Abschied von Rolf Vellay

Kurt Gossweiler:
Abschied von Rolf Vellay

Kurz vor den Weihnachtsfeiertagen, am 22. Dezember des vergangenen Jahres, hat die Krankheit einen Genossen aus unseren Reihen gerissen, – Rolf Vellay – , auf den in vollem Maße die Worte Bert Brechts zutreffen: „Die Stärksten kämpfen ihr Leben lang. Diese sind unentbehrlich.”.

Sein Tod ist ein großer Verlust für die kommunistische Bewegung in Deutschland, ein unersetzlicher Verlust für deren noch viel zu schwachen konsequent antirevisionistischen Trupp, und für mich persönlich der schmerzliche Verlust eines Genossen und Freundes, dem ich eines der ermutigendsten Erlebnisse in der bedrückenden Zeit nach dem Sieg der Konterrevolution über die DDR verdanke.

Das war die Zeit, als etliche von meinen Historiker-Kollegen und Genossen, die bisher gar nicht genug ihre Treue zur kommunistischen Sache und zur Deutschen Demokratischen Republik beteuern konnten, überraschend schnell entdeckten, dass jene „demokratischen Sozialisten” Recht hatten, die erklärten, der DDR brauche man keine Träne nachweinen, und die selbst das infame Wort Gysis nicht störte, erst jetzt, nach dem Untergang der DDR, sei Sozialismus zu machen überhaupt erst möglich geworden. Solche bemühten sich – gewöhnlich durchaus erfolgreich – um das „Ankommen in der BRD” und einige von ihnen statteten und statten ihren Dank für die neu gewonnene Freiheit in zahlreichen Artikeln, – manche sogar in Büchern – ab, in denen sie auf ihre Weise den Kinkel-Auftrag zur Delegitimierung der DDR erfüllen; in der Gysi- und Zimmer-Terminologie heißt das:„Abrechnung und völliger Bruch mit der SED-Vergangenheit”.

Ein anderer, größerer Teil ist – soweit ich das übersehe – diesem Aufruf zum „völligen Bruch” nicht gefolgt; die zu diesem Teil gehörige Genossen und Kollegen machen deutlich oder lassen wenigstens erkennen, dass sie sich nach wie vor als marxistische Historiker und Sozialisten im Sinne des Manifests von Marx und Engels verstehen; aber ich werde nie vergessen, dass bereits im November 1989 in der Parteiversammlung der Historiker der Akademie der Wissenschaften der DDR die Erklärung, der Marxismus-Leninismus sei die weltanschauliche Grundlage unserer Wissenschaft, erstmals zurückgewiesen und reduziert wurde auf den Marxismus. Der Leninismus als Bestandteil unserer Lehre wurde ersatzlos gestrichen. Meinem Widerspruch dagegen schloss sich niemand an.

Als Marxist-Leninist war ich – und so dürfte es überall gewesen sein – nun auch formal ein einsamer Einzelgänger. Aber faktisch war ich das schon lange: wer in einer Parteiorganisation von Chruschtschow- und Gorbatschow-Anhängern Marxist-Leninist blieb, der war – auch wenn er in allem Anderen fest im Partei- und Arbeitskollektiv verankert war – einsam in seiner Gegnerschaft zu diesen beiden Generalsekretären, die Lenin nur im Munde führten, um die Parteimitglieder und das Volk über ihre wahren Ziele zu täuschen. Er blieb umso mehr einsam, als den beiden – Chruschtschow und Gorbatschow – zu glauben ja auch bedeutete, deren Stalin-Verdammung voll zu verinnerlichen, während für mich deren Stalin-Verdammung nur eine betrügerische Verpackung war, darauf berechnet, ihre antileninistische revisionistische Konterbande als „Rückkehr zum Leninismus” in die kommunistische Bewegung einzuschmuggeln, um sie auf diese Weise reif zu machen für die „Perestroika”, den Rückbau der Sowjetunion und ihrer europäischen Verbündeten in das, was sie 1990/91 als Ergebnis ihres zielstrebigen Wirkens geworden sind – „vom Kommunismus befreite”.

Spielwiesen für das internationale Kapital und die sich neu bildende mafiose „eigene” Bourgeoisie. Für meine Kollegen und Genossen aber – selbst für jene, die mir besonders nahe standen und in einigen Fällen auch noch heute stehen – ist Stalin das, als was ihn Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag dargestellt hat, also ein Massenmörder aus niedrigsten Motiven; und einer wie ich, der nicht Stalin, sondern Chruschtschow und Gorbatschow und ihre politische Linie für die Zerstörung der europäischen sozialistischen Staatenwelt verantwortlich macht, ist ein „Stalinist”, also einer, der – unbegreiflicherweise – einen Massenmörder verteidigt.

Also einer, der sich nach der Rückwärtswende mit seinen Ansichten sehr einsam und verloren fühlte in der neuen, ungewohnten Kälte, und verzweifelt Ausschau hielt nach Gleichgesinnten, denn es konnte doch nicht sein, dass es nicht auch andere gab, die sich die Augen nicht verkleben und das Gehirn nicht verkleistern ließen durch das Geschwätz von der “Humanisierung des Sozialismus” vom „Neuen Denken” und dem „Primat des Allgemeinmenschlichen”. Es konnte nicht so sein und es war nicht so. Und es bestätigte sich wieder einmal eine alte Erfahrung: es gibt keinen Verlust, und sei er auch noch so groß und schmerzlich, der nicht auch einen Gewinn im Gefolge hat – und sei er im Vergleich zum Verlust zunächst auch nur klein und keineswegs ausgleichend.

Und es bestätigte sich auch etwas anderes: Gleichgesinnte finden mit Sicherheit zueinander, selbst in einem Ozean Andersgesinnter und sogar, wenn sie in unterschiedlichen Welten leben, wenn sie nur diese ihre Gesinnung nicht für sich behalten, sondern Signale dieser Gesinnung aussenden und nach gleichartigen Signalen anderer Ausschau halten.

Was ich allerdings am wenigstens erwartet hatte, war das, was eintrat: dass nämlich das erste so sehnsüchtig erwartete Signal gleicher oder ähnlicher Gesinnung, das ich auffing, von einer Pfarrerin kam, und dass ich durch ihre Vermittlung einen Kreis von Theologen kennen lernte, die sich in den Werken von Marx, Engels und Lenin nicht schlechter auskannten als meine Historiker-Kollegen und Genossen, im Unterschied zu vielen von denen aber im Sieg der Konterrevolution und was die Herrschenden aus diesem Siege machten, keine Widerlegung, sondern eine Bestätigung der Lehren des Marxismus-Leninismus erkannten. Hier fand ich vor, was ich vorher für ausgeschlossen hielt: dass nämlich Theologen nicht nur fähig waren, intellektuell die Gesellschaftslehre von Marx/Engels/Lenin aufzunehmen und zu akzeptieren, sondern dass diese Lehre in engster Verbindung mit ihrem christlichen Glauben für sie ein fester Bestandteil ihrer Weltanschauung und Anleitung zum persönliches gesellschaftlichen Handeln werden kann.

Die Entdeckung dieses Kreises und diese neue Erkenntnis waren ein unerwarteter Gewinn im Gefolge der Niederlage. Und womit ich auch nie gerechnet hatte: Ausgerechnet dieser Kreis eröffnete mir die Möglichkeit, meinerseits „Signale” auszusenden, will sagen, meine Gedanken und Auffassungen über die Ursachen unserer Niederlage zu publizieren, nachdem mir dafür keine anderen Möglichkeiten mehr zur Verfügung standen, (schon gar nicht in den Organen der PDS, deren Mitglied zu bleiben ich bis Januar 2001 aushielt).

Diese meine Signale blieben nicht unbeachtet. Sie gelangten auch bis München und zu den dort wirkenden Genossen des „Arbeiterbundes für den Wiederaufbau der KPD”, deren eine Fraktion eine Zeitung, die „KAZ” (Kommunistische Arbeiterzeitung) herausgab, und führten dadurch schließlich „gesetzmäßig” dazu, dass auch Rolf Vellay in mein Blickfeld geriet, und zwar mit einem Artikel von ihm mit dem Titel: „Zurück zu Stalin!” in der Beilage zur „KAZ”, Nr. 219 vom 18.Juni 1991.

Über das, was ich da aus Rolfs Feder las, konnte ich nur hocherfreut staunen: besser hätte auch ich nicht meine Position zur „Stalinfrage” in Worte fassen können: „Lächerlich und absurd ist es, heute, nahezu vierzig Jahre nach seinem Tod, Stalin, dem erfolgreichen Architekten …des Sozialismus in der Sowjetunion und dem Sieger über den Faschismus, die Verantwortung für den heutigen kläglichen und jämmerlichen Zusammenbruch aufbürden zu wollen.

Natürlich weiß ich, welchen Widerspruch ich mit dem Rekurs auf Stalin provoziere. Doch – den klugen Theoretikern, die mir vom Wissen her zehn- oder zwanzigmal überlegen sind, gebe ich zu bedenken: Ihr seid alle gescheitert, von Titos ‚Jugoslawischem Weg zum Sozialismus’ über die ‚Eurokommunisten’ bis zu den Konstrukteuren der ‚antimonopolistischen Demokratie’, von den Quacksalbereien über den ‚Dritten Weg’ und ‚Demokratischen Sozialismus’ gar nicht zu reden. Stalin ist nicht gescheitert!

Den Moralisten gebe ich ein kluges Wort von Winston Churchill zu bedenken, zitiert in der FAZ vom 6. September 1990: `Wenn die Gegenwart über die Vergangenheit zu Gericht zu sitzen versucht, wird sie die Zukunft verlieren.’ Damit wird genau das getroffen, was den Kommunisten seit der Verdammung Stalins aus `moralischen Gründen´ auf dem XX. Parteitag der KPdSU widerfahren ist.

Und den Hochmütigen und Arroganten gebe ich zu bedenken: Vor anderthalb Jahren noch habt ihr Herrn Gorbatschow bei seinem Besuch in der Bundesrepublik als ‚Schöpfer des Neuen Denkens’ begrüßt und quasi wie einen neuen ‚Messias des Sozialismus’ gefeiert. Ich habe bereits vor drei Jahren auf der ‚Perestroika’-Konferenz des IMSF in Frankfurt erklärt: <<Gorbatschow als Generalsekretär – das ist die Konterrevolution an der Spitze der KPdSU! Gorbatschow an der Spitze der UdSSR – das ist das Ende des Sozialismus in der Sowjetunion! ‚Neues Denken’ das ist die Paralyse des revolutionären Gehalts der kommunistischen Weltbewegung.>> …All das gebe ich den hochgelehrten Theoretikern, den unanfechtbaren Moralisten und den hochmütigen und arroganten Kritikern zu bedenken, wenn ich hier erkläre: Vorwärts in der revolutionären Weltbewegung bedeutet heute: Zurück zu Stalin – unter Vermeidung dogmatischer, jedoch sinngemäßer Anwendung seines fast seit vierzig Jahren totgeschwiegenen theoretischen Werkes auf die inzwischen veränderten Bedingungen.”

Später – ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr, aber ich empfand es als ein Glücksjahr für mich – lernten wir uns zur beiderseitigen Freude auf einer Konferenz des Marxistischen Arbeitskreises zur deutschen Arbeiterbewegung in Berlin-Kreuzberg auch persönlich kennen. Nach der Konferenz saßen wir noch Stunden in einer nahegelegenen Kneipe. Ich sagte ihm, wie glücklich ich darüber war, einen Genossen getroffen zu haben, der, weit entfernt unter den ganz anderen Bedingungen Westdeutschlands lebend, bei der Beurteilung der Entwicklungen im sozialistischen Lager und insbesondere in der Sowjetunion zu einer verblüffenden und beglückenden Übereinstimmung mit meinen eigenen Einschätzungen gekommen ist; und natürlich wollte ich wissen, wie sein Weg in der kommunistischen Bewegung verlaufen ist, der ihn zu solchen „abwegigen” und zum „Einzelgänger” stempelnden Ansichten gebracht hat.

Er erzählte also aus seinem Leben, und was ich da zu hören bekam, hat meinen Eindruck, es bei ihm mit einem ganz außergewöhnlichen Menschen zu tun zu haben, zur Gewissheit werden lassen. Seine Erzählung hat auch Antwort auf eine Frage gegeben, die sich mir beim Betrachten seiner Hände aufgedrängt hatte: Das waren nicht die Hände eines, dessen Werkzeug die Feder oder die Schreibmaschine ist – wie ich bisher wegen der auf einen Journalisten wenn nicht gar auf einen Schriftsteller schließen lassenden Sprache seiner Artikel angenommen hatte, – sondern von schwerer Maloche gezeichnete Arbeiterhände. Die aber waren ihm nicht angeboren, wie ich jetzt erfuhr, nein, die hatte er sich hart erarbeitet, nachdem er sich zum Bruch mit seiner Klasse, in die ihn seine Eltern hineingeboren hatten, entschlossen hatte. Denn er war – und das kam nun für mich völlig unerwartet – der Spross einer Offiziers- und Grundbesitzerfamilie aus dem Schlesischen. Natürlich fragte ich ihn, wie denn so einer zum Kommunisten wird.

Als Jugendlicher folgte er noch ganz der Tradition der Familie, indem er 1944 mit 17 Jahren als Freiwilliger in Hitlers Armee eintrat. Nach dem Kriege entschloss er sich dazu, Journalist zu werden und volontierte zunächst an einem bayerischen Provinzblatt und stieg dort sogar zum Redakteur auf. Dann aber drängte es ihn dazu, sich durch ein Studium eine solidere Wissensgrundlage zu verschaffen. Er begann also 1950 ein Studium an der damaligen Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven und hatte das Glück, dort auch Schüler von Wolfgang Abendroth sein zu können, und das gab den Anstoß dafür, dass er Marx und Engels studierte und zum überzeugten Kommunisten wurde.

Die Konsequenz, die er daraus zog, zeigt, dass dieser Rolf Vellay aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt war. „Wie aber konnte ich Kommunist sein”, sagte er mir, „und den Leuten erzählen, dass die führende Rolle im Kampf um den Sozialismus der Arbeiterklasse zukommt, ohne selbst richtig zu wissen, was das ist: die Arbeiterklasse!” Um diesen Mangel zu beheben, beschloss er, selbst als Arbeiter zu arbeiten; aber wenn schon Arbeiter, dann auch gleich dort, wo das Proletariat am proletarischsten ist: als Bergarbeiter! So wurde er 1953 Bergarbeiter unter Tage im Ruhrgebiet, und blieb dem Bergbau rund 25 Jahre lang treu, bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1977.

Natürlich wurde der Kommunist Rolf Vellay auch Mitglied der KPD, blieb es selbstverständlich auch nach deren Verbot im Jahre 1956 und lernte durch mehrfache Verhaftungen auch die Gefängnisse der Bundesrepublik für insgesamt ein Jahr kennen. Der DKP trat er nach deren Gründung nicht bei, sondern blieb „parteiloser Bolschewik.” Und zwar einer, für den es in einem ganz seltenen Grade unerträglich gewesen wäre, in seinem Leben eine Kluft zwischen Wort und Tat zuzulassen.

Von unserem Gespräch in der Kreuzberger Kneipe an blieben wir in ständigem Gedankenaustausch, zumeist schriftlich, aber wenn es sich bei seinen Berlin-Besuchen möglich machen ließ, auch wieder im persönlichen Gespräch.

Rolf schien mir über ein unerschöpfliches Kräftereservoir zu verfügen. Wo immer es eine Konferenz von Kommunisten mit der Möglichkeit gab, dort seine Positionen – stets kämpferisch, oft bewusst herausfordernd -, vorzutragen, nahm er diese Möglichkeiten wahr.

Sein Lebensinhalt war der Kampf für die Wiederherstellung einer großen, einheitlichen marxistisch-leninistischen, vom Opportunismus und Revisionismus völlig befreiten Kommunistischen Partei in Deutschland.

Er litt schwer unter der Zersplitterung und Uneinigkeit der kommunistischen Bewegung, und er litt auch unter der Diffamierung der DDR und darunter, dass dieser Diffamierung nicht von allen Kommunisten entschieden entgegengetreten wurde. Gegen beides – die Uneinigkeit und die Diffamierung der DDR – führte er einen ständigen Kampf, wobei er auch auf originelle Ideen kam, die kaum einem anderen Kopf eingefallen wären und die zu verwirklichen auch kaum einem anderen parteilosen Kommunisten ohne jede organisatorische Verankerung in einer der verschiedenen Kommunistischen Parteien und Vereinigungen gelungen wäre. Denn auch das gehörte zu den ihn auszeichnenden Besonderheiten: seine Auseinandersetzungen mit kommunistischen Genossen, so scharf sie auch in der Sache waren, überschritten nie die Grenze der genossenschaftlichen Diskussion , ließen nie den Ton einer Auseinandersetzung mit dem Feind aufkommen, ließen immer den Respekt vor der Persönlichkeit des anderen erkennen.

Nur so lässt sich erklären, dass ihm gelang, aus Anlass seines 65. Geburtstages eine Diskussionsrunde aus Vertretern von Organisationen an einem Tisch zu vereinen, die sich sonst aus dem Wege gingen, wenn die eine die anderen nicht gar wütend bekämpfte. Auf seine Einladung hin fand am 19.September 1992 in Gelsenkirchen ein Streitgespräch zum Thema „War die DDR sozialistisch?” statt, zu dem einen „Vorspruch aus der Ferne”, nämlich aus Marburg, Georg Fülberth beisteuerte, und dessen Leitung kein Geringerer als Hans Heinz Holz übernommen hatte. Teilnehmer am Streitgespräch waren: Willi Gerns für die DKP, Klaus Arnecke von der MLPD, Michael Brücher für den Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, Heinz Jung , ehemals DKP, jetzt zur PDS übergewechselt, und Egon Schansker, damals für die KPD/ML-Westberlin.

Die MLPD war von Rolf eingeladen worden, weil er ihre Verurteilung des Chruschtschow-Revisionismus teilte und ihn auch eine persönliche Freundschaft mit Stefan Engel, ihrem Vorsitzenden verband; aber er teilte ganz und gar nicht die von der MLPD im Unterschied etwa zum Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD stur und unbelehrt durch die Konterrevolution in der DDR beibehaltene sektiererische Position, nach der die DDR längst ein kapitalistischer Staat gewesen und ihre Annexion durch die BRD als Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zu begrüßen sei.

Rolf erhoffte sich durch das von ihm arrangierte Streitgespräch wohl auch, dass die MLPD, für die er trotz allem noch immer eine vielleicht etwas sentimentale Sympathie empfand, von ihrer für ihn absolut unakzeptablen DDR-Feindschaft befreit werden könnte. Eine solche Hoffnung aber blieb unerfüllt. Das Gelsenkirchener Streitgespräch aber war eine denkwürdige Veranstaltung, und die Lektüre ihrer von Rolf im Eigenverlag herausgegebenen Dokumentation mit dem Titel: „War die DDR sozialistisch?” lohnt auch heute noch.

Wie sehr Rolf daran lag, gegen die von der MLPD bis zur PDS geübte Verleumdung der Deutschen Demokratischen Republik anzugehen, ist besonders aus dem von ihm gehaltenen Eröffnungs-Referat der Konferenz „Auferstanden aus Ruinen – über das revolutionäre Erbe der DDR” zu ersehen, die im 50. Jahr seit Gründung der DDR, im November 1999, in Berlin durchgeführt wurde. Sein Thema lautete: „Der sozialistische Charakter der DDR”. Das Referat kann nachgelesen werden in dem gleichnamigen Protokollband der Konferenz. Rolf beendete dieses Referat mit den Worten:

„Die DDR war nicht das ‚bessere Deutschland’, sie war das gute Deutschland.” Und dann fügte er dem noch die Worte an, die ihm Peter Hacks geschrieben hatte: „Die DDR war eine Epoche weiter, und bleibts.”

Wer die Artikel und Diskussionsbeiträge von Rolf liest, dem wird vielleicht auffallen, wie oft er dort aus bürgerlichen Gazetten, vor allem aber aus dem „Zentralorgan” des deutschen Monopolkapitals, der „FAZ”, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, zitiert. Als kluger marxistisch-leninistischer Propagandist wusste er, dass eines der wirkungsvollsten Mittel der Überzeugungsarbeit darin besteht, unsere Wahrheiten durch den Gegner aussprechen zu lassen. Rolf hat seine Freunde immer wieder mit der Zusendung von Zeitungsausschnitten aus der FAZ überrascht, die in manchmal ganz erstaunlicher Offenheit die Richtigkeit unsere Kapitalismusanalysen und die Berechtigung unserer Imperialismus-Anklagen bestätigten.

Rolf war aber alles andere als ein intellektueller Stubenhocker. Er liebte vor allem das Gespräch mit den sogenannten „einfachen Leuten”. Und wenn andere Leute sich ihre Erholung im Urlaub durch Ausruhen und Vermeidung von Anstrengungen suchten, dann tat er das genaue Gegenteil: er verwandelte sich für einige Wochen aus dem Bergmann in den Saisonarbeiter in den Weinbergen Frankreichs. Zur Zeit der Weinernte reiste er zu seinen französischen Winzer-Freunden und half ihnen beim Einbringen der Weintrauben. Das war für ihn eine echte Erholung, und als er in den letzten beiden Jahren infolge seiner durch die Krankheit geschwächten Kräfte dazu nicht mehr in der Lage war, fehlte ihm das sehr. Auch deshalb, weil er durch und durch Internationalist war.

Gegen jeden Anflug von deutschem Nationalismus war er hochempfindlich. Er korrigierte Dich z. B. sofort, wenn Du den Namen einer zu Polen gehörenden ehemals deutschen Stadt nicht bei ihrem polnischen, sondern mit ihrem deutschen Namen benanntest.

Aber es genügte ihm nicht, den Internationalismus zu propagieren, er musste ihn auch leben. So ging er 1985 mit einer Arbeitsbrigade für drei Monate nach Nikaragua, das nach dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 durch die sandinistische Revolution infolge der ständigen Angriffe der von den USA gesteuerten Contras in wachsende Schwierigkeiten geraten war und dringend solidarischer Unterstützung bedurfte.

1996 nahmen wir beide an der Internationalen Maifeier der Partei der Arbeit Belgiens und an dem anschließenden internationalen Seminar teil und waren vom Erlebnis der internationalen Gemeinschaft von Kommunisten aus aller Welt tief und freudig beeindruckt. Er hat die Verbindung zu den belgischen Genossen weiterhin aufrechterhalten.

Besonders starke solidarische Bindungen empfand er für die chilenischen Genossen. Er organisierte für Freunde in Chile Solidaritätslieferungen und unternahm in jedem seiner beiden letzten Lebensjahren eine Reise nach Chile, wobei er nicht versäumte, auch Margot Honecker zu besuchen und ihr Grüße aus der Heimat zu übermitteln.

Rolf Vellay hat uns in seinen zahlreichen Schriften und Reden einen wertvollen Schatz marxistisch—leninistischer Analysen und Wegweisungen hinterlassen. Die Arbeit, die mich am stärksten beeindruckte, hat er 1989 im Selbstverlag herausgebracht und gab ihr den Titel:

„Das andere Gorbatschow-Buch, der aktuelle Reader: ‚Mehr Sozialismus’ mit Gorbatschow? Vier Jahre ‚Perestroika’ ‚Glasnost’ und ‚neues Denken’ – was hat’s gebracht? Eine marxistisch-leninistische Analyse (nicht nur) für Kommunisten.”

Ich kenne keinen, der zu diesem Zeitpunkt – Mitte 1989 – schon eine so gründliche und entlarvende Darstellung des Wesens Gorbatschows und seiner Politik gegeben hätte.

Im Vorwort zu dieser Arbeit schrieb Rolf Vellay:

„Mehr als 35 Jahre habe ich der Politik und den Aussagen ‚des Kreml’ – bei durchaus kritischer Haltung im Detail – von meiner marxistisch-leninistischen Grundposition aus, vertraut. Von Stalin über Chruschtschow bis zu Andropow und Tschernenko. Angesichts des Umstandes, dass heute alles, was bisher war, kurz und klein geschlagen und die gesamte Vergangenheit der Sowjetunion auf den Kopf gestellt wird, bin ich endlich gezwungen, nur noch von meinem eigenen kleinen Kopf Gebrauch zu machen. Wenn ich der neuen Sicht der Geschichte folge, – wenn! -, dann ist mein Vertrauen in der Vergangenheit schandbar missbraucht worden. Das soll mir auf meine alten Tage im Hinblick auf gegenwärtige Politik nicht wieder passieren. Das bin ich auch all den Menschen schuldig, die mir auf meinem politischen Lebensweg vertraut haben und denen gegenüber ich heute, wenn ich den ‚neuen’ Sicht der Geschichte folge – wenn! – als Lügner dastehe. Ab sofort zählen nicht mehr Ankündigungen und Versprechen, sondern nur noch ‚facts and figures’, aus denen ich nach meiner Überlegung und Lebenserfahrung sich ergebende Schlussfolgerungen ziehe und Beurteilungen ableite – auf die Gefahr hin, dass ich allein mit meiner Meinung bleibe. Aber das ist nicht schlimm – wenn ich Unrecht habe, werde ich als Tropfen im Ozean kein Unheil anrichten. Habe ich aber Recht und mache nicht den Mund auf, ist es unverzeihlich und verantwortungslos gegenüber der Sache, der ich glaube zu dienen.”

Mit diesen Worten hat sich Rolf selbst besser charakterisiert, als es irgend ein anderer könnte.

Wenn es gelänge, seine Arbeiten den jungen Leute in die Hand zu drücken, die heute nach Antwort auf die Frage suchen: In was für einer Welt leben wir denn? Und was muss man tun, um zu einer menschenwürdigen Welt zu kommen?, dann könnte das ein kleiner Beitrag dazu werden, dass die für dieses Land und seine Menschen so notwendige Erfüllung von Rolfs dringendstem Wunsch nach der Wiedergeburt einer starken, einheitlichen, fest auf den revolutionären Positionen von Marx, Engels und Lenin stehenden kommunistischen Bewegung in Deutschland durch die Gewinnung neuer, jugendlicher Kämpfer ein wenig beschleunigt wird.

Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass die Herausgeber von „Offensiv” und der Schriftenreihe der 1990 in Berlin gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands den Entschluss fassten, Rolf Vellay zu ehren, indem sie es möglich machten, seinen Gedanken in je einem Sonderheft zur weiteren Verbreitung zu verhelfen.

Kurt Gossweiler, Berlin