Griechenlandreportage – Das Land der Griechen mit der Seele suchend

Irene Eckert
Griechenlandreportage – Das Land der Griechen mit der Seele suchend

Es regnet Katzen und Hunde und der Himmel über dem Mitsikeli Massiv ist trüb und grau.

Die griechische Tageszeitung „Der Wurzelbrecher“ (Rizospastis) vermeldet an diesem 24. Septembertag in dicken Lettern auf der Titelseite „Der Angriff auf Stalin zeigt ihre Angst“. – Die Schlagzeile nimmt Bezug auf den als „haarsträubend“ bewerteten Antrag im EU-Parlament, der tags zuvor dort eine späte Mehrheit gefunden hatte. Der zufolge soll fortan an jedem 23. August im Gedenken an den „Hitler-Stalin-Pakt“ der Opfer von „Stalinismus und National-sozialismus“ gleichberechtigt gedacht werden.

Für jene Griechen, die dem Übel an die Wurzel wollen, weil die Barbarei des Hitlerwahns ihnen hohe Opfer abverlangt hatte, ist die genannte Resolution blanke Geschichtsfälschung im Goebbelsstil und Anlass zu empörter Stellungnahme.

Die Natur scheint davon unberührt. Auf den Berghängen des nahe gelegenen Campus grasen die Schafe, trotz des offiziellen Verbotes. Das erste Rotkehlchen signalisiert in der Provinz Epiros, wo noch Braunbären und Silberwölfe leben, den Winter. Auf der Küchenveranda geben sich nicht weniger als 12 Katzen täglich am Futtertrog ihr Stelldichein und teilen ihre Mahlzeit mit dem hauseigenen Colli Max. Vor dem Kamin im gemütlichen Landhaus des Professors für theoretische Physik wird derweil in frühherbstlicher Abendrunde über Sinn oder Unsinn des zitierten EU-Vorstoßes debattiert. In Griechenland, an der südöstlichen Peripherie EU-ropas ticken heute – trotz des bereits ratifizierten Lissabonvertrags und der weiter präsenten NATO-Militärbasen – die alten Wanduhren anders:

Bei den noch staatlichen Olympic Airlines wird ein harter Kampf gegen die drohende Privatisierung ausgetragen. Vehement wehren sich die Angehörigen des Bildungssektors gegen die Umsetzung des Bologna-Prozesses, der mehr als die Entwertung griechischer Diplome nach sich ziehen wird. Da wird schon mal während einer studentischen Großdemonstration eine EU-Flagge in Athen öffentlich verbrannt. Noch ist nämlich in Hellas – trotz der EU-weit angestrebten, anders lautenden Politik – auch die Hochschulausbildung für alle kostenfrei. Nicht nur entfallen andernorts bereits übliche Studiengebühren, sogar der Mittagstisch und die für das Studium erforderlichen Bücher sind gratis (!) und die Mieten auf dem Campus (2000 Plätze) spottbillig. An der hiesigen Universität flattern Spruchbänder und rote Fahnen von der Mensa, wie bei uns in längst vergangenen Tagen.

Soweit die Provinz. Am letzten Septemberwochenende war aber in Athen geradezu der Bär los. Die KNE, der kommunistisches Jugendverband, hatte dort ein mehrtägiges Kulturfestival organisiert, zu dem Hunderttausende Teilnehmer gekommen waren. Natürlich war auch die Crème der beachtlichen griechischen Musikszene aufgetreten. Das Fernsehen berichtete über das tosende Festival.

In Anbetracht des Finanzdebakels an den Börsen konnte man schließlich Anfang Oktober zur besten Nachrichtenzeit auch im privaten Fernsehen lang anhaltend ein Textband mit der Frage lesen: „Naht das Ende des Kapitalismus?“ Natürlich war die Antwort, „nein“. Vielmehr werde Kapitalismus gegenwärtig nur schlecht „gemanagt“. Der Privatkanal „Alter“ bringt aber zu eben dieser „Primetime“ nur wenige Tage später ein viertelstündiges Interview mit Aleka Papariga, der Vorsitzenden der KKE. Das Kürzel spricht sich „Kapa Kapa Epsylon” und steht für eine kommunistische, hierzulande auch schon `mal als „stalinistisch“ titulierte Arbeiterpartei. Das Interview wird respektvoll geführt, auf Augenhöhe mit dem populären Nachrichtensprecher. Die um ihre Stellungnahme zur Korruption im Lande und der weltweiten Finanzkrise Befragte wirkt freundlich, klar, souverän.

Von meinen griechischen Freunden lerne ich den als Lob oder Vorwurf zu deutenden neugriechischen Satz „Oli plin Lakedemoniom“, damit wird auf die Spartaner angespielt, die sich erfolgreich Alexander dem Großen verweigert hatten, der alle Griechen zu einem Feldzug gegen die Perser aufrief. Heute zielt der Slogan auf den Widerstand der Kommunisten gegen EU- und NATO-Mitgliedschaft. Durch solch entschieden aparte Haltung erzielte diese Partei immerhin über acht Prozent der Stimmen bei den letzen Parlamentswahlen und ironischer Weise noch mehr bei den Europawahlen. Das sind nicht ganz drei Mal so viele Stimmen wie „die Linke“, die sich hier Synaspismos nennt, für sich verbuchen konnte. Die zweitstärkste Partei ist die sozialdemokratische PASOK.

Am nächsten Wochenende erlebe ich die kleine Person, die seit 20 Jahren der KKE vorsteht, fernab von der Metropole in den Bergen Mazedoniens. Dort liegt in 1800 Metern Höhe das Dorf Grammos, unweit der albanischen Grenze. Wir hatten unseren sonntäglichen Ausflug schon abbrechen wollen, befürchteten wir doch in Anbetracht der unbefestigten Straße und des Dauerregens auf der steilen Serpentine im Matsch stecken zu bleiben. Da plötzlich nach der nächsten Kurve öffnet sich der Blick, der Himmel klart auf: Ein Meer roter Fahnen flattert und tanzt im heftigen Wind. Welch ein überraschender Anblick. Viele Menschen, junge und alte, waren heute an diesen entlegenen Ort gekommen, denn hier wird gerade ein bedeutender Vertreter des griechischen Widerstands geehrt. Dem Chirurgieprofessor Petros Kokkalis, 1948 über die albanische Grenze in die spätere  DDR entkommen, wird hier in der Bergeinsamkeit ein Denkmal gesetzt. An diesem rauen Flecken hatte er in harter Zeit ein Lazarett geführt, in dem verwundete Partisanen und Dorfbewohner Hilfe fanden. Er war 1944 der erste Gesundheitsminister des von den Nazis befreiten Landes gewesen. Für kurze Zeit nur, denn die Widerstandsbewegung gab freiwillig ihre Macht in die Hände der von den Briten ausgehaltenen Exilregierung in Ägypten und ließ sich widerstandslos entwaffnen. Man glaubte sich doch „verbündet“ mit dem großen Alliierten der Anti-Hitlerkoalition.

Vor 60 Jahren mussten die griechischen Patrioten auch in dieser schwer zugänglichen, malerischen, aber klimatisch rauen Berggegend ihre Opposition aufgeben. Sie hatten sich hierher zurückziehen müssen, nachdem sie im Kampf gegen die neuen Machthaber, die auf wehrlose Menschen schießen ließen, immer mehr in die Defensive geraten waren. Nachdem Tito die Grenzen abdichtete und die Hilfeleistungen blockierte und nachdem die US-amerikanischen Verbündeten der Briten schließlich Napalm einsetzten, hatten sie keine Chance mehr. Die Dörfer, die sie mit Nachschub versorgt hatten, waren „ausgeräuchert“ worden.

Unser Weg zurück in die Universitätsstadt führt uns über einige dieser zauberhaft gelegenen Dörfer entlang der Vikos-Schlucht. Es sind Orte der Vergangenheit, die lange Zeit über dem Verfall preisgegeben waren. Aber die Fluchtwege haben sich umgekehrt. Heute sind es „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem postsozialistischen Albanien, die vor allem als geschickte Steinmetze willkommen sind, weil sie für wenig Geld Wiederaufbauarbeit in der fast  menschenleeren Region leisten. Inzwischen hat sich auch ein Exklusivtourismus hier angesiedelt. Noch vereinzelt laden sehr hübsche, schieferbedeckte Herbergen zum Verweilen ein. Gewiefte Reiseunternehmer bieten Wanderungen von Dorf zu Dorf an mit Über-nachtungsmöglichkeit und Besichtungen. Der Weg führt entlang der Schlucht über alte Stein-brücken und -treppen zu entlegenen Klöstern. Wir schauen uns heute das eindrucksvolle Agia Paraskevi bei Monodendri an. Heute verlassen und verwaist, einst ein Hort des Widerstandes. Von hier aus ist ein spektakulärer Blick über die 12 km lange und 900m tiefe Schlucht möglich. Wir fahren langsam auf leeren Straßen durch die herbstlich gefärbten Bergwälder des Zagorohoria-National-Parkes, machen einen Abstecher zu der leise an Ransmayrs Ovidadaption erinnernden „Steinernen Stadt“. Auf dem Weg zurück nach Ioannina halten wir an bei der weithin sichtbaren, monumentalen weiblichen Figur. Sie verkörpert den Widerstand ebenso wie das legendäre „OXI“. Dieses griechische  „Nein“ galt als Aufruf an die Nation, sich den deutschen Besatzern ebenso wie zuerst den Italienern zu widersetzen. Eine gegenwärtige Ausstellung in Athen von wunderbaren Schwarz-Weiß-Aufnahmen des legendären Fotografen Meletsi macht die Geschichte wieder lebendig. Die Fotos galten lange Jahre als unwieder-bringlich verschollen. Im 90. Jahr ihres Bestehens würdigt die KKE so auf vielfältige Weise das 60 jährige Vermächtnis des nationalen Widerstands.

„Menschen aus Stein habe der Verbannte seiner Welt prophezeit“, schreibt Ransmayr und weiter „was aber aus dem Schlick eines an seiner wölfischen Gier, seiner Blödheit, seiner Herrschsucht hervorgegangenen Geschlecht hervor kriechen werde, das habe Naso die eigentliche, die wahre Menschheit genannt, eine Brut von mineralischer Härte, das Herz aus Basalt, ohne Gefühle, ohne Sprache der Liebe, aber auch ohne jede Regung des Mitgefühls oder der Trauer, so taub und dauerhaft wie die Felsen dieser Küste.“ Die Kunstnaturgebilde im Pindus-Gebirge aus geschichtetem Stein, die atmosphärisch an die Landschaft aus Ransmayrs letzter Welt erinnern, zeugen aber viel mehr davon, wie sehr die Menschen im Einklang mit der Natur einst ihre Behausungen bauten. Sie sind von wilder Schönheit. Von ganz anderer Schönheit allerdings sind die Menschen, die aus einer langen Tradition von Widerstand hervorgegangen sind; keinesfalls entsprechen sie dem apokalyptisch-pessimistischen Menschenbild das Ransmayr in seiner „Metamorphosen“Adaption entwirft. Der österreichische Autor, den ich im Bücherregal eines griechischen Ovidkenners entdecke, kontrastiert mit der dem Licht und dem Leben zugewandten Einstellung des Mittelmeervölkchens.

Die Griechen, heute kaum mehr als 11 Millionen Einwohnern zählend, sind ein lebensfrohes, sprachbegabtes, bildungsbewusstes Volk. Sie lieben ihre metaphernreiche, musikalische Sprache, sie lieben die Debatte, das Denken in Widersprüchen. Wissend um die Schönheit ihres Landes und den geistigen Reichtum seiner Menschen scheint ihre Zuversicht berechtigt.

Auf die im Lande lang entbehrten, regenreichen Tage folgte am 7. Tag meiner Reise „Klara“, das segensreiche klare Licht des Mittelraumes. Wir lassen uns von der Sonne und dem wolkenlosen Himmel locken und machen uns auf zur südlichsten Insel im Ionischen Meer. Dort auf Zakinthos oder „Zante, der Blume der Levante“, ist unser Freund Georgios geboren. Sein Vater, ein Landwirt, hinterließ den Kindern einen Olivenhain. Da die übrigen Geschwister in schwerer Zeit ausgewandert sind, verwaltet er das Stückchen Land und freut sich darüber, seiner Familie und seinen Freunden ab und zu einen Ferienaufenthalt dort ermöglichen zu können.

Vom Erdbeben, das die Insel in den 50iger Jahren heimsuchte, keine Spur mehr. Seit etwa 20 Jahren sind aber die Briten wieder da, als Sommerfrischler, diesmal erwünschte Gäste. Zante, das Mallorca, der vornehmlich britischen Sonnensucher, wurde damals für den Massentourismus erschlossen und „prosperiert“ seither, wie dem Anschein nach, das ganze Land. Ein zarter Blütenduft erinnert noch heute daran, dass die Insel einst das Parfüm für die venezianischen Herrscher lieferte.

Die Lebenshaltungskosten sind derzeit erheblich, wie überall in Griechenland, die Löhne niedrig und die Arbeitslosigkeit hoch. Laut Fischer Weltalmanach von 2007 liegt der Arbeitslosenanteil mit rund 10 % dennoch etwas niedriger als in Deutschland. Vielleicht liegt das auch daran, dass der familiäre Zusammenhalt weiter trägt hierzulande und viele Familien noch natürliche Erträge aus dem Land ziehen. In ländlichen Gebieten ist wohl deswegen die Küche ebenso wie die Gastfreundschaft der Menschen nach wie vor sprichwörtlich. Ihre Sorge gilt allerdings auch hier der nachwachsenden Generation, die sich mit prekären Arbeitverträgen und oft nur elterlicher Hilfe mühsam über Wasser hält. Von der Landwirtschaft kann man nicht mehr leben, so erfahre ich. Marina und Tasos sind genügsam, ihre bescheidene Rente reicht zusammen mit dem, was ihre Arbeit noch aus der Erde zu ziehen vermag für ein behagliches Leben. Sie unterstützen sogar noch ihre studierten Kinder. Wer aber wird das Land bestellen, wenn die beiden Alten einmal nicht mehr können, wer die aufwendigen Leckerbissen zubereiten?

Wie bei Marina und Tasos, so ist auch bei den Wirtsleuten des Gasthauses O’ Nionios das gereichte Mahl köstlich. Hier und anderswo im Lande trinken Mann und Frau gerne haus-gemachten Wein. Auch dem Tsipuro, einem hochprozentigen Treberschnaps, der beim Wein-keltern abfällt, wird gerne zugesprochen. Dazu gibt es „Meses“, Beigaben, die nicht nur satt machen, sondern meist auch erlesen schmecken.

Dennoch, trotz oder vielleicht auch wegen der herzerfrischenden Liebe zur Geselligkeit und Sinnenfreude, findet man auch auf der grünen Insel mit den türkisfarbenen Stränden an vielen Orten die „Thesen der KKE“. Mit ihrer Hilfe soll der 18. Parteitag im Februar 09 vorbereitet. Jetzt schon wird heftig und kontrovers debattiert über die Ursachen für das Scheitern des Sozialismus und für eine wegweisende neue Strategie dorthin zurück. Die 80seitigen Thesen liegen aufgeschlagen in der Bauernstube auf der Kommode. Sie werden in der hauseigenen Zeitung „Rizospastis“, im parteieigenen Rundfunk „Eniakosiadio“ (deutsch 902), und im entsprechenden Fernsehkanal dargestellt. Ihre auch den griechischen Zeitgeist provozierenden Darlegungen lösten ein Kreuzfeuer medialer Kritik aus. Während des köstlichen Mahles staunt die bundesdeutsche Besucherin über die offenen, leichtfüßigen, aber doch hochpolitischen Gespräche, deren Singsang sie lauscht. Der gebildete Uniprofessor und die belesene Bäuerin sprechen miteinander auf Augenhöhe. Die Journalistin Liana Kanelli wird gelobt, die während des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien von rechts nach links abdriftete. Sie wurde schließlich auf der Plattform der Kommunisten ins Parlament gewählt. Sie schaue dem Volk aufs Maul und finde die erforderlichen, deftigen Worte. Sie spreche so manches aus, was andere nicht zu artikulieren wagten. Der Krieg, der mit deutscher Hilfe auf dem Balkan im Jahre 1999 geführt wurde, stieß allerdings, so höre ich, im ganzen Lande auf Empörung. Auch die übrigen „neuen“ Weltordnungskriege finden in Griechenland wenig Anhänger. Die NATO stößt auf allgemeine öffentliche Ablehnung. Wissen die Griechen doch, wer sie führt und die Mär vom „großen Bruder Befreier“ ist in der Inselrepublik wenig populär. „Demokratie“ heißt in deren oft  als Ursprungsland gepriesener Heimat „dialektischer Diskurs“. Gemeint ist die öffentlich geführte Debatte um den richtigen Weg zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Das alte Heraklitwort hat hier noch Gültigkeit, nachdem der produktive Streit die Mutter aller Dinge ist: Spruch und Widerspruch, hier wird er auf  gesellige Weise ausgetragen.

Das abendliche Gespräch im Bauernhaus über Krisensorge und Korruption weist auch hin auf folgende, als empörend erlebte Tatsache: In Griechenland kann eine Partei laut Verfassung auch dann allein regieren, wenn sie keine Mehrheit hat, so gegenwärtig die Regierung Karamanlis, die sich auf nur 40 % der Wählerstimmen stützen kann. Aber es werden auch viele Anekdoten erzählt, Familientratsch muss sein und der Abend endet fröhlich in Weinseligkeit.

Am nächsten Tag geht es zurück auf das Festland. Wir überqueren, bei Patras, noch einmal die neue „Rio-Andirrio“-Brücke. Nur noch fünf Minuten brauchen wir für die 2,5 km Distanz zwischen Pelepones und Kontinent. Die zweitlängste Schrägseilbrücke der Welt ist ein auch ästhetisches Wunderwerk moderner Technik.

In einem kleinen Fischlokal in Andirrio wird uns fangfrischer Meeresbarsch serviert. Bei solcher Kost und einer traumhaften Aussicht auf das heute tiefblaue Meer lässt sich locker über die griechische Götterwelt und ihre Vorzüge (!) palavern.

Das nächste Reiseziel ist Dodoni, wo das älteste Orakel Griechenlands seinen Sitz hatte.

Der Ort liegt 22km südöstlich von Ioannia. Die Besiedelungsspuren weisen 2500 Jahre in die griechische Geschichte zurück. „Dioni“, die vor den Göttern lebte, war die Namensgeberin für den heiligen Platz. Hier stand ihr erster Tempel. Die Erdgöttin „existierte“ lange vor Zeuß, der ihr später beigeordnet wurde. Priesterinnen sprachen an dieser Stelle das Orakel aus dem Flüstern der rauschenden Blätter, das sie mit Glasblättchen künstlich verstärkten. Auch die auffliegenden Vögel bauten die weisen Frauen in ihre Mysterien ein. Mein Begleiter von der nahen Universität erklärt mir, dass das Heiligtum gleichzeitig ein Ort weltlicher Machtausübung war. Hier tagte die Ratsversammlung, hier konzentrierte sich Macht. Durchreisende Händler, die hier Halt machten, brachten viele Informationen mit, die die klugen Frauen zu analysieren wussten. Am selben Ort magisch wirkender Naturschönheit wurde selbstredend in christlicher Zeit eine Basilika gebaut. Die Herrscher aller Zeiten wussten sich den Zauber der Naturgewalt nutzbar zu machen.

Was ich mitnehme von all den schönen Orten und den guten griechischen Gesprächen:

Uns Deutschen ermangelt es ein wenig an Heiterkeit und Leichtigkeit. Selbst unsere Poesie scheint Zeugnis abzulegen von der bleiernen Schwere, die auf unserem Geschlecht liegt. Wollen wir sie  überwinden, müssen wir in Abwandlung eines Nietzschewortes „alle verschwiegenen Wahrheiten“ aufdecken, die „giftig werden“ und wieder Vertrauen entwickeln in das Licht aufklärenden Denkens.

Irene Eckert, Berlin,
17.11.2008