Dem königlich-preußischen Bombardier Friedrich Engels
zum 110. Todestag am 5. August 2005
Von Ulrich Huar
Inhalt
- Friedrich Engels’ militärwissenschaftliche Arbeiten
- Vorbemerkungen
- Theoretische Voraussetzungen
- Die Juni-Insurrektion in Paris 1848
- Elberfeld
- Der badisch-pfälzische Feldzug
- Moderne Kriegführung
- Freiwilligen-Armee
- Giuseppe Garibaldi
- Allgemeine Wehrpflicht und revolutionäre Arbeiterpartei
- Gewalttheorie
- Am Beginn der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution
- Literaturverzeichnis
Redaktionsnotiz |
Friedrich Engels hatte den Spitznamen „General“. Dass das kein Zufall war, zeigt die vorliegende Arbeit von Ulrich Huar. Auch wenn sich die von Engels unternommenen Untersuchungen auf den Zeitraum von 1848 bis zu seinem Tod 1895 beziehen, also durchaus schon ein wenig zurückliegen, sind sie nicht unaktuell, ganz im Gegenteil: Vieles ist von grundsätzlicher, allgemeiner Bedeutung.
Wir danken Ulrich Huar dafür, mit dieser Arbeit wichtige militärwissenschaftliche und militär-politische Aspekte für die kommunistische Bewegung neu in Erinnerung zu bringen. Und wir bitten unsere Leserinnen und Leser, sich diesem Thema freundlich anzunähern, denn es ist wichtig, es ist – leider – unverzichtbar.
Diese Arbeit von Ulrich Huar erscheint gleichzeitig bei uns und bei Hans Wauer und der KPD(B). Wir danken den Genossen für die Arbeit der elektronischen Texterfassung.
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Redaktion Offensiv, Hannover
Friedrich Engels’ militärwissenschaftliche Arbeiten |
Vorbemerkungen
Friedrich Engels war der erste marxistische Militärwissenschaftler. In über hundert Arbeiten hat er die Grundzüge sozialistischer Militärgeschichte und -politik, der Strategie und Taktik im Kriege ausgearbeitet. Engels wies mit Nachdruck darauf hin, daß sich die Arbeiterklasse militärisches Wissen, Fertigkeiten und Waffenkenntnisse aneignen muß. Die Arbeiterklasse ist durch die moderne Industrie, das Fabriksystem, diszipliniert. Sie muß sich auch für den Fall, daß der Klassenkampf die Form bewaffneter Kämpfe annimmt, militärische Organisation und Disziplin aneignen. Darum war Engels auch für die allgemeine Wehrpflicht. Wo denn sonst können sich die Proletarier militärische Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen? Von den Führern des Proletariats forderte er, sich zumindest Grundlagen der Militärwissenschaft anzueignen. Engels bezog die Clausewitz-These vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit gewaltsamen Mitteln auf die Klassenkämpfe vom Großen Deutschen Bauernkrieg bis zur Pariser Kommune. Diese Schlußfolgerung drängte sich ihm vor allem aus der Analyse der Juni-Insurrektion in Paris 1848 und der Pariser Kommune 1871 auf. Mit der Erkenntnis des Klassencharakters der Kriege schuf er theoretische Voraussetzungen für die später von Lenin getroffene Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen.
In einem gerechten Krieg ist die politische Entscheidung für das Proletariat einfach, welchen Krieg es unterstützen, welchen es bekämpfen, wenn notwendig, selbst militärisch eingreifen muß.
Die Geschichte kennt aber auch Fälle, in dem der Krieg von beiden Seiten – oder mehreren in Koalitionskriegen – ein ungerechter Krieg ist. Engels erlebte solche Kriege im Österreichisch-Französichen Krieg 1859 und im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. War letzterer bis zur Schlacht von Sedan am 2. September 1870 von deutscher Seite ein gerechter Verteidigungskrieg gegen die aggressive Interventionspolitik Louis Bonapartes, der die staatliche Zersplitterung Deutschlands aufrecht erhalten und das linke Rheinufer annektieren wollte, so schlug der Krieg nach Sedan von deutscher Seite in einen Eroberungskrieg um. Aber auch der erste Teil des Krieges bis Sedan trug den Stempel des reaktionären Preußentums, dessen Repräsentant Bismarck war, der den Krieg seinerseits provoziert hatte, zu einem für ihn günstigen Zeitpunkt.
Die abstrakte Unterscheidung der Kriege in gerechte und ungerechte darf nicht schablonenhaft in der Politik der revolutionären Partei der Arbeiterklasse Anwendung finden. Es gibt Situationen, in der die Arbeiterklasse auch einen Krieg unterstützen, sogar an ihm teilnehmen muß, der von einer reaktionären Ausbeuterklasse geführt wird. Kommunisten in den westlichen Staaten der Antihitlerkoalition haben in den Reihen der regulären Streitkräfte oder in der Resistance gekämpft, in letzterer sogar die Führung übernommen, obwohl die bürgerlichen Regierungen im Auftrage der herrschenden Gruppen des Finanzkapitals im Rahmen des antifaschistischen Befreiungskrieges reaktionäre Ziele gegenüber der Sowjetunion verfolgten.
Engels untersuchte nicht nur die Kriege in Europa. Kriege in Asien und Amerika, namentlich der amerikanische Bürgerkrieg, waren Gegenstand seiner Untersuchungen. In mehreren Artikelserien analysierte Engels die einzelnen militärischen Waffengattungen, Infanterie, Kavallerie, Artillerie, die Genie-Truppen (Pioniere). Dabei stellte er den Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung, Waffentechnik, sozialer Struktur der Bevölkerung, deren Bildungsniveau, Ideologie und Krieg, Ökonomie und Krieg dar.
Die Arbeiten Engels’ müssen im Kontext seiner Zeit gelesen werden, der Periode der bürgerlich-demokratischen Revolutionen, bürgerlichnationalen Befreiungskriegen und ab 1890 der Periode des Übergangs vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus, dem Beginn der Epoche der imperialistischen Kriege und der proletarischen Revolutionen am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Die Beherrschung der Methode der materialistischen Dialektik hatten ihn befähigt, den ersten Weltkrieg mit seinen allgemeinsten Ergebnissen voraussagen zu können.
Die militärwissenschaftlichen Arbeiten Engels’ aus seiner Schaffenszeit enthalten neben dem Historischen jedoch allgemeingültige Erkenntnisse, die für die Politik revolutionärer Arbeiterparteien heute und in der nächsten Zukunft von Bedeutung sind. Der Krieg ist in antagonistischen Klassengesellschaften eine Gesetzmäßigkeit, die mit Beginn des 20. Jahrhunderts in der besonders brutalen Form zweier Weltkriege ihren verhängnisvollen Ausdruck fand und nach der konterrevolutionären Zerstörung des europäischen Sozialismus neue Wirkungsbedingungen erhalten hat. Solange ein imperialistisches Weltsystem existiert, bleibt der Krieg eine existentielle Bedrohung der Menschheit. Die imperialistischen Großmächte verfügen über Waffensysteme, die zu Zeiten Engels unbekannt waren. Mit welcher Bestialität moderne Kriege geführt werden, darüber geben die Aggressionskriege der USA gegen Jugoslawien und Irak erschreckende Auskunft.
Die internationale Arbeiterklasse, ob sie sich ihrer historischen Rolle nun bewußt ist oder nicht, ob sie will oder nicht, ist mit der Kriegsfrage konfrontiert. Will sie Objekt imperialistischer Macht- und Aggressionspolitik sein, oder handelndes Subjekt, das die imperialistischen Zentren, die den Krieg gegen die VR China, Rußland und andere Staaten mit Eifer vorbereiten, zur Einhaltung des Friedens zwingen. Pazifistische Illusionen schaffen das imperialistische System und den in diesem System eingebetteten Krieg nicht aus der Welt. Auch fromme Gebete und Menschenketten mit Kerzen in den Händen werden daran nichts ändern. Um Frieden zu gebieten, gehört die Befähigung, den Klassenkampf auch mit militärischen Mitteln führen zu können. Im Jahre 2004 wurden auf der Welt 19 größere Kriege geführt. Sie werden in diesem und in den kommenden Jahren ihre Fortsetzung finden, wenn die internationale Arbeiterklasse und ihre Verbündeten die Imperialisten nicht zum Frieden zwingen. Die Aneignung der militärwissenschaftlichen Erkenntnisse Engels’ werden diesem Anliegen nützlich sein.
Die wichtigsten militärwissenschaftlichen Schriften Engels’ wurden vom Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung, Band 1, Berlin 1958 und vom Deutschen Militärverlag, Band 2, Berlin 1964, unter dem Titel: „Friedrich Engels: Ausgewählte militärische Schriften“ herausgegeben. Zu beiden Bänden veröffentlichte der Deutsche Militärverlag 1964 noch einen Register-Band. Allein schon der quantitative Umfang der beiden Bände mit 1512 Seiten für die „ausgewählten Schriften“ zeugt von der Bedeutung, die Engels der Militärfrage zugeordnet hat. Die in den Bänden enthaltenen Arbeiten sind auch in der 42bändigen Gesamtausgabe, „Marx Engels Werke“ (MEW), die vom Dietzverlag, Berlin, herausgegeben wurde, enthalten. Die Zusammenfassung der wichtigsten militärwissenschaftlichen Arbeiten in den beiden Auswahl-Bänden erleichtert den Zugang zu diesen Schriften. Die Inhaltsverzeichnisse der beiden Bände geben einen Einblick in die Vielfalt der militärischen Ereignisse und Probleme, die Gegenstand der Untersuchung und Darstellung von Engels waren. (Siehe Anhang)
Engels hat nicht wenige Artikel zu Militärfragen auch in bürgerlichen Zeitungen, so in der „New York Harald Tribune“, veröffentlicht, so dass er auch von bürgerlichen Autoren, selbst von Militärs, als Militärwissenschaftler Anerkennung fand. Im Kreis der Genossen und Freunde hatte er den Spitznamen der „General“ erhalten, worin eine Würdigung seiner militärwissenschaftlichen Beiträge ihren Ausdruck fand. Die militärwissenschaftlichen Schriften von Engels bilden einen Bestandteil der von Marx und Engels ausgearbeiteten Theorie des Wissenschaftlichen Sozialismus. Einige Schriften wurden von Marx und Engels gemeinsam ausgearbeitet. Es gab auch von Marx militärwissenschaftliche Arbeiten, die hier jedoch nicht reflektiert werden. Dieser Sachverhalt ändert jedoch nichts daran, daß Engels im Kontext der Ausarbeitung der Theorie des Wissenschaftlichen Sozialismus auf militärwissenschaftlichem Gebiet federführend war. Engels hat oftmals militärpolitische und -wissenschaftliche Untersuchungen Marx zur Verfügung gestellt, die dann in den betreffenden Schriften von Marx ihren Niederschlag fanden. Marx und Engels arbeiteten sehr eng miteinander zusammen, so daß gerade bei Zeitungsartikeln nicht immer eindeutig zu sagen ist, was von wem ist. Das trifft besonders auf Artikel aus der „Neuen Rheinischen Zeitung“ während der Revolution 1848/49 zu.
Aus dem Umfang der militärwissenschaftlichen Arbeiten mußte ich in den nachfolgenden Ausführungen eine sehr enge Auswahl treffen. Es wurden solche Arbeiten dokumentiert, die für die Politik revolutionärer Arbeiterparteien und für Führungskräfte künftiger revolutionärer Befreiungskriege mir von besonderer Relevanz zu seien schienen. Auf Arbeiten über China, Indien, Amerika habe ich ganz verzichtet. Dazu ist eine gesonderte Publikation in Vorbereitung. Auf einen wissenschaftlichen Apparat habe ich auf Grund meines begrenzten Kräftehaushalts ganz verzichtet. Im Literaturverzeichnis sind die wichtigsten Werke angegeben, die für die vorliegende Ausarbeitung als Quellen benutzt wurden. Hinter besonders ausführlichen Zitaten werden Band und Seitenzahl in Klammern angegeben: Marx Engels Werke, Band/Seite, abgekürzt, z.B.: MEW 13/303, Lenin Werke, Band/ Seite, abgekürzt: LW 21/213. Längere Ausführungen aus den Klassiker-Werken habe ich deshalb vorgenommen, da ein großer Teil der Leser, vor allem junge Menschen, nur unter aufwendigen Bemühungen Zugang zu den Klassiker-Werken finden können.
Theoretische Voraussetzungen
Wie bei jeder neuen Theorie mußte auch Engels an das vorgefundene militärtheoretische Material anknüpfen, und das fand sich vor allem in den Schriften des bedeutendsten preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz (1780 – 1831), besonders in dessen Hauptwerk „Vom Kriege“, wieder. Clausewitz spielte für die marxistische Militärtheorie etwa die gleiche Rolle wie Hegel für die Ausarbeitung der materialistischen Dialektik. Wenn Marx die Hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße“ stellte, so kann man dies analog auch für Engels bezüglich der Militärtheorie von Clausewitz geltend machen. Lenin meinte später, daß die Ideen von Clausewitz von Hegel befruchtet waren. (LW 21/213) Auf die Erkenntnis der Dialektik des Krieges im Werk von Clausewitz wiesen Marx und Engels in mehreren Werken hin, teils direkt, teils indirekt, aus dem Kontext der Schriften erkennbar. Direkte Verweise auf Clausewitz erschienen bei Engels jedoch auch erst seit Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet nicht, daß es vorher keine militärgeschichtlichen oder -theoretischen Schriften von Engels gegeben hat. Hier sei nur auf Engels’ Arbeiten „Die deutsche Reichsverfassungskampagne“ und „Der deutsche Bauernkrieg“ erinnert, beide 1850 geschrieben. In einem Brief an Marx vom 7. Januar 1858 bemerkte Engels: „Ich lese jetzt u.a. Clausewitz ‚Vom Kriege’. Sonderbare Art zu philosophieren, der Sache nach aber sehr gut. Auf die Frage, ob es Kriegskunst oder Kriegswissenschaft heißen müsse, lautet die Antwort, daß der Krieg am meisten dem Handel gleiche. Das Gefecht ist im Kriege, was die bare Zahlung im Handel ist, so selten sie in der Wirklichkeit vorzukommen braucht, so zielt doch alles daraufhin, und am Ende muß sie doch erfolgen und entscheiden.“
Engels wies in seinem Artikel „Der Kampf in Frankreich“ vom 11. November 1870 auf Scharnhorst, Gneisenau und Clausewitz bezüglich des Volkskampfes gegen die Napoleonische Fremdherrschaft in Preußen hin. Clausewitz und Gneisenau untersuchten den Volkskampf, die Volksbewaffnung in Spanien und Preußen Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts sehr genau. Gneisenau ging sogar nach Spanien, um selber am Kampf der Guerilla gegen Napoleon teilzunehmen. An dem Volkskampf in Preußen sollten alle „Burschen zwischen 17 und 20 Jahren und die Männer von 40 bis 60 Jahren“ im „Landsturm“ teilnehmen, eine Volkserhebung sich „im Rücken und in den Flanken des Feindes“ erheben, seine „Bewegungen stören“, seine „Zufahrten und Kuriere abschneiden“, „alle Arten von Waffen benutzen“, die Eindringlinge beunruhigen, vor allem „keine Uniform irgendwelcher Art tragen, damit die Landstürmer … dem Feinde unbekannt bleiben konnten“. Es ist unschwer zu erkennen, daß hier die Ausführungen Clausewitz’ über die Volksbewaffnung aus seinem Werk „Vom Kriege“ indirekt reflektiert sind.
Über den dialektischen Zusammenhang zwischen Krieg und Politik, die berühmte Clausewitz-These vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen, gewaltsamen Mitteln finden sich in den Werken von Marx und Engels nach dem Sachregister weit über hundert Hinweise. Sie lassen sich in vier Gruppen unterscheiden: 1. Krieg als Mittel, um sich vor einer „drohenden Revolution“ zu retten; 2. Aggressionskrieg, um von inneren Schwierigkeiten abzulenken; 3. Revolutionskriege, zur Durchsetzung des gesellschaftlichen Fortschritts; 4. Kriege, die aus politischen Entscheidungen hervorgehen. Engels wies mehrfach darauf hin, daß die Annexion von Elsaß-Lothringen zu einer Koalition Frankreichs mit Russland und letztendlich zu einer Europa „mit Krieg bedrohenden Krise“ führen wird. (MEW 21/447)
Clausewitz Werk war natürlich nicht die einzige theoretische Voraussetzung, auf die sich Engels stützen konnte. Die Kriegstheorien Napoleons, Suworows, Kutusows sowie der Feldherren des antiken Griechenlands und Roms hatte Engels sehr gründlich studiert. Unter anderem äußerte er sich über Suworows Alpenübergang in seinem Artikel „Po und Rhein“ (Februar/März 1859 geschrieben). Die russische Armee hatte bei diesem Alpenübergang den sehr schwierigen Fußpfad, den Panixer Paß, 8.000 Fuß (ca. 2.800 m) hoch, zu überwinden, um einer stärkeren französischen Armee auszuweichen. „Diese Passage war bis dahin der großartigste aller modernen Alpenübergänge“; meinte Engels und zitierte Suworow, nach dem „das russische Bajonett durch die Alpen drang. (Ruskij styk prognal cres Alpow)“ (MEW 13/113 und 14/233)
Im Oktober 1842 quittierte Friedrich Engels als „königlich preußischer Artillerist“ seinen einjährigen freiwilligen Militärdienst in der preußischen Armee im Range eines Bombardier, vergleichbar mit einem Feldwebel der Artillerie. Engels sollte sieben Jahre später Gelegenheit finden, seine praktische militärische Qualifikation, nicht nur als Artillerist, im badisch-pfälzischen Feldzug auf Seiten der Insurgenten gegen die konterrevolutionären Truppen der preußischen- und Reichsarmee unter Beweis zu stellen.
Als Redakteur neben Karl Marx als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ verwandelte er die Redaktion in Köln in eine kleine Festung, deren Setzer mit acht Bajonettgewehren und 250 scharfen Patronen bewaffnet waren. Der kommandierende General der preußischen Garnison mit immerhin 8.000 Mann Besatzung hatte die kleine revolutionäre Festung zu respektieren. Mit der „Neuen Rheinischen Zeitung“ anzubinden, die unter den in Bewegung geratenen Arbeitern und demokratischen Intellektuellen Anklang gefunden hatte, war im Sommer 1848 für die Reaktion nicht ratsam.
Die Juni-Insurrektion in Paris 1848
Erste spärliche Berichte über die Juni-Insurrektion gingen am 25. Juni in der Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung“ ein. Einzige Quellen, über die Marx und Engels verfügten, waren „konfuse und widersprechende Berichte belgischer Blätter“. In drei ersten Artikeln in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ (Nr. 26, 28, 29) gab Engels einen detaillierten Überblick über die Kämpfe in Paris, soweit dies schon möglich war. Einen ausführlichen Bericht über Plan und Organisierung des Aufstandes verfaßte er in der Ausgabe Nr. 31 vom 1. Juli 1848. (MEW 5/145-153)
Das Neue bezüglich der bisherigen Auffassungen in den diversen Schulen der Militärtheorie war die Klarstellung des sozialen Inhalts der militärischen Kämpfe. Der Barrikadenkampf in Paris war die bis dahin höchste Form des Klassenkampfes zwischen der Großbourgeoisie und dem Proletariat. Die Juni-Insurrektion in Paris war ihrem Charakter nach die erste soziale Revolution des Proletariats, die dem militärischen Kampf ihren Stempel aufdrückte. Marx unterschied zwischen der Februarrevolution (1848) in Paris als der „schönen“ Revolution, wo das Volk einig war im Kampf gegen die Überreste der feudalen Reaktion in Gestalt der Juli-Monarchie. Aber nach dem Sieg des Februars brachen die Klassengegensätze in aller Schärfe auf. Die schöne „Einheit“ des Volkes zerstob in der profanen Konfrontation zwischen den beiden Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft Bourgeoisie und Proletariat, der „häßlichen Revolution“, mit dem Kleinbürgertum zwischen den beiden Klassen, das auf Grund seiner unsicheren sozialen Stellung politisch zwischen den beiden Grundklassen schwankte. Wenn es kleinbürgerlichen Intellektuellen gelang, die Führung in der Revolution zu übernehmen, führte sie die Revolution stets in die Niederlage. Für ihre Halbheiten erhielten sie dann von der siegreichen Reaktion auch in mehr oder weniger brutaler Form ihre Abdankung: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann geh’n.“ (Schiller) Eine Erfahrung, die der Juni nicht nur das Proletariat lehrte, sondern nur wenige Monate später auch den Insurgenten des badischpfälzischenFeldzuges.
Es war das Pariser Proletariat, das im Juni den Schlachtruf zum Sturz der politischen Herrschaft der Bourgeoisie, zur Errichtung der „Diktatur der Arbeiterklasse“ erhob. Es war dies die Konsequenz aus dem Verrat der Bourgeoisie nach der Februarrevolution und den Schwankungen der Kleinbürger. Dieser Schlachtruf des Pariser Proletariats wurde in den folgenden Jahren zu einem Axiom der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Ohne diesen sozialen Bezug sind die militärischen Aktionen des revolutionären Pariser Proletariats nicht zu verstehen. Die Junirevolution bot das „Schauspiel eines erbitterten Kampfes, wie … ihn die Welt noch nicht gesehen“ habe, schrieb Engels. Die Armeen, die sich in den Straßen von Paris gegenüberstanden, waren „so stark wie die Armeen, die die Völkerschlacht von Leipzig“ schlugen. (16.-19. Oktober 1813. Sie war die Entscheidungsschlacht der Befreiungskriege gegen Napoleon. Die verbündeten Preußen, Österreicher, Russen und Schweden verfügten zu Beginn der Schlacht über 250.000 Mann, Napoleon 190.000 Mann.)
Die Konterrevolution hatte gegenüber den Insurgenten eine bedeutende Übermacht an Truppen und Artillerie. Sie verfügte am Morgen des 24. Juni über 100.000 Mann, etwa die Hälfte Linientruppen (Linie: Bezeichnung für die aktive Truppe im Unterschied zur Reserve und Landwehr) neben Nationalgarde und Mobilgarde. Die Insurgenten waren höchstens 40.000 bis 50.000, Mann stark und verfügten über keine Artillerie. (Bei den Zahlenangaben von Engels muß man die damalige Quellenlage berücksichtigen. Die Zahlen können nur als annähernd richtig verstanden werden.)
Im Mittelpunkt des militärischen Kampfes stand der Barrikadenkampf, eine Kriegstaktik, wie sie in allen Revolutionskämpfen 1848/49 in Prag, Mailand, Wien, Berlin, Dresden u.a. Städten vorzugsweise von den Insurgenten Anwendung fand. Den Plan der Pariser Insurrektion hatte Joachim-René-Théophile-Gaillard de Kersausie ausgearbeitet. Kersausie war ehemaliger Offizier, Teilnehmer an der Julirevolution 1830 in Paris und verfügte über militärische Erfahrungen. Engels würdigte Kersausie als den ersten Barrikadenfeldherrn, dem das Verdienst gebührt, als erster den Straßenkampf organisiert zu haben. Nach dem Schlachtplan von Kersausie rückten die Insurgenten in vier Kolonnen in konzentrischer Bewegung auf das Stadthaus (Rathaus) zu. Sie stützten sich auf ausschließlich von Arbeitern bewohnte Stadtteile, die das östliche Paris in einem Halbkreis umgaben. Zuerst sollte das östliche Paris von allen Feinden gesäubert, anschließend an beiden Ufern der Seine in Richtung des Zentrums nach Westen vorgerückt werden. Die Operationsbasen waren stark verschanzt. Sie stellten „furchtbare Festungen“ dar. So waren auch Stellungen für den Fall eines Rückzuges vorbereitet. Der ganze Plan zeugte von militärischen Fachkenntnissen.
Engels nannte einen Fehler des Plans, nämlich, daß er die westliche Hälfte von Paris am Anfang der Operation unberücksichtigt ließ. Er räumte dabei ein, daß wir „nicht wissen“ können, ob es für Kersausie möglich gewesen war, den Westen von Paris in die Anfangsphase der Operation mit einzubeziehen. Es sei aber eine Tatsache, so Engels, „daß noch nie ein Aufstand durchgedrungen ist, der sich nicht von vornherein dieses Zentrum von Paris … zu bemächtigen wußte.“
Der Plan der Konterrevolution bestand nur darin; die Insurrektion mit allen Mitteln zu unterdrücken, mit Kanonenkugeln und Kartätschen.
Engels hob die Organisation und militärische Disziplin der Insurgenten hervor. Er erklärte sie daraus, daß die Arbeiter schon in den Nationalwerkstätten „militärisch organisiert und in Kompanien eingeteilt gewesen waren.“ Sie brauchten nur „ihre industrielle Organisation auf ihre kriegerische Tätigkeit zu übertragen“, um eine „vollständig gegliederte Armee zu bilden.“
Die Insurgenten hatten auf dem linken Seineufer starke Brückenköpfe gebildet, was ebenfalls von militärischer Fachqualifikation zeugte. Die Anlage der Barrikaden wiesen eine „merkwürdige Stärke“ auf. Sie waren mit großen Pflasterquadern gemauert, teilweise von Balken zusammengezimmert. Die Barrikaden wurden in einem Winkel nach innen angelegt, um die Wirkung der Artillerie abzuschwächen und die Angreifer ins Kreuzfeuer nehmen zu können. In den in Barrikadennähe gelegenen Häusern wurden die Brandmauern durchstoßen, um Verbindungen untereinander herzustellen und die Insurgenten rasch und vom Feinde unbemerkt die Stellung wechseln lassen zu können. Die beiden Pariser Vororte du Temple und St. Antoine „glichen einer vollständigen Festung“. Die kunstgerechte Anlage der Barrikaden, die militärische Disziplin und das militärische Geschick der Arbeiter ermöglichte ihnen, vier Tage einer vielfachen Übermacht standzuhalten, gegen ein erbarmungsloses Artilleriefeuer mit Kartätschen, Kanonenkugeln, Granaten und congrevischen Raketen (Brandraketen, bestehend aus einer 9 – 24 cm starken Hülse aus Eisenblech, die den Treibsatz enthält; am oberen Ende befindet sich die mit Brandzeug gefüllte eiserne Büchse).
Aber gegen die Haubitzen der Konterrevolution ließen sich die Barrikaden auf Dauer nicht halten. Ein solches Artilleriefeuer hatte es bis dahin in den Straßen von Paris noch nicht gegeben. Ein einziges mal hatte Napoleon in den Straßen von Paris mit Kanonen geschossen (1795), aber gegen Barrikaden und Häuser wurde noch nie Artillerie angewandt, schon gar nicht mit Granaten und Brandraketen. Das Volk, schrieb Engels, war in diesem Kampf zu großmütig. Auf die Brandraketen und Haubitzen der Konterrevolution hätte es „mit Bränden“ antworten müssen, und es wäre am Abend des 24. Juni Sieger gewesen. „Aber es dachte nicht daran, gleiche Waffen zu gebrauchen wie seine Gegner.“
In Auswertung des Befreiungskampfes des italienischen Volkes bemerkte Engels die bis dahin gewonnenen Erfahrungen verallgemeinernd: „Die Völker haben sich durch ihre Großmut schon so oft ihre eigene Grube gegraben, daß sie endlich klug werden und ein bisschen von ihren Feinden lernen müssen.“ (MEW 5/368)
Elberfeld
Die Frankfurter Nationalversammlung, ein dürftiges Ergebnis der bürgerlich-demokratischen Revolution vom März 1848, hatte am 28. März 1849 nach langen Diskussionen eine sehr gemäßigte liberale Verfassung angenommen, nach der ein deutscher Bundesstaat unter der Hegemonie Preußens als Kaiserreich unter Ausschluß Österreichs geschaffen werden sollte. Das war die sogenannte „kleindeutsche“ Lösung. Nach den von Marx und Engels ausgearbeiteten „Forderungen des Bundes der Kommunisten“ sollte „Ganz Deutschland“ zu „einer einigen, unteilbaren Republik“ unter Einschluß der deutschen Teile Österreichs „erklärt“ werden. Das war die „großdeutsche“ Lösung der nationalen Frage, wie sie Marx und Engels im März 1848 gefordert haben. Die Kleinstaaterei nach Schweizer Muster, von Engels spöttisch als „Kantönlipolitik“ bezeichnet, samt ihren Fürsten und Fürstchen sollte aufgehoben, ein zentralisierter demokratischer Staat unter erklärter Einbeziehung der Arbeiter als Abgeordnete des Parlaments errichtet werden.
Die demokratischen Forderungen des Bundes der Kommunisten enthielten das aktive und passive Wahlrecht für alle Bürger über 21 Jahre, allgemeine Volksbewaffnung, unentgeltliche Rechtspflege, Aufhebung sämtlicher Feudallasten, Überführung der fürstlichen und anderen feudalen Landgüter in Staatseigentum, desgleichen der Hypotheken auf Bauerngüter. Grundrente und Pachtschillinge sollten als Steuer an den Staat gezahlt werden. Damit würden die Bauern wesentlich von Abgaben entlastet werden. Anstelle von Privatbanken war eine Staatsbank vorgesehen, das Kreditwesen sollte im Interesse des ganzen Volkes geregelt werden. Transportmittel, Bahn, Post, Dampfschiffe etc. sollten in Staatseigentum umgewandelt, der unbemittelten Klasse unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Weitere Forderungen waren: Trennung von Kirche und Staat, Beschränkung des Erbrechts, starke Progressivsteuern, Errichtung von Nationalwerkstätten, Garantie der Existenz aller Arbeiter durch den Staat und Versorgung von Arbeitsunfähigen, allgemeine, unentgeltliche Volkserziehung.
Diese Forderung gingen nicht über den bürgerlich-demokratischen Rahmen hinaus, waren noch keine sozialistischen Forderungen. Von diesen Forderungen war in der Reichsverfassung nichts zu finden. Sie war Ergebnis eines Kompromisses zwischen den großbürgerlich-liberalen und kleinbürgerlich-demokratischen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung. Dennoch enthielt sie einige demokratische Freiheiten, ein bürgerlich-demokratisches Wahlrecht, Vereins-, Versammlungs- und Pressefreiheit, Selbstverwaltung der Gemeinden, allgemeines deutsches Staatsbürgerrecht und Freizügigkeit für ganz Deutschland.
Aber: Die Souveränität der fürstlichen Herrschaft in den Kleinstaaten wurde nicht angetastet, lediglich Außenpolitik, Militärwesen und Wirtschaftspolitik fielen in die Kompetenz der „Reichsregierung“, die noch gar nicht existierte. Ein Auszug aus der Reichsverfassung dokumentiert ihre Vorzüge und ihre Grenzen:
„§ .1
Das deutsche Reich besteht aus dem Gebiet des bisherigen deutschen Bundes…(…)
§ 5.
Die einzelnen deutschen Staaten behalten ihre Selbständigkeit, soweit dieselbe nicht durch die Reichsverfassung beschränkt ist; sie haben alle staatlichen Hoheiten und Rechte, soweit diese nicht der Reichsgewalt ausdrücklich übertragen sind.
§ 6.
Die Reichsgewalt ausschließlich übt dem Auslande gegenüber die völkerrechtliche Vertretung Deutschlands und der einzelnen Staaten aus. Die Reichsgewalt stellt die Reichsgesandten und die Konsuln an. Sie führt den diplomatischen Verkehr, schließt die Bündnisse und Verträge mit dem Auslande, namentlich auch die Handels- und Schiffahrtsverträge sowie die Auslieferungsverträge ab. Sie ordnet alle völkerrechtlichen Maßregeln an. (…)
§ 10.
Der Reichsgewalt ausschließlich steht das Recht des Krieges und Friedens zu. (…)
§ 33.
Das deutsche Reich soll ein Zoll- und Handelsgebiet bilden, umgeben von gemeinschaftlicher Zollgrenze mit Wegfall aller Binnengrenzzölle … (…)
§ 38.
Die Reichsgewalt hat das Recht der Gesetzgebung über den Handel und die Schiffahrt und : überwacht die Ausführung der darüber erlassenen Reichsgesetze.
§ 39.
Der Reichsgewalt steht es zu, über das Gewerbewesen Reichsgesetze zu erlassen und die Ausführung derselben zu überwachen. (…)
§ 58.
Der Reichsgewalt steht es zu, über das Heimatrecht Reichsgesetze zu erlassen und die Ausführung derselben zu überwachen. (…)
§ 68.
Die Würde des Reichsoberhauptes wird einem der regierenden deutschen Fürsten übertragen.
§ 69.
Diese Würde ist erblich im Hause des Fürsten, dem sie übertragen worden. Sie vererbt im Mannesstamme nach dem Rechte der Erstgeburt.
§ 70.
Das Reichsoberhaupt führt den Titel: Kaiser der Deutschen. (…)
§ 73.
Die Person des Kaisers ist unverletzlich. Der Kaiser übt die ihm übertragene Gewalt durch verantwortliche, von ihm ernannte Minister aus. (…)
§ 76.
Der Kaiser erklärt Krieg und schließt Frieden.
§ 77.
Der Kaiser schließt die Bündnisse und Verträge mit den auswärtigen Mächten ab, und zwar unter Mitwirkung des Reichstags, insoweit diese in der Verfassung vorbehalten ist. (…)
§ 79.
Der Kaiser beruft und schließt den Reichstag; er hat das Recht, das Volkshaus aufzulösen. (…)
§ 83.
Der Kaiser hat die Verfügung über die bewaffnete Macht.
§ 84.
Überhaupt hat der Kaiser die Regierungsgewalt in allen Angelegenheiten des Reiches nach Maßgabe der Reichsverfassung. Ihm als Träger dieser Gewalt stehen diejenigen Rechte und Befugnisse zu, welche in der Reichsverfassung der Reichsgewalt beigelegt und dem Reichstage nicht zugewiesen sind.
§ 85.
Der Reichstag besteht aus zwei Häusern, dem Staatenhause und dem Volkshause.
§ 86.
Das Staatenhaus wird gebildet aus den Vertretern der deutschen Staaten. (…)
§ 88.
Die Mitglieder des Staatenhauses werden zur Hälfte durch die Regierung und zur Hälfte durch die Volksvertretung der betreffenden Staaten ernannt… (…)
§ 93.
Das Volkshaus besteht aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. (…)
§ 115.
Weder Überbringer von Bittschriften noch überhaupt Deputationen sollen in den Häusern zugelassen werden. (…)
§ 125.
Die dem Reiche zustehende Gerichtsbarkeit wird durch ein Reichsgericht ausgeübt. (…)
§ 131.
Das deutsche Volk besteht aus den Angehörigen der Staaten, welche das deutsche Reich bilden. (…)
§ 137.
Vor dem Gesetz gilt kein Unterschied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgehoben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Alle Titel, insoweit sie nicht mit einem Amte verbunden sind, sind aufgehoben… Kein Staatsangehöriger darf von einem auswärtigen Staate einen Orden annehmen. Die öffentlichen Ämter sind für alle Befähigten gleich zugänglich. Die Wehrpflicht ist für alle gleich; Stellvertretung bei derselben findet nicht statt.
§ 138.
Die Freiheit der Person ist unverletzlich… (…)
§ 140.
Die Wohnung ist unverletzlich … (…)
§ 142.
Das Briefgeheimnis ist gewährleistet …
§ 143.
Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung zu äußern …
§ 144.
Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit …(…)
§ 152.
Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. (…)
§ 161.
Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubnis dazu bedarf es nicht. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden.
§ 162.
Die Deutschen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieses Recht soll durch keine vorbeugende Maßregel beschränkt werden.
§ 164.
Das Eigentum ist unverletzlich. Eine Enteignung kann nur aus Rücksichten des gemeinen Besten, nur auf Grund eines Gesetzes und gegen gerechte Entschädigung vorgenommen werden…. (…)
§ 166.
Jeder Untertänigkeits- und Hörigkeitsverband hört für immer auf.
§ 190.
Bei jedem Regierungswechsel tritt der Reichstag, falls er nicht schon versammelt ist, ohne Berufung zusammen, in der Art, wie er das letzte Mal zusammengesetzt war. Der Kaiser, welcher die Regierung antritt, leistet vor den zu einer Sitzung vereinigten beiden Häusern des Reichstages einen Eid auf die Reichsverfassung …
§ 197.
Im Falle des Kriegs oder Aufruhrs können die Bestimmungen der Grundrechte über Verhaftung, Haussuchung und Versammlungsrecht von der Reichsregierung oder der Regierung eines Einzelstaates für einzelne Bezirke zeitweise außer Kraft gesetzt werden …
Die Regierungen von 28 kleineren deutschen Staaten erklärten sich unter dem Druck der revolutionierten Volksmassen für die Reichsverfassung. Die feudale Reaktion in Preußen, Bayern, Hannover und Sachsen beantwortete die Annahme der Reichsverfassung durch die Frankfurter Nationalversammlung mit der Auflösung der Parlamente, die unter dem Druck der Volksmassen auf die Akzeptanz der Reichsverfassung drängten. Trotz ihres eng begrenzten liberalen Inhalts flammte um die Reichsverfassung noch einmal der revolutionäre Kampf der Volksmassen gegen die feudale Reaktion auf. Der preußischen Monarchie gebührt das „Verdienst“ an der Spitze der feudalen Reaktion in Deutschland gestanden zu haben. Der preußische König, Friedrich Wilhelm IV., lehnte die ihm angebotene Kaiserkrone in arroganter Weise brüsk ab. Kronprinz Wilhelm sollte sich bei der Niederschlagung der Reichsverfassungskampagne unrühmlich hervortun. Er ging als „Kartätschenprinz“ in die Geschichte ein.
Der bewaffnete Aufstand für die Reichsverfassung begann Anfang Mai 1849 in Dresden. Er wurde von sächsischen Truppen mit Unterstützung von zwei preußischen Regimentern, die über Kavallerie und Artillerie verfügten, niedergeschlagen. Ein preußisches Bataillon war mit dem modernen Zündnadelgewehr ausgerüstet. Es war meines Wissens der erste Einsatz dieses Gewehres in einem Ernstfall. Offenbar wurde es an den Insurgenten auf den Barrikaden in Dresden ausprobiert.
(Engels über das Zündnadelgewehr: Es „wurde von einem Zivilisten, Herrn Dreyse aus Sömmerda in Preußen, erfunden. Nachdem er zuerst die Methode entwickelt hatte, eine Schußwaffe durch eine plötzlich in die in der Patrone enthaltene Explosivmasse eindringende Nadel abzufeuern, vollendete er seine Erfindung schon 1835, indem er einen Hinterlader konstruierte, der mit diesem nadelzündenden Mechanismus versehen war. Die preußische Regierung kaufte sofort dieses Geheimnis auf und bewahrte es erfolgreich, bis es 1848 publik wurde. Inzwischen entschloß sie sich, im Kriegsfall ihre gesamte Infanterie mit dieser Waffe auszurüsten und fuhr fort, Zündnadelgewehre herzustellen… Die Patrone enthält Kugel, Pulver sowie die Explosivmischung und wird ungeöffnet in die Kammer gebracht, die etwas größer ist als der gezogene Lauf. Eine einfache Handbewegung schließt den Verschluß und spannt zugleich die Schußwaffe… Hinter der Ladung, in einem hohlen, eisernen Zylinder, liegt eine starke, spitze Stahlnadel, die durch eine Spiralfeder in Bewegung gesetzt wird. Das Spannen der Waffe besteht lediglich darin, diese Feder zurückzuziehen, zusammenzupressen und festzuhalten. Wenn am Abzug gezogen wird, setzt er diese Feder frei, die sofort vorwärtsschnellt, auf die Patrone aufschlägt und augenblicklich die Explosivmischung entzündet; dadurch wird die Ladung abgefeuert. So besteht das Laden und Feuern mit dieser Waffe nur aus fünf Bewegungen: Verschluß öffnen, Patrone hineinstecken, Verschluß schließen, die Waffe in Anschlag bringen und Feuern. Kein Wunder, dass mit einer solchen Waffe fünf wohlgezielte Schüsse in einer Minute abgegeben werden können.“ MEW 15/216f)
Die Kämpfer auf den Barrikaden verfügten nicht über solche Waffen. Berlin blieb unter Belagerungszustand ruhig, in Breslau kam es zu einem „schwachen Barrikadenkampf“. Norddeutschland, ohne revolutionäres Zentrum, blieb ruhig. In Rheinpreußen und Süddeutschland entfaltete sich die revolutionäre Bewegung in den Städten. Sie waren die Hauptgebiete im Kampf um die Reichsverfassung. Rheinpreußen galt als eins der fortgeschrittensten Gebiete Deutschlands. Die Armeen Napoleons hatten auf dem linken Rheinufer den „Code civil des Francais“, das „klassische Gesetzbuch der bürgerlichen Gesellschaft“, wie Engels ihn bezeichnete, eingeführt und den Feudalismus vernichtet. Die Bauern waren freie Grundeigentümer geworden wie in Frankreich, in den Städten waren die Zünfte und die patriarchalische Patrizierherrschaft von der freien Konkurrenz verdrängt worden.
Rheinpreußen verfügte über die „ausgebildetste und mannig fachste Industrie“ von ganz Deutschland. Mit der Entwicklung der Industrie und günstige Verkehrswege, mit dem Rhein als bedeutender Wasserstraße, entfaltete sich ein ausgedehnter Außenhandel, Export und Import nach allen Weltteilen. Die industrielle und kommerzielle Entwicklungsstufe der Rheinprovinz bezeichnete Engels für den Weltmarkt jedoch als „ziemlich unbedeutend, doch für Deutschland einzig“. (MEW 7/116)
Infolge der industriellen Entwicklung waren auch die Klassenbeziehungen weiter fortgeschritten als im übrigen Deutschland. In der Rheinprovinz existierte eine Großbourgeoisie in Industrie und Handel sowie ein zahlreiches industrielles Proletariat, die der politischen Entwicklung ihren Stempel aufdrückten. Die Rheinländer haßten alles, was preußisch war, schrieb Engels. Preußen hatte mit der Annexion der Rheinprovinz die Französische Revolution in sein Staatsgefüge einbezogen und behandelte die Rheinländer wie „besiegte Rebellen.“ Aus der Rheinprovinz gingen 1848 die „klassischen Vertreter“ der deutschen Bourgeoisie hervor, Camphausen und Hansemann, zugleich aber auch das „einzige Organ“, das die wirklichen Interessen des Proletariats vertrat, die „Neue Rheinische Zeitung“ mit ihrer Redaktion in Köln.
In der Rheinprovinz, in der Pfalz und in Baden standen sich die feudale Reaktion in Gestalt der Fürsten, des Adels und der preußischen Monarchie, die Großbourgeoisie, die Kleinbürger, Arbeiter und Bauern in Klassenkämpfen gegenüber, in denen sie ihre jeweiligen Interessen vertraten. „Die Bourgeoisie herrscht nie in ihrer Gesamtheit“, schrieb Engels bezüglich der Bourgeoisie von 1848/49. Sowie sie den Feudalismus besiegt hat, „spaltet sich selbst die große Bourgeoisie … in eine regierende und eine opponierende Partei, die gewöhnlich durch die Bank auf der einen, die Fabrikanten auf der andern Seite repräsentiert werden. Die opponierende, progressive Fraktion der großen und mittleren Bourgeoisie hat dann gegenüber der herrschenden Fraktion mit der Kleinbürgerschaft gemeinsame Interessen und vereinigt sich mit ihr zum gemeinschaftlichen Kampfe.“ (MEW 7/113) Das war die sozialökonomische und politische Situation in Rheinpreußen.
In Elberfeld war die Stellung der Klassen in der Reichsverfassungskampagne am schärfsten ausgeprägt und am weitesten entwickelt. Nach ersten Barrikadenkämpfen in Elberfeld, in Düsseldorf und der Verbarrikadierung Iserlohns begann der Aufstand im größten Teil des bergisch-märkischen Industriegebiets. (Ruhrgebiet und ein Teil Westfalens. UH) Engels analysierte exakt die Lage und die Möglichkeiten des bewaffneten Aufstandes. Die Hauptorte des bergisch-märkischen Industriegebietes waren in bisher siegreichem Aufstande begriffen. Es gab Nachrichten, daß sich Dresden noch hielt, daß es in Schlesien gärte. In Baden war eine siegreiche Militärrevolte ausgebrochen, der Großherzog geflohen. Die revolutionären Ungarn hatten Erfolge. Von „allen revolutionären Chancen“, schrieb Engels, „die sich der demokratischen und Arbeiterpartei seit März 1848 geboten hatten, war dies bei weitem die vorteilhafteste, und sie mußte natürlich ergriffen werden.“ (MEW 7/123)
Alle größeren Städte der Rheinprovinz waren entweder „von starken Zitadellen und Forts beherrschte Festungen“ oder hatten starke Garnisonen. Dadurch waren die revolutionären Zentren der Rheinprovinz gelähmt. Jeder Aufstandsversuch mußte hier mit einer Niederlage enden. Auf dem linken Rheinufer war an der Mosel, in der Eifel und dem Krefelder Industriegebiet eine Bewegung möglich, wobei dieses Gebiet von sechs Festungen und drei Garnisonsstädten eingeschlossen war.
Das rechte Rheinufer bot in den bereits insurgierten Gebieten ein „dichtbevölkertes, ausgedehntes, durch Wald und Gebirge zum Insurrektionskriege wie geschaffenes Terrain dar.“ (MEW 7/123) Den Maßnahmenplan hatte Engels gemeinsam mit anderen Revolutionären ausgearbeitet. (Aus Sicherheitsgründen nannte er jedoch keine Namen, um sie nicht der Verfolgungswut der preußischen Justiz nach der Niederschlagung der Revolution auszuliefern.) Der Plan sah drei Maßnahmen vor:
1. In den Festungen und Garnisonsstädten jeden unnützen Krawall vermeiden.
2. Auf dem linken Rheinufer in den kleineren Städten, Fabrikorten und auf dem Lande eine Diversion machen, um die rheinischen Garnisonen in Schach zu halten.
3. Alle disponiblen Kräfte in das Aufstandsgebiet des rechten Rheinufers werfen, die Insurrektion weiter verbreiten, versuchen, mit der Landwehr als Kern eine revolutionäre Armee zu schaffen. (MEW 7/123f)
Wie Engels schrieb, sei er nach Elberfeld gegangen, „um die Ausführung des dritten Punktes zu betreiben“. Er war sich darüber im Klaren, daß man mit in den Waffen ungeübten Aufständischen, ohne militärische Organisation und Disziplin, keinen Sieg über reguläre Armeen erringen kann, noch dazu, wenn die Aufständischen mit Waffen unzureichend versehen sind, wie dies der Fall war. In Elberfeld herrschte „größte Verwirrung“. Die kleine Bourgeoisie hatte in dem gebildeten Sicherheitsausschuß die Leitung übernommen, stellte sich aber rasch auf den „Rechtsboden“, indem sie sich ihre „revolutionäre“ Tätigkeit von der großen Bourgeoisie, die im Stadtrat saß, legitimieren ließ. Die Mehrheit des Sicherheitsausschuß bestand aus Stadträten, Advokaten, Staatsprokurtatoren, „gesetzten“ Leuten des wohlmeinenden, gebildeten Bürgertums, die sich die „Revolution“ vorher von der Obrigkeit genehmigen ließen. In ihrer Mehrheit wiegelten die Kleinbürger im Sicherheitsausschuß alle militärischen Aktivitäten ab, die ihnen äußerst „gefährlich“ erschienen. Nur eine Minderheit der Kleinbürger war zum bewaffneten Kampf entschlossen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Die große Bourgeoisie, im ersten Augenblick erschrocken, beruhigte sich schnell, nachdem der Sicherheitsausschuß ihr eine Garantie für Leben und Eigentum zugesichert hatte. Nach der Niederlage dankte die Großbourgeoisie der preußischen Armee für die „Befreiung von einem Terrorismus…, der nie existiert hat“, bemerkte Engels sarkastisch. (MEW 7/125)
Aber auch das Proletariat war in sich differenziert. Viele Arbeiter waren politisch indifferent. Die Fabrikarbeiter, ein Teil der Seidenweber, waren entschieden für die Bewegung. Aber dieser revolutionierte Kern des Proletariats hatte keine Waffen. Andere Arbeiter, Engels nannte die Rotfärber, eine robuste, gut bezahlte Arbeitergruppe, war „roh und reaktionär“. Das Lumpenproletariat verlangte morgens vom Sicherheitsausschuß Waffen und Sold und ließ sich am Nachmittag von der großen Bourgeoisie einkaufen. Sie stand auf der Seite, die am besten zahlte, und das war die Großbourgeoisie.
Als Engels am 11. Mai in Elberfeld eintraf, gab es noch 2.500 bis 3.000 Bewaffnete. Die Bürgerwehr war von Anfang an reaktionär, die ursprünglich zur Unterdrückung der Arbeiter errichtet worden war. Sie erklärte sich neutral und wollte lediglich ihr Eigentum schützen. Sie riß sogar eine Anzahl Barrikaden nieder. Letztendlich betrug die „bewaffnete Macht“ höchstens noch 700 bis 800 Mann. Die Elberfeld umgebenden Städte Barmen, Kronenberg, Lennep, Lüttringhausen u.a. hatten sich für „neutral“ erklärt. Die revolutionären Arbeiter dieser Orte waren nach Elberfeld gegangen, soweit sie Waffen hatten. Die Arbeiter, die in ihrer ländlichen Zerstreuung weitgehend unpolitisch waren, gerieten durch Anwendung von Zwangsmitteln und der Verleumdung der Elberfelder Bewegung teilweise auf die Seite der Fabrikanten. Bei den Bauern wirkte die Verleumdung „vollends unfehlbar“. Einer 15 Monate dauernden Geschäftsflaute war ein Aufschwung gefolgt, die Fabrikanten erhielten wieder Aufträge. „Wie bekannt“, schrieb Engels, „mit gut beschäftigten Arbeitern“ ist „keine Revolution zu machen“.
Um die Insurrektion trotz der widrigen Umstände doch noch zum Erfolg zu führen, war nur noch eins möglich: rasche, energische Maßnahmen, um der Bewegung neue Streitkräfte zuzuführen. Der „erste Schritt“ mußte die Entwaffnung der Elberfelder Bürgerwehr sein. Deren Waffen waren unter die Arbeiter zu verteilen. Eine Zwangssteuer mußte erhoben werden, um die bewaffneten Arbeiter zu unterhalten. Der Sicherheitsausschuß ging jedoch nicht auf solche „terroristischen Maßnahmen“ ein. Mit einigen Korpsführern (Nach einer Bemerkung Engels’ entkamen diese nach der Niederschlagung der Kampagne und gelangten rechtzeitig nach Amerika.) holte Engels etwa 80 Gewehre der Kronenberger Bürgerwehr aus dem dortigen Rathaus. Offenbar konnte Engels nicht verhindern, daß diese Gewehre sehr leichtsinnig verteilt wurden, denn die meisten gelangten „in die Hände von schnapslustigen Lumpenproletariern, die sie denselben Abend noch an die Bourgeoisie verkauften“.
Die Bourgeois suchten über ihre Agenten möglichst viele Gewehre aufzukaufen und zahlten sogar hohe Preise dafür. Mit diesen Gewehren bewaffneten sie ihre Fabrikaufseher und die Reihen der „gutgesinnten Bürgerwehr“.
Die Insurrektion endete damit, daß die revolutionären Arbeiter Elberfeld verließen, um sich in das erste beste Land durchzuschlagen, in dem die Reichsverfassung ihnen einigen Schutz bot. Preußische Ulanen und aufgestachelte Bauern machten Jagd auf revolutionäre Arbeiter. Die „revolutionäre“ Elberfelder Bourgeoisie ließ die Barrikaden abreißen und baute „den herannahenden preußischen Helden Ehrenpforten“. (MEW 7/130)
Über die Tätigkeit des „Herrn Engels“ in Elberfeld berichtete die „Neue Rheinische Zeitung“, Nr. 300 vom 17. Mai 1849:
[Elberfeld] „Neue Rheinische Zeitung“ Nr. 300 vom 17. Mai 1849, Zweite Ausgabe, Köln, 16. Mai.
Die Neue Rheinische Zeitung war auch auf den Elberfelder Barrikaden vertreten.
Um verschiedenen falschen Gerüchten entgegenzutreten, sind wir unsern Lesern einen kurzen Bericht über diese Angelegenheit schuldig:
Am 10. Mai ging Friedrich Engels, Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“, von Köln nach Elberfeld und nahm von Solingen aus zwei Kisten Patronen mit, welche bei dem Sturm des Gräfrather Zeughauses durch die Solinger Arbeiter erbeutet worden waren.
In Elberfeld angekommen, stattete er dem Sicherheitsausschuß Bericht ab über die Lage der Dinge in Köln, stellte sich dem Sicherheitsausschuß zur Verfügung und wurde von der Militärkommission sogleich mit der Leitung der Befestigungsarbeiten durch folgende Vollmacht betraut: „Die militärische Kommission des Sicherheitsausschusses beauftragt hiermit den Herrn Friedrich Engels, die sämtlichen Barrikaden der Stadt zu inspizieren und die Befestigungen zu vervollständigen. Sämtliche Posten auf den Barrikaden werden hiermit ersucht, denselben zu unterstützen, wo es not tut. Elberfeld, 11. Mai 1849 (gez.) Hühnerbein Troost“
Am folgenden Tage wurde ihm die Artillerie ebenfalls zur Verfügung gestellt: „Vollmacht für Bürger F. Engels, die Kanonen nach seinem Gutdünken aufzustellen wie auch die dazu nötigen Handwerker zu requirieren, wovon die Kosten der Sicherheitsausschuß trägt.“ Elberfeld, 12. Mai 1849 Der Sicherheitsausschuß. Für denselben: (gez.) Pothmann Hühnerbein Troost“
Gleich am ersten Tage seiner Anwesenheit organisierte Engels eine Kompanie Pioniere und vervollständigte die Barrikaden an mehreren Ausgängen der Stadt. Er wohnte allen Sitzungen der Militärkommission bei und schlug ihr Herrn Mirbach zum Oberkommandanten vor, welcher Vorschlag einstimmig angenommen wurde. An den folgenden Tagen setzte er seine Tätigkeit fort, veränderte mehrere Barrikaden, gab die Positionen für neue an und verstärkte die Pionierkompanien. Von dem Augenblicke der Ankunft Mirbachs an stellte er sich zu seiner Verfügung und beteiligte sich ebenfalls an den durch den Oberkommandanten abgehaltenen Kriegsräten.
Während seiner ganzen Anwesenheit genoß Engels das unbedingteste Vertrauen sowohl der bewaffneten bergischen und märkischen Arbeiter wie der Freikorps. Gleich am ersten Tage seiner Anwesenheit befrug ihn Herr Riotte, Mitglied des Sicherheitsausschusses, über seine Absichten. Engels erklärte, er sei hergekommen, erstens weil er von Köln aus dazu deputiert gewesen, zweitens weil er geglaubt habe, daß er in militärischer Beziehung vielleicht nützlich verwandt werden könne, und drittens weil er, selbst aus dem Bergischen gebürtig, es für eine Ehrensache gehalten habe, bei der ersten bewaffneten Erhebung des bergischen Volks auf dem Platze zu sein. Er wünsche, sich bloß mit militärischen Dingen zu befassen und dem politischen Charakter der Bewegung gänzlich fremd zu bleiben, da es auf der Hand liege, daß bis jetzt hier nur eine schwarz-rot-goldene Bewegung möglich sei und daher jedes Auftreten gegen die Reichsverfassung vermieden werden müsse.
Herr Riotte war mit dieser Erklärung vollkommen einverstanden. Am 14. morgens, als Engels den Oberkommandanten Mirbach zum Generalappell auf den Engelnberg begleitet hatte, kam Herr Höchster, ebenfalls vom Sicherheitsausschuß, zu ihm und erklärte: Obwohl gegen sein Betragen durchaus nichts zu sagen sei, so sei doch die Elberfelder Bourgeoisie durch seine Anwesenheit im höchsten Grade alarmiert, sie fürchte jeden Augenblick, er werde die rote Republik proklamieren, und wünsche allgemein, er möge sich entfernen. Engels erklärte, er wolle sich weder aufdrängen noch seinen Posten feige verlassen, und verlangte, ohne sich sonst zu irgend etwas zu verpflichten, man möge ihm diesen Wunsch schwarz auf weiß, vom gesamten Sicherheitsausschuß unterzeichnet, übergeben. Herr Höchster brachte die Sache im Sicherheitsausschuß vor, und noch am selben Tage wurde folgender Beschluß gefaßt: „Der Bürger Friedrich Engels von Barmen, zuletzt in Köln wohnhaft, und unter voller Anerkennung seiner in hiesiger Stadt bisher bewiesenen Tätigkeit ersucht, das Weichbild der hiesigen Gemeinde noch heute zu verlassen, indem seine Anwesendheit zu Mißverständnissen über den Charakter der Bewegung Anlaß geben könnte.“
Schon ehe der Beschluß gefaßt, hatte Engels erklärt: Er werde der Aufforderung des Sicherheitsausschusses nur dann Folge leisten, wenn Mirbach es ihm befehle. Mirbach sei auf seine Veranlassung hergekommen, und er dürfe daher nicht eher gehen, bis Mirbach ihn entlasse. Am 15. morgens unterzeichnete Mirbach nach vielseitigem Drängen von Seiten des Sicherheitsausschusses endlich den fraglichen Beschluß, der nun auch durch Plakat bekanntgemacht wurde.
Die bewaffneten Arbeiter und Freikorps waren im höchsten Grade aufgeregt über den Beschluß des Sicherheitsausschusses. Sie verlangten, Engels solle dableiben, sie würden ihn „mit ihrem Leben schützen“. Engels ging selbst zu ihnen und beruhigte sie, indem er sie auf Mirbach verwies und erklärte, er werde nicht der erste sein, der dem auf seine Veranlassung herbeigerufenen Kommandanten, der übrigens sein unbedingtes Vertrauen besitze, den Gehorsam aufkündige. Engels machte nun noch eine Rekognoszierung in die Umgegend mit und entfernte sich von Elberfeld, nachdem er sein Kommando an seinen Adjutanten abgetreten hatte.
Die bergischen und märkischen Arbeiter aber, die unserem Mitredakteur eine so überraschende Zuneigung und Anhänglichkeit bewiesen haben, mögen bedenken, daß die gegenwärtige Bewegung nur das Vorspiel einer andern, tausendmal ernsthafteren Bewegung ist, in der es sich um ihre, der Arbeiter, eigensten Interessen handeln wird. Diese neue revolutionäre Bewegung wird das Resultat der gegenwärtigen sein, und sobald sie eintritt, wird Engels – darauf mögen die Arbeiter sich verlassen – ebensogut wie alle andern Redakteure der „Neuen Rheinischen Zeitung“ an seinem Platze sein, und keine Macht der Erde wird ihn dann bewegen, von diesem Platz zurückzutreten. (MEW 6/500-502)
Der badisch-pfälzische Feldzug
Nachdem die bürgerlichen „Revolutionäre“ in Elberfeld den „Herrn Friedrich Engels“ huldvollst aus ihren Diensten entlassen hatten, um „Missverständnisse“ bei den preußischen „Befreiern vom Terrorismus“ zu verhindern, ging er zunächst nach Karlsruhe. In Baden bestanden sehr günstige Bedingungen für eine Revolution. Die Armee hatte sich an die Spitze der bürgerlich-demokratischen Bewegung gestellt, sie in eine bewaffnete Insurrektion gewandelt. Die badische Revolution verfügte somit über eine fertige Armee, reichlich versehene Arsenale, eine vollständige Staatsmaschine, einen gefüllten Staatsschatz und eine „so gut wie einstimmige Bevölkerung“. (MEW 7/133)
Auf dem linken Rheinufer hatte in der Pfalz schon eine Insurrektion stattgefunden, die die linke Flanke der badischen Revolutionsarmee deckte. In Rheinpreußen war die Insurrektion noch nicht völlig besiegt, in Württemberg, Franken, Hessen und Nassau gab es eine „allgemeine Aufregung“, sogar in der Armee. Es bedurfte nach Engels nur „eines Funkens, um den badischen Aufstand in ganz Süd- und Mitteldeutschland zu wiederholen und wenigstens 50.000 bis 60.000 Mann regulärer Truppen der Empörung zur Verfügung zu stellen“. (MEW 7/133)
Engels wußte, was unter diesen günstigen Umständen zu tun war: Sofort den Aufstand weitertragen, nach Hessen, Darmstadt, Frankfurt, Nassau, Württemberg. Es durfte nicht gezögert, keine Zeit verloren werden, die von der Konterrevolution für die Heranführung und Konzentration ihrer Truppen genutzt werden würde. Der Zeitfaktor spielte eine entscheidende Rolle. Sofort mußten von den regulären Truppen 8.000 bis 10.000 Mann zusammengezogen und nach Frankfurt zum „Schutz der Nationalversammlung“ in Marsch gesetzt werden. Mit der Eisenbahn konnte dies innerhalb von zwei Tagen geschehen. Die „zitternde deutsche Nationalversammlung“ sollte unter den „terrorisierenden Einfluß einer insurgierten Bevölkerung und einer insurgierten Armee“ gestellt werden. Die Insurrektion mußte ihre Macht zentralisieren und ihr die nötigen Geldmittel zur Verfügung stellen. Alle Feudallasten der Bauern, die die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, waren sofort aufzuheben, um sie für die Insurrektion zu gewinnen. Schließlich war eine gemeinsame Zentralmacht für Krieg und Finanzen herzustellen. „Alles diese mußte jedoch im ersten Augenblick geschehen, um mit der Schnelligkeit durchgeführt zu werden, die allein den Erfolg sichern konnten.“ (MEW 7/134)
Engels erwies sich mit diesen notwendigen Sofortmaßnahmen sowohl als Ökonom als auch als Revolutionär und Militär. Bleibt zu bemerken, daß diese Maßnahmen nicht über den bürgerlich-demokratischen Charakter der Revolution hinausgingen. Aber solche Maßnahmen waren den badischen Biedermännern, den „reinen Republikanern“, höchst verdächtig. Sie zitterten vor der Proklamation der Republik und bekreuzigten sich vor der geringsten energischen Maßregel. (MEW 7/136)
Der in Karlsruhe gebildete Landesausschuß setzte sich aus Advokaten, Ärzten, Schulmeistern, einzelnen Kaufleuten, Buchhändlern und anderen Vertretern der kleinbürgerlichen Intelligenz zusammen. Der Mannheimer Rechtsanwalt Dr. Lorenz Peter Brentano hatte den Vorsitz der provisorischen Regierung in Baden übernommen. Engels charakterisierte ihn: „Herr Brentano war der vollkommenste Repräsentant des badischen Kleinbürgertums. Er unterschied sich von der Masse der Kleinbürger und ihren sonstigen Repräsentanten nur dadurch, daß er zu einsichtig war, um alle ihre Illusionen zu teilen. Herr Brentano hat die badische Insurrektion vom ersten Augenblick an verraten, und gerade deswegen, weil er die Lage der Dinge vom ersten Augenblick an richtiger erkannte als irgendeine andere offizielle Person in Baden, weil er die einzigen Maßregeln ergriff, die der Kleinbürgerschaft die Herrschaft bewahren, aber ebendeshalb auch die ganze Insurrektion zugrunde richten mußten. Dies ist das Geheimnis der damaligen grenzenlosen Popularität Brentanos und zugleich das Geheimnis der Beschimpfungen, die seit Juli von seinen ehemaligen Verehrern auf ihn gehäuft werden. Die badischen Kleinbürger waren der Masse nach ebensogut Verräter wie Brentano; sie waren zu gleicher Zeit düpiert, was er nicht war. Sie verrieten aus Feigheit, sie ließen sich düpieren aus Dummheit.“ (MEW 7/137)
Von Karlsruhe ging Engels nach der Pfalz, zunächst nach Speyer, wo sich die provisorische Regierung befinden sollte, die jedoch inzwischen nach Kaiserslautern abgereist war. In Speyer traf Engels August Willich mit seinen Freischälern. In politischer Hinsicht zeichnete sich die Pfalz durch eine „konfuse Gestaltung der Parteien“ aus. War in Speyer das Bürgertum von Anfang an reaktionär, so wurde es mit der Zeit auch in Kaiserslautern, Neustadt, Zweibrücken und anderen Ortschaften. Die Hauptmacht der Reaktion verteilte sich auf die Ackerbaubezirke. Engels meinte, daß diese „konfuse Gestaltung … nur durch eine Maßregel hätte beseitigt“ werden können: „durch einen direkten Angriff auf das in den Hypotheken und im Hypothekenwucher angelegte Privateigentum zugunsten der verschuldeten, von Wucherern ausgesogenen Bauern. Diese eine Maßregel, die sofort die ganze Landbevölkerung am Aufstand interessiert hätte, setzt aber ein viel größeres Terrain und viel entwickeltere Gesellschaftszustände in den Städten voraus, als die Pfalz sie besitzt. Sie war nur möglich im Anfang der Insurrektion, zugleich mit einer Ausdehnung des Aufstandes nach der Mosel und Eifel, wo dieselben Zustände auf dem Lande existieren und in der industriellen Entwicklung der rheinischen Städte ihre Ergänzung finden“. (MEW 7/150)
Die provisorische Regierung verfügte jedoch nur über wenige Mittel, die reaktionären Bezirke zu bekämpfen. Einige militärische Expeditionen in widersetzliche Ortschaften, Verhaftungen, besonders der katholischen Pfarrer, die an der Spitze des konterrevolutionären Widerstandes standen, revolutionäre Propaganda, hatten nur wenig Erfolg, die Propaganda gar keinen. Die von der Regierung ausgesandten Kommissäre begingen viele Fehler. Sie beschränkten sich auf eine „großartige Konsumtion Pfälzer Weins neben unvermeidlicher Wirtshausrenommage.“ (MEW 7/151) Der Wein spielte in der Pfalz ohnehin eine große Rolle. Engels erwähnte mehrfach, wie in den Weinstuben „Revolution“ gemacht wurde, wobei es recht lustig zuging. Die militärische Organisation war nach Engels „sehr bedenklich“. Die Revolutionsarmee bestand aus etwa 3.000 Pfälzern, die aus der bayrischen Armee übergegangen waren. Wenigstens hatten sie ihre Waffen mitgenommen. Dazu gesellte sich eine Anzahl Freiwilliger aus der Pfalz und anderen Gebieten. Eine erste Einberufung des ersten Aufgebots – aller Unverheirateten vom achtzehnten bis zum dreißigsten Lebensjahr – der provisorischen Regierung blieb auf dem Papier. Das Haupthindernis sah Engels im Mangel an Waffen. Es gab viele Waffen in Privathänden. Verschiedene bürgerliche Bürgerwehren verfügten über 1.500 bis 2.000 Gewehre. Aber es geschah nichts, sie einzufordern und an die aktiven Kämpfer auszugeben. Die Bürgergarde in Kaiserslautern, 300 Spießbürger, paradierten täglich in Uniform und Waffen an der Fruchthalle. Die in Kaiserslautern einrückenden Preußen hatten das Vergnügen, diese kriegerischen Herren zu entwaffnen. Der Mangel an Gewehren wurde jedoch ausgeglichen durch einen Überfluß an Schleppsäbeln. Tag und Nacht klapperten die Schleppsäbel der selbsternannten „Offiziere“ auf den Pflastern von Kaiserslautern. Studenten bildeten eine „akademische Legion“ von „Kavalleristen“, allerdings zu Fuß! Die „Artillerie“ stand unter dem Kommando von Friedrich Anneke, einem ehemaligen preußischen Offizier, Mitglied des Bundes der Kommunisten. Die „Artillerie“ bestand allerdings nur aus ein paar Dreipfündern (7,9 cm Rohrkaliber) und einer Anzahl von Böllern. Engels entdeckte vor der Fruchthalle „die schönste Sammlung aller eisernen Böllerrohre“, von denen die meisten unbenutzt liegen blieben. Die beiden größten Böller wurden auf selbstgefertigte Lafetten (Schießund Fahrgerüst der Geschützrohre) montiert und mitgenommen. Die badische Regierung hatte an die Pfalz eine „ausgeschossene sechspfündige Batterie“ (Rohrkaliber 9,5 cm. Eine Batterie umfaßte in der Regel vier Geschütze, manchmal auch sechs Geschütze) verkauft, mit etwas Munition, aber ohne Bespannung und Bedienung. So wurde Munition selbst angefertigt.
Die Leitung der Militärangelegenheiten lag in den „schlechtesten Händen“. Weder unter den deutschen noch unter den polnischen Offizieren, letztere waren Emigranten, gab es wirklich militärisch ausgebildete oder wenigstens befähigte Köpfe. Nicht wenige Akademiker und Studenten forderten für sich eine Offiziersstelle, wenigstens ein Leutnantspatent, obwohl sie vom Militärwesen absolut nichts verstanden. In den Wirtshäusern entwarfen sie beim Wein geniale Schlachtpläne. Die polnischen Offiziere waren „von ziemlich gemischte(r) Gattung“. Die besten polnischen Emigranten kämpften in Ungarn. Die meisten der in der Pfalz tätigen polnischen Offiziere sorgten als erstes für eine „gehörige Anzahl von Reitpferden“, gaben einige Befehle, traten „ziemlich herrisch auf“ und „wollten den Pfälzer Bauern wie den knechtischen polnischen Leibeigenen traktieren“. Sie kannten weder das Land noch die Sprache und richteten als Militärkommissäre wenig oder gar nichts aus.
Von den wenigen tüchtigen deutschen und polnischen Militärs nannte Engels den in den revolutionären Kämpfen in Polen (1830/31, 1846, 1848) militärisch erfahrenen Ludwik Mieroslawski, der den Oberbefehl über die badisch-pfälzische Revolutionsarmee übernommen hatte, Gustav Adolf Techow, einen ehemaligen preußischen Offizier, Chef des Generalstabs der pfälzischen Revolutionsarmee, Alexander Schimmelpfennig, ehemaliger preußischer Offizier, und, nicht zuletzt, August Willich, ehemaliger Leutnant der preußischen Armee. Über Willich schrieb Engels: „Willich übernahm mit einem kleinen Freikorps die Beobachtung und später die Zernierung von Landau und Germersheim. Eine Kompanie Studenten, eine Kompanie Arbeiter, die mit ihm in Besancon zusammen gelebt hatten, drei schwache Kompanien Turner – aus Landau, Neustadt und Kaiserslautern -, zwei aus Freiwilligen der umliegenden Ortschaften gebildete Kompanien und endlich eine mit Sensen bewaffnete Kompanie Rheinpreußen, die meisten von den Prümer und Elberfelder Aufständen her flüchtig, fanden sich nach und nach unter seinem Kommando zusammen. Es waren zuletzt zwischen 700 bis 800 Mann, jedenfalls die zuverlässigsten Soldaten der ganzen Pfalz, die Unteroffiziere meist gediente, teilweise in Algerien an den kleinen Krieg gewöhnte Leute. Mit diesen wenigen Streitkräften legte sich Willich mitten zwischen Landau und Germersheim, organisierte die Bürgerwehren in den Dörfern, benutzte sie zur Bewachung der Straßen und zum Vorpostendienst, schlug alle Ausfälle aus beiden Festungen trotz der Überlegenheit, namentlich der Germersheimer Garnison, zurück, zernierte Landau derart, daß so gut wie alle Zufuhren abgeschnitten waren, schnitt ihm die Wasserleitungen ab, stauchte die Queich auf, so daß alle Keller der Festung überschwemmt waren und doch Mangel an Trinkwasser eintrat, und beunruhigte die Garnision jede Nacht durch Patrouillen, die nicht nur die verlassenen Außenwerke ausräumten und die dort gefundenen Wachtstubenöfen für fünf Gulden per Stück versteigerten, sondern auch bis in die Festungsgräben selbst vordrangen und die Garnison häufig veranlaßten, auf einen Gefreiten und zwei Mann ein ebenso gewaltiges wie harmloses Feuer aus Vierundzwanzigpfündern zu eröffnen. Diese Epoche war bei weitem die glänzendste während der Existenz des Willichschen Freikorps. Hätten ihm damals nur einige Haubitzen zu Gebote gestanden, und wären es nur Feldgeschütze gewesen, so war nach den Berichten der täglich nach Landau aus- und eingehenden Spione die Festung bei ihrer demoralisierten, schwachen Garnison und ihrer rebellischen Einwohnerschaft in wenig Tagen genommen. Selbst ohne Artillerie hätte eine Fortsetzung der Zernierung in acht Tagen die Kapitulation erzwungen. In Kaiserslautern waren zwei siebenpfündige Haubitzen, gut genug, um während der Nacht einige Häuser in Landau in Brand zu schießen. Wären sie an Ort und Stelle gewesen, so war das Unerhörte wahrscheinlich, daß eine Festung wie Landau mit ein paar Feldgeschützen eingenommen wurde. Ich predigte täglich dem Generalstab in Kaiserslautern die Notwendigkeit vor, wenigstens den Versuch zu machen. Umsonst. Die eine Haubitze blieb in Kaiserslautern, die andere wanderte nach Homburg, wo sie fast den Preußen in die Hände fiel. Beide kamen über den Rhein, ohne einen Schuß getan zu haben.“ (MEW 7/156f)
Wie Engels in einem Brief vom 25. Juli 1849 an Frau Jenny Marx schrieb, hatte er sich in Kaiserslautern noch von der „sogenannten Revolution“ ferngehalten; „als aber die Preußen kamen, konnte ich der Lust nicht widerstehen, den Krieg mitzumachen. Willich war der einzige Offizier, der etwas taugte, so ging ich zu ihm und wurde sein Adjutant“. (MEW 27/501)
Als Adjutant Willichs erwies sich Engels als hervorragender militärischer Organisator und Führer. Das Kräfteverhältnis war für die pfälzische Armee sehr ungünstig. Vor dem Einrücken der preußischen Armee verfügte sie etwa 5.000 bis 6.000 Mann, mit „Gewehren aller Art“ bewaffnet und 1.000 bis 1.500 „Sensenmänner“, so benannt nach ihrer Bewaffnung, Sensenblättern, die an einem langen Stab befestigt waren. Die preußische Armee verfügte über 30.000 Mann in der Pfalz, mit Kavallerie und Artillerie hinreichend versehen. Mit den Reichstruppen zusammen, den Kontingenten aus anderen deutschen Staaten, betrugen die konterrevolutionären Truppen an 60.000 Mann!
Die pfälzische Armee setzte sich zusammen aus dem Willichen und rheinhessischen Freikorps und der sogenannten Volkswehr, deren Kern aus zu ihnen übergelaufenen ausgebildeten Soldaten bestand. Die Vermischung von ausgebildeten Soldaten mit neuausgehobenen Rekruten bewährt sich dann, wenn eine solche Truppe während eines aktiven Feldzuges „mit strenger Disziplin und fortwährender Waffenübung“ geführt wird. Da dies nicht durchzusetzen war, kam es nicht zur Bildung von einsatzfähigen Bataillonen. (Bataillon, Teil eines Regiments. Die Stärke variiert in den einzelnen Armeen und nach Waffengattung.)
Als Engels am 15. Juni nach Neustadt gelangte, befand sich die pfälzische Armee in einem Zustand völliger Kopflosigkeit. Sie war im Begriff, die Stadt fluchtartig zu verlassen. Die pfälzer Offiziere glaubten, daß die Preußen schon hinter ihnen wären, die sich jedoch Zeit ließen. Neustadt war „für den Moment … das Zentrum der pfälzischen Verwirrung“, schrieb Engels. Nachdem er sich über alles unterrichtet hatte, nahm er „möglichst viele Fässer Pulver, Blei und fertige Patronen mit“, denn „was sollte die Munition auch dieser ohne eine Schlacht in Trümmer aufgelösten Armee weiter nützen?“ In einem benachbarten Dorf verschaffte er sich einen Leiterwagen und fuhr mit seiner „Beute“ und einigen Mann Bedeckung abends wieder aus Neustadt ab. (MEW 7/164)
Engels schilderte die Kämpfe und Rückzüge der pfälzischen Truppen auf dem linken Rheinufer an beiden Seiten der Queich, (linker Nebenfluß des Rheins), an den Gebirgszügen und letztlich den Übergang nach Karlsruhe auf badisches Gebiet. Für die badisch-pfälzische Revolutionsarmee waren zwei Verhaltensweisen kennzeichnend: einmal tapferer Widerstand gegen die überlegenen preußischen- und Reichstruppen, zum andren Durcheinander, zündende, „revolutionäre“ Wirtshausreden und Desertationen. Letzteres war hauptsächlich auf die militärische Unfähigkeit der meisten „Offiziere“ sowie dem Mangel an militärischer Ausbildung der Freischärler zurückzuführen. Engels beschrieb die betrübliche Szene einer solchen Desertation: Das Bataillon Dreher fing in Albersweiler an, rebellisch zu werden. Willich und ich gingen hin und frugen, was sie wollten. Allgemeines Schweigen. Endlich rief ein schon ziemlich bejahrter Freischärler: „Man will uns auf die Schlachtbank führen!“ Diese Exklamation war höchst komisch bei einem Korps, das gar nicht einmal im Gefecht gewesen war und auf dem Rückzug zwei, höchstens drei Leichtverwundete gehabt hatte. Willich ließ den Mann vortreten und sein Gewehr abgeben. Der etwas angetrunkene Graubart tat es, machte eine tragikomische Szene und heulte eine lange Rede, deren kurzer Sinn war, daß ihm das noch nie passiert sei. Darüber erhob sich eine allgemeine Entrüstung unter diesen sehr gemütlichen, aber schlecht disziplinierten Kämpfern, so daß Willich der ganzen Kompanie befahl, sofort abzumarschieren, er sei des Schwatzens und Murrens satt und wolle solche Soldaten keinen Augenblick länger führen. Die Kompanie ließ sich das nicht zweimal sagen, schwenkte rechts ab und setzte sich in Marsch. Fünf Minuten darauf folgte ihr der Rest des Bataillons, dem Willich noch zwei Geschütze beigab. Das war ihnen zu arg, daß sie „auf die Schlachtbank geführt“ werden und Disziplin halten sollten! Wir ließen sie mit Vergnügen ziehn. (MEW 7/171f)
Willich und Engels bestanden darauf, ihre Freikorps in Karlsruhe einzuquartieren, da sie Reparaturen und Bedarf an Bekleidungen hatten. Engels hielt darüber hinaus „die Anwesenheit eines zuverlässigen, revolutionären Korps in Karlsruhe für sehr wünschenswert“. Dies war jedoch nicht im Sinne von Herrn Brentano, der unter Ausflüchten dem Korps Willichs das reaktionäre Dorf Daxlanden als Quartier anwies, wo es nichts zu essen, nichts zu trinken, kaum etwas Stroh für das Übernachten auf dem Fußboden gab. Willich und Engels machten kurzen Prozeß, am 19. Juni marschierte das Korps auf Karlsruhe. Herr Brentano versuchte noch einmal, mit „allen Künsten der Beredsamkeit’“ das Korps von einem Einmarsch in Karlsruhe abzuhalten – es sei schon durch 5.000 Mann überbelegt -, es half ihm nichts. Respektlos vor fürstlicher Obrigkeit forderte Willich einige Paläste fortgereister Aristokraten als Qurartier für sein Korps. Desgleichen fasste er den höchst verwerflichen Entschluß, die „Waffensammlung des Großherzogs“ zu requirieren, die bisher von den ehrfürchtigen Bürgern als ein „Heiligtum“ unangetastet geblieben war. Zwanzig Gewehre gelangten nunmehr aus der „heiligen“ Waffensammlung in die profanen Hände der Willichen Freischärler. Das Freikorps Willich stand noch in mehreren Gefechten mit preußischen- und Reichstruppen. Aber der tapfere Widerstand eines Korps konnte allein die Insurrektion nicht zum Erfolg führen.
„In Bretten kam eine Deputation der Studenten zu uns mit der Erklärung, das ewige Marschieren vor dem Feinde gefalle ihnen nicht und sie bäten um ihre Entlassung. Sie erhielten, wie sich versteht, zur Antwort, vor dem Feinde werde niemand entlassen; wenn sie aber desertieren wollten, so stehe ihnen das frei. Ungefähr die Hälfte der Kompanie marschierte darauf ab; der Rest schmolz durch Einzeldesertion bald so zusammen, daß nur noch die Schützen übrig blieben. Überhaupt zeigten sich die Studenten während des ganzen Feldzugs als malkontente, ängstliche junge Herrchen, die immer in alle Operationspläne eingeweiht sein wollten, über wunde Füße klagten und murrten, wenn der Feldzug nicht alle Annehmlichkeiten einer Ferienreise bot. Unter diesen ‚Vertretern der Intelligenz’ waren nur einige, die durch wirklich revolutionären Charakter und glänzenden Mut eine Ausnahme machten.“ (MEW 7/182)
Die Demoralisierung der badisch-pfälzischen Truppen führte Ende Juni, Anfang Juli zu einer starken Verminderung der Soldaten. Die verbleibenden Kämpfer in den Freikorps und der badischen Armee setzten mit Mut und Entschlossenheit ihren Widerstand fort. „Mehr als die Hälfte lief auseinander“, resümierte Engels, „Bataillone schmolzen zu Kompagnien zusammen…“ Auch das Williche Korps, wenn auch nicht entmutigt, war doch durch Verluste, Krankheit und die Desertation der Studenten auf wenig mehr als 500 Mann zusammengeschmolzen.“(MEW 7/183)
Es gab noch weitere Gefechte des Willichen Korps mit preußischen und Reichstruppen, vor allem an der Murg, die starke Verluste unter dem zahlenmäßig ohnehin schon geschwächten Korps verursachten. Vor Rastatt konnten die preußischen- und Reichstruppen, mindestens 60.000 Mann gegen etwa noch 1.300 größtenteils demoralisierte und „erbärmlich geführte“ Soldaten der Revolutionsarmee einen „Sieg“ erzielen, indem sie unter Verletzung der Neutralität Württembergs über dessen Staatsgebiet die badisch-pfälzische Armee in ihrer Flanke angriffen und aufspalteten. Nach den Ausführungen Engels’ fand am 29. Juni das letzte Gefecht des Willichen Freikorps statt, das kaum noch 450 Mann stark war. Der Rückzug Richtung Schweizer Grenze verlief jedoch noch unter mehrfachen Manövern, um andere Truppenteile zu decken, soweit es noch möglich war. An Angriffen gegen den Feind konnte mit dem geschwächten Korps nicht mehr gedacht werden. Am Morgen des 12. Juli betrat das Williche Korps als „die letzten der badisch-pfälzischen Armee, das Schweizer Gebiet“.
Ein Teil der Revolutionsarmee, etwa 5.600 Mann, hatte sich von der Murg nach Rastatt zurückgezogen, wo sie von preußischen- und Reichstruppen eingeschlossen worden waren. Die Verteidiger von Rastatt hatten bei allem Mut keine Chance mehr gegen die belagernden Armeen. Mit großer Tapferkeit und Entschlossenheit geführte Ausfälle scheiterten. Die Preußen wagten keinen Frontalangriff auf die Festung Rastatt. Erst als Mitte Juli die Verteidiger erfuhren, daß es keinen Entsatz mehr geben werde, entschlossen sie sich auf Drängen der Rastatter Bürger zur Kapitulation am 23. Juli. Nun nahmen auf Befehl des Prinzen von Preußen die preußischen Standgerichte ihre blutige Arbeit auf und verurteilten „im Namen Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs von Baden 28 Revolutionäre zum Tode und 68 zu zehn Jahren Zuchthaus“. Gegen die Urteile war keine Berufung möglich, sie wurden innerhalb von wenigen Stunden vollstreckt. In den feuchten Kasematten von Rastatt starben Hunderte Kämpfer an Typhus. Eine nicht bekannte Anzahl von Kämpfern wurde an unbekannte Orte gebracht und heimlich ermordet. (Deutsche Geschichte in drei Bänden, Bd. 2, von 1789 bis 1917. Berlin 1965, S. 335)
Über die Kriegsführung der preußischen- und Reichstruppen urteilte Engels: „Die preußische bürgerliche und militärische Bürokratie hat von jeher ihren Ruhm darin gesucht, Triumphe über schwache Feinde mit großem Eklat davonzutragen und sich an den Wehrlosen mit der ganzen Wollust des Blutdurstes zu rächen. Sie hat dies auch in Baden und der Pfalz getan – Beweis: die Füsilladen von Kirchheim, die nächtlichen Erschießungen in der Fasanerie von Karlsruhe, die zahllosen Niedermetzelungen von Verwundeten und sich Ergebenden auf allen Schlachtfeldern, die Mißhandlungen der wenigen, die zu Gefangenen gemacht wurden, die standrechtlichen Morde in Freiburg und Rastatt und endlich die langsame, heimliche und darum um so grausamere Tötung der Rastatter Gefangenen durch Mißhandlung, Hunger, Aufhäufung in feuchten, erstickenden Löchern und den durch alles dies hervorgebrachten Typhus.“ (MEW 7/167)
Bei allen Mängeln, die die badisch-pfälzische Revolutionsarmee aufwies, vor allem ihre erbärmliche Führung, haben sich nicht wenige Offiziere und Soldaten hervorragend geschlagen, deren Leistungen Engels ausdrücklich würdigte: „Den mehr oder weniger gebildeten Opfern des badischen Aufstandes sind von allen Seiten in der Presse, in den demokratischen Vereinen, in Versen und in Prosa Denksteine gesetzt worden. Von den Hunderten und Tausenden von Arbeitern, die die Kämpfe ausgefochten, die auf den Schlachtfeldern gefallen, die in den Rastatter Kasematten lebendig verfault sind oder jetzt im Auslande allein von allen Flüchtlingen das Exil bis auf die Hefen des Elends durchzukosten haben – von denen spricht niemand. Die Exploitation der Arbeiter ist eine althergebrachte, zu gewohnte Sache, als daß unsre offiziellen ‚Demokraten’ die Arbeiter für etwas andres ansehen sollten als für agitablen, exploitablen und explosiblen Rohstoff, für pures Kanonenfutter. Um die revolutionäre Stellung des Proletariats, um die Zukunft der Arbeiterklasse zu begreifen, dazu sind unsre ‚Demokraten’ viel zu unwissend und bürgerlich. Deswegen sind ihnen auch jene echt proletarischen Charaktere verhaßt, die, zu stolz, um ihnen zu schmeicheln, zu einsichtig, um sich von ihnen benutzen zu lassen, dennoch jedesmal mit den Waffen in der Hand dastehn, wenn es sich um den Umsturz einer bestehenden Gewalt handelt, und die in jeder revolutionären Bewegung die Partei des Proletariats direkt vertreten. Liegt es aber nicht im Interesse der sog. Demokraten, solche Arbeiter anzuerkennen, so ist es Pflicht der Partei des Proletariats, sie so zu ehren, wie sie es verdienen. Und zu den besten dieser Arbeiter gehörte Joseph Moll von Köln.
Moll war Uhrmacher. Er hatte Deutschland seit Jahren verlassen und in Frankreich, Belgien und England an allen revolutionären öffentlichen und geheimen Gesellschaften teilgenommen. Den deutschen Arbeiterverein in London hatte er 1840 mit stiften helfen. Nach der Februarrevolution kam er nach Deutschland zurück und übernahm bald mit seinem Freunde Schapper die Leitung des Kölner Arbeitervereins. Flüchtig in London seit dem Kölner Septemberkrawall von 1848, kam er bald unter falschem Namen nach Deutschland zurück, agitierte in den verschiedensten Gegenden und übernahm Missionen, deren Gefährlichkeit jeden andren zurückschreckte. In Kaiserslautern traf ich ihn wieder. Auch hier übernahm er Missionen nach Preußen, die ihm, wäre er entdeckt worden, sofortige Begnadigung zu Pulver und Blei zuziehen mußten. Von seiner zweiten Mission zurückkehrend, kam er durch alle feindlichen Armeen glücklich durch bis Rastatt, wo er sofort in die Besanconer Arbeiterkompanie unsres Korps eintrat. Drei Tage nachher war er gefallen. Ich verlor in ihm einen alten Freund, die Partei einen ihrer unermüdlichsten, unerschrockensten und zuverlässigsten Vorkämpfer. Die Partei des Proletariats war ziemlich stark in der badisch-pfälzischen Armee vertreten, besonders in den Freikorps, wie im unsrigen, in der Flüchtlingslegion usw., und sie kann ruhig alle andern Parteien herausfordern, auf nur einen einzigen ihrer Angehörigen den geringsten Tadel zu werfen. Die entschiedensten Kommunisten waren die couragiertesten Soldaten.“ (MEW 7/184f)
„Dieselben Krieger, die auf dem Marsch oder dem Schlachtfelde mehr als einmal von panischem Schrecken ergriffen wurden – sie sind in den Gräben von Rastatt gestorben wie die Helden. Kein einziger hat gebettelt, kein einziger hat gezittert. Das deutsche Volk wird die Füsilladen und die Kasematten von Rastatt nicht vergessen; es wird die großen Herren nicht vergessen, die diese Infamien befohlen haben, aber auch nicht die Verräter, die sie durch Feigheit verschuldeten: die Brentanos von Karlsruhe und von Frankfurt.“ (MEW 7/197)
Letzteres erwies sich als ein Irrtum Engels’, denn, wie Franz Mehring 50 Jahre später schrieb, „es erfüllte sich nicht, was Engels bei einem Rückblick auf den badischpfälzischen Feldzug schrieb… Das deutsche Kleinbürgertum, das die Masse des Volkes bildete, von dem Engels sprach, hat alles vergessen: die „Infamien der großen Herren“, die ruchlos das edelste Blut in Strömen vergossen haben, und die „Verrätereien der Brentanos von Karlsruhe und Frankfurt“, die alle ihnen vom Proletariat in den Schoß geworfenen Früchte der Revolution zu vergeuden verstanden. Der „Kartätschenprinz“ wurde der zu den Sternen erhobene, erste Kaiser des neudeutschen Reichs, und die „Brentanos“, die der Entwicklungsprozeß des Kapitalismus immer neu gebar, blieben die „Edelsten und Besten“, in deren Hände das „Volk“ bei jeder neuen Wahl abdankte. (Franz Mehring: Aufsätze zur preußischen und deutschen Geschichte. Reclam, Leipzig 1986, S.344)
Und heute? Nicht nur das deutsche Bürgertum, auch bedeutende Teile der deutschen Arbeiterklasse wissen nichts mehr darüber . Im „Preußenjahr“ 2001 war von den Bestialitäten der kommandierenden Generale der preußischen Armee und des „Kartätschenprinz“ nichts zu hören und zu lesen, dafür um so mehr über Preußens Glanz und Gloria.
Mit dem badisch-pfälzischen Feldzug endete Engels praktische militärische Tätigkeit im Felde. Aus seinem w.o. erwähnten Brief an Jenny Marx geht hervor, daß er an vier Gefechten teilgenommen hat, darunter an „zwei ziemlich bedeutenden“, namentlich „das bei Rastatt“. Engels hat „die Kugeln pfeifen hören“. Nach diesem Feldzug begann Engels seine theoretische Tätigkeit auch als Militärwissenschaftler als einem bedeutenden Teil seiner theoretischen Arbeit.
Moderne Kriegführung
In einem für Marx ausgearbeiteten Manuskript vom April 1851 untersuchte Engels die „Bedingungen und Aussichten eines Krieges gegen ein revolutionäres Frankreich im Jahre 1852“ (MEW 7/468-493) Im ersten Teil erklärte er die Niederlagen und Siege der revolutionären Armeen des Konvents in den Revolutionskriegen während und nach der Großen Französischen Revolution 1789-1794. Er stimmte Napoleon in der Beurteilung der „Wunder“ der 14 Konventsarmeen in „vielen Punkten“ zu, wonach die „Siege“ der Konventsarmeen vor allem durch „die Böcke der Koalition“ errungen wurden. Österreich und Preußen hatten sich zu einer Koalition gegen das revolutionäre Frankreich zusammengeschlossen.
Die in der Militärgeschichte nicht selten hervorgehobene „Kanonade von Valmy“ (20. September 1792), die Goethe (er war Zeitzeuge dieser Kanonade) als den Beginn einer „neuen Epoche der Weltgeschichte“ bezeichnete, nannten Napoleon und Engels eine „lächerliche Kanonade“. Unter militärgeschichtlichem Aspekt mochte Goethe recht haben, als von beiden Seiten ein starkes Artilleriefeuer, von 05.00 Uhr morgens bis 19.00 abends gegeneinander unterhalten wurde. In der Kriegsgeschichte mochte dies vorher noch nie vorgekommen sein. „Niemand erinnert sich einer lebhafteren und hartnäckigeren Kanonade“, meinte ein anderer Zeitzeuge, Konrad Engelbert Oelsner in seinen „Zeugnisse(n) eines Fremden über wichtige Revolutionsbegebenheiten“. (Konrad Engelbert Oelsner: Luzifer oder gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution. Reclam. Leipzig 1987. S. 218 f.) Die Kanonade der Preußen hatte der Konventsarmee nur „geringen Schaden“ zugefügt. Die Preußen hätten 1.500 Mann an Toten und Verwundeten erlitten, die Konventsarmee 500 Mann. Nach neueren Einschätzungen wurde die Schlacht bei Valmy „nicht bis zur Entscheidung“ durchgekämpft. Die Preußen haben sich nach dem Artillerieduell zurückgezogen. Insofern hatten Napoleon und Engels recht, wenn sie Valmy keine strategische Bedeutung zuerkannten.
Engels meinte, daß ein energisches Vorgehen der 90.000 Mann starken preußischen und österreichischen Armeen gegen die französischen Freiwilligen und demoralisierten französischen Regimenter einen Durchbruch (nach Paris, UH) erzielt haben würde, aber die Generale der Koalition blieben ratlos stehen, bis die Soldaten krank wurden. Oelsner bestätigte aus seiner Sicht in einem Brief vom 11. Oktober 1792, daß vor dem Herzog von Braunschweig, dem Befehlshaber der preußischen Armee, das „Feld nach Paris“ offen gelegen hätte, wenn er den Paß la Côte de Biesme rechtzeitig genommen hätte. Dieser Paß war von „höchster Wichtigkeit“. „Wie hat ihn der Herzog aus der Acht lassen, wie hat er, fragt man, sechs oder sieben Tage bei Verdun verlieren können, bei einer Festung, die nur zwei, höchstens drei Tage berannt zu werden brauchte, selbst wenn Einwohner und Garnison ebenso determiniert gewesen wären, sie zu verteidigen, wie der unvergeßliche Beaurepaire.“ (Oelsner, S. 216.) (Beaurepaire, Platzkommandant von Verdun. Von Royalisten ermordet, die anschließend in der Nacht vom 1. zum 2. September vor den Preußen und Österreichern kapitulierten.) Der französiche Historiker der Restaurationsperiode (nach 1815), Francois Auguste Mignet meinte, daß „der fast unbedeutende Erfolg bei Valmy“ bei den französischen Truppen und in der „öffentlichen Meinung“ die „Wirkung eines vollkommenen Sieges“ hervorgerufen habe. (François Auguste Mignet: Geschichte der Französischen Revolution von 1789 bis 1814. Reclam. Leipzig 1975, S. 223f) Die Führung der preußisch-österreichischen Koalition machte also noch mehr und noch größere Fehler als die Konventsarmeen, so dass letztere sich als „Sieger“ auf dem Schlachtfeld behaupten konnten.
Interessant sind die Ausführungen Engels’ über die Kampfkraft von Freiwilligen und von regulären Armeen. Die französischen Revolutionsarmeen, so Engels, wurden von April 1793 bis Oktober „überall“ geschlagen. Nur dem „Trödelsystem“ der Koalition war es zu danken, daß diese Niederlagen keine „entscheidenden Resultate“ gezeitigt hatten. Ab März 1793 erfolgte die „levee en masse“, die Massenaushebung. Sie brachte aber erst Erfolge, nachdem die jungen Soldaten ausgebildet, diszipliniert und als Armeen, Bataillonen, etc. organisiert worden waren. Ausbildung und Disziplinierung benötigen Zeit. Die jungen Soldaten mußten auch an den Krieg gewöhnt werden, mußten neben alten, kampferfahrenen Soldaten Kampferfahrungen sammeln. Nach den Kriterien des damaligen Militärwesens mußten die jüngsten Rekruten etwa drei Monate Ausbildung in einem Bataillon erhalten, bevor sie „vor den Feind geführt“ werden konnten.
Durch das Zögern der Koalitionsarmeen erhielt der Konvent die nötige Zeit für die Massenaushebung, Ausbildung der Rekruten, Schaffung einer disziplinierten regulären Revolutionsarmee. „Abgerechnet die Subalternen und Stabsoffiziere, die bei den Koalierten damals im Durchschnitt gewiß besser waren, war die französische Armee von 1794, dank der ihr zur Organisation gelassenen Zeit, dank dem ewig resultatlos fechtenden System der Alliierten – ein System, das eine erprobte, besonders aggressive Armee demoralisiert und die des Feindes, wenn sie jung ist und die Defensive hält, diszipliniert und an den Krieg gewöhnt -, war also die französische Armee 1794 keine rohe, brüllende, begeisterte Freischar ‚für Republik zu sterben’, (Eine Zeile aus einem Revolutionslied der Freischärler des badischpfälzischen Feldzuges 1849, UH) sondern a very fair army (sehr beachtliche Armee), den Feinden gewiß gleich. Die Generäle der Franzosen waren 1794 jedenfalls viel besser, obwohl sie genug Schnitzer machten; aber die Guillotine sicherte die Einheit des Kommandos und die Harmonie der Operationen da, wo nicht, was bloß ausnahmsweise geschah, die Repräsentanten auf eigne Faust Dummheiten machten…“ (Gemeint waren die politischen Führer des Konvents, Engels nannte Saint-Just, der mehrere Fehler machte.) (MEW 7/472f) Engels faßte zusammen: „Der Konvent wurde gerettet einzig und allein, weil die Koalition nicht zentralisiert war und dadurch ein volles Jahr Zeit zum Rüsten bekam.“ (MEW 7/474)
Aus den Erfahrungen des badisch-pfälzischen Krieges und der Analyse der französischen Revolutionskriege gelangte Engels zu dem Schluß, daß ohne reguläre, zentralisierte, gut organisierte und disziplinierte Armee keine Erfolge zu erzielen sind. Aus den Erfahrungen mit den akademischen Freiwilligen im badischpfälzischen Krieg, daß wenn der Krieg ernst wurde, sie bis auf Ausnahmen nach Hause gingen nach dem Motto: Man war „freiwillig“ gekommen und konnte auch wieder gehen, wenn man wollte, mit solchen „Armeen“ war kein Revolutionskrieg zu gewinnen. „Revolutionärer“ Gesang im Wirtshaus ist das eine, der Krieg mit Strapazen, Entbehrungen, Dreck, Ungeziefer, Krankheiten, Verwundungen, und Tod das andere.
In Abschnitt III analysierte Engels die moderne Kriegführung nach der Französischen Revolution und den Revolutionsjahren 1848/49. Die Voraussetzung für die moderne Kriegführung erkannte Engels in den nachrevolutionären Veränderungen der sozialen Struktur, „die soziale und politische Emanzipation der Bourgeoisie und der Parzellenbauern“. Die Bourgeoisie schaffe das Geld, die Parzellenbauern stellen die Soldaten. „Die Emanzipation beider Klassen von feudalen und Zunftfesseln ist nötig, um die jetzigen kolossalen Armeen stellen zu können; und der mit dieser gesellschaftlichen Entwicklungsstufe verknüpfte Grad von Reichtum und Bildung ist ebenfalls nötig, um das für moderne Armeen nötige Material an Waffen, Munition, Lebensmitteln pp. zu schaffen, um die nötige Anzahl gebildeter Offiziere zu stellen und den Soldaten selbst die nötige Intelligenz zu geben.“
Das von Napoleon ausgearbeitete Kriegssystem beruhte auf zwei Drehpunkten, der „Massenhaftigkeit der Angriffsmittel an Menschen, Pferden, Geschützen“ und der „Beweglichkeit dieser Angriffsmittel“. (MEW 7/477) Im Unterschied zu den „kleinen Heeren“ des Siebenjährigen Krieges (1756 -1763), die ihren Bedarf an Lebensmitteln, Pulver, etc. aus Magazinen bezogen, die entweder mitgeführt oder in Festungen stationär angelegt werden mußten, müssen die modernen Armeen einen Bezirk „wie ein Heuschreckenschwarm überfallen, im Bereich ihrer Kavallerie rechts und links ausfouragieren und müssen fort, wenn alles verzehrt ist“. (MEW 7/478) Diese Unterscheidung heißt nicht, daß die Heere des Siebenjährigen Krieges etwa die „Bezirke“ nicht wie ein „Heuschreckenschwarm“ kahlgefressen hätten. Nur die Methoden waren andere. Hohe Kontributionen aus eroberten Städten, Zwangsrequirierung von Lebensmitteln, Futtermitteln, Gespannen, Zwangseinquartierungen von Soldaten in Quartieren von Bürgern, Bauern, die die einquartierten Soldaten durchzufüttern hatten, Zwangsaushebungen von Rekruten waren die notwendige Ergänzung der Magazinversorgung. Was die Heere des Siebenjährigen Krieges allerdings nicht konnten, war, daß sie Soldaten zum Requirieren ausschickten, denn die in die Armeen gezwungenen Soldaten, unter grausamen Zwangsmaßnahmen zusammengeprügelt, namentlich in der preußischen Armee, würden desertieren. Die Desertationen aus den feudalen, besonders den preußischen Armeen, gingen während des Siebenjährigen Krieges in die Zehntausende. (Olaf Groehler: Die Kriege Friedrich II., 4. Auflage, Berlin 1986, S. 47f)
Beachtenswert ist der Hinweis Engels’, daß das „moderne Kriegssystem … in einem armen, halbbarbarischen, dünnbevölkerten Land auf die Dauer unmöglich“ ist. Die napoleonischen Armeen gingen „an dieser Unmöglichkeit in Spanien langsam, in Rußland rasch zugrunde“. Wenn die russischen Bauern beim Herannahen der Franzosen ihre Vorräte verbrannt haben und in die Wälder flohen, gab es nichts zu requirieren. Der Nachschub mußte über hunderte Kilometer – ohne Eisenbahn – herangeführt werden durch ein Gebiet, wo die Nachschubkolonnen von Partisanen überfallen wurden. (Nebenbei, eine Methode, die auch im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion unter veränderten Bedingungen mit Erfolg Anwendung fand. Eisenbahnen waren für den Transport des Nachschubs zweifelhaft nützlich, soweit die Schienen von Partisanen nicht immer wieder in die Luft gesprengt wurden.)
Engels hob die bedeutende Rolle des Bildungsgrades des Soldaten im Krieg hervor, „der sich in manchen Fällen selbst zu helfen wissen muß“. Die Beweglichkeit des einzelnen Soldaten und auch der Massen hat den Zivilisationsgrad der Bourgeoisie zur Voraussetzung. Massenhaftigkeit und Beweglichkeit der Armeen in der modernen Kriegführung sind also abhängig vom Stand der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte und das bürgerliche Bildungswesen waren die Voraussetzung für die moderne Kriegführung, für „Massenhaftigkeit“ und „Beweglichkeit“ der Armeen. „Die moderne Kriegführung setzt also die Emanzipation der Bourgeois und Bauern voraus, sie ist der militärische Ausdruck dieser Emanzipation.“ (MEW 7/480)
Die Emanzipation der Bourgeoisie war die Emanzipation einer Klasse, nicht zu Verwechseln mit der Emanzipation des Menschen, die eine bisher noch ungelöste Aufgabe ist. Wenn Engels den „Parzellenbauern“ in die Emanzipation einbezog, so meinte er damit die Aufhebung der feudalen Ausbeutung der Mehrheit der französischen Bauern – Ende des 18. Jahrhunderts ein enormer gesellschaftlicher Fortschritt. Dieser „Parzellenbauer“ fand sich in den rheinischen Gebieten, in Brandenburg und anderen preußischen Provinzen, wo es noch starke Überreste der alten feudalen Junkerherrschaft gab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gingen in Preußen die Junker ebenfalls zu einer kapitalistischen Bewirtschaftung ihrer Güter über. Von einer „Emanzipation“ der Bauern östlich der Elbe zu sprechen, wäre sehr gewagt. In den ostelbischen Gebieten emanzipierten sich die Bauern erst mit der demokratischen Bodenreform 1945 und dem Übergang der Einzelbauern zu Genossenschaften in der DDR in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Aus der Bindung der modernen Kriegführung an die Emanzipation der Bourgeoisie schloß Engels, daß die Emanzipation des Proletariats auch eine „aparte, neue Kriegsmethode erzeugen“ wird. (MEW 7/480) Es ist meines Wissens das erste Mal, daß ein Militärwissenschaftler die Frage nach einem proletarischen Militärwesen und proletarischen Kriegsmethoden gestellt hat. Allein die Frage gestellt zu haben, ist ein wissenschaftliches Verdienst.
Engels unterschied dabei zwischen „bloße(r) Eroberung der politischen Herrschaft“ des Proletariats und der „wirklichen Emanzipation des Proletariats“. Die anfängliche Kriegführung des Proletariats, also bloße Machteroberung, würde sich dabei unterscheiden von der Kriegführung des wirklich emanzipierten Proletariats, also: „vollständige Beseitigung aller Klassenunterschiede und … vollständige Konzentrierung aller Produktionsmittel“.
Marx und Engels gingen in dieser Zeitepoche davon aus, daß die proletarische Revolution in Frankreich beginnen und auf Deutschland übergreifen müsse, England müsse folgen, da sonst eine Intervention gegen das revolutionäre Frankreich und Deutschland unausbleiblich wäre. So bemerkte Engels dann auch, daß eine wirkliche Emanzipation des Proletariats in Frankreich und Deutschland die „Mitwirkung Englands“ erfordere. Eine solche Emanzipation, unter Mitwirkung Englands, würde „mindestens die Verdoppelung der jetzt (1851, UH) in Deutschland und Frankreich vorhandenen Produktionsmittel zur Folge haben, was aber eine neue Art der Kriegführung“ zur Folge haben würde.
„Die großartigen Entdeckungen Napoleons in der Kriegswissenschaft können nicht durch ein Wunder beseitigt werden. Die neue Kriegswissenschaft muß ein ebenso notwendiges Produkt der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse sein, wie die von der Revolution und Napoleon geschaffene das notw(endige) Resultat der durch die Revolution gegebenen neuen Verhältnisse war. Wie es sich aber in der proletarischen Revolution für die Industrie nicht darum handelt, die Dampfmaschinen abzuschaffen, sondern sie zu vermehren, so für die Kriegführung handelt es sich darum, die Massenhaftigkeit und Beweglichkeit nicht zu vermindern, sondern zu potenzieren. Die Voraussetzung der napol(eonischen) Kriegführung waren vermehrte Produktivkräfte; die Voraussetzung jeder neuen Vervollkommnung in der Kriegführung müssen ebenfalls neue Produktivkräfte sein. Die Eisenbahnen und elektr(ischen) Telegraphen werden schon jetzt bei europ(äischen) Kriegen einem talentvollen General oder Kriegsminister zu ganz neuen Kombinationen Anlaß geben.“ (MEW 7/481)
Die neuen Produktivkräfte, die Aufhebung der Klassen würden beim Wachstum der Bevölkerung auch zu einem zahlenmäßigen Anwachsen der Massenarmeen führen. Engels nahm Frankreich als Grundlage seiner Berechnungen. Etwa 5 Prozent der Bevölkerung wurden zum Kriegsdienst einberufen. Bei einer Bevölkerung von 25 Millionen Einwohnern ergäben diese 5 Prozent 1.250.000 Mann. Bei einem Bevölkerungswachstum auf 36 Millionen jedoch 1.800.000 Mann. Nach der Abschaffung der Klassen würden für die Kriegführung nicht nur 5 Prozent der Bevölkerung eingezogen werden, die bei Bevölkerungswachstum allein schon mehr sein würden als vorher, sondern 12 bis 16 Prozent der Bevölkerung, d.h. die Hälfte bis zwei Drittel der männlichen erwachsenen Bevölkerung von 18 bis 30 bzw. 40 Jahren. Die Anwendung von Maschinen würde zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität führen, so daß mehr Arbeiter aus dem Produk39 tionsprozeß zu den Waffen gerufen werden können. Der Einsatz von Massenarmeen führe auch zur Veränderung der Leitung von Kriegsoperationen. Der Stratege und Taktiker könne bei solchen Massenarmeen nicht mehr ein einzelner sein, der auf dem Schlachtfeld kommandiert. Auch hier erfolgt eine Teilung der Arbeit. „Die strategischen Operationen, das Zusammenwirken der verschiedenen Korps müssen vom Zentralpunkt der telegraphischen Linien aus dirigiert werden; die taktischen von den einzelnen Generalen. Daß unter diesen Umständen Kriege in noch weit kürzerer Zeit entschieden werden können und müssen als selbst durch Napoleon, ist klar. Der Kostenpunkt macht es nötig, die notwendige entscheidende Wirkung jedes Schlags mit solchen Massen macht es unvermeidlich.“ (MEW 7/482)
36 Jahre später, als Engels bereits den Ersten Weltkrieg voraussah, meinte er, daß dieser Krieg drei bis vier Jahre dauern würde, eine sehr genaue Zeitangabe. (MEW 21/351) Es ist erstaunlich, wie Engels im Kontext seiner Zeit in der Analyse der Kriegsaussichten der Heiligen Allianz gegen ein revolutionäres Frankreich die Entwicklung des modernen Militärwesens bereits antizipierte. Sowohl die Revolution in Frankreich wie auch die angreifende Heilige Allianz werden moderne Kriegsmittel anwenden. „Die Chancen des militärischen Talents sind für die Koalition mindestens ebensogroß wie für Frankreich: Ce seront alors les gros bataillons qui l’emporteront.“ (Es werden dann die stärkeren Bataillone den Sieg davontragen. (MEW 7/484)
Freiwilligen-Armee
Zum ersten Mal hatte es Engels mit Freiwilligen-Armeeeinheiten im badisch-pfälzischen Krieg zu tun. Zwanzig Jahre später wurde er unter gänzlich anderen Bedingungen erneut mit dem Problem einer Freiwilligen-Armee konfrontiert. Ende 1859/Anfang 1860 sahen sich Großbritannien wie auch Preußen „bonapartistischen Angriffsgelüsten“ ausgesetzt. (MEW 15/137) Die reguläre englische Armee, als „Linientruppen“ nach damaliger militärwissenschaftlicher Terminologie bezeichnet, wurde als nicht ausreichend betrachtet, einer Invasion französischer Truppen standzuhalten. Die englischen „Volunteer Riflemen“ (freiwillige Jäger) waren die Folge der gleichen Ursache, die in Preußen zur Verdoppelung der Linienbataillone geführt hatte.
Darin lag der gravierende Unterschied zwischen den Freiwilligen in der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee und der englischen Freiwilligen-Armee. Die badisch-pfälzische Armee war auf die Beseitigung des Feudalismus, die Errichtung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung gerichtet, insofern eine Revolutionsarmee, bei all ihren Mängeln und Halbheiten. Sie war Bestandteil des gesellschaftlichen Formationswechsels vom Feudalismus zum Kapitalismus, der im 19. Jahrhundert seine progressiven Tendenzen noch nicht erschöpft hatte. Die badisch-pfälzische Revolutionsarmee kämpfte gegen einen inneren Feind. Die englische Freiwilligen-Armee war dagegen auf die Verteidigung der britischen Inseln gegen einen möglichen bonapartistischen Invasionsversuch gerichtet, nicht auf den Sturz einer überlebten und der Errichtung einer neuen Gesellschaftsordnung. Die bürgerliche Revolution hatte Großbritannien schon zweihundert Jahre hinter sich. Nach sozialem Inhalt und militärpolitischer Zielstellung sind die Freiwilligen-Armeen im badisch-pfälzischen Krieg und in England nicht miteinander vergleichbar, von der raschen Entwicklung der Industrie und damit der Bewaffnung in den zwei zeitlich dazwischen liegenden Jahrzehnten ganz abgesehen.
Dennoch gab es einige Ähnlichkeiten zwischen beiden so unterschiedlichen Freiwilligen-Armeen, auf die Engels in seiner Artikelserie über die Freiwilligen-Armee in England aufmerksam machte. Die Artikel erschienen zum Teil in der „Allgemeinen Militär-Zeitung“, herausgegeben von einer Gesellschaft deutscher Offiziere und Militärbeamter, in der „New York Daily Tribune“ und in „The Volunteer Journal for Lancashire and Cheshire“. Ihrer sozialen Struktur nach stammten die Freiwilligen fast ausschließlich aus der „Mittelklasse“, der kleinen und mittleren Bourgeoisie. Darin unterschieden sich die Freiwilligen-Bataillone von den Milizen, die aus den Angehörigen der unteren Klassen gebildet wurden. Bewaffnung, Ausrüstung, Kleidung mußten die Freiwilligen selbst bezahlen, wozu die Proletarier schon gar nicht im Stande waren. Engels berichtete über eine Delegation „achtbarer Metallarbeiter“, die den Antrag auf Aufnahme in die Freiwilligen-Armee gestellt hatten, der jedoch abgelehnt worden war, obwohl die Fabrikherren bereit waren, Ausrüstung und Unkosten zu übernehmen. Selbst diese Arbeiter, die „zu Gebote dieser Fabrikherren“ standen, fanden keine Aufnahme in der Freiwilligen-Armee. (MEW 15/70)
In einem späteren Artikel schrieb Engels, daß Freiwillige aus der Arbeiterklasse in der Freiwilligen-Armee „bei weitem in der Minderheit“ waren. Demnach waren doch einige Arbeiter zugelassen. (MEW 15/140) Dennoch trug die Freiwilligen-Armee eindeutig bürgerlichen Klassencharakter. Zumindest in den Anfängen hatten die ersten Korps der Freiwilligen-Armee einen „sehr starken Beigeschmack von Nationalgarde oder Bürgerwehr“, schrieb Engels. Es gab sehr viel „Soldatenspielerei“. In den ersten sechs Monaten ihres Bestehens machten fast alle Kompanien und Bataillone den „Eindruck unserer seligen Bürgerwehr im Jahre 1848“. Eine von Engels kritisierte Erscheinung war das Gerangel um Offiziersposten in der Armee, einschließlich der „Freiwilligen-Generale“. Es habe einen Wettlauf um Beförderungen gegeben, Hauptmann – Major – Oberstleutnant. „Jedermann fühlte sich völlig geeignet für jeden Offiziersrang, den er sich verschaffen konnte, …“ (MEW 15/259) In der britischen Presse sei der Bildung und Ausbildung der Freiwilligen-Armee durch „dumme Schmeicheleien“ geschadet worden, daß sie fähig seien, „gegen jede beliebige Truppe in der Welt zu kämpfen!“ (MEW 15/258) Engels schilderte den Unfug, den die Londoner „Selfmade-Freiwilligen-Generale“ in einem großangelegten Manöver offen zur Schau stellten: „Ein bloßes Manöver von gewöhnlichem Ausmaß befriedigt ihren Ehrgeiz nicht mehr. Diesmal soll ein großer entscheidender Kampf ausgefochten werden. Eine Armee von 20.000 Freiwilligen soll von London an die Südküste geworfen werden, eine Invasion zurückgewiesen und noch am selben Abend nach London zurückkehren, um am nächsten Morgen wieder den Geschäften nachgehen zu können. Alles dies, wie die ‚Times’ richtig bemerkt, ohne jegliche Organisation, ohne Stab, Kommissariat, Landtransport, Regimentstrain – ja sogar ohne Tornister und ohne all die notwendigen Dinge für einen Feldzug, die ein Liniensoldat in diesem Behälter mit sich führt!“ (MEW 15/260) Zwischen den „Freiwilligen-Generalen“ gab es zuweilen „persönliche Zänkereien“ und „Feindseligkeiten“ um den „Oberbefehl“. Das Ergebnis war die Spaltung der Londoner Freiwilligen. Solche Streitereien um den „Oberbefehl“ waren nicht nur schädlich, sondern auch völlig unsinnig, denn in einem Ernstfall würden die Freiwilligen-Verbände mit den Linientruppen und der Miliz unter Kommando von Brigadegeneralen der Linientruppen zusammengefaßt und unterstellt werden. „Freiwilligen-Generale“ waren völlig ungeeignet für ernsthafte Gefechte. (MEW 15/264)
Engels betonte in seinen Artikeln mehrfach die Notwendigkeit einer straffen gefechtsmäßigen Ausbildung, dem Kompanie-Exerzieren, um die Kompanien zu fest gefügten, disziplinierten Kampfeinheiten zusammenzuschweißen, die im Gefecht bestehen würden. Die Übungen, besonders Manöver, sollten unter Leitung von Berufsoffizieren durchgeführt werden.
Die Ausbildung erfolgte nach Geschäftsschluß, also in den Abendstunden, zuweilen auch in zusammenhängenden Kursen von 14 Tagen in Zelt- oder Barackenlagern. Auch hier mußten die Freiwilligen die Kosten selbst aufbringen. Von der Regierung oder den örtlichen Armeekommandos wurden zuweilen Zelte bzw. Baracken gestellt. Die Ausbildung war zeitlich immer abhängig von der Berufstätigkeit der Freiwilligen und deren Freizeiten. Die Sonntage fielen auf Grund der englischen Gesetzgebung von vornherein für die Ausbildung aus.
Besonderen Wert legte Engels auf die Ausbildung der Freiwilligen-Artillerie und Freiwilligen-Genietruppen (Pioniere). Dabei unterschied Engels zwischen der (damals) bespannten Feldartillerie und der stationären Belagerungs- und Festungs-Artillerie. Die Feldartillerie sei für die Freiwilligen-Artillerie auf Grund ihrer Bespannung mit Pferden und Beweglichkeit ungeeignet, während Festungsartillerie dafür geeignet sei. Sie erfordere jedoch eine wissenschaftliche und theoretische Bildung der Offiziere und Unteroffiziere. Am besten seien für die Freiwilligen-Artillerie Menschen geeignet, die „viel mit Maschinen zu tun haben“, Ingenieure, Mechaniker, Grobschmiede, denn die Artillerie sei eine „im wesentlichen wissenschaftliche Waffengattung.“ (MEW 15/190)
Gleiche Anforderungen stellte er an die Freiwilligen-Genietruppen, die zur Verteidigung, Instandhaltung der Werften und Festungen in England einzusetzen waren. In England waren Industrie, Fabriken und Schiffswerften gegenüber dem Kontinent zahlreicher und stärker entwickelt. Die regulären Genietruppen würden für deren Verteidigung und Instandhaltung nicht ausreichen. Insofern kam den Freiwilligen-Genietruppen erstrangige Bedeutung in der Verteidigung des Inselstaates zu. Darum sei der Ausbildung von Genie-Offizieren und –Soldaten erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Keine Stunde über das notwendige Kompanie-Exerzieren hinaus dürfte in der Ausbildung verschwendet werden, etwa für „Parade“-Zwecke. Der Schwerpunkt müsse in der technischen Ausbildung liegen. Wie bei der Freiwilligen-Artillerie seien auch hier tüchtige Offiziere aus den Zivilingenieuren zu finden, unter denen es sehr intelligente und gut ausgebildete Leute gäbe. (MEW 15/229-233)
Engels hatte die Freiwilligen-Armeen in England von ihren Anfängen 1859/60 über drei Jahre in ihrer Entwicklung verfolgt und darüber in der Presse berichtet. Nach drei Jahren ihrer Existenz gab er im November 1862 folgende Einschätzung: Die Offiziere seien noch immer die schwache Stelle der Freiwilligen-Armeen, obwohl eine „bedeutende Besserung“ unübersehbar wäre. Die Schießleistungen glichen denen der regulären Armeen Europas. Das Experiment mit der Freiwilligen-Armee sei nach drei Jahren als „vollkommen gelungen“ anzusehen. England hat, fast ganz ohne Kosten für den Staat, eine organisierte Armee von 163.000 Mann für die Landesverteidigung geschaffen – eine Armee, die so weit eingeübt ist, daß sie nur noch, je nach dem verschiedenen Ausbildungsgrad der Bataillone, drei bis sechs Wochen im Lager zu kampieren und zu exerzieren braucht, um eine ganz brauchbare Feldtruppe zu werden. Und so viel Zeit wird jeder Invasionsversuch den Engländern im allerschlimmsten Fall immer lassen müssen!“ (MEW 15/540)
Es ist interessant, daß sich Engels als ein anerkannter Theoretiker und Führer der internationalen Arbeiterbewegung publizistisch für eine qualitativ hohe militärische Ausbildung einer ihrem Charakter nach bürgerlichen Freiwilligen-Armee eingesetzt hat. Dabei dürfen die konkret-historischen Bedingungen, eine existenzielle Bedrohung bonapartistischer Aggressionsabsichten gegen das bürgerliche England nicht übersehen werden. Bei all ihrer Begrenzung war die bürgerlich-demokratische Ordnung in England eine unverzichtbare Voraussetzung für die politische Formierung der britischen Arbeiterklasse in ihrem Emanzipationskampf. Marx und Engels haben die bürgerlich-demokratische Ordnung als strategisches Ziel im Emanzipationskampf der Arbeiterklasse betrachtet, wo sie noch nicht bestand, und sie verteidigt, wo sie von feudalreaktionären Kräften bedroht war, im konkreten Fall durch das bonapartistische Frankreich. Die Militärpolitik der Arbeiterklasse ist ein Bestandteil ihres Emanzipationskampfes. Sie wird bestimmt durch die jeweiligen konkreten Bedingungen. Unter diesem Aspekt ist Engels kritisches Engagement für die Freiwilligen-Armee in England zu verstehen.
Giuseppe Garibaldi
Der Volksaufstand in Palermo am 4. April 1860 war der Beginn einer bürgerlich-demokratischen Revolution im Königreich beider Sizilien, auch als neapolitanisches Königreich bezeichnet. Der König in Neapel, Franz II., war ein Abkommen der Bourbonen, der ein feudalabsolutistisches Regime ausübte. In die Geschichte ist er für die Bombardierung des aufständischen Neapels als „König Bomba“ eingegangen.
Ziel der revolutionären Bewegung war die Herstellung der nationalstaatlichen Einheit Italiens, die Befreiung von der Fremdherrschaft. Die Revolution im Süden Italiens unterstützte die Politik des Königs von Sardinien-Piermont, Viktor-Emanuel II. und dessen Premierministers Cavour um die nationalstaatliche Einigung Italiens. Cavour war der Repräsentant des liberalen Großbürgertums und der verbürgerlichten, kapitalistisch wirtschaftenden Großgrundbesitzer im Norden Italiens. Dabei stützte sich Cavour auf Bonaparte, der eigene Ziele in Italien verfolgte. Die Politik Cavours war eine Mischung von liberal-bürgerlichen Ambitionen, soweit progressiv, und restaurativen Elementen, zugleich reaktionär.
Während im Süden vorwiegend feudale Gesellschaftsverhältnisse bestanden, war der Norden bereits von der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung erfasst. In den Großstädten des Nordens entfaltete sich bereits eine moderne Industrie mit einem wachsenden Fabrikproletariat. Die unterschiedlichen sozialökonomischen Verhältnisse im Norden und Süden Italiens bestimmten auch den Charakter der Revolution im Norden und Süden und fanden ihre subjektive Reflektion in ihren politischen Führern, im Norden Graf Cavour als Repräsentant der liberal-monarchistischen Bourgeoisie und des Adels, im Süden Garibaldi, demokratischer Revolutionär, der bereits 1848/49 auf den Barrikaden als Repräsentant der klassenmäßig noch wenig differenzierten Volksmassen stand, namentlich der armen Bauern, die erbarmungslos von den feudalen Großgrundbesitzern ausgebeutet wurden.
Garibaldi und dessen revolutionäre Kriegführung auf Sizilien und in Süditalien erregte die Aufmerksamkeit von Engels. In sechs Artikeln für die „New York Daily Tribune“ vom 14. Juni bis 24. September 1860 analysierte er Planung und Durchführung des Revolutionskrieges Garibaldis gegen einen militärisch überlegenen Gegner. Dieser Revolutionskrieg trägt in gewissem Sinne „Modell-Charakter“, der auch für künftig zu erwartende Volksrevolutionen im 21. Jahrhundert einige allgemeingültige Lehren vermittelt, ohne die konkrethistorischen Besonderheiten Süditaliens und des Zeitraums – vor 150 Jahren! – ignorieren zu wollen.
Engels hob zwei Momente für den Erfolg des Revolutionskrieges hervor: 1. Die gute Organisation der revolutionären Partei, d.h. dem „subjektiven Faktor“. 2. Die Reife des Landes für einen Aufstand, d.h. es bestand eine „objektiv revolutionäre Situation“. Nennenswerte Teile der neapolitanischen Armee und Flotte waren nur noch bedingt einsatzfähig. Sie waren teilweise neutralisiert. Eine beachtliche Anzahl von Soldaten desertierten, gingen nach Hause oder gingen auf die Seite der revolutionären Truppen über, teilweise in geschlossenen Formationen unter Mitnahme ihrer Waffen. Es gab unter der Revolutionsarmee Einheiten der Kavallerie, der Artillerie und Genietruppen, die aus Berufssoldaten formiert waren. Desgleichen stammten zahlreiche Offiziere aus dem italienischen und französischen Offizierskorps. In den Artikeln von Engels finden sich Namen wie: Oberst de Flotte, ehemaliger französischer Marineoffizier, die Generale Bixio und Cosenz, Oberst Missori, alle formals italienische Armee. General Cosenz wurde später Generalstabschef der italienischen Armee.
Die Führung der Kriegsoperationen lag also in den Händen von Berufsoffizieren. Die Revolutionsarmee war diszipliniert und straff organisiert. Die neapolitanische Armee, das wichtigste Repressionsorgan der herrschenden Hofkamarilla um „König Bomba“ war nicht mehr einsatzfähig. Sie war weitgehend paralysiert. Nur noch ausländische Truppenteile konnten gegen die Revolutionsarmee eingesetzt werden. Allein aus diesen Bedingungen läßt sich eine allgemeingültige Schlussfolgerung ziehen: Ein Revolutionskrieg ist nur dann erfolgreich, wenn die Streitkräfte der Reaktion als dem wichtigsten Repressionsapparat nicht mehr voll einsatzfähig, paralysiert sind, wenn Berufssoldaten, -offiziere und –unteroffiziere, am besten ganze, geschlossene Einheiten mit ihren Waffen und Ausrüstungen auf die Seite der Revolution übergehen, die Revolutionsarmee straff organisiert, diszipliniert und fachmännisch geführt wird.
Besonders hob Engels Garibaldi als hervorragenden militärischen Führer hervor. Dies habe sich bei der Einnahme von Palermo gezeigt. Seine „Bewegungen zur Vorbereitung des Angriffs auf Palermo“ haben „ihn auf einmal zum Strategen ersten Ranges“ gestempelt. (MEW 15/63) Die Neapolitaner hatten rund um Palermo Verschanzungen aufgeworfen, verfallene Festungswälle wieder verstärkt. Die 22.000 Mann Besatzung waren der Armee Garibaldis nach Zahlen und Ausrüstung weit überlegen. Die neapolitanischen Truppen waren jedoch schon demoralisiert. Ihre Disziplin war gelockert, viele von ihnen erwogen bereits zu den Insurgenten überzulaufen. Ein Frontalangriff war unter dem gegebenen Kräfteverhältnis nicht möglich, einige zusammenhanglose und nichts entscheidende Gefechte würden nur zu Verlusten und möglicherweise zu Erfolgen der Verteidiger der Stadt führen, deren schon erschütterte Moral wieder festigen. Die einzige der Revolution angemessene Taktik war aber eine „kühne Offensive“. Die Einnahme Palermos war zu einer Notwendigkeit geworden. In der Lösung dieser schwierigen militärischen Aufgabe erwies sich Garibaldi als „ausgezeichneter Stratege“, dessen Fähigkeiten sich nicht nur in kleinen Partisanenkämpfen zeigten, sondern gleichermaßen in der Durchführung bedeutender Operationen.
Am 20. (Mai, UH) und an den darauffolgenden Tagen griff Garibaldi die neapolitanischen Vorposten und Stellungen in der Nähe von Monreale und Parco – auf den von Trapani und Corleone nach Palermo führenden Straßen – an und machte so den Feind glauben, daß sein Angriff hauptsächlich gegen die südwestliche Seite der Stadt gerichtet sei und daß hier seine Hauptkräfte konzentriert seien. Durch eine geschickte Kombination von Angriffen und fingierten Rückzügen veranlaßte er den neapolitanischen General, immer mehr Truppen aus der Stadt dorthin zu schicken, bis am 24. ungefähr 10.000 Neapolitaner außerhalb der Stadt, in Richtung Parco, erschienen. Genau das hatte Garibaldi beabsichtigt. Er griff sie sogleich mit einem Teil seiner Kräfte an und wich langsam vor ihnen zurück, um sie so immer weiter von der Stadt abzuziehen, und als er sie über den Hauptrücken der sich durch Sizilien ziehenden Berge – die hier das Conca d’oro (die goldene Schale, das Tal von Palermo) vom Tal von Corjeone teilen – bis Piana-dei-Greci gelockt hatte, warf er sofort den Hauptteil seiner Truppen über einen anderen Teil derselben Hügelkette in das Tal von Misilmeri, das sich nahe Palermo, dem Meer zu, öffnet. Am 25. bezog er sein Hauptquartier in Misilmeri, acht Meilen von der Hauptstadt entfernt. Was er weiter mit den 10.000 Mann tat, die auf einer einzigen Linie – einer in den Bergen verlaufenden schlechten Straße – verstrickt waren, darüber sind wir nicht informiert, aber wir können sicher sein, daß er sie gut mit neuen scheinbaren Siegen beschäftigte, um so zu sichern, daß sie nicht zu schnell nach Palermo zurückkämen. Nachdem er so die Verteidiger der Stadt um nahezu die Hälfte reduziert und seine Angriffslinie von der nach Trapani führenden Straße auf die Straße nach Catania verlegt hatte, konnte er zum Großangriff übergehen. Ob der Aufstand in der Stadt Garibaldis Sturm vorausging oder ob er durch sein An-die-Toreklopfen hervorgerufen wurde, lassen die sich widersprechenden Depeschen offen; sicher ist jedoch, daß am Morgen des 27. ganz Palermo zu den Waffen griff und Garibaldi an die Porta Termini, an der südöstlichen Seite der Stadt, donnerte, wo keine Neapolitaner ihn erwarteten. Alles übrige ist bekannt – die allmähliche Befreiung der Stadt von den Truppen mit Ausnahme der Batterien, der Zitadelle und des königlichen Palastes, das darauffolgende Bombardement, der Waffenstillstand, die Kapitulation. Authentische Einzelheiten aller dieser Vorgänge fehlen noch; aber die wichtigsten Tatsachen sind ziemlich sicher. (MEW 15/62f)
Eine abschließende Einschätzung Garibaldis gab Engels in der „New York Daily Tribune“ vom 24. September 1860: „Wir sind jetzt im Besitz genauer Informationen über Garibaldis Eroberung von Niederkalabrien und über die völlige Vertreibung des zu seiner Verteidigung vorgesehenen neapolitanischen Korps. In diesem Abschnitt seiner triumphalen Karriere hat Garibaldi sich nicht nur als tapferer Führer und kluger Stratege, sondern auch als militärisch gebildeter Feldherr erwiesen. Der Angriff mit der Hauptstreitkraft auf eine Kette von Küstenforts ist ein Unternehmen, das nicht nur militärisches Talent, sondern auch militärisches Wissen erfordert, und es ist erfreulich festzustellen, daß unser Held, der nie in seinem Leben ein militärisches Examen ablegte und von dem kaum behauptet werden kann, daß er jemals einer regulären Armee angehört hat, auf einem Schlachtfeld dieser Art ebenso heimisch war wie auf jedem anderen.“ (MEW 15/155)
Allgemeine Wehrpflicht und revolutionäre Arbeiterpartei
Diese Frage untersuchte Engels in seiner Broschüre „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei“ aus dem Jahre 1865.
Einleitend im Teil I verwies er auf das klassenbedingt unterschiedliche Herangehen an die Frage der preußischen Militärorganisation. Eine unparteiliche Herangehensweise sei nicht möglich. Die preußische Regierung ginge von ihrem Standpunkt aus, die bürgerliche Opposition im Landtag von ihren Interessen. Die Arbeiterpartei lege nun ihren Standpunkt zur Militärfrage dar. Sie habe den Vorteil, zwischen Reaktion und Bürgertum außerhalb des Konflikts um die Militärfrage zu stehen. So könne sie „kaltblütig und unparteiisch“ diese Frage behandeln. (Parteiisch ist nicht mit parteilich zu verwechseln!) Die Arbeiterpartei allein könne die Militärfrage „wissenschaftlich behandeln, historisch, als ob sie schon vergangen, anatomisch, als ob sie schon Kadaver wäre.“ (MEW 16/41)
Auf Einzelheiten der Regierungspolitik zur Armeeorganisation und bürgerlichen Opposition gehe ich hier nicht ein, da sie nur noch von historischem Interesse sind. Wichtig für die revolutionäre Arbeiterpartei sind jedoch Engels’ Ausführungen zur allgemeinen Wehrpflicht, über die auch im 21. Jahrhundert nachzudenken ist. In der BRD gibt es über die Frage Wehrpflicht oder Berufsarmee unter Militärs und Politikern, rechten wie linken, seit einiger Zeit Diskussionen. Im Folgenden ist zu beachten, daß Engels’ Ausführungen aus dem Jahre 1865 stammen, also vor 140 Jahren niedergeschrieben wurden.
Unter den Großmächten auf dem europäischen Kontinent war Preußen gegenüber Österreich, dem russischen Zarenreich und dem bonapartistischen Frankreich zu dieser Zeit die kleinste Großmacht mit einer Einwohnerzahl von 18 Millionen, die weit unter der von Frankreich, 35 Millionen, Russland, 60 Millionen und Österreich, 34 Millionen lag, was auf die Rekrutierung von Soldaten in einem Kriegsfall von Bedeutung war. Die Armeeorganisation erwies sich somit als eine Lebensfrage für den preußischen Staat. „Die allgemeine Wehrpflicht – beiläufig die einzige demokratische Institution, welche in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier, besteht – ist ein so enormer Fortschritt gegen alle bisherigen militärischen Einrichtungen, daß, wo sie einmal, wenn auch nur in unvollkommener Durchführung, bestanden hat, sie auf Dauer nicht wieder abgeschafft werden kann.“ (MEW 16/44)
Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ging auf die preußischen Militärreformer Scharnhorst, Gneisenau u.a. zurück. Sie wurde 1814 per Gesetz in Preußen eingeführt. Das Grundprinzip dieses Gesetzes bestand darin, daß jeder zum Wehrdienst körperlich fähige Staatsbürger auch „verpflichtet“ ist, „während seiner waffenfähigen Jahre persönlich die Waffen zur Verteidigung des Landes zu führen…“ (MEW 16/45) (Mitte des 19. Jahrhunderts trug die allgemeine Wehrpflicht noch progressiven Charakter, der sich Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in sein Gegenteil verkehrte. Aus der allgemeinen Wehrpflicht wurde eine reaktionäre Zwangsdienstpflicht. Die Wehrkraft des deutschen Volkes wurde für eine imperialistische Aggressionspolitik nach außen und als Repressivorgan nach innen mißbraucht. Im faschistischen Deutschland wurde dieser reaktionäre, aggressive Charakter der Wehrmacht auf die Spitze getrieben. In der BRD wurde die Wehrpflicht 1956 wieder eingeführt. Von Generalen der faschistischen Wehrmacht wurde die Bundeswehr aufgebaut und in den aggressiven, antisowjetischen NATO-Pakt eingegliedert. In der DDR beschloß die Volkskammer 1961 das Gesetz zur Verteidigung der DDR, 1962 beschloß sie das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht. Das Wehrpflichtgesetz der DDR entsprach den Erfordernissen der sozialistischen Revolution, der Verteidigung des Sozialismus gegen imperialistische Diversion und Aggression. Das Wehrpflichtgesetz der DDR stimmte mit den Grundprinzipien des demokratischen Völkerrechts, dem Recht der Verteidigung, überein, desgleichen der Beitritt zum Warschauer Vertrag mit dem Recht auf kollektive Verteidigung. Mit dem Wehrpflichtgesetz in der DDR gewann die allgemeine Wehrpflicht ihren progressiven und demokratischen Charakter in Übereinstimmung mit der von Engels ausgearbeiteten Militärtheorie wieder zurück.)
Engels plädierte dafür, auch Theologen zum Wehrdienst einzuziehen, die von der Wehrpflicht durch Gesetz befreit waren. Ein „Jahr Armeedienst, Leben in der freien Luft und Berührung mit der Außenwelt kann ihnen nur nutzen. Stellen wir sie also flott ein; …“ Engels meinte für die Theologen den Dienst als „einjährig Freiwillige“, die dem Wehrpflichtgesetz von 1814 entsprach.
Engels verglich Vor- und Nachteile einer „regulären Kaderarmee“ (Berufsarmee) mit einer Wehrpflichtarmee. Kaderarmeen bestünden in Österreich und Frankreich. Eine Berufsarmee mit langer Dienst- und Präsenzzeit habe für den Anfang des Krieges große Vorteile. Die Leute kennen sich besser, wodurch die Bataillone mehr Halt hätten, wenn sie zum ersten Mal ins Feuer kommen. Ein Nachteil sei, daß man bei diesem System nur einen Teil der waffenfähigen Männer ausbilden könne (von Frauen in Uniform war 1865 noch keine Rede), also nicht alle Kräfte der Nation in Tätigkeit bringe.
Für Preußen mit seiner geringen Einwohnerzahl im Vergleich zu den anderen drei Kontinentalmächten sei das System einer Kaderarmee eine Unmöglichkeit. Es kann den anderen Kontinentalmächten nur gewachsen sein durch „allgemeine Dienstpflicht, kurze, aber angestrengte Dienstzeit und verhältnismäßig lange Landwehrverpflichtung“, d.h. eine starke Reservearmee. Der Nachteil bei diesem System bestehe darin, daß man im „ersten Augenblick des Kriegs“ von der Schlagfertigkeit und Schlagtüchtigkeit der Truppe anfänglich „etwas zu opfern haben“ werde. Engels meinte (1865!), daß durch das Wehrpflichtsystem „Staat und Politik … einen neutralen, defensiven Charakter erhalten“ werde, eine Voraussage, die sich im 20. Jahrhundert im imperialistischen System als nicht zutreffend erwies.
Also: Entweder Kaderarmee oder allgemeine Wehrpflicht, entweder lange Dienstzeit und kurze Verpflichtung oder viele ausgebildete Leute bei kurzer Dienstzeit und langer Verpflichtung, – „das ist die Frage; aber man muß entweder das eine oder das andre wählen“. (MEW 16/50-52)
Die preußische Regierung hatte eine dreijährige Dienstzeit für nötig befunden, da der Soldat „mehr lernen“ müsse und drei Jahre erforderlich seien, um den Einberufenen den „wahren Soldatengeist“ anzuerziehen. Engels wandte sich dagegen. Dies sei ein politisches und kein militärisches Motiv. „Der wahre Soldatengeist soll sich am inneren Düppel mehr bewähren als am äußeren.“ (MEW 16/52) (Im Krieg gegen Dänemark erstürmten die preußischen Truppen am 18. April 1864 die dänischen Befestigungswälle bei Düppel, die sogenannten „Düppeler Schanzen“. Der Terminus „inneres Düppel“ war Synonym zur Bezeichnung des „inneren Feindes“, d.h. demokratischer und sozialistischer revolutionärer Bewegungen in Preußen.)
Hinter dem Terminus „wahrer Soldatengeist“ verbarg sich die politische Indoktrinierung der Soldaten im Sinne des preußischen Militarismus, um sie nach Innen gegen revolutionäre Volksbewegungen einsetzen zu können. Die Armee war das wichtigste Repressionsorgan des preußischen Militärstaates gegen den „inneren“ Feind!
Für die Kavallerie sah Engels eine vierjährige Dienstzeit vor, weil die Ausbildung zu Pferde – „der geschlossene Angriff mit der blanken Waffe“ – komplizierter war. Er stimmte Einwänden von bürgerlichen Demokraten zu, daß durch den Dienst von freiwillig länger Dienenden mit Aussicht auf eine Unteroffiziersstellung (im damaligen Sprachgebrauch als „Kapitulanten“ bezeichnet, nach dem Militärdienstvertrag, der „Kapitulation“, benannt) (MEW 16/783) die Kavallerie reaktionär sei und gegen Volksdemonstrationen eingesetzt werden konnte. Die Kavallerie, meinte Engels, „wird unter bestehenden Verhältnissen immer reaktionär sein, … gerade wie die Artillerie immer liberal sein wird. Das liegt in der Natur der Sache…“ Aber, „beim Barrikadenkampf ist Kavallerie doch nicht zu gebrauchen; der Barrikadenkampf in großen Städten, namentlich die Haltung der Infanterie und Artillerie dabei, entscheidet aber heutzutage das Schicksal aller Staatsstreiche.“ (MEW 16/53) Die Betonung muß auf „heutzutage“, also 1865!, gelegt werden. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Um die Schlagfähigkeit der Armee bei kurzer Dienstzeit von zwei Jahren zu heben, schlug Engels Übungslager und einen „rationelle(n) Betrieb der Ausbildung“ vor. Dabei wandte er sich gegen „übertriebene Präzision des Parademarsches, das ‚stramme’ Exerzieren und das lächerlich Aufheben der Beine – ‚frei aus dem Hüftgelenk’ ein Loch in die Natur stoßen -“ sowie Übertreibungen bei Gewehrgriffen. Als das „wesentlichste“ „Äquivalent der verkürzten Dienstzeit“ forderte er „eine bessere körperliche Erziehung der Jugend …“ „Man setze in jeden Kreis mindestens einen ausgedienten Unteroffizier hin, der sich zum Turnlehrer qualifiziert, und gebe ihm die Leitung des Unterrichts im Turnen; man sorge dafür, daß mit der Zeit der Schuljugend das Marschieren in Reih und Glied, die Bewegungen eines Zugs und einer Kompanie, die Vertrautheit mit den betreffenden Kommandos beigebracht werden. In 6 bis 8 Jahren wird man reichlich dafür bezahlt werden und – mehr und stärkere Rekruten haben.“
Engels betonte, daß seine Kritik am preußischen Militärorganisationsplan von den „tatsächlich vorliegenden politischen und militärischen Verhältnissen“ ausgingen. Die zweijährige Ausbildungszeit wäre die „höchste zu erreichende Verkürzung der Dienstzeit“, noch weitere Verkürzung wäre nicht zweckmäßig. „Wir sind sogar der Meinung, daß ein Staat wie Preußen den größten Bock begehen würde – sei an der Regierung welche Partei da wolle -, wenn er die normale Dienstzeit augenblicklich noch mehr verkürzte. Solange man die französische Armee auf der einen, die russische auf der andern Seite hat und die Möglichkeit eines kombinierten Angriffs beider zu gleicher Zeit, braucht man Truppen, die die ersten Elemente der Kriegsschule nicht erst vor dem Feind zu lernen haben. Wir nehmen daher keine Rücksicht auf die Phantasien von einem Milizheer mit sozusagen gar keiner Dienstzeit; wie man sich die Sache vorstellt, ist sie heute für ein Land von 18 Millionen Einwohnern und sehr exponierten Grenzen unmöglich und selbst für andere Verhältnisse nicht in dieser Weise möglich.“ (MEW 16/54)
In Teil II ging Engels noch einmal auf die Frage der Armeeverstärkung unter dem Aspekte der Staatsstreichfrage ein: „Es ist ganz richtig, dass Armeen die Werkzeuge sind, womit man Staatsstreiche macht, und dass also jede Armeeverstärkung auch die Durchführbarkeit eines Staatsstreichs vermehrt. Aber die für einen Großstaat erforderliche Armeestärke richtet sich nicht nach der größeren oder geringeren Aussicht auf Staatsstreiche, sondern nach der Größe der Armeen der anderen Großstaaten“. (MEW 16/61)
Aber die Sache habe noch eine andere Seite, denn „jeder weitere Schritt zur wirklichen Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht“ mache „die preußische Armee ungeschickter zum Werkzeug für Staatsstreiche. Sobald unter der ganzen Volksmasse das Verlangen nach Selbstregierung und die Notwendigkeit des Kampfes gegen alle widerstrebenden Elemente einmal durchgedrungen war, mußten auch die 20- und 21jährigen jungen Leute von der Bewegung erfaßt sein, und selbst unter feudalen und absolutistischen Offizieren mußte ein Staatsstreich immer schwerer mit ihnen durchzuführen sein. Je weiter die politische Bildung im Lande fortschreitet, je mißliebiger wird die Stimmung der eingestellten Rekruten werden…
Die preußische Friedensarmee mag unter Umständen ein reines Werkzeug in den Händen der Regierung zur Verwendung im Innern werden; die preußische Kriegsarmee sicher nie. Wer je Gelegenheit hatte, ein Bataillon erst auf Friedensfuß und dann auf Kriegsfuß zu sehen, kennt den ungeheuren Unterschied in der ganzen Haltung der Leute, im Charakter der ganzen Masse. Die Leute, die als halbe Knaben in die Armee eingetreten waren, kommen jetzt als Männer wieder zu ihr zurück; sie bringen einen Vorrat von Selbstachtung, Selbstvertrauen, Sicherheit und Charakter mit, der dem ganzen Bataillon zugute kommt. Das Verhältnis der Leute zu den Offizieren, der Offiziere zu den Leuten wird gleich ein anderes. Das Bataillon gewinnt militärisch ganz bedeutend, aber politisch wird es – für absolutistische Zwecke – völlig unzuverlässig. Das konnte man noch beim Einmarsch in Schleswig sehen, wo zum großen Erstaunen der englischen Zeitungskorrespondenten die preußischen Soldaten überall an den politischen Demonstrationen offen teilnahmen und ihre durchaus nicht orthodoxen Gesinnungen ungescheut aussprachen… Das ist eben eine der besten Seiten an der preußischen Wehrverfassung, vor wie nach der Reorganisation: daß mit dieser Wehrverfassung Preußen weder einen unpopulären Krieg führen noch einen Staatsstreich machen kann, der Dauer verspricht.“ (MEW 16/62-63)
Folgt man den Ausführungen Engels, dann ergibt sich, daß die Frage „Armee-Staatsstreich“ unter wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen und Situationen stets konkret gestellt und beantwortet werden muß, wie auch alle andren historisch-politischen Fragen. Gegenüber Fragen, wieviele Soldaten der preußische Staat benötigt, um als „Großmacht“ zu bestehen, ob die finanzielle Belastung durch die Armeereorganisation etwas vermehrt wird oder nicht, verhält sich die Arbeiterpartei gleichgültig. „Dagegen ist es ihr durchaus nicht gleichgültig, ob die allgemeine Wehrpflicht vollständig durchgeführt wird oder nicht. Je mehr Arbeiter in den Waffen geübt werden desto besser. Die allgemeine Wehrpflicht ist die notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts; sie setzt die Stimmenden in den Sand, ihre Beschlüsse gegen alle Staatsstreichversuche mit den Waffen in der Hand durchzusetzen. Die mehr und mehr konsequente Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ist der einzige Punkt, der die Arbeiterklasse Deutschlands an der preußischen Armeereorganisation interessiert.“ (MEW 16/66)
Wie in allen politischen Fragen in der Auseinandersetzung zwischen der preußischen Regierung und der bürgerlichen Opposition muß die Arbeiterpartei in der Frage der Militärreorganisation als eine von den bürgerlichen Parteien „unterschiedene, selbständige Partei“ auftreten. (MEW 16/77) Diese Schlußfolgerung von Engels aus dem Konflikt um die Militärorganisation in Preußen trägt allgemeingültigen Charakter.
Gewalttheorie
In seinem Werk „Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft“, eingebürgert hat sich die Kurzform „Anti-Dühring“, geschrieben September 1876 bis Juni 1878, reflektierte Engels in drei mit „Gewalttheorie“ überschriebenen Abschnitten (MEW 20/147-171) die Auswirkungen der modernen Großindustrie mit einem wachsenden klassenbewußten Industrieproletariat auf Bewaffnung, Ausrüstung und Taktik der Armeen.
Im „Handschriftlichen Nachlaß“ von Engels fand sich ein vierter Abschnitt „Die Rolle der Gewalt in der Geschichte“, geschrieben Ende Dezember 1887 bis März 1888. (MEW 21/407-461) Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 hatte qualitative Veränderungen im Militärwesen deutlich sichtbar werden lassen. Offensichtlich betrachtete Engels den Deutsch-Französischen Krieg als Zäsur zwischen der bisherigen und der modernen Kriegführung, analog zu den Veränderungen im Militärwesen nach der Französischen Revolution. Noch 1865 hatte Engels den Barrikadenkampf als einen Bestandteil revolutionärer Aufstände betrachtet. In der „Gewalttheorie“ findet er keine Erwähnung mehr.
„Mit dem Deutsch-Französischen Krieg ist ein Wendepunkt eingetreten von ganz anderer Bedeutung als alle früheren.“ (MEW 20/158) Er führte zwei Kriterien an: Erstens, daß „die Waffen so vervollkommnet“ seien, „daß ein neuer Fortschritt von irgendwelchem umwälzenden Einfluß nicht mehr möglich ist.“ (MEW 20/158) Das mochte ihm in den 70er Jahren so erschienen sein, erwies sich jedoch als Irrtum. Kampfflugzeuge und „Tanks“, den ersten großen Panzerangriff bei Cambrai 1917, bei dem die Engländer 300 Tanks eingesetzt hatten, die Panzerschlacht im Raum Prochorowka während der Kursker Schlacht im Sommer 1943, in der von beiden Seiten 4.980 Panzer eingesetzt worden waren, die Vernichtung ganzer Städte durch die Bombardierung von zu Hunderten Kampfflugzeugen zählenden Luftflotten hatte Engels nicht kennen gelernt, vom Einsatz von ABC-Waffen und dem „Krieg der Sterne“ ganz zu schweigen.
Zweitens, meinte Engels, der Deutsch-Französische Krieg habe „alle kontinentale Großstaaten“ gezwungen, das „verschärfte preußische Landwehrsystem“ bei sich einzuführen, damit „eine Militärlast“, bei der sie „in wenigen Jahren zugrunde gehn müssen.“ Richtig erkannte Engels, daß die Armee zum „Hauptzweck des Staats“, „Selbstzweck“ geworden war, die Herausbildung des „Militarismus“, der Europa „beherrscht und verschlingt“. Dieser Militarismus trüge jedoch den „Keim seines eignen Untergangs“ in sich. Die Konkurrenz der einzelnen Staaten untereinander zwinge sie zu stets höheren Geldausgaben für Armee, Flotte, Geschütze, die den finanziellen Zusammenbruch beschleunigten. Andererseits wird mit der allgemeinen Dienstpflicht schließlich „das ganze Volk mit dem Waffengebrauch vertraut“ gemacht. Damit wird das Volk befähigt, „in einem gewissen Moment seinen Willen gegenüber der kommandierenden Militärherrlichkeit durchzusetzen“. Dies würde eintreten, sobald die Masse des Volkes – „ländliche und städtische Arbeiter und Bauern einen Willen hat“. „Auf diesem Punkt schlägt das Fürstenheer um in ein Volksheer; die Maschine versagt den Dienst, der Militarismus geht unter an der Dialektik seiner eignen Entwicklung.“ (MEW 20/158)
Die Revolutionen am Ende des Ersten Weltkrieges in Rußland, Deutschland, Österreich verifizierten Engels Voraussage, auch wenn die Revolution nur in Rußland siegte, in Deutschland und Österreich von der Reaktion niedergeschlagen werden konnte.
Voraussetzung für die revolutionäre Beseitigung des Militarismus ist allerdings, daß die Volksmassen den „Willen“ dazu haben, und dieser „Willen“ entsteht nicht spontan. Damit ist auf die bestimmende Rolle des subjektiven Faktors in der Revolution, der revolutionären Arbeiterpartei, hingewiesen.
Die neuen Waffen, auf die Engels verwies, die die Kriegsführung revolutioniert hatten, waren einmal die Artillerie, die über gezogene Kanonen verfügte, „mit denen man ein Bataillon treffen kann, soweit das Auge es unterscheidet“ und „gezogene Hinterlader“ als Gewehre, mit denen die beiden Heere im Deutsch-Französischen Krieg ausgerüstet waren. Damit war die Kampfform des Kolonnenangriffs nicht mehr anwendbar. Es war nicht mehr möglich, „irgendwelche geschlossene Trupps“ dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen. Die Deutschen führten den Kampf nur noch „in jenen dichten Schützenschwärmen“ durch, nachdem sich die Kolonnen bereits vorher unter dem einschlagenden Kugelhagel schon von selbst aufgelöst hatten. Im „Bereich des feindlichen Gewehrfeuers“ wurde „der Laufschritt die einzige Bewegungsart“. (MEW 20/158)
Im Deutsch-Französischen Kriege 1870 erlag das französische Konskriptionssystem dem preußischen Landwehrsystem. In diesem Krieg waren aber auch zum erstenmal beide Teile mit Hinterladern bewaffnet, während die reglementarischen Formen, in denen die Truppen sich bewegten und schlugen, im wesentlichen dieselben geblieben waren, wie zur Zeit des alten Steinschloßgewehrs. Höchstens, daß man die Tirailleurschwärme etwas dichter machte. Im übrigen fochten die Franzosen noch immer in den alten Bataillonskolonnen, zuweilen auch in Linie, während bei den Deutschen durch Einführung der Kompaniekolonne wenigstens ein Versuch gemacht war, eine der neuen Waffe angemessenere Kampfform zu finden. So behalf man sich in den ersten Schlachten. Als aber beim Sturm auf Saint-Privat (18. August) drei Brigaden preußischer Garde mit der Kompaniekolonne Ernst zu machen versuchten, zeigte sich die niederschmetternde Gewalt des Hinterladers. Von den fünf am meisten beteiligten Regimentern (15.000 Mann) fielen fast alle Offiziere (176) und 5114 Mann, also über ein Drittel. Die ganze Garde-Infanterie, die in der Stärke von 28.160 Mann ins Gefecht gerückt war, verlor an jenem Tage 8230 Mann, worunter 307 Offiziere. Von da an war die Kompaniekolonne als Kampfform gerichtet, nicht minder als die Bataillonsmasse oder die Linie; jeder Versuch wurde aufgegeben, fernerhin irgendwelche geschlossenen Trupps dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen; der Kampf wurde deutscherseits nur noch in jenen dichten Tirailleurschwärmen geführt, in die sich die Kolonnen bisher schon regelmäßig von selbst unter dem einschlagenden Kugelhagel aufgelöst, die man aber von oben herab als ordnungswidrig bekämpft hatte. Der Soldat war wieder einmal klüger gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bis jetzt im Feuer des gezognen Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führer erfolgreich durch. Ebenso wurde nun im Bereich des feindlichen Gewehrfeuers nur noch der Laufschritt angewandt. (MEW 20/602f)
Der Seekrieg hatte sich ebenfalls durch moderne Industrie und Technik verändert. Im Krimkrieg (1853-1856, Krieg einer Koalition England, Frankreich, Sardinien, Türkei gegen Rußland) war das Schlachtschiff noch der hölzerne Zwei- und Dreidecker, mit Segel als Antriebsmittel. Eine schwache Dampfmaschine diente als Aushilfsantrieb. Die Artillerie bestand aus 32pfündern (50 Zentner Rohrgewicht, etwa 20 cm Rohrkaliber) und wenigen 68pfündern (95 Zentner Rohrgewicht, etwa 40 cm Rohrkaliber). „Das heutige Schlachtschiff ist ein riesiger gepanzerter Schraubendampfer von 8000 bis 9000 Tonnen Gehalt und 6000 bis 8000 Pferdekraft, mit Drehtürmen und vier, höchstens sechs schweren Geschützen und mit einem, unter der Wasserlinie in einer Ramme zum Niederrennen feindlicher Schiffe auslaufenden Bug; es ist eine einzige kolossale Maschine, auf der der Dampf nicht nur die schnelle Fortbewegung bewirkt, sondern auch die Steuerung, das Ankerwinden, die Drehung der Türme, die Richtung und Ladung der Geschütze, das Auspumpen des Wassers, das Einnehmen und Herablassen der Boote – die selbst teilweise wieder Dampfkraft führen – usw. Und so wenig ist der Wettkampf zwischen Panzerung und Geschützwirkung zum Abschluß gekommen, daß ein Schiff heutzutage fast regelmäßig schon nicht mehr den Ansprüchen genügt, schon veraltet ist, ehe es vom Stapel gelassen wird. Das moderne Schlachtschiff ist nicht nur ein Produkt, sondern zugleich ein Probestück der modernen großen Industrie, eine schwimmende Fabrik – vornehmlich allerdings zur Erzeugung von Geldverschwendung. Das Land, wo die große Industrie am meisten entwickelt ist, hat beinahe das Monopol des Baues dieser Schiffe. Alle türkischen, fast alle russischen, die meisten deutschen Panzerschiffe sind in England gebaut; Panzerplatten von irgendwelcher Brauchbarkeit werden fast nur in Sheffield gemacht; von den drei Eisenwerken Europas, die allein imstande sind, die schwersten Geschütze zu liefern, kommen zwei (Woolwich und Elswick) auf England, das dritte (Krupp) auf Deutschland.“ (MEW 20/160)
Engels meinte, daß das Schlachtschiff im „Wettkampf zwischen Panzer und Geschütz“ zu „der Spitze ausgebildet“ werde, „die es ebenso unerschwinglich wie kriegsunbrauchbar“ mache. In einer Fußnote wies er auf „sich selbst fortbewegende(n) Torpedos“ hin, was zur Folge haben könnte, daß „das kleinste Torpedoboot … damit dem gewaltigsten Panzerschiff überlegen“ wäre. (MEW 20/161) Engels schrieb vorsichtshalber in der Möglichkeitsform, es „könnte“! In beiden Weltkriegen spielten die Großkampfschiffe noch immer eine bedeutende Rolle im Seekrieg. Hier sei nur auf die Seeschlacht am Skagerrak, 31. Mai 1916, nach dem englischen Historiker John Keegan der größten und letzten Seeschlacht der Geschichte, verwiesen, und auf das erbitterte Seegefecht im Kampf um die Midway-Inseln, 3.-4. Juni 1942, in dem neben Schlachtschiffen allerdings auch Flugzeugträger eine bedeutende Rolle spielten. Wie schwierig es während des Zweiten Weltkrieges war, große Schlachtschiffe, „schwimmende Festungen“, wie die „Tirpitz“, durch U-Boote und/oder Flugzeuge zu versenken, bezeugen die Einsätze von sowjetischen U-Booten sowie Einsätze der Royal Aire Force und Trägerflugzeugen der britischen Kriegsmarine, die seit 1940 versucht hatten, die „Tirpitz““in den norwegischen Fjorden zu versenken, was ihnen erst nach vier Jahren! im November 1944 gelang.
Inwieweit große Panzerkreuzer heute noch in einem Krieg eine Rolle spielen, bleibt ein Gegenstand der Diskussion der Marinestäbe. Richtig war die Einsicht Engels, daß diese „schwimmenden KampfFabriken“ sehr teuer sind, so daß in den Marinestäben über die Relation zwischen Kosten und strategischen Einsatzmöglichkeiten von Großkampfschiffen nachgedacht werden muß.
Wenn sich auch manche Einzelheiten in den Aussagen Engels’ zur Entwicklung des Militärwesens im engeren Sinne, Bewaffnung und Taktik, dem damaligen Stand der Entwicklung von Industrie, Wissenschaft, Technik und Bewaffnung geschuldet, als irrig erwiesen, die dialektisch-materialistische Methode der Untersuchung und Darstellung trägt allgemeingültigen Charakter: Der Zusammenhang von Ökonomie, Industrie, Technik, Sozialstruktur, Klassenkampf, Politik und Ideologie auf Bewaffnung, Strategie und Taktik von Armee und Flotte. Heute kommen noch Luftwaffe und Raketentruppen hinzu. Unter Berücksichtigung der Anwendung der materiell-technischen Errungenschaften auf die Bewaffnung der betreffenden Streitkräfte – der letztendlich entscheidende Faktor bleibt noch immer der Mensch.
Am Beginn der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution
Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts äußerte sich Engels in der von ihm verfaßten Einleitung zu einer von Sigismund Borkheim geschriebenen Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806–1807“ (MEW 21/346-351) über die Aussichten eines Krieges von Preußen-Deutschland: „Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. – Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt.“ (MEW 21/350f) (57)
Diese Prognose eines Weltkrieges präzisierte Engels in seiner „Einleitung [zu Karl Marx’ ‚Bürgerkrieg in Frankreich’ (Ausgabe 1891)]”. (MEW 22/188-199) Die „Voraussage“ habe sich „buchstäblich bewährt“, schrieb er, „dass die Annexion Elsaß-Lothringens ‚Frankreich in die Arme Russlands hineinzwingen werde“. Deutschland müsse entweder zum „offenkundigen Knecht Russlands“ werden, oder Krieg gegen die verbündeten Slawen und Romanen führen. „Und hängt nicht noch täglich über unserem Haupte das Damoklesschwert eines Krieges, an dessen erstem Tag alle verbrieften Fürstenbündnisse zerstieben werden wie die Spreu, eines Kriegs, von dem nichts gewiß ist als die absolute Ungewißheit seines Ausgangs, eines Racenkrieges, der ganz Europa der Verheerung durch fünfzehn oder zwanzig Millionen Bewaffneter unterwirft, und der nur deswegen nicht schon wütet, weil selbst dem stärksten der großen Militärstaaten vor der totalen Unberechenbarkeit des Endresultats bangt? Um so mehr ist es Pflicht, diese halbvergeßnen glänzenden Belege der Fernsicht der internationalen Arbeiterpolitik von 1870 den deutschen Arbeitern wieder zugänglich zu machen.“ (MEW 22/189)
In seiner Artikelserie für den „Vorwärts“ (Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands) vom März 1893 „Kann Europa abrüsten?“ (MEW 22/369-399) wandte sich Engels erneut der Kriegsfrage zu. In Europa sei das System der stehenden Heere derartig auf die Spitze getrieben, wo es entweder die Völker durch „die Militärlast ökonomisch ruinieren oder in einen allgemeinen Vernichtungskrieg ausarten muß…“ Den Ausweg sah Engels in der rechtzeitigen Umwandlung der stehenden Heere in eine „auf allgemeine Volksbewaffnung beruhende Miliz“. Unter rein militärischem Aspekt sei dies möglich. Wenn die Heere trotzdem aufrechterhalten werden, so dann nur aus politischen Gründen, als Schutz vor dem „inneren Feind“. (MEW 22/371)
Der Angelpunkt für die Abrüstung sei die Verkürzung der Dienstzeit, zunächst auf zwei Jahre, in der Folge auf achtzehn Monate, auf ein Jahr und letztendlich beginne der „Zukunftsstaat“, das „unverfälschte Milizsystem“. (MEW 22/381)
Die technische Revolution, deren Auswirkungen auf die Waffensysteme, würde dies ermöglichen, da alle unsinnigen militärischen Übungen wie Paradeexerzieren wegfallen könnten. Das Schwergewicht der militärischen Ausbildung sollte in die Jugenderziehung, in den Turnunterricht mit vormilitärischer Ausbildung, Exerzieren im Zug- und Kompanieverband unter Leitung ehemaliger Unteroffiziere verlegt werden. Dies wäre kostengünstiger und vorteilhafter als die spätere Rekrutierung, weil die Teilung der Arbeit zur vorzeitigen Verkrüppelung der Rekruten führe, die deren militärische Ausbildung erschwerten. (MEW 22/382f) Diese Gedanken hatte Engels schon früher geäußert. Er stellte die Frage, ob ein Abkommen der europäischen Mächte, Deutschland, Frankreich, Russland, Österreich, Italien möglich sei, wobei er meinte, daß wenn Deutschland die Vorreiterrolle übernehmen würde, dies dem Frieden und dem internationalen Ansehen Deutschlands dienlich sein würde.
„Die siebenundzwanzig Jahre Bismarckwirtschaft haben Deutschland – nicht mit Unrecht – im ganzen Ausland verhaßt gemacht. Weder die Annexion der nordschleswigschen Dänen noch die Nichteinhaltung und schließliche Eskamotage des auf sie bezüglichen Prager Friedensartikels, noch die Annexion Elsaß-Lothringens, noch die kleinlichen Maßregeln gegen die preußischen Polen hatten mit der Herstellung der ‚nationalen Einheit‘ das geringste zu tun. Bismarck hat es verstanden, Deutschland in den Ruf der Ländergier zu bringen; der deutsche chauvinistische Bürger, der die Deutschösterreicher hinauswarf und dennoch Deutschland noch immer ‚von der Etsch bis an die Memel‘ über alles brüderlich zusammenhalten will, der dagegen Holland, Flandern, die Schweiz und die angeblich ‚deutschen‘ Ostseeprovinzen Rußlands mit dem Deutschen Reich vereinigen möchte – dieser deutsche Chauvin hat Bismarck redlich geholfen, und mit so herrlichem Erfolg, daß heute den ‚biedern Deutschen‘ kein Mensch in Europa mehr traut.“ (MEW 22/397) Mit der Abrüstung würde Deutschland als „Friedensstifter“ vorangehen. Dies wäre eine „moralische Eroberung“. (MEW 22/398) Ob Engels Deutschland für fähig hielt, die Rolle des „Friedensstifter“ zu übernehmen, erscheint zweifelhaft, wenn er zum Schluß die Frage stellt: „Wird man den Mut haben, den rettenden Schritt zu tun?“ (MEW 22/399)
Die Annexionsgelüste des sich herausbildenden deutschen Imperialismus, wie sie von dem am 8. April 1891 gegründeten „Alldeutschen Verband“ programmatisch verkündet wurden, konnten von ihm nicht unbemerkt geblieben sein. Engels Prognose sollte 1914-1918 Wirklichkeit werden. Nicht nur bezüglich des Ersten Weltkrieges, sondern auch der folgenden Revolutionen, in denen aus einem Teil der Heere Volksheere wurden. Der SDAPR (B) gelang als erster Partei, einen großen imperialistischen Staat aus dem imperialistischen Weltsystem herauszubrechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten die Volksrepublik China sowie eine Reihe von Volksdemokratien in Europa, Asien, auf Kuba, darunter die DDR als erstem sozialistischen Staat in Deutschland.
Gelang es der imperialistischen Konterrevolution 1989/90 noch einmal in den europäischen sozialistischen Staaten die alten Machtund Eigentumsverhältnisse zu restaurieren, so wird das 21. Jahrhundert abzuwarten bleiben, wie lange diese Restauration noch Bestand haben wird, wobei auch hier es eine „absolute Unmöglichkeit“ ist, „vorherzu sehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird“, soweit es noch einen „Sieger“ geben wird oder ob die gesamte Zivilisation zum Teufel geht. Wenn Engels und später Rosa Luxemburg darauf verwiesen, daß es zur kommunistischen Produktions- und Verteilungsweise auch eine Alternative gibt, den Rückfall in die Barbarei, so geht es heute schon darum, wie wir aus dieser Barbarei wieder herauskommen, in der wir uns bereits befinden. Allerdings, es kann noch schlimmer, bis zur Selbstvernichtung der Menschheit kommen.
Mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und entsprechender Bewaffnung der Armeen änderte sich auch die revolutionäre Taktik der Arbeiterparteien. Der Barrikadenkampf gehörte der Vergangenheit an. In seiner „Einleitung zu Marx’ ‚Klassenkämpfe in Frankreich’“ schrieb Engels: „Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen. (Es ist dies der Hauptpunkt, der im Auge zu halten ist, auch wenn man die Chancen etwaiger künftiger Straßenkämpfe untersucht.)“ (MEW 22/521) (Die in Klammern gehaltene Textstelle war mit Rücksicht auf die „umsturzvorlagen-furchtsamtlichen Bedenken“ des Berliner Parteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei gestrichen worden.)
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich viel zugunsten des Militärs verändert. „Sind die Großstädte bedeutend größer geworden, so noch mehr die Armeen. Paris und Berlin sind seit 1848 nicht ums Vierfache gewachsen, ihre Garnisonen aber um mehr als das. Diese Garnisonen können vermittelst der Eisenbahnen in 24 Stunden sich mehr als verdoppeln, in 48 Stunden zu Riesenarmeen anschwellen. Die Bewaffnung dieser enorm verstärkten Truppenzahl ist unvergleichlich wirksamer geworden. 1848 der glatte Perkussions-Vorderlader, heute der kleinkalibrige Magazin- Hinterlader, der viermal so weit, zehnmal so genau und zehnmal so rasch schießt wie jener. Damals die relativ schwach wirkenden Vollkugeln und Kartätschen der Artillerie, heute die Perkussionsgranaten, deren eine hinreicht, die beste Barrikade zu zertrümmern. Damals die Spitzhacke des Pioniers zum Durchbrechen von Brandmauern, heute die Dynamitpatrone.“ (MEW 22/521)
Obwohl „alle Bedingungen“ für einen Aufstand schlechter geworden waren, meinte Engels, daß der Straßenkampf auch in der Zukunft noch eine Rolle spielen werde. „Es heißt nur, daß die Bedingungen seit 1848 weit ungünstiger für die Zivilkämpfer, weit günstiger für das Militär geworden sind. Ein künftiger Straßenkampf kann also nur siegen, wenn diese Ungunst der Lage durch andere Momente aufgewogen wird. Er wird daher seltener im Anfang einer großen Revolution vorkommen als im weiteren Verlauf einer solchen und wird mit größeren Kräften unternommen werden müssen. Diese aber werden dann wohl, wie in der ganzen großen französischen Revolution, am 4. September und 31. Oktober 1870 in Paris, den offenen Angriff der passiven Barrikadentaktik vorziehen.“ (MEW 22/522) Diese Stelle wurde ebenfalls vom Parteivorstand gestrichen.
Engels verwies auf andere Methoden, die unter den veränderten Bedingungen im Klassenkampf Anwendung finden würden. Dazu gehörte die Ausnutzung des Wahlrechts, die Eroberung „aller uns zugänglichen Posten“. „Langsame Arbeit der Propaganda und parlamentarische Tätigkeit“ seien die nächsten Aufgaben der Partei. Dies bedeute keinen Verzicht auf das „Recht auf Revolution. Das Recht auf Revolution ist ja überhaupt das einzige wirkliche ‚historische Recht’, das einzige, worauf alle modernen Staaten ohne Ausnahme beruhen…“ Engels engte die revolutionäre Tätigkeit nicht auf eine ihrer Formen ein. Welche Form zweckmäßig sei, hänge von den konkrethistorischen Bedingungen ab, die sich auch nicht voraussehen lassen. In seinen „Altersbriefen“, die Briefe Engels’ von 1891 – 1895, ging er mehrfach auf diese Problematik ein, von Formen einer revolutionären Parlamentstaktik, deren derzeitiger Meister August Bebel war, bis zum bewaffneten Aufstand.
Da vom Parteivorstand Äußerungen von Engels über den bewaffneten Aufstand ausgelassen wurden, erhielt diese Schrift den Anschein, als ob Engels zum Reformisten geworden wäre. Engels hat gegen diese Entstellung von Seiten des Parteivorstandes energisch protestiert. In seinem Brief an Karl Kautsky vom 1. April 1895, vier Monate vor seinem Tode, schrieb er unmißverständlich: „Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im ‚Vorwärts’ einen Auszug aus meiner ‚Einleitung’ ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand meme dastehe. Um so lieber ist es mir, daß das Ganze jetzt in der ‚N[euen] Z[eit]’ erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird. Ich werde L[ieb]k[necht] sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen, und das, ohne mir ein Wort mitzuteilen.“ (MEW 39/452)
Desgleichen schrieb er am 3. April 1895 an Paul Lafargue: „Liebknecht hat mir gerade einen schönen Streich gespielt. Er hat meiner Einleitung zu den Artikeln von Marx über das Frankreich von 1848 bis 1850 alles das entnommen, was ihm dazu dienen konnte, die um jeden Preis friedliche und Gewaltanwendung verwerfende Taktik zu stützen, die es ihm seit einiger Zeit, besonders in diesem Augenblick zu predigen beliebt, wo man in Berlin Ausnahmegesetze vorbereitet. Diese Taktik aber predige ich nur für das heutige Deutschland, und dann noch mit erheblichen Vorbehalten. Für Frankreich, Belgien, Italien, Österreich eignet sich diese Taktik in ihrer Gesamtheit nicht, und für Deutschland kann sie schon morgen unanwendbar werden. Ich bitte Sie also, den vollständigen Artikel abzuwarten, ehe Sie urteilen – wahrscheinlich wird er in der ‚N[euen] Z[eit]’ erscheinen, und ich erwarte von einem Tag zum andern Exemplare der Broschüre. Es ist bedauerlich, daß L[ie]bk[necht] nur schwarz oder weiß sieht. Die Nuancen existieren für ihn nicht.“ (MEW 39/458)
Diese beiden Briefe widerlegen eindeutig die heute noch von Reformisten diverser Couleur verkündete Mär, Engels habe am Ende seines Lebens sich von der Revolution abgewandt, sei zum Reformisten geworden. Die Verfälschung der „Einleitung“ von Engels gehört zu den Bestrebungen, den Marxismus von seinem „gemeingefährlichen“ Inhalt zu entsorgen, Marx und Engels in wohlmeinende liberale Ökonomen neben anderen zu verwandeln, nach denen man dann noch mal eine Straße benennen darf, aber bitte, nicht ohne erläuternden Kommentar! Schließlich sind wir ja heute „weit über Marx und Engels hinaus“!
Welche Formen die zukünftigen Revolutionen des 21. Jahrhunderts annehmen werden, wird von Ort, Zeit und den Kombattanten abhängig sein; darüber läßt sich heute nichts sagen. In den militärgeschichtlichen Schriften Engels’ nachzulesen, kann manchen nützlichen Hinweis geben, ohne diese Schriften etwa als „Gebrauchsanweisung“, „Beachten Sie die Nebenwirkungen des Medikaments!“ ad absurdum zu führen.
Während Engels seine „Altersbriefe“ schrieb, erschienen 1893 die ersten theoretischen Arbeiten Lenins. Die „Altersbriefe“ kann man als die Nahtstelle vom Marxismus zum Leninismus bezeichnen, in der die Kontinuität vom Marxismus zum Leninismus ihren theoretischen Ausdruck findet. Dies trifft auch auf die militärwissenschaftlichen Schriften Engels zu, besonders auf seine Schriften der 80er und 90er Jahre. Seine ersten Arbeiten über Militärpolitik der revolutionären Arbeiterpartei schrieb Lenin von August 1914 bis Dezember 1915 vor dem blutigen Hintergrund der „Winterschlacht in Masurien“ und in den Karpaten (Ende 1914/Anfang 1915), den Kämpfen an den Fronten in Frankreich und Belgien, dem Beginn der Schlacht um Verdun (Anfang Februar 1916).
Dokumentation und Auswertung dieser Schriften erfordern noch besondere Arbeiten. Hier seien nur zwei bekannte Arbeiten Lenins genannt: 1. Sozialismus und Krieg (geschrieben Juli-August 1915) (LW 21/295-341); 2. Das Militärprogramm der proletarischen Revolution (geschrieben September 1916) (LW 23/72-83).
In beiden Arbeiten wird die Kontinuität in der marxistischen Militärwissenschaft von Engels zu Lenin unter den neuen Bedingungen des Imperialismus sichtbar. Im Folgenden wird nur auf die Weiterführung der Militärtheorie Engels’ durch Lenin, auf die Kontinuität verwiesen, auf die neuen Akzente, die Lenin unter den Bedingungen des von Engels vorausgesehenen Weltkrieges setzte. Sie zeigt sich im Nachweis des Zusammenhangs der Kriege mit dem Klassenkampf im Innern eines Landes, in der Erkenntnis, daß es unmöglich ist, den Krieg abzuschaffen, ohne die Klassen aufzuheben und den Sozialismus aufzubauen. Die sozialistische Militärdoktrin unterscheidet sich von den Pazifisten durch die Anerkennung der Berechtigung, Fortschrittlichkeit und Notwendigkeit von Bürgerkriegen. Jeder Krieg müsse hinsichtlich seiner Besonderheiten historisch, d.h. vom Standpunkt des Marxschen dialektischen Materialismus untersucht werden. (LW 21/299)
Übereinstimmend mit Engels’ These, entweder Sozialismus oder Untergang der Zivilisation, meinte Lenin bezüglich der Perspektive der Menschheit: entweder der Übergang zum Sozialismus, oder „jahre-, ja sogar jahrzehntelanger bewaffneter Kampf der ‚Großmächte um die künstliche Aufrechterhaltung des Kapitalismus mittels der Kolonien, Monopole, Privilegien und jeder Art von nationaler Unterdrückung …“ (LW 21/302). In Übereinstimmung mit Engels und dessen Gedanken weiterführend, haben nach Lenin „die Sozialisten den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen.“ (LW 21/304) Die Schwierigkeiten, in denen sich die Regierungen der kriegführenden Länder befänden (1915) hätten die Sozialisten für den Kampf um den Sozialismus auszunutzen (LW 21/306).
Russische und deutsche sozialdemokratische Führer bzw. Theoretiker, Lenin nannte Plechanow, Lensch und David, hatten unter Berufung auf Äußerungen von Marx und Engels aus der Zeit fortschrittlicher nationaler Befreiungskriege des 19. Jahrhunderts den von allen Seiten (außer Serbien) geführten imperialistischen Eroberungskrieg als „Vaterlandsverteidigung“ gerechtfertigt, die Proletarier aufgefordert, keine Aktionen gegen den Krieg zu unternehmen. Lenin bezeichnete solche sozialdemokratischen Führer als „Sozialchauvinisten“. Lenin wandte sich entschieden gegen „Falsche Berufungen auf Marx und Engels“: „Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx’ Worte ‚Die Arbeiter haben kein Vaterland‘ vergißt – diese Worte, die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution -, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.“ (LW 21/310)
Neu ist bei Lenin die explizite Forderung nach Ausnutzung der Niederlage der eigenen Regierung in einem „reaktionären Krieg“, die Orientierung auf die „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“. (LW 21/316)
Lenin polemisierte gegen das „grundlegende Argument“ der Pazifisten, die „Forderung der Entwaffnung“ als „konsequentesten Ausdruck“ des Kampfes gegen „jeden Militarismus und gegen jeden Krieg.“ (LW 23/72) Sozialisten, so Lenin, waren und können niemals „Gegner revolutionärer Kriege“ sein. Er unterschied 1. nationale Befreiungskriege unterdrückter Völker; 2. Bürgerkriege, die „unter gewissen Umständen … Weiterführung, Entwicklung und Verschärfung des Klassenkampfes“ darstellen; 3. Vorausschauend, daß unter den Bedingungen der ungleichmäßgen Entwicklung des Kapitalismus der Sozialismus nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen kann, daß es eine „gewisse Zeit“ neben sozialistischen noch bürgerliche oder vorbürgerliche geben wird. Dies wird auch „direktes Streben der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen Staates zu zerschmettern.“ (LW 22/1A) Lenin berief sich hierbei direkt auf den Brief von Engels an Kautsky vom 12. September 1882, in dem Engels schrieb, dass beim Übergang ehemals kolonial unterdrückter Länder (Engels nannte Ägypten und Algerien) zur „sozialistischen Organisation“ „Verteidigungskriege verschiedener Art keineswegs ausgeschlossen sind.“ (MEW 35/358) Diese gleichlautende Voraussicht von Engels und Lenin hat sich bis in die Gegenwart als richtig erwiesen und wird im 21. Jahrhundert erneut ihre Verifizierung finden.
In voller Übereinstimmung mit Engels betonte Lenin, daß sich die Arbeiterklasse militärische Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen muß. „Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, mißhandelt und als Sklave behandelt zu werden. Wir dürfen, ohne uns zu bürgerlichen Pazifisten und Opportunisten zu degradieren, nicht vergessen, daß wir in einer Klassengesellschaft leben und das außer dem Klassenkampfe keine Rettung daraus möglich und denkbar ist.“ (LW 23/75)
In jeder Klassengesellschaft war die unterdrückende Klasse bewaffnet. Es sei eine „elementare Wahrheit“, daß die Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat gerichtet ist, wie die Militäraufgebote während der Streiks in allen kapitalistischen Ländern bewiesen. „Die Bewaffnung der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist eine der größten, kardinalsten, wichtigsten Tatsachen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Und angesichts dieser Tatsache will man den revolutionären Sozialdemokraten zumuten, sie sollen die ‚Forderung’ der ‚Entwaffnung’ aufstellen! Das wäre eine vollständige Preisgabe des Klassenkampfstandpunktes und jedes Gedankens an die Revolution. Wir sagen: Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen – das ist die einzig mögliche Taktik der revolutionären Klasse, eine Taktik, die durch die ganze objektive Entwicklung des kapitalistischen Militarismus vorbereitet, fundiert und gelehrt wird. Nur nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen, was es auch ganz sicher dann – aber nicht früher – tun wird.“ (LW 23/76)
Wenn Engels den Ersten Weltkrieg 1887 antizipierte, so wollte Lenin im September 1916 „nicht die unangenehme Möglichkeit ignorieren, daß die Menschheit im schlimmsten Falle noch einen zweiten imperialistischen Krieg durchmachen wird“, nämlich dann, wenn die Revolution „aus diesem Kriege noch nicht geboren wird“. (LW 23/80) In seiner Rede zum Jahrestag der Gründung der III. Internationale 1920 wiederholte Lenin seine Befürchtungen. Auf dem Boden des Privateigentums seien Kriege unvermeidlich. Bezüglich des nächsten, des zweiten Weltkrieges meinte er: „Niemand weiß, wo und wie er ausbrechen wird, aber alle sehen und wissen und sprechen davon, dass es zum Kriege kommen muß und daß man aufs neue zum Kriege rüstet.“ (LW 30/416f)
Und heute? In seinem 1997 erschienenen Buch „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“ beschrieb Samuel P. Huntington das Szenarium eines Krieges zwischen den USA und der VR China, der im Jahre 2010 beginnen und zu einem Weltkrieg eskalieren könne. (S. 313f). Nach dem Stockholmer Institut für Friedensforschung betrugen die weltweiten Militärausgaben im Jahre 2004 mehr als eine Billion Dollar. Die Hälfte dieser Ausgaben vielen allein auf die USA. Umgerechnet beliefen sich die Rüstungsausgaben sämtlicher Staaten auf 162 Dollar pro Kopf der Weltbevölkerung. Im Jahre 2004 wurden 19 größere Kriege mit jeweils mehr als tausend Toten im Jahr geführt (Der Tagesspiegel, 8. Juni 2005).
Nach dem BRD-Verteidigungsminister Peter Struck müssen sich die Deutschen darauf einstellen, „dass die Bundeswehr an Kriegseinsetzen teilnimmt und dabei auch Soldaten sterben.“ (Der Tagesspiegel, 5. Juni 2005)
Die innerimperialistischen Widersprüche spitzen sich immer mehr zu und auch die Bereitschaft, sie mit militärischen Mitteln auszutragen. Kriege werden im 21. Jahrhundert unvermeidlich sein.
Ulrich Huar, Berlin
Literaturverzeichnis
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