Die Konterrevolution trieb Zehntausende in den Tod

Gerhard Feldbauer:
Die Konterrevolution trieb Zehntausende in den Tod

Eine Studie der GBM über die Opfer der„friedlichen Revolution“

Wer zählt die Toten, nennt die Namen derer,
die durch die„friedliche Revolution“ ums Leben kamen.

Die Konterrevolution hat nach dem Sieg über die DDR ihre Gegner nicht wie in vergangenen Zeiten per Blutbad niedergemacht, an die Wand gestellt, in die Kerker geworfen. Nein, sie hat sie, wie der damalige Justizminister Kinkel vorgab, ins soziale Abseits gedrängt, mit Berufsverbot belegt, ihre Menschenwürde mit Füssen getreten, gegen sie unsägliche Lügen- und Hetzkampagnen geführt, viele vor die Gerichte ihrer Klassenjustiz gezerrt. Über die Zahl derer, die dem nicht standhielten, denen die Kraft fehlte, weiter zu  widerstehen, die Hand an sich selbst legten, liegen keine Angaben vor. Die Gauck/Birthler-Behörde, die viele dieser Menschen in den Tod trieb, gab kund, „darüber führen wir keine Statistik“.

34jähriger sprang nach Ankündigung der Zwangsräumung in den Tod

Diesen Opfern ist ein Studie der Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur „Icarus“ der GBM gewidmet, die im Oktober (Nr. 3 u. 4) erschien. [1] Aus ihr kann man schlussfolgern, dass die Zahl dieser Toten in die Zehntausende geht, wenn sie nicht gar auf die Einhunderttausend zuschreitet. [2] Zuletzt publik gewordenes ist der 34jährige Tim S. aus Frankfurt/Oder. Nachdem die städtische Wohnungsgesellschaft die Zwangsräumung seiner Wohnung verfügt hatte, sprang er am 16. August 2006 aus seiner Wohnung in den Tod.

Die französische Nachrichtenagentur AFP meldete im Jahr der Einverleibung der DDR, dass sich in Ostdeutschland 4.294 Menschen selbst töteten. Der Suizidexperte Udo Grashoff berichtete, dass von 1989 bis 1991 die Selbstmordrate in den neuen Bundesländern um rund zehn Prozent anstieg. Wie viele von den über 11.000 Menschen, die in der Bundesrepublik jährlich Selbstmord begehen, Opfer der „Wende“ sind, ist nicht ersichtlich. Bekannt ist nur, so die Studie, dass diese in den nunmehr neuen Bundesländern offenbar weit höher lag.

46 Autoren legen die sozialen und politischen Hintergründe bloß, die Zehntausende in den Tod trieben. Ihre Beiträge führen die Phrase von der „friedlichen Revolution“ ad absurdum und belegen, dass die Konterrevolution wütete und noch wütet. Stellvertretend für alle Autoren seien genannt: Der bekannte Faschismusforscher der DDR, Prof. Manfred Weißbecker, der Ökonom Prof. Harry Nick, der Pfarrer Dr. Dieter Frielinghaus, die Schauspielerin Käthe Reichel und der Rechtsanwalt Peter Michael Diestel. Weißbecker schreibt über seinen Kollegen an der Jenenser Universität Prof. Gerhard Riege, dem als Mitglied des Bundestages in dem „hohen Haus“ blanker antikommunistischer Hass entgegenschlug. In ihm entäußerte sich ein „Ungeist, der noch Schlimmeres als Keim in sich trägt“, urteilte Gerhard Haney, einer der Kollegen Rieges, „Sie werden den Sieg über uns voll auskosten. Nur die vollständige Hinrichtung ihres Gegners gestattet es ihnen, die Geschichte umzuschreiben und von allen braunen und schwarzen Flecken zu reinigen“, schrieb Prof. Riege bevor er am 15. Februar 1992 den Freitod wählte.

Opfer aus allen sozialen Schichten, Berufs- und Altersgruppen

Die Opfer waren Arbeiter und Genossenschaftsbauern, Lehrer, Ingenieure und Journalisten, Ärzte, Künstler und  Wissenschaftler, von den Massenentlassungen Betroffene, obdachlos gewordene, Kinder, welche die Demütigungen ihrer Eltern nicht ertrugen. Zu ihnen gehören der Grafiker Thomas Schleusing vom Jugendmagazin „Neues Leben“, sein Kollege, der sensible Zeichner und Gestalter Christoph Ehbets, bekannt u. a. durch seine Cover beim VEB Deutsche Schallplatte. Der Vizepräsident des DTSB Franz Rydz, der Minister für Bauwesen der DDR Wolfgang Junker, der Raubtierdresseur Hanno Coldam (Heinz Matloch) der international bekannten Löwen-Gruppe des VEB Zirkus Aeros, der hervorragende Neurowissenschaftler der DDR Prof. Armin Ermisch, nach dem ein internationaler Preis für herausragende Nachwuchswissenschaftler benannt ist. Der weltberühmte Schauspieler Wolf Kaiser, der sich seine Menschenwürde nicht nehmen ließ und dafür in den Tod ging. Als einen „ungekrönten Monarchen der Schauspielzunft“ würdigte ihn Eberhard Esche in seiner Grabrede.

Nicht nur SED-Mitglieder fielen der Konterrevolution zum Opfer. Unter ihnen befinden sich die Jugendbildungsreferentin der Evangelischen Akademie Meißen, Anne-Kathrin Krusche, und der frühere Abgeordnete der sächsischen CDU Herbert Schicke, der Arbeitsmediziner und Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Lichtenberg, Dr. Rudolf Mucke, der weder der SED noch der FDJ angehört hatte. Das MfS hatte 1976 Anwerbungsversuche wegen „dekonspirativen Verhaltens“ aufgegeben. Die „Ehrenkommission“ der Berliner Charité hielt seine Weiterbeschäftigung  dennoch für „unzumutbar“. In den Tod getrieben wurde der Pfarrer aus Schmalkalden Reinhard Naumann, für den Friedrich Schorlemmer die Grabrede hielt, in der er forderte, endlich die Stasiakten „in einem Freudenfeuer zu verbrennen“.

Das Schicksal des Professor Heinrich Dathe

Zu den Opfern gehören auch, wie Dr. Peter Michel schreibt, diejenigen, bei denen schleichende Krankheiten unter unerträglichem psychischem Druck zu galoppieren begannen – so bei Prof. Gerhard Kettner, ehemaliger Direktor der Kunsthochschule Dresden, der an Krebs verstarb, bei Prof. Dr. Heinrich Dathe, der auf unsäglich ehrlose Weise aus seiner verdienstvollen Arbeit als Direktor des Berliner Tierparks verdrängt wurde, oder bei dem  Maler Prof. Dieter Rex, der an einem Herzversagen zugrunde ging. Die Beispiele sind Legion, heißt es in der Studie.

Nazikriegsverbrecher trieb schwerbehinderten DDR-Wissenschaftler in den Tod

Der Hochschullehrer Hans Schmidt, schreibt Michael Frey, habe nach 1989 versucht, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen, an Ringvorlesungen der Deutschen Bank und an „Konjunktur“-Lehrgängen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsführung Berlin teilgenommen. Die FU Berlin bescheinigte ihm, dass er „schnell den Anschluss an den allgemeinen wissenschaftlichen Standard westlicher Universitäten erreicht“ habe. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und die Wirtschaftsuniversität Wien würdigten sein hohes theoretische Niveau und seine international beachtete Publikationstätigkeit. Dennoch wurde Dr. Schmid – wie unzähligen anderen DDR-Wissenschaftlern – „wegen mangelnden Bedarfs und mangelnder fachlicher Qualifikation“ gekündigt. Als sein Henker agierte der Nazikriegsverbrecher Prof. Wilhelm Krelle, den es nach dem Anschluss der DDR  als Gründungsdekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften an die HUB gespült hatte. Diesem als SS-Sturmbannführer in Griechenland an Kriegsverbrechen beteiligten, mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten Prof, Krelle verlieh die Präsidentschaft der HUB auch noch die Ehrendoktorwürde (!). Prof. Krelle erklärte öffentlich, er werde „Dr. Schmidt unter allen Umständen von der Humboldt-Universität entfernen.“ Nach einem vierjährigen zermürbenden und entwürdigenden Rechtsstreit um seinen Arbeitsplatz, der für den Schwerbehinderten nicht ohne gesundheitliche Folgen blieb, nahm sich Dr. Schmidt am 8. Mai 1996 durch einen Sprung aus dem 13. Stockwerk seiner Hochhauswohnung das Leben.

Prof. Krelle verstarb im Juni 2004 wohlpensioniert im Alter von 88 Jahren als einer der unzähligen für ihre Teilnahme an faschistischen Kriegsverbrechen in der BRD nicht zur Verantwortung gezogenen Naziaktivisten. Die Ehrendoktorwürde wurde ihm nicht aberkannt. Die Leitung der HUB widmete ihm ein „ehrendes Gedenken“ (!).

Antifaschisten wie zu Gestapozeiten verhaftet

Kurt Neuenburg schildert, wie im Januar 1992 in den frühen Morgenstunden Polizisten die Wohnung des Ehepaares Fuchs in der Grunaer Straße 12 in Dresden besetzten und Otto Fuchs verhafteten. Seine Frau Martha, eine Jüdin, die KZ-Häftling gewesen war, erlitt einen schweren Nervenzusammenbruch. Die furchtbaren Erlebnisse der Nazizeit wurden lebendig. Sie glaubte, Faschisten drängen – wie nach 1933 – wieder bei ihr ein. Mit einem schweren Schock wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert.

Die Leipziger Staatsanwaltschaft erhob gegen Otto Fuchs Anklage wegen Rechtsbeugung und Mord. Er war 1950 in den Waldheim-Prozessen gegen Kriegsverbrecher und Naziaktivisten Vorsitzender Richter gewesen. Man warf ihm vor, er habe Unschuldige zum Tode verurteilt. Mit Hilfe seines Anwalts kam er für kurze  Zeit aus der Untersuchungshaft frei. Um den Richtern nicht die hämische Genugtuung an „seiner langsamen und qualvollen prozessualen Hinrichtung“ zu ermöglichen, beschlossen er und seine Frau aus dem Leben zu scheiden. Im Abschiedsbrief hieß es: „Meine Frau würde eine Trennung von mir nicht überstehen. Ich versichere Ihnen, dass wir in meiner Strafkammer nur Kriegsverbrecher verurteilt haben und ich bin mir sicher, dass wir uns über kein Urteil schämen müssen. Alle Zeichen deuten aber darauf hin, alles ins Gegenteil zu verkehren und in einem Schauprozess mich zum Verbrecher zu stempeln. (…) Heute, nach einer langen Periode der Naziverbrechen, fühlen sich doch alle – und sind sie auch noch so schwer belastet – als völlig unschuldige Menschen. Die Verdrängung ging und geht ja so weit, dass Auschwitz als Lüge hingestellt wird.“

Am 13. Februar um 23.15 Uhr sprangen Otto und Martha Fuchs vom Balkon ihrer Wohnung aus dem siebten Stock in die Tod. Die Skandalpresse griff das Thema genüsslich auf: „Todesrichter sprang mit seiner Frau aus dem 7. Stock“, lautete eine Schlagzeile in der „Dresdner Morgenpost“. Im Prozess gegen den mit angeklagten 87jährigen Otto Jürgens musste das Tribunal die Mordanklage fallen lassen, Schließlich wurde ein reines Gesinnungsurteil verhängt und der Angeklagte zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, 6.000 DM Geldstrafe und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. In seinem Schlusswort sagte Otto Jürgens, der bereits 1933 von der Gestapo verhaftet und gefoltert worden war: „Die Naziverbrecher, die in Waldheim abgeurteilt wurden, hatten ihre Strafe mehr als verdient.“

Die Frage nach der wahren Natur dieses Deutschland

Der französische Publizist Gilles Perrault résümierte über die gegenwärtigen deutschen Zustände: „Die Politik der Zerstörung der Erinnerung … ist in erster Linie ein Verbrechen, eine zweite Ermordung derjenigen, die in den Händen der Nazis das Martyrium erlitten haben. … Wir wissen aus harter Erfahrung, dass der Hitlerfaschismus das absolut Böse ist. Wenn das so genannte neue Deutschland diejenigen verleugnet, die ihn bekämpft haben, wie sollte man sich nicht mit Beklemmung die Frage nach der wahren Natur dieses Deutschland stellen?“

Ich selbst habe mich der Prozesse erinnert, in denen in Italien zahlreiche deutsche Kriegsverbrecher wegen Massenmorden verurteilt wurden. Wie Wilhelm Krelle in Griechenland hatten sie in Italien barbarische Kriegsverbrechen begangen (siehe Beitrag „Massenmörder der Hitlerwehrmacht in Italien verurteilt“, Berliner „Anstoß“ November 2006). In der Bundesrepublik blieben sie, wie Krelle auch, ungeschoren. Zu Prozessen im Ausland verweigerten die deutschen Behörden die Überstellung. DDR-Richter, die wie Otto Fuchs die Verbrecher zur Verantwortung zogen, wurden von bundesdeutschen Gesinnungskomplizen dafür vor Gericht gezerrt.

Die Studie berichtet, wie Dr. Peter Michel schreibt, über „das Sterben der Unseren“ Halten wir ihr Andenken in Ehren. Schöpfen wir aus ihrem Tod Kraft, dem System, das Not, Elend und Krieg über uns bringt,  Widerstand zu leisten.

Gerhard Feldbauer,
Poppenhausen

1) Zu beziehen bei der GBM-Geschäftsstelle zum Preis von 9.80 Euro (Tel. 030/5578397, Fax 5556355).

2) Zu empfehlen wäre, in künftige Untersuchungen die „Wende“-Opfer des Westens einzubeziehen, welche die DDR als soziales Hinterland verloren.