Horst Schneider:
Anmerkungen zur „Erinnerungsschlacht“ in Deutschland 2007
Mit der Entstehung und Entwicklung der beiden deutschen Staaten bildeten sich für die Bürger zwei unterschiedliche, zum Teil sich ausschließende Geschichtsbilder heraus.
Wenige Beispiele machen das jedem sichtbar: die unterschiedliche Bewertung des Tages der Befreiung 1945, das Urteil über den 17. Juni 1953, der in der BRD bis 1990 sogar als staatlicher Feiertag begangen wurde, der Bau der „Mauer“ 1961, die in der DDR offiziell und mit einigem Recht „ antifaschistischer Schutzwall“ genannt wurde.
Hier werden nicht die Ursachen, die Funktion und die Wirkung unterschiedlicher Geschichtsbilder untersucht, sondern hier wird von deren Existenz ausgegangen. (1)
In der DDR wurde der Antifaschismus („verordnete“?) Staatsdoktrin, in der BRD wirkte der Antikommunismus, z.T. als Antitotalitarismus vernebelt, als ideologische Doktrin fort. (2)
Mit dem Anschluss der DDR an die BRD waren radikale Folgen auch für die Geschichtsschreibung der DDR verbunden. Historiker wurden massenhaft abgewickelt, renommierte Institute geschlossen, bundesdeutsche Historiker okkupierten die Kommandohöhen der Geschichtsschreibung. Ein bestimmter Typ von Historikern feierte das noch als Sieg, ohne zu fragen, was dieser Sieg kostet. (3)
Die Totalitarismus – Doktrin und der antitotalitäre Konsens wurden schon im Oktober 1990 durch Innenminister Schäuble staatlich dekretiert, der Antifaschismus geächtet.(4)
Die „Erinnerungsschlacht“, vor allem um das DDR-Bild, begann, sie hat sich seitdem ständig verschärft und auch das Fernsehen immer stärker einbezogen.
Aktivitäten im Jahre 2007
Im vergangenen Jahr 2007 vollzogen sich beachtenswerte und alarmierende Entwicklungen auch auf dem Gebiet der Erinnerungspolitik, die im Zusamenhang zur Gesamtpolitik stehen. Richard Schroeder fragte Anfang 2007 „Brauchen wir ein nationales Freiheits- und Einheitsdenkmal?“(6) Aus ungezählten Mündern erscholl die Antwort: Wir brauchen nicht nur eins, sondern viele, und möglichst in jedem Ort.
Erika Steinbach werkelte fleißig weiter an ihrer Idee zu einem „Vertreibungs“-Denkmal, ungeachtet des Porzellans, das sie auf dem Parkett der internationalen Beziehungen zerschlägt.
Zwar fragte der Nestor der juristischen Abrechnung mit der DDR, Karl Wilhelm Fricke, in einer Rezension scheinbar sorgenvoll „Aufarbeitung gescheitert? “(7), aber in der gleichen Zeitschrift wurde er postwendend beruhigt: „Von Schlussstrich keine Spur“.(8) Und die Frickes und Wilkes wissen natürlich, was gespielt wird.
Anfang Juli 2007 veröffentlichte der Beauftragte der Bundesregierung für Gedenkstättenpolitik, Staatssekretär Naumann, eine „Fortschreibung“ des Gedenkstättengesetzes von 1999. Am 7. November beriet der Kulturausschuss des Bundestages darüber mit Geschichtsexperten (Sabrow, Henke, Wilke u.a.).
Am 1. Oktober 2007 fabulierte Pfarrer Rainer Eppelmann in der Berliner Nikolaikirche über seine Vorstellungen zum „Freiheits- und Einheitsdenkmal“, am 3. Oktober hielt sein Amtskollege Joachim Gauck die Festrede im Dresdner Landtag und forderte abermals eine verstärkte Diffamierung der DDR-Geschichte, insbesondere ihres Alltags. (9)
Jede dieser Reden bedürfte einer Analyse und die Antwort auf die Frage, warum gerade Pfarrer in der „Erinnerungsschlacht“ um die Deutung der DDR-Geschichte zu Schlachtenlenkern avancieren wollen. Immerhin erinnern wir uns, dass Bundeskanzler Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ am 3. Juli 2003 im Dresdner Landtag anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung des Hannah-Arendt-Instituts die Totalitarismusforscher verpflichtet hat, neben dem 17. Juni 1953 sich der „Revolution“ von 1989 anzunehmen, was natürlich inzwischen geschehen ist.(10)
Angesichts der Hektik des Geschehens sollten wir zunächst prüfen, was Denkmäler im „Normalfall“ bezwecken sollen. Ihnen wurde die Aufgabe zugewiesen, an wichtige Ereignisse und/oder Personen zu erinnern und Identifikationen heute Lebender mit ihnen zu ermöglichen. Die Art der Denkmäler hängt natürlich von der jeweiligen Gesellschaftsordnung ab. Prüfen wir zwei Extreme. Die Flut der Bismarck-Denkmäler nach 1871 im Ergebnis der durch eine mit „Blut und Eisen“ hergestellte deutschen Einheit und das Buchenwald-Denkmal in der DDR, das symbolisch für den Antifaschismus in der DDR stand, symbolisieren die jeweilige Politik. Woran soll das „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ erinnern? Welche Tradition soll entstehen? Womit sollen sich Deutsche in Ost und West identifizieren? Besonders klar antwortete Dorothea Wilms, Ministerin a.D., in ihrer Rede am 17. Juni(!) 2007 in der Berliner Nikolaikirche: „Der Ruf der Menschen in der DDR in ihren großen friedlichen Demonstrationen lautete bekanntlich: `Wir sind das Volk`- das war der Ruf nach Freiheit, `Wir sind ein Volk`- das war der Ruf nach Einheit.“ Es gibt also durchaus eine direkte Traditionslinie hin zu 1832 und 1848.“(11) Dorothea Wilms verbiegt hier historische Fakten, dass sich die Balken biegen. Die Demonstranten 1989 waren nicht das „Volk“, sondern eine Minderheit, wie sogar Joachim Gauck gleich am Anfang seiner Rede in Dresden am 3. Oktober 2007 hervorgehoben und begründet hat. Derjenige, der die Losungen produziert hat, die über die (vor allem West-)Medien verbreitet wurden, ist bisher noch nicht auf den Heldenthron gesetzt worden.
Wer die Reden vom Herbst 1989 liest, z.B. die 26 Reden vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz (von der SED sprachen Markus Wolf und Günter Schabowski), weiß, dass keiner der Redner die Beseitigung der DDR gefordert hat. Und das, was die „Hambacher“ 1832 und die„48er“ gefordert haben (warum lässt Wilms die November-Revolution von 1918 aus?) ist 1990 keineswegs verwirklicht worden.
Deutschland hat nicht einmal eine vom Volk erörterte und bestätigte Verfassung (wohl aber die volksfeindliche EU-Bürokratie). Deutschland führt wieder Aggressionskriege und bereitet ein Denkmal für deren „Opfer“ bei der Bundeswehr vor.
Parallel zum Streit um die Notwendigkeit und Funktion eines Denkmals für „Freiheit und Einheit“ läuft eine theoretische Auseinandersetzung um das Wesen der Veränderungen 1989.
Es geht nicht nur um den Begriff
Zur Debatte stehen bei Totalitarismusforschern vor allem zwei Varianten, die Begriffe „Wende“ und „friedliche Revolution“. Am Streit im „Deutschland Archiv“ 5/2007 und 6/2007 beteiligten sich u.a. Michael Richter vom Hannah-Arendt-Institut, Klaus Schroeder aus Berlin, Jochen Staadt und der Leipziger Rainer Eckert. Tonangebend ist bei diesem Thema seit Jahren Michael Richter. Rainer Eckert aus Leipzig lehnt den Begriff „Wende“ als „dreist und falsch“ deshalb ab, weil dieser Begriff aus dem Segelsport stamme und von Egon Krenz verwendet worden war. Von Helmut Kohl sei er schon 1983 benutzt worden.(12)
Wenn das ein Argument ist, wird Rainer Eckert bald Mühe haben, sich zu äußern. Er müsste prüfen: Welchen (politischen) Begriff haben Kohl und Krenz schon benutzt?
Michael Richters Vorschlägen kommt besondere Bedeutung zu, denn er hat das Hannah-Arendt-Institut in seinem Rücken und in früheren Arbeiten Arnold Vaatz zum Helden der sächsischen Revolution ernannt.(13)
Das Ergebnis des Streits um den Begriff dürfte feststehen: friedliche Revolution (parallel zu den „sanften“, „samtenen“, „orangenen“ und anderen blumigen „Revolutionen“ in Osteuropa) entspricht den politischen Bedürfnissen der politischen Klasse am besten. Nicht zufällig hat Steffen Heitmann als Justizminister schon 1994 im Zentralorgan der Großbourgeoisie ganzseitig gewettert: „Die Revolution verkommt zur `Wende`.“(14)
Es reizt, seine damalige Argumentation zu prüfen.(15) Manches ist hochaktuell. z.B., dass Heitmann das Glück und die Leistung derer würdigte, „die mit Kerzen und Gesängen eine Diktatur wegfegten.“ Wo in der Geschichte gab es solch eine „Revolution“? Ob sich im Herbst 2009 Ähnliches – auf Kommando – wiederholt? Erich Kästner würde wohl urteilen: Nie dürft ihr soweit sinken, den Kakao, durch den man euch zieht, auch noch zu trinken.
Kehren wir zur Debatte um Definitionen zurück. Michael Richter urteilt abschließend: „Ich selbst meine, dass die von mir vorgetragenen Zitate Anlass sind, den Begriff `Wende` neu zu bewerten. Auch ich habe mich ja bisher geweigert, die friedliche Revolution als `Wende` zu bezeichnen. Aber die Fakten zeigen ein anderes, differenzierteres Bild: `Wende` war zuerst ein Kampfbegriff der SED-Führung, wurde aber dann von der revoltierenden Bevölkerung erobert und aus der ideologischen Knechtschaft befreit. Deswegen finde ich es völlig legitim, `Wende` in der Alltagskommunikation synonym mit `Revolution` für den ostdeutschen Transformationsprozess 1989/90 zu verwenden. (16)
Darauf muss einer kommen: Der Begriff „Wende“ wurde „von der revoltierenden Bevölkerung (nicht dem revolutionären Volk, H.S.) erobert und aus der ideologischen Knechtschaft befreit“. Aber Richter bestreitet nicht, dass es sich 1989/90 um einen „Transformationsprozess“ gehandelt habe. Ein Historiker könnte fragen: Was wurde denn wohin transformiert? Die Eigentumsverhältnisse, die Machtverhältnisse, der Sozialaufbau, die Kultur und Bildung usw.? Jemand, der sehen und hören kann, wird kaum bestreiten, dass ein Anschluss der DDR an den Kapitalismus stattgefunden hat.(17)
Wie könnte das in einem Begriff gefasst werden, wenn nicht in den Begriff Konterrevolution? Dass auch „Volk“, sogar die „Vorhut“ in der Person von „Reformern“ unter den SED-Mitgliedern, als Demonstranten mitwirkten, steht dem nicht entgegen.
Erstens wurden viele Aktionen der DDR-Feinde „unter falscher Flagge“ gestartet („Reform“ der DDR, „Schwerter zu Pflugscharen“ usw.), Bürger wurden also getäuscht, und viele ließen sich täuschen. Zweitens änderte eine faschistische Armee auch dann nicht ihren Charakter, wenn biedere Bürger mitmarschierten. Hatten frühere Konterrevolutionen nur „Generale“?
Wenn Dorothea Wilms fragte: „Was soll ein Freiheits- und Einheitsdenkmal versinnbildlichen?“, wäre manche Antwort möglich: den Verlust der friedlichen Außenpolitik der DDR, die Abschaffung des Rechts auf Arbeit für alle, den Austausch der Krauses mit den Krupps als Besitzer der Produktionsmittel. Die Reihe negativer „Transformationen“ ist lang, und die Wirkungen sind für viele fürchterlich. Denkmale werden das nicht ändern. Aber sie können Nachdenken fördern oder verhindern, z.B. darüber, ob das aus heutiger Sicht scheinbar Unvermeidliche („Es gab keine Alternative“) das war, was Konterrevolutionäre in– und außerhalb der DDR gewollt und geplant haben oder das, was Demonstranten gefordert hatten. Auch darüber, warum das ansonsten aufmüpfige Volk zum Helden ernannt werden soll, für das sogar schon ein Denkmal für gefallene Helden der Bundeswehr in Aussicht steht, müsste stutzig machen.
1989/90 gab es keine Toten, und das schreiben Heitmann, Eppelmann und Co. ihrer mutigen Politik zu. Eppelmann großmäulig: „Ohne einen einzigen Schuss hatten wir (!)… die Allmacht des Regimes in einer friedlichen Revolution hinweggefegt.“(18) Einige „Revolutionäre“ hätten sich „Opfer“ (Märtyrer) gewünscht. Hatten Eppelmann, Gauck und ihresgleichen zu entscheiden, ob geschossen wird?
Steffen Heitmann erklärte: „Die entscheidende Frage im Herbst 1989 war, ob und wie lange sich das Regime mit gewaltsamen Methoden zurückhalten würde.“ Die Sowjetarmee habe sich schließlich nicht aus den Kasernen „getraut“.(19) „Revolutionäre“ wie Pfarrer Heitmann scheinen zu glauben, sie hätten die Sowjetarmee besiegt und garantiert, dass diese „Revolution“ unblutig verlief. Sie scheinen vorher gewusst zu haben, wie sich der Kreml und die DDR-Führung entscheiden. Bescheidenheit oder gar christliche Demut scheint nicht ihre Stärke zu sein. Niemand von den Eppler und Co. – im Unterschied zu Peter Michael Diestel als Innenminister der DDR 1990 – hat sich über deren tatsächlichen Opfer der „Revolution“ geäußert.(20)
Ziehen wir einen ersten Schluss: Die Ankündigung des Denkmals für Freiheit und Einheit löst einen Streit aus, der niemand unberührt lassen wird und darf, denn es geht nicht nur um das Verständnis dafür, was 1989 geschehen ist, nicht nur um das Bild der Sieger, die nun auch als Helden auf den Sockel gehoben werden wollen, es geht in erster Linie um den Weg in die friedliche Zukunft, den die „Revolutionäre“ ein für allemal versperren wollen.
Für Allida Assmann steht die Frage im Mittelpunkt, „ob mit den jüngsten Plänen von Museumsgründungen in Deutschland auch ein neues Geschichtsbild verbreitet werden soll.“(21) Tatsächlich zieht die Verfasserin den Schluss, „historische Ausstellungen dienen dem Staat zum Aufbau, zur Vorbereitung und Konservierung bestimmter nationaler Geschichtsbilder…“(22) Zu fragen ist also: Wie soll das „ nationale“ Geschichtsbild des (welchen?) Staates aussehen? Wer diktiert es? Weiß es Marianne Birthler?
Streit um die Zukunft der Birthler-Behörde
Der Streit um die „Fortschreibung“ des Gedenkstättengesetzes wurde im Verlaufe des Jahres 2007 von einigen Auseinandersetzungen begleitet, die einer besonderen Beachtung bedürfen. Dazu gehören das Gefecht um das Schicksal der Birthler-Behörde und die Diskussion um den theoretischen Nutzen der Verwendung der Totalitarismus-Doktrin: „Im Kontext der Berliner Aufarbeitungslandschaft wurde schließlich auch über die Zukunft der Birthler-Behörde diskutiert. Zu diesem Punkt divergierten die Meinungen der Experten am deutlichsten.“(23) Wie konnte es dazu kommen, dass die Birthler-Behörde, die jahrelang staatlich genehmigte Narrenfreiheit gehabt hatte, nun ins Visier öffentlicher Kritik geriet?
Aus unterschiedlicher Sicht haben sich im Deutschland-Archiv namhafte Autoren – Michael Kubina, Manfred Wilke und Roger Engelmann – geäußert.(24) Aus deren „Anatomie der Kampagne“ ergibt sich, dass einige Fakten – vor allem das Arbeitsverhältnis früherer Mitarbeiter des MfS in der Birthler-Behörde – von einigen Journalisten der „Welt“ und der „Zeit“ missbraucht worden seien, um Marianne Birthler und ihre Behörde zu diskreditieren und zu demontieren. Öffentliche Kritik hat es auch an der Monopolstellung der „Behörde“ bei der Verwendung (dem Missbrauch) von „Akten“ gegeben. Die „Akten“ sollten wie andere nach geltenden Gesetzen behandelt werden und öffentlich allgemein zugänglich sein.
Roger Engelmann, der selbst Mitarbeiter der „Behörde“ ist, attackierte die Kritiker mit Namen und Adresse, behauptete aber zugleich, nichts gegen Kritik zu haben. Aber die Kritik an seinem Brötchengeber sei „instrumentell und damit beliebig und unfruchtbar“.
Wenn Birthler und ihre Mitarbeiter selbst entscheiden, was beliebig und unfruchtbar ist, besteht für die Mitarbeiter dieser Behörde kein Anlass für Existenzangst.
Die Totalitarismus-Formel: Wissenschaft oder Doktrin?
Wichtiger sind die Widersprüche und Probleme, die in den letzten Monaten beim Streit um die Frage sichtbar geworden sind, welchen Erfolg/Nutzen oder Misserfolg/Schaden die Totalitarismus–Doktrin bringt. Weitgehend unbestritten ist, dass rechtslastige Publizisten, konservative Politiker und Historiker vom Schlage Arnulf Baring und Hubertus Knabe für jene Gruppierung stehen, die die Totalitarismus–Doktrin seit 1990 zum roten Faden der Interpretation der jüngsten deutschen Geschichte machen. Dabei stehen sowohl sie in der Tradition des Konservatismus faschistischer Prägung als auch in der geistigen Nähe der Neofaschisten von heute. Ludwig Elms Analyse bietet erschreckendes Material. (26)
Die Totalitarismus–Doktrin ist in den letzten 15 Jahren mit den Mitteln staatlicher Macht in Schulen, Medien, Filmen, der historischen Literatur und über den Weg der zwei Enquete–Kommissionen Pfarrer Eppelmanns, die „ Behörde“ Gauck–Birthlers und solche Institutionen wie das Hannah–Arendt-Institut in Dresden durchgesetzt worden. (27)
Die Doktrin unterstellt in der Regel die Wesensgleichheit von Nazi–Diktatur und DDR, und das schien den Verfechtern lange Zeit leichte Siege zu bescheren: Die Freiheit musste (Mit Nato und Atomwaffen) gegen die „ totalitäre Diktatur“ verteidigt werden. 1989/90 sei an die Stelle des „SED–Unrechtsstaats“ die freiheitliche Demokratie getreten. Die Stereotype lassen sich lange fortsetzen.
Nach 1990 trat Erstaunliches ein. Obwohl die DDR nach Ansicht der Sieger unwiderruflich mausetot ist, wird der Kampf gegen sie erbarmungslos fortgesetzt. Totalitarismusforscher interessiert vor allem eine Frage: Ist das sozialistische „Experiment“ unwiderruflich gescheitert, oder besteht – für wen? – die „Gefahr“ der Wiederholung? Das ist auch die Gretchenfrage für die Wertung des Geschichtsbildes verschiedener Kräfte über die DDR.
Die politische Frage nach der Zukunft bestimmt die Fragen nach der Vergangenheit.
Selbst die Forderung nach Mindestlohn kann da für Westerwelle ein „schleichender Prozess für die DDRisierung“, ein Bettler auf dem Dresdner Weihnachtsmarkt 2007 für den Chefredakteur der Sächsischen Zeitung ein Argument gegen die DDR sein.
Die DDR gibt es nicht mehr, aber manche machen sie für nahezu jeden Mangel verantwortlich. Eine solche Methode, die DDR pauschal zu verdammen, stößt auch bei einigen Totalitarismusforschern auf Kritik. Klaus–Dieter Henke, vormaliger Direktor des Hannah–Arendt–Instituts in Dresden, hat seine Bedenken im Kulturausschuss des Bundestages am 7. November 2007 vorgetragen und im Deutschland-Archiv abdrucken lassen.(28) Henke betrachtet als „Kardinalfrage“ die historisch–politische Einordnung der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur und deren jeweiligen „Stellenwert“ in unserer (wessen?) Erinnerungskultur. Zwei seiner Erkenntnisse hebe ich hervor: „Realhistorisch“ sei es verfehlt, „beide Diktaturen in dieselbe Schublade des Totalitarismus zu stecken.“ „Aus einsichtigen Gründen ist es jedoch nicht die Aufgabe deutscher Gedenkstättenarbeit, sich stellvertretend für andere umfassend mit der stalinistischen Vergangenheit der einstigen Sowjetunion auseinander zu setzen.“
Henke weiß, wovon er spricht, denn er hat in seinen beiden Dissertationen, die gedruckt sind, die Besatzungspolitik der USA und Frankreichs untersucht.
Für die Praxis der Gedenkstättenarbeit könnte das bedeuten, dass auf den „Diktaturenvergleich“(29) wie am Münchner Platz in Dresden, der sich als undurchführbar erweist, verzichtet wird.
Henke warnte auch vor dem „Alarmismus“ in der Erinnerungspolitik, weil die „Unglaubwürdigkeit der Auseinandersetzung mit dem SED–Regime“ mehr schade als nutze. Der „Alarmismus“ erreiche nur einige „ Bürgerrechtler.“
Auch Martin Sabrow, der Vorsitzende der von Naumann eingesetzten Kommission, kritisiert die Anwendung der Totalitarismus–Doktrin. (30) Er hält Begriffe wie „die beiden totalitären Diktaturen“, „Geschichtsverbund SED–Unrecht“ und ähnliche für wissenschaftlich unhaltbar und verallgemeinert: „Eine Reduzierung der DDR–Diktatur auf den Begriff `SED–Unrecht` beraubt die Aufarbeitung der wissenschaftlichen Seriosität und fördert die geschichts–politische Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Erinnerungslager. Sie tradiert kommenden Generationen ein naives Schwarz–Weiß–Bild diktatorischer Herrschaft.“ Sabrow diagnostizierte die Gefahr einer „Spaltung in eine antitotalitäre Offizialkultur und eine mehr oder minder ostalgische Privatkultur.“
Auch Gerhard Besier, als Nachfolger Henkes Direktor des Hannah–Arendt–Instituts, hatte in der „Welt“ vom 19. Dezember 2006 begründet: „Die Totalitarismustheorie ist gescheitert.“ Er hatte sich dabei auf das Vermächtnis Hannah Arendts berufen.
Zu prüfen wäre, warum einige Totalitarismusforscher zu einer differenzierteren Sicht auf die DDR gelangen und sogar Korrekturen in der Erinnerungspolitik anmahnen. Hauptgrund dürfte sein, dass die Verteufelung der DDR bei einem Vergleich mit der BRD zum Bumerang wird. Einer der Forscher fragte: „Wie frustiert sind die Deutschen?“(31) Eine der Antworten lautet: Lediglich 34% der Ostdeutschen sind mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden. Andere Ergebnisse sind für die Herrschenden ähnlich erschreckend. Da ist guter Rat teuer.
„Geschichtsbegradigung“?
Im Heerlager bürgerlicher Ideologen nimmt die Aufregung angesichts der verheerenden Folgen der „Wiedervereinigung“ zu. Der Vorschläge gibt es viele. Klaus Schröder und Jochen Staadt schlagen eine „Geschichtsbegradigung“ vor.(32 ) Sie soll die Ergebnisse der DDRologie aus der Zeit vor 1989 einschließen. Der Begriff erinnert an die „Frontbegradigungen“ beim Rückzug der faschistischen Truppen, die die endgültige Niederlage des Faschismus verzögern sollten, aber das Kriegsleiden verlängerten. Schröder und Staadt „übersehen“, dass Geschichte immer Vergangenes ist, also nicht verändert werden kann. Veränderlich ist das Geschichtsbild, und eben um das Bild der DDR geht es im Streit. Wer will warum welche Veränderungen? heißt die Frage.
Die „Sieger der Geschichte“ diktieren die Fragen, vor allem: Wie ist eine neue DDR zu verhindern? Das verlangt zwangsläufig, ein DDR–Bild zu malen, das Angst und Schrecken auslöst. Es könnte mit der Formel benannt werden: Nie mehr totalitäre Diktatur! Alle Deutschen vereint im „ antitotalitären Konsens!“ Unter dieses Dach lassen sich auch Linke wie Petra Pau bringen, die sich öffentlich in der Sendung der Anne Will der DDR–Vergangenheit schämen. Die zitierten Formeln erlauben auch, den kommunistischen Widerstand gegen die Hitlerbarbarei mit der Behauptung zu diffamieren,er habe nur eine Diktatur durch die andere ersetzen wollen.
Im Hinblick auf die mögliche Wirkung des „Diktaturenvergleichs“ wird oft, auch von Klaus–Dietmar Henke in dem zitierten Beitrag, die „Faulenbachsche Formel“(33) zitiert, wonach weder die „nationalsozialistischen Verbrechen relativiert, noch das von der SED–Diktatur verübte Unrecht bagatellisiert“ werden sollten. Das klingt schön, führt aber in die Irre. Der Vergleich von „Verbrechen“ und „Unrecht“ ist eine sprachliche Nuance, de facto ein Synonym, also eine Gleichsetzung. Auch „relativieren“ und „bagatellisieren“ ist kein Gegensatz, schließen einander nicht aus. Entscheidend ist: Faulenbach und seine Nachbeter sprechen einen (frommen?) Wunsch aus, der aber in der Praxis der Verfechter des „Diktaturenvergleichs“ kaum Beachtung findet: „Entscheidend ist, was hinten heraus kommt“. (Helmut Kohl)
Seit einiger Zeit fordert Joachim Gauck die Hinwendung zum DDR-Alltag, und „Der Spiegel“ stellte ihm im Sommer 2006 Platz zur Begründung seiner Forderung zur Verfügung.(34) Gauck erfand auch gleich seine eigenen Figuren, gegen die er polemisierte.
Zu prüfen ist, ob die Hinwendung mancher DDRologen zur „Alltagsgeschichte“ der DDR auch zur „Geschichtsbegradigung“ gehört, oder ob sie auf eine wirksamere Strategie bei der Manipulation der Zuschauer, Hörer und Leser abzielt. Wenn wir Gaucks Rede im sächsischen Landtag vom 3. Oktober 2007 berücksichtigen, darf der Schluss erlaubt sein, dass es sich um eine Strategie der langfristigen und planvollen Manipulation von Millionen Bürgern handelt. Auch die Filme, in denen Ulrich Mühe und Monika Ferres den DDR–Alltag mit Geschick und Erfolg (für wen?) verteufelten, erhalten dann einen „Sinn“. Die Tatsache, dass Gauck nach seinen eigenen Angaben das Kommando gab und als einziger auch im Dokument Naumanns zitiert wird (35), zwingt manchen Leser, über die Rolle bestimmter Pfarrer nicht nur 1989/90, sondern auch bei der „Geschichtsbewältigung“ nachzudenken.
Es fällt auf: Nicht westdeutsche Historiker, sondern DDR-Pfarrer besetzten die Kommandohöhen der Geschichtsschreibung. Rainer Eppelmann leitete die beiden Enquete–Kommissionen des Bundestages, die mit riesigem personellem und finanziellem Aufwand ein verbindliches Geschichtsbild erarbeiteten. Eppelmann war mit Neubert Autor im „Schwarz -buch des Kommunismus.“ Joachim Gauck war der monopolistische „Verwalter“ der „Akten“, deren Missbrauch zur schärfsten Waffe in der Geschichtsauseinandersetzung wurden. Heitmann, Eggert, Schorlemmer (der auch ein Tribunal forderte und sich 2007 im ND korrigierte) und andere drapierten sich als Zeitzeugen und unfehlbare Historiker, agierten aber als Ankläger und Richter, vor denen es keine Gnade gab (und bei manchen gibt).
Moderne Inquisition? Wie erklärt sich dieses Novum? Könnte es sein, dass bundesdeutsche Ideologen diese „Drecksarbeit“ nicht leisten wollten? Könnte es sein, dass es sich um ein Wechselspiel hinter den Kulissen zwischen Politikern in Bonn/Berlin und Pfarrern handelt?
Warum kommen den Eppelmännern die Worte Friede, Versöhnung, Gnade nicht mehr über die Lippen? Warum lassen sie sich in nahezu jedem Streit instrumentalisieren?
Wie die Vorgänge um die Würdigung der „Opfer des Stalinismus“ an der Gedenkstätte Friedrichsfelde zeigen, hat der Streit um die Erinnerungskultur nicht nur akademischen Charakter, sondern berührt und entscheidet politische Grundfragen.
Die „Erinnerungsschlacht“ beeinflusst auch den Kampf um Frieden und sozialen Fortschritt. Die Linken sollten das bei ihren Entscheidungen gut bedenken und eine eigene Strategie entwickeln, die prinzipienfest marxistische Erkenntnisse verteidigt.
Horst Schneider, Dresden
Anmerkungen:
- Christoph Kleßmann: Doppelte Staatsgründung, Schriftenreihe für politische Bildung Band 298, 5. Auflage Bonn 1991
- Gerhard Lozek (Hrsg.): Unbewältigte Vergangenheit, Berlin 1977
- Iko – Sascha Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeit an der ideologischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/ DDR 1945 bis 1961, Berlin 1997 S. 342 f.
- Bedeutung und Funktion des Antifaschismus. Texte zur inneren Sicherheit, mit einem Vorwort von Wolfgang Schäuble, Bonn Oktober 1990
- Horst Schneider: „Erinnerungsschlacht“ ohne Ende, Berlin 2005
- Deutschland Archiv 4/2007 S. 617f.
- Deutschland Archiv 4/2007 S. 617f.
- Michel Kubiza und Manfred Wilke, Deutschland Archiv 5/2007 S.776 f.
- Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2007. Veranstaltungen des sächsischen Landtags, Heft 39
- Horst Schneider:Das Hannah-Arendt-Institut im Widerstreit politischer Interessen, Berlin 2004, S.71
- Deutschland Archiv 5/2007 S.871
- Rainer Eckert: Gegen die Wende – Demagogie – für den Revolutionsbegriff, Deutschland Archiv 6/2007 S.1084f.
- Michael Richter: Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90, Köln/Weimar 2003
- Frankfurter Allgemeine Zeitung 2. September 1994
- Horst Schneider: Steffen Heitmann. Über Recht und Gerechtigkeit, Eigentum, Geschichte und Revolution, Selbstverlag Dresden 1997, S.7 f.
- Michael Richter im Deutschland Archiv 6/2007 S.1087
- Horst Schneider: Hysterische Historiker. Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes, Böklund 2007
- Rainer Eppelmann: Wo und wie können das Anliegen… Deutschland Archiv 6/2007, S.1080
- Horst Schneider: Steffen Heitmann a.a. O. S.8f.
- Im Icarus 4/2006 erhalten sie Namen und Gesicht
- Aus Politik und Zeitgeschichte 49/2007, 3. Dezember 2007 S.15
- Ebenda S.19
- Marc-Dietrich Ohse: Aufarbeitung und Gedenken, Deutschland Archiv 6/2007 S.966
- Manfred Kubina/Manfred Wilke: Von Schlussstrich keine Spur, Deutschland Archiv 5/2007; Roger Engelmann: Die herbeigeschriebene „Legitimationskrise“, Deutschland Archiv 6/2007
- Deutschland Archiv 6/ 2007 S. 1078
- Ludwig Elm: Der deutsche Konservatismus nach Auschwitz, Köln 2007
- Horst Schneider: Hysterische Historiker. Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes, Böklund 2007
- Klaus – Dietmar Henke. Grundsätzliche Bemerkungen zum Gedenken an deutsche Diktaturen, Deutschland Archiv 6/ 2007 S. 1050 f.
- Norbert Haase, Bert Pampel (Hrsg.): Doppelte Last. Doppelte Vergangenheit, Frankfurt a.M. Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1998
- Erklärung Sabrows vom 7. November 2007 S.4
- Markus Linden in Deutschland Archiv 6/ 2007 S. 977 f.
- Deutschland Archiv 5/ 2007
- Bernd Faulenbach ist Vorsitzender der Historikerkommission der SPD und hat intensiv am Streit um die Gedenkstättenpolitik teilgenommen.
- Joachim Gauck: Wir brauchen eine zweite Phase der Aufarbeitung, Der Spiegel 25/ 2006 S. 38 f.
- Gauck wird wie folgt zitiert: „Darstellungswürdig sind nicht die `Bindungskräfte` der DDR, sondern das `Angst–Anpassungssyndrom` des Alltags.“