während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid.“
Dabei fällt zweierlei auf: Das allgemein Bekannte, nämlich Stalins Verdienste um den Sozialismus, wird hier scheinbar bekräftigt. C. sagte, es sei deshalb „eine allseitige Beurteilung des Lebens und der Tätigkeit Stalins“ nicht nötig. Im Folgenden stellte C. aber dar, wie falsch angeblich dieses „Bescheid Wissen“ ist, wie die Darstellungen Stalins insgesamt durch den „Personenkult“ verzerrt war.
So wie Marc Anton behauptet, dass er nicht preisen will, und dann unendlich lobhudelt, so bekräftigte C. das, was „alle wissen“, um es später als Schönfärberei zu „entlarven“.
Zum anderen rechnete C. den „Aufbau des Sozialismus“ bis zum Beginn der Dreißiger Jahre, Aber auch über die folgenden zwanzig Jahre Stalins wussten „alle gut Bescheid“. C. sagte aber hier zunächst kein Wort darüber, dass er Stalins Wirken in dieser Zeit ganz anders sah als „alle“, nämlich ausschließlich negativ.
Zu C.s Enthüllungen über Stalin ist meines Wissens in den folgenden fünf Jahren nichts Wesentliches mehr hinzugefügt worden. Wenn C. aber fünf Jahre später Stalins Leichnam aus dem Mausoleum entfernen und Stalingrad umbenennen lassen wollte, so hätte es sich für einen ehrlichen Kommunisten gehört, genau auf dem XX. Parteitag Stalins Leben und Wirken insgesamt zu beurteilen.
Wenn ich also C.s Rede werte, muss ich auch darauf eingehen, was über Stalin zu sagen gewesen wäre, aber in der Rede übergangen wird. Ich stelle dabei C.s Darstellung den Aus-führungen aus dem dtv–Lexikon 1997 gegenüber, das einer Voreingenommenheit zugunsten Stalins wohl nicht verdächtigt werden kann. Dort heißt es über Stalin: „…Im März 1917 aus Sibirien nach Petrograd zurückgekehrt, wurde er ins Politbüro der Partei kooptiert. Im Bürgerkrieg trat S. als polit. Kommissar der Roten Armee hervor und leitete zus. mit K.J.Woroschilow 1918 erfolgreich die Verteidigung von Zaryzin. 1917-23 fungierte er als Volkskommissar für die Nationalitätenpolitik…1919 wurde S. zugleich Mitgl. des Polit- und Organisationsbüros. Als Volkskommissar für die Arbeiter- und Bauerninspektion(1919-22) bestimmte er auch die personelle Zusammensetzung des Staatsapparates. 1922 übernahm er das neu geschaffene Amt eines Gen. Sekr. der Partei…Zwischen 1924 und 1929 konnte S. seine innerparteil. Gegner nacheinander aus den führenden Partei- und Staatsämtern ausschalten: L.D.Trotzki, dann G.J.Sinowjew und L.B.Kamenew, N.I.Bucharin und A.I.Rykow….Seit 1929 übte S. unangefochten die Alleinherrschaft aus und führte durch eine von ihm selbst so genannte „Revolution von oben“ eine wirtschaftl. und soziale Umwälzung durch. Unter Anwendung schärfster Gewalt kollektivierte er die Landwirtschaft und baute eine Industrie auf, die sich v.a. auf den Bergbau, die Schwer- und Rüstungsindustrie erstreckte, während die Konsumgüter-industrie weit zurückblieb“. Soweit besteht Konsens mit C. und soweit Billigung seiner Politik durch C. Für diesen Zeitraum beschränkte sich C. auf kleinliche Beckmesserei. Er führt „Lenins Testament“ an, wo dieser der Partei nahe legte, Stalin wegen seiner Grobheit als Generalsekretär abzulösen. Allerdings hatte sich Stalin um diesen Posten keineswegs gedrängt, und die Partei hat auch damals keine bessere Lösung gefunden, als ihn im Amt zu belassen. Dann führt C. Stalins Grobheit gegen die Krupskaja, Lenins Lebensgefährtin, an, die, so unverständlich sie bleibt, in C.s Rede dennoch nichts beiträgt als Stimmungsmache.
Was über die Zeit damals „alle wissen“, worüber C. zu reden nicht nötig fand, war die Weltlage und die Konsequenz möglicher strategischer Entscheidungen, die 1924 nach Lenins Tod zu treffen waren. Der Bürgerkrieg in der Sowjetunion war gewonnen und das Land nach der Phase der „Neuen ökonomischen Politik“ auf niedrigem Niveau stabilisiert. Gleichzeitig war die revolutionäre Nachkriegskrise beendet, es war klar, dass in absehbarer Zukunft nicht mehr mit weiteren Revolutionen in den entwickelten Industrieländern zu rechnen war. Es gab somit im Wesentlichen drei Einschätzungen für die Zukunft und daraus folgend drei mögliche Strategien:
Die linke Abweichung sah als einzige Überlebensmöglichkeit den „Export der Revolution“, ihr künstliches Anstacheln mit Hilfe der Roten Armee. Nachdem Trotzki und seine Anhänger damit von der Partei zurückgewiesen und entmachtet waren, gab Trotzki die Revolution verloren, er erklärte es für unvermeidlich, dass die Imperialisten sich zur Vernichtung der SU vereinigen würden. (Siehe: Die verratene Revolution, von L. Trotzki) Beides, erst verzweifelter Aktio-nismus und später tatenlose Verzweiflung, hätten die SU vernichtet. Beides ist Ausdruck von kleinbürgerlichem Schwanken zwischen Selbstüberhebung und Panik.
Die rechte Abweichung sah die Bedrohung durch den Imperialismus nicht realistisch und plante den Aufbau des Sozialismus in einem Tempo, dass den wirklich zur Verfügung stehenden Zeit-raum für den Aufbau nicht berücksichtigte. Mit Bucharins Linie der Verlängerung der NÖP und des gebremsten Aufbaus wäre die SU zum Zeitpunkt von Hitlers Überfall dem Angriff nicht gewachsen gewesen.
Stalin war als Generalsekretär Repräsentant der dritten Richtung, die als einzige nicht unmittel-bar zum Untergang des Sozialismus führen musste. Er war sich klar darüber, dass die Vertei-digung gegen einen Angriff der Imperialisten in der Zukunft unvermeidlich war. Und er schätzte realistisch 1929 die verbleibende Zeit auf 10 Jahre ein, und bestimmte daran das Tempo des sozialistischen Aufbaus. Unter seiner Führung wurde diese Linie in der Partei durchgesetzt und in der Gesellschaft verwirklicht. Allein dass Stalin diese Richtung repräsentierte, müsste ihm gerechterweise einen anderen Platz in der Geschichte sichern, als C. ihm zubilligte. Dem gegenüber sind dann C.s Überlegungen über den tatsächlichen persönlichen Anteil Stalins an dieser Politik kleinlich und unwesentlich, ebenso wie C.s Kritik an einer vielleicht überzogenen Darstellung von Stalins Anteil durch ihn selbst und seine Bewunderer.
Dabei kann sich C. nicht einmal festlegen, was er Stalin nun eigentlich vorwirft: Zum einen behauptet C., dass Stalin „Kollektivität in der Führung und in der Arbeit absolut nicht ertrug“ (S.5) und den Menschen seine Konzeption aufzwang. „Stalin dachte, dass er…selbst in allen Angelegenheiten entscheiden konnte“(S.12). Auf der anderen Seite stellt C. fest: „Nicht Stalin, sondern die Partei als ganzes, die sowjetische Regierung, unsere heldenhafte Armee.., das ganze sowjetische Volk – das ist es, das den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gewähr-leistete.“(S.29) Also: Stalin entschied alles allein, und das Volk hat trotz Stalins Führung gesiegt. Wie absurd diese Darstellung ist, zeigen allein die Beispiele, wie weit schwächere, unfähige Regierungen die Sache des Volks ruinieren konnten. Ich nenne hier als Beispiele Gorbatschow, Jelzin, Honecker, Tito und nicht zuletzt Chruschtschow selbst, wie ich weiter unten belegen will.
Inhaltliche Kritik an Stalin beginnt bei C. für die Zeit nach dem XVII. Parteitag 1934. Was in dieser Zeit Positives geleistet wurde und wofür Stalin als Repräsentant stand, kommt in C.s Rede nicht vor: Die Fünfjahrpläne mit ihrer Schaffung einer industriellen und militärischen Basis für den Weltkrieg, der Geländegewinn und der Zeitgewinn von fast zwei Jahren durch den Nichtangriffspakt mit Deutschland, das Bündnis mit Britannien und den USA, die Verteidigung und dann die Befreiung der Heimat, die Befreiung Osteuropas, die Vernichtung des deutschen Faschismus, die Standhaftigkeit im beginnenden kalten Krieg, auch unter dem US–Atom-bombenmonopol, die Beschaffung der eigenen Bombe. Dies alles sind bei weitem gewichtigere Gründe, die für Stalin sprechen, als Marc Anton sie je zugunsten Cäsars hätte anführen können. Für diesen Zeitraum führt C. ausschließlich negative Fakten und Ansichten über Stalin an.
Nun möchte ich auf Marc Anton zurückkommen:
Doch Chruschtschow sagt, dass er voll Herrschsucht sei,
und Chruschtschow ist ein ehrenwerter Mann.
Aber was ist dran an den Vorwürfen? Was ist mit der „Herrschsucht“? Und was ist mit Fehlern und Verbrechen?
Zu den Verbrechen: Ich will nicht verhehlen, dass ich beim Studium der Rede von neuem erschüttert war vom Schicksal der Genossen, die im Zuge der „Säuberungen“ vernichtet wurden, obwohl sie der Partei und dem Sozialismus treu gedient hatten. C.s Vorwurf der „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ trifft zu. C. verschweigt aber die reale Lage, den Vorabend des Kampfes auf Leben und Tod mit dem Imperialismus in seiner inhumansten Variante, dem deut-schen Faschismus. („In einer blutigen Säuberung (1935-39)…vernichtete (Stalin) alle vermeintlichen und tatsächlichen (!) Gegner in Partei, Armee, Staat u.a.“ dtv)
In dieser Situation musste die Frage der Einhaltung von Recht und Gesetz hinter der Frage des Überlebens zurückstehen.
C. stellte es so dar, dass die Notwendigkeit von Terror nur in Stalins Wahnvorstellungen existierte. Er bezeichnete Stalins Theorie von der Zuspitzung des Klassenkampfs bei der Entwicklung des Sozialismus als falsch, ohne zu argumentieren. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Aggressivität des Imperialismus zunimmt, wenn der Sozialismus erstarkt. Die Frage der Zuspitzung des Klassenkampfs auf die Klassen innerhalb der SU zu reduzieren, den internationalen Klassenkampf zu ignorieren, bedeutete, dass C. den Fehler Bucharins wiederholte.
C.s Auffassung findet ihre direkte Fortsetzung in Gorbatschows angeblicher Friedensfähigkeit des Kapitalismus. Und die inneren Feinde waren weitgehend entmachtet, aber noch vorhanden. Das belegt C. selbst an seinem Beispiel des Genossen Eiche, der der Verleumdung von Trotzkisten zum Opfer fiel. Nach den „Säuberungen“ haben die inneren Feinde während des Kriegs nicht gewagt, fünfte Kolonnen zu bilden. Vorhanden waren sie aber noch, und in den besetzten Gebieten drängten sich viele Kollaborateure zum Kampf an der Seite der Faschisten gegen die Sowjetmacht: Hier seien nur die Baltischen SS-Einheiten genannt, die Wlassow – Armee, und die Weißgardisten in der Ukraine, die noch nach Hitlers Niederlage über Jahre weiter Terror ausgeübt haben. Welche Rolle hätte z.B. ein Sinowjew oder Trotzki unter Hitler spielen können? Vergessen wir nicht die Rolle anderer ehemaliger Linker, wie Mussolini oder Laval im faschistischen Machtapparat! Wollte Stalin im Krieg ein sicheres Hinterland haben, so musste er die Feinde der Sowjetmacht unschädlich machen.
Eine weitere Verletzung sozialistischer Gesetzlichkeit führt C. an, die Umsiedlung „unzuver-lässiger Völker“ aus dem Frontbereich. (Siehe S.30) So bitter es war für die loyalen Sowjet-bürger dieser Nationalitäten, nicht in ihrer Individualität gerecht gewertet zu werden, so war ein anderes Vorgehen während der aufs äußerste angespannten Verteidigung nicht zu leisten. So gab es zum Beispiel neben den loyalen Staatsbürgern deutscher Nationalität eben auch massenhaft Deutsche, die in der Waffen–SS für Hitler kämpften, und die Mitgliedschaft in der SS war noch in jüngster Zeit eine Grundlage für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft bei den Um-siedlern. Auch hierbei ging es nicht um Gerechtigkeit, sondern ums Überleben. Eine Bitte um Vergebung bei den unschuldigen Opfern dieser Maßnahmen bzw. bei ihren Hinterbliebenen sowie deren Rehabilitierung auf dem XX. Parteitag wäre richtig und revolutionär gewesen. Die Verurteilung dieser Maßnahmen insgesamt war unmarxistisch, war ein Fehler und ein Dienst an den Imperialisten.
Zu Stalins Fehlern: C. führt auf, dass alles ohne die Fehler besser gelaufen wäre. Wahrhaft eine Binsenweisheit! Die Frage ist: Waren die Fehler vermeidbar? Für C. ist das einfach. Alle Fehler Stalins führt er auf dessen Unfähigkeit und Selbstüberschätzung zurück. C. hat viel über Lenins Bescheidenheit ausgeführt, um Stalin herabzusetzen. Erinnern wir uns, was Lenin zum Problem der Fehler sagt: „Klug ist nicht, wer keine Fehler macht. So einen Menschen gibt es nicht und kann es nicht geben. Klug ist, wer keine wesentlichen Fehler macht, und die Fehler, die er macht, leicht korrigiert.“ „Wesentliche Fehler“ sind, wie der Begriff sagt, im Kampf auf Leben und Tod solche Fehler, die zum Untergang führen. Und die anderen Fehler, selbst wenn sie Hunderttausende von vermeidbaren Opfern fordern, sind keine wesentlichen Fehler. Das klingt schrecklich und ist es auch, aber der Schrecken liegt nicht begründet im Wesen desjenigen, der diese Fehler macht, sondern in der Lage, die solche Entscheidungen erzwingt. In diesem Sinn hat Stalin keine wesentlichen Fehler gemacht.
Zu Stalins Fehlern rechne ich unter anderen die Abschwächung der antifaschistischen Propa-ganda von 1939 bis 1941, die Überschätzung der eigenen Kampfkraft, die sich in der Losung ausdrückte: Wenn Krieg, dann mit geringen Verlusten und auf feindlichem Territorium, und die falsche Einschätzung über den Beginn des deutschen Angriffs. Aber gerade an diesem letzten Beispiel zeigt sich die Unlauterkeit in C.s Argumentation. Er führt die Warnungen Churchills und seines Botschafters Cripps an, als hätten nicht die Britischen Imperialisten ein vitales Interesse gehabt, Krieg zwischen Hitlerdeutschland und der UdSSR zu provozieren, als wäre Stalin nicht verpflichtet gewesen, die Möglichkeit einer Provokation mit zu berücksichtigen. Dann führt C. Warnungen der eigenen Militärs und Diplomaten an, die sämtlich falsche Termine für den deutschen Angriff angeben. Diese Fehlalarme mussten eigentlich bei jedem Menschen außer bei C. Verständnis dafür erzeugen, dass Stalin den richtigen Termin dann auch nicht akzeptierte. Das Ergebnis war ein folgenschwerer Fehler Stalins, aber man muss schon sehr von sich eingenommen sein, um auszuschließen, dass einem selbst in Stalins Lage dieser Fehler auch hätte unterlaufen können. Wenn C. Stalin wegen dieser Fehler verurteilt, so musste er überzeugt sein, dass ihm als Stalins Nachfolger keine so schweren Fehler unterlaufen würden. Schaun wir mal: „Mit welchem Maße ihr messet, damit sollt ihr gemessen werden!“ heißt es in der Bibel.
Lenin stellte dem Sozialismus die Aufgabe: „Den Kapitalismus ökonomisch überholen oder untergehen!“ Dieser Satz schließt die unaufhebbare Feindschaft zw. Kapitalismus und Sozialismus ein. Indem C. die These Stalins von der Verschärfung der Widersprüche verurteilte, bestritt er diese Leninsche Aussage. Aus Lenins Aussage ergab sich für die Ökonomie zwingend das Gebot, in der Investitionstätigkeit das Schwergewicht auf die Investitionsgüter statt auf die Konsumgüter zu legen. Indem C. diesen selbstverständlichen Grundsatz der sozialistischen Ökonomie unter den Bedingungen der Koexistenz aufgab, stellte er die Weichen für Lenins Alternative:“…oder untergehen!“ Im Grunde wiederholte C. hiermit in der Praxis, was er mit der Verurteilung der These von der Zuspitzung der Widersprüche bereits in der Theorie getan hatte, den wesentlichen, strategischen Fehler von Bucharin, den Feind zu unterschätzen und die notwendigen Schritte für den raschen ökonomischen Fortschritt zu sabotieren.
Ein Mensch, der wesentliche, tödliche politische Fehler beging, maßte sich an, seinen Vorgänger wegen nicht wesentlicher Fehler zu verurteilen!
Hatte er denn wenigstens mehr von der Bescheidenheit, deren Fehlen er Stalin so wortreich vorwarf? C. propagierte den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus innerhalb von 20 Jahren, eine Veränderung, für die Marx und Engels nicht nur reicheres Fließen der Quellen der Produktivkraft voraussetzten, sondern auch einen veränderten Charakter der Massen, Menschen, die sich wirklich als soziales Wesen begreifen und denen Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis geworden ist. Wenn das erreicht ist, soll es möglich sein, die Menschen nach ihren Bedürfnissen statt nach ihrer Leistung zu versorgen. Das in 20 Jahren erreichen zu wollen war absurd. Schon C.s Ankündigung, den Lebensstandard der USA in kurzer Zeit zu überholen, war eine haltlose Prahlerei, an die keine einzige Selbstbeweihräucherung Stalins je heranreichte.
Indem C. so die sowjetische Vergangenheit als eine Geschichte ausschließlich von Willkür, Not und Terror diffamierte und unhaltbare Versprechungen für die nahe Zukunft machte, errichtete er ein Kartenhaus, nach dessen notwendigem Zusammenbruch bei den Menschen Entmutigung, Ent-täuschung und Zynismus vorherrschen und sich durch die falsche Wirtschaftspolitik weiter zuspitzen mussten. Die Stagnation und der Untergang des Realsozialismus in Europa war wesentlich das Ergebnis von Chruschtschows Politik.
Ich denke, nach den Erfahrungen mit dem Untergang des europäischen Realsozialismus sollten die Kommunisten zu einer gerechteren Beurteilung Stalins finden.
Kurzfristig werden sie sich damit nicht beliebt machen, aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Marx nennt als revolutionäre Tugend: „Aussprechen, was ist!“
Auf dem XX. Parteitag hat ein lebendiger Esel einen toten Löwen getreten.
Oder, wie Peter Hacks Chruschtschows Umgang mit Stalin noch schärfer charakterisierte:
Der plumpe Narr Nikita
Zog ihn aus dem Betrieb.
Er tat es seinem Gebieter
In Washington zulieb.
Fritz Dittmar, Hamburg